Die wahre Macht ist der Dienst - Jorge Mario Bergoglio - E-Book

Die wahre Macht ist der Dienst E-Book

Jorge Mario Bergoglio

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Beschreibung

Ein Buch, das einen Grundgedanken von Papst Franziskus, den er an zentralen Stellen immer wieder äußert, illustriert und erschließt: Christen erkennt man daran, dass sie nach dem Beispiel Jesu anderen Menschen dienen. Inspiriert von der Botschaft des Neuen Testaments, zeigt der frühere Erzbischof von Buenos Aires an einer Fülle konkreter Zusammenhänge, wie die gelebte Haltung des Dienens nicht nur einzelne Menschen dynamisch werden lässt, sondern eine ganze Gesellschaft verändern kann, so dass sie zu einem Haus wird, in dem für alle Platz ist. Jorge Bergoglio / Papst Franziskus zeigt mit dieser eindrucksvollen Einladung: Einander zu dienen, Menschen zu tragen, ist auf die Dauer eine größere gestalterische Kraft als jede andere Macht in der Gesellschaft.

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Jorge Mario Bergoglio SJPapst Franziskus

Die wahre Machtist der Dienst

Aus dem Spanischen von Gabriele Stein

Mit einer Einführung von Michael Sievernich SJ

Impressum

Titel der Originalausgabe:

El verdadero poder es el servicio

© 2007 Editorial Claretiana, Buenos Aires, Argentinien

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© 2014 Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Designbüro Gestaltungssaal

unter Verwendung eines Fotos von © dpa/picture-alliance

E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (E-Book) 978-3-451-80144-0

ISBN (Buch) 978-3-451-33450-4

Inhalt

EinführungEine dienende Kirche im urbanen Raum

Vorwort des argentinischen Verlegers

DIE WAHRE MACHT IST DER DIENST

»DIE WORTE, DIE ICH ZU EUCH GESPROCHEN HABE, SIND GEIST UND SIND LEBEN« (Joh 6,63)

»Kehr um und glaub an das Evangelium«

Sich finden lassen, um Begegnung zu stiften

»Den Herrn, deinen Gott, sollst du anbeten und ihm allein dienen«

Der Schatz in unserem Tongefäß

»Steh auf, iss! Denn sonst ist der Weg zu weit für dich …«

»Dann stieg er auf den Berg und rief die zu sich, die er ausgewählt hatte, und sie kamen zu ihm«

»Nimm deinen Fuß in Acht, wenn du zum Haus Gottes gehst! Tritt ein, um zu hören«

Das Musterbild des unermüdlichen Pilgers

»Er ruft seine Schafe beim Namen und führt sie hinaus …«

»MEINE LEHRE IST NICHT VON MIR, SONDERN VON DEM, DER MICH GESANDT HAT« (Joh 7,16)

Zur Kultur der Begegnung erziehen

»Der, der nährt und wachsen lässt« Ein paar Zeilen über Erziehung

Unser Volk ist zur Größe berufen

Erziehung: ein gemeinsames Engagement

»DA IST DEINE MUTTER! UND VON JENER STUNDE AN NAHM SIE DER JÜNGER ZU SICH« (Joh 19,27)

Wir brauchen ihren zärtlichen Blick

»Hilf uns, in jedem Menschen Jesus zu begegnen«

»Mutter, hilf uns, wir wollen ein Volk sein!«

»Mutter, hilf uns, das Leben zu behüten!«

»Mutter«, so sagen wir zu ihr, »wir müssen als Brüder leben«

»FÜRCHTET EUCH NICHT! DENN ICH VERKÜNDE EUCH EINE GROSSE FREUDE, DIE DEM GANZEN VOLK ZUTEILWERDEN SOLL. HEUTE IST EUCH DER RETTER GEBOREN« (Lk 2,10f.)

»Gott mit uns«

Ein Licht der Hoffnung für Gottes Volk

»Das Volk, das im Finstern wandelt, schaut ein großes Licht«

Gib uns ein Zeichen

Nachts kam er zur Welt, nachts wurde er verkündigt

Sie wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe

»ICH HABE IHNEN DEINEN NAMEN KUNDGETAN UND WERDE IHN WEITERHIN KUNDTUN, DAMIT DIE LIEBE, MIT DER DU MICH GELIEBT HAST, IN IHNEN IST UND AUCH ICH IN IHNEN« (Joh 17,26)

Die Salbung erfasst das ganze Sein

An die Priester der Erzdiözese

»Darum hat Gott, dein Gott, dich gesalbt mit dem Öl der Freude«

»Wenn jemand mich liebt, wird er mein Wort halten und mein Vater wird ihn lieben«

Er salbt ihn, um zu heilen, er salbt ihn, um zu befreien …

Die Hoffnung, dass Gott sich unserer Zerbrechlichkeit annimmt

Was tun wir mit der Zerbrechlichkeit, der wir nachgehen und deren wir uns annehmen?

»Heute ist dieses Schriftwort vor euren Ohren erfüllt worden«

Die Predigt Jesu war kurz

Gesandt, um diese Salbung mit apostolischer Begeisterung in alle Randgebiete zu tragen

»WAS SUCHT IHR DEN LEBENDEN BEI DEN TOTEN? ER IST NICHT HIER, SONDERN ER IST AUFERWECKT WORDEN« (Lk 24,5f.)

Der Engel nimmt den Frauen die Angst: »Fürchtet euch nicht!«

»Er ist nicht hier, sondern er ist auferweckt worden«

Ein Ereignis, das der Geschichte eine neue Richtung gibt

Die Lähmung macht unsere Seele krank

Die Erinnerung verortet sie wieder in der Wirklichkeit

Das war in Wahrheit Gottes Sohn!

Sie wollten den Leichnam Jesu salben

Was ging im Herzen dieser Frauen und der Jünger vor?

»GEBT IHR IHNEN ZU ESSEN« (Lk 9,13)

Der Gedanke an den Vater ist nicht bloß Erinnerung

Wo willst du, dass wir dir die Eucharistie vorbereiten?

»Alle aßen und wurden satt«

»Denk an den ganzen Weg, den dich der Herr, dein Gott, geführt hat«

»Er brach das Brot und gab es ihnen«

»In jener Zeit sprach Jesus zu den Volksscharen vom Reich Gottes«

»Weil es ein Brot ist«

Der Herr geht mit uns

»Er brach sie und gab sie den Jüngern«

»DU ABER GEH UND VERKÜNDE DAS REICH GOTTES!« (Lk 9,60)

Treffen lateinamerikanischer Politiker und Gesetzgeber

Das Menschliche als Schlüssel zur politisch-sozialen Verantwortung

Wer ist dein Nächster?

Duc in altum: die Soziallehre Johannes Pauls II.

Lasst euch mit Gott versöhnen

Die innige und tröstliche Freude der Verkündigung

»Blut der Märtyrer, Same der Christen«

»An ihrer Hand«

Selig bist du, weil sie nicht imstande sind, es dir zu vergelten!

»Der Jünger steht nicht über dem Meister«

Stiften sie Nähe oder Ferne?

Freut euch und jubelt, denn euer Lohn ist groß im Himmel

»Die Gnade, uns gehört zu fühlen«

»Würde und Fülle des Lebens«

Wenn wir beten, kämpfen wir für unser Volk

EINFÜHRUNGEine dienende Kirche im urbanen Raum

Beinahe möchte ich sagen, dass der Herr sich nur in solchen Gesten wirklich ganz verströmt, die er mit seinen Händen vollführen kann: segnen, heilen, liebkosen, austeilen, eine Hand reichen und aufhelfen, Füße waschen, Wunden zeigen, sich verwunden lassen …

Jorge Mario Kardinal Bergoglio S.J.

Das einflussreiche nordamerikanische Wirtschaftsmagazin Forbes mit Sitz in New York veröffentlicht regelmäßig Rankinglisten der größten Unternehmen, der reichsten Milliardäre oder der mächtigsten Leute. Die Liste der mächtigsten Leute der Welt (World’s most powerful people) für das Jahr 2013 verzeichnet 72 Personen für die 7,2 Milliarden Menschen, fast ausschließlich führende Politiker und Wirtschaftsleute (CEOs). Bisweilen verliert sich auch ein Sportfunktionär oder ein Drogenhändler auf die Liste. Die vier Kriterien der Auswahl, die sich die »Weisheit« der Redakteure hat einfallen lassen, sind Macht über viele Leute, Macht über Finanzmittel, Macht auf mehreren Gebieten und aktiver Gebrauch der Macht.

Im Jahr 2013 erschien als neue Figur im globalen Spiel der im März dieses Jahres zum Papst gewählte argentinische Kardinal Jorge Mario Bergoglio, der den Namen Franziskus annahm. Auf der Liste erscheint er an vierter Stelle nach den Präsidenten Russlands, der Vereinigten Staaten von Amerika und Chinas und vor der deutschen Bundeskanzlerin. Als Grund dieser Wahl wird angegeben, der Papst sei spiritueller Führer von 1,2 Milliarden Katholiken, habe also »Macht« über etwa ein Sechstel der Weltbevölkerung und mache davon auch Gebrauch. Hier wird dem Papst also »Macht« zugesprochen, was immer er selbst davon halten mag. Um welche Macht aber handelt es sich dabei? Der Papst verfügt über keine nennenswerte ökonomische Macht und sein politischer Einfluss ist zwar vorhanden, aber spiritueller Natur. Zudem kann und will er keinerlei militärische Machtmittel einsetzen, sondern im Gegenteil mit allen diplomatischen und spirituellen Mitteln den Frieden unter den Völkern fördern.

»Die wahre Macht ist der Dienst« – unter dieses programmatische Wort stellt der ehemalige Erzbischof von Buenos Aires und jetzige Bischof von Rom, der auf den Primat der Liebe setzt, seine bischöflichen Texte, die in diesem Buch gesammelt sind und ins Deutsche übersetzt wurden. Ist der Dienst also doch eine Macht, und zwar die wahre? Kann daher Dienst sich machtvoll auswirken? Und kann umgekehrt politische und wirtschaftliche Macht, wenn sie denn ethisch verantwortet und gemeinwohlorientiert ausgeübt wird, zu einem Dienst an der Gesellschaft werden? Und kann schließlich der christlich verstandene Dienst auch für politisch, ökonomisch, kulturell oder medial Mächtige Vorbildcharakter haben und so eine bessere Welt hervorbringen? Kann dieses Verständnis einen neuen Humanismus generieren, den das Zweite Vatikanische Konzil fordert und der darin besteht, »eine bessere Welt in Wahrheit und Gerechtigkeit aufzubauen« und Verantwortung für die Geschichte zu übernehmen (Gaudium et spes 55)?

Macht oder Dienst

Im klassischen sozialwissenschaftlichen Verständnis, wie es im 20. Jahrhundert federführend von Max Weber und anderen Sozialphilosophen entwickelt wurde, bedeutet »Macht« gemeinhin »jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.«1 Ein besonderer Fall von Machtausübung ist die Herrschaft, die anderen nach dem Prinzip von Befehl und Gehorsam ihren Willen aufzwingen kann. Es liegt auf der Hand, dass dieses Verständnis von Macht und Machterringung zunächst nur formale, äußere Mechanismen beschreibt, ohne auf rechtliche und ethische Qualität einzugehen oder religiöse und kulturelle Dimensionen zu berücksichtigen.

Bei einem Denker wie dem Religionsphilosophen und Theologen Romano Guardini (1885–1968), den Papst Franziskus seit Längerem sehr schätzt, verhält sich dies anders. Das wird deutlich an Guardinis kleiner Schrift über die Macht, deren umfassenderes Verständnis die genannten Merkmale einbezieht.2 Das wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg erschienene Büchlein spiegelt als Hintergrund die damaligen Erfahrungen von politischen Machtexzessen im Nationalsozialismus und im Realsozialismus wider, die Millionen von Opfern forderten. Es spiegelt aber auch die desaströsen Folgen militärisch-technischer Macht, die im Zweiten Weltkrieg zutage trat und im Abwurf von Atombomben auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki kulminierte.

Guardini geht davon aus, dass Macht ambivalent ist und sowohl zum Guten wie zum Bösen ausschlagen kann. Welche Richtung sie einschlägt, hängt vom menschlichen Handeln ab, von Personen und ihren Intentionen. Nach dem enormen Machtzuwachs der Neuzeit gehe es künftig aber nicht mehr um Steigerung der Macht, sondern um ihre »Bändigung«, um die Macht über die Macht (S. 11). Guardinis Machtdiagnose am »Ende der Neuzeit« hat sich seither bestätigt durch die zunehmenden Gefährdungen gesteigerter Macht in der »Risikogesellschaft« (U. Beck). Ökonomische und ökologische, politische und kulturelle Krisen zeugen vom Gefährdungspotenzial globaler Modernisierungsprozesse, in denen der Konsens über die Regeln eines verantwortlichen »good government« und erst recht die einvernehmliche Durchführung noch am Anfang stehen.

Doch macht Guardini deutlich, dass nicht die Macht an sich böse oder verwerflich ist, sondern dass ihr Missbrauch das Problem darstellt. Macht wird dann problematisch, wenn ihr die Ehrfurcht vor der Person und die sittliche Verantwortung fehlen. Dann kann es zur Perversion der Macht kommen. Wenn jedoch die Macht ethisch gebändigt ist, sich nicht als autonom geriert, sondern als letztlich vor dem Gewissen und vor Gott zu verantworten, ändert sie sich grundlegend. »Dadurch wird die Herrschaft zum Gehorsam, zum Dienst« (S. 29). Als theologischen Grund für dieses positive Machtverständnis, das erst durch mangelnde Verantwortung für die anderen und vor dem ganz Anderen negativ wird, verweist Romano Guardini auf die schöpfungsmäßige Gottebenbildlichkeit des Menschen, aus der Machtbegabung und Herrschaft letztlich stammen. Macht auf allen Ebenen aber bedarf rechtlicher sowie ethischer Einhegung und damit der Verantwortung für Personen und Institutionen, einer Verantwortung, die vor dem Gewissen und vor Gott zur Rechenschaft verpflichtet.

Dieses Verständnis von Macht und Herrschaft verdankt die Kirche einem Paradigmenwechsel, den der große mittelalterliche Theologe Thomas von Aquin (1225–1274) einleitete. Hatte Augustinus in seinem Werk über den »Gottesstaat« scharfsinnig die Herrschaft der Herrschbegierde (libido dominandi)3 ins Feld geführt und auf die Erbsünde zurückgeführt, also pekkaminös begründet, so verortet Thomas demgegenüber Macht und Herrschaft in der Natur des Menschen als Gemeinschaftswesen, das in Häusern, Dörfern und Städten (póleis) zusammenlebt und daher ein »politisches Wesen« ist – eine Auffassung, die Thomas von dem griechischen Philosophen Aristoteles übernimmt.4 Danach ist nicht die Macht als solche schon sündhaft, sondern erst ihr vernunftwidriger und unethischer Gebrauch, der auf sündige Individuen zurückgeht. Es gilt also, die legitime und sittlich verantwortete Macht deutlich von ihrem Missbrauch zu unterscheiden.

Wenn das Neue Testament die Mächtigen kritisiert, dann wegen des pekkaminösen Missbrauchs. »Da rief Jesus sie zu sich und sagte: Ihr wisst, dass die, die als Herrscher gelten, ihre Völker unterdrücken und die Mächtigen ihre Macht (potestas) über die Menschen missbrauchen. Bei euch aber soll es nicht so sein, sondern wer bei euch groß sein will, der soll euer Diener (diákonos, minister) sein, und wer bei euch der Erste sein will, soll der Sklave (doulos, servus) aller sein. Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele« (Mk 10,42–45). Die Transformation der Macht in den Dienst ist Konsequenz der Entäußerung Jesu von der Gottgleichheit in die Knechtsgestalt, der Erniedrigung und des Gehorsams bis ans Kreuz (Phil 2,6–8). Die Fußwaschung Jesu (Joh 13,1–17), liturgisch am Gründonnerstag gefeiert, wird zum Zeichen eines »Machtwechsels« und zum Mandat für die Jünger Jesu, sich an diesem Beispiel zu orientieren und einander die Füße zu waschen, nicht den Kopf … Als Bischof und als Papst hat Jorge Bergoglio dieses Zeichen des Dienstes gesetzt – ob als Bischof im Armenviertel von Buenos Aires, mit der Diakonenstola bekleidet, oder als Papst in einem römischen Jugendgefängnis.

Seit den biblischen Zeiten steht der Dienstcharakter des kirchlichen Amtes fest, mag der diakonale Charakter auch bisweilen durch andere, unangemessene Formen der Amts- und Machtausübung verdunkelt worden sein. Das Zweite Vatikanische Konzil hat den ministerialen Charakter der kirchlichen Ämter (Lumen gentium 20), aber auch das Zusammenwirken aller Dienste im Volk Gottes hervorgehoben. Schließlich hat die gesamte Kirche einen Auftrag zum »Dienst am Menschen«, der nicht weniger als die »Rettung der menschlichen Person« und den »rechten Aufbau der menschlichen Gesellschaft« umfasst (Gaudium et spes 3).

Heute, in der Dienstleistungsgesellschaft, ist das deutsche Wort »Dienst« ebenso wie das spanische Wort »servicio« zu einem Allerweltswort geworden, das viele Bedeutungen abdeckt. Beamte gehen »zum Dienst«, Regierungen haben ihre Geheimdienste oder Serviceclubs ihre Gemeindienste. Die einen nehmen Dienste in Anspruch, die anderen stellen sich in den Dienst der Menschheit. Schiffe wie Züge werden in Dienst gestellt. Und bei Tisch wird bedient. Bei aller Vielfalt schimmert die Grundbedeutung des Dienens hindurch, die auch im »Gottesdienst« zum Ausdruck kommt.

Wenn es um Dienst im christlichen Sinn geht, dann sind die Bezüge zu Gott und zum Nächsten unabdingbar, denn im Kern geht es um den Dienst, den Christus der Menschheit leistet, und auf den die einzig angemessene Antwort der Dienst vor Gott und am Nächsten ist. Daher bilden Gottesdienst und Nächstendienst eine untrennbare Einheit der Liebe Gottes zu den Menschen und der antwortenden Liebe der Menschen zu Gott und den Menschen. Dieses responsorische Verhältnis kommt im »Sonnengesang« des heiligen Franziskus zum Ausdruck, zu dem der Papst durch die Wahl des Namens Franziskus eine besondere Beziehung hat. Dieser poetische Gesang der Geschöpfe beginnt mit dem Lobpreis auf den höchsten, allmächtigen und guten Herrn (erste Zeile) und mündet in die Aufforderung (letzte Zeile), diesem zu danken und mit großer Demut zu dienen.5 Dank, Demut und Dienst werden damit zu den grundlegenden Ausdrucksformen des Christentums.

Alltagsmystik des Dienstes

Die in diesem Buch vorliegenden Texte, die Jorge Mario Bergoglio als Erzbischof der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires in den Jahren 1999 bis 2007 verfasst hat, sind sehr unterschiedlicher Art, was Adressaten, literarische Eigenart und Themen angeht. Bei aller Diversität aber kommen die Texte darin überein, dass sie deutlich eine typische spirituelle Praxis und pastorale Option zum Ausdruck bringen. Diese Option bezieht sich auf das »Volk Gottes«, auf seine Weisheit und seine spirituellen Praktiken, aber auch auf den konkreten urbanen Raum von Buenos Aires, in dem das Erzbistum existiert. Es umfasst die vier Vikariate Centro, Belgrano, Devoto und Flores, in denen zusammen 2,5 Millionen Katholiken wohnen (etwa 90 Prozent der Bevölkerung).

Die Texte sprechen in vielen Bildern meist biblischer Art, da sie biblische Texte für ihre Zeit auslegen. Sie greifen aber auch Bilder aus dem urbanen Kontext auf und deuten sie im Licht der Heiligen Schrift. Es handelt sich um eine Sammlung von insgesamt 66 kleineren Texten zu bestimmten Anlässen. Daraus ergibt sich jeweils die literarische Eigenart. Die meisten Texte sind Ansprachen und Predigten zu bestimmten Gelegenheiten, zum Beispiel anlässlich Versammlungen der Katecheten oder der Bischofskonferenz sowie zu Feiertagen im Kirchenjahr oder zu Heiligenfesten. Vor allem sind es die Feste Weihnachten, Gründonnerstag (Chrisam-Messe), Osternacht und Fronleichnam, aber auch das Fest des heiligen Kajetan, der in der Volksfrömmigkeit eine besondere Rolle spielt. Die marianische Frömmigkeit kommt in den Predigten über Maria zum Ausdruck, die er bei den Jugendwallfahrten zum nationalen Marienheiligtum von Luján gehalten hat. Eine Reihe von Texten sind geistliche Briefe, die Erzbischof Bergoglio an Katecheten, Ordensleute und junge Leute geschrieben hat. Überdies gibt es einige Vorträge, etwa vor päpstlichen Kommissionen oder argentinischen Unternehmern.

Dementsprechend breit fällt das Spektrum der Adressaten aus, das zeigt, dass Bischof Bergoglio keinerlei Berührungsängste kannte, weder mit den Bewohnern der Armenviertel seiner Stadt noch mit politisch oder wirtschaftlich führenden Personen, weder mit den einfachen Katecheten noch mit den Bischöfen des Landes, weder mit Lehrern und Ordensleuten noch mit Journalisten und Medienleuten, weder mit den Alten noch mit der Jugend.

Die Themenstellungen der Ansprachen, Predigten, offenen Briefe und Vorträge verknüpfen zwei Quellen: Die eine Quelle ist die Tradition der Heiligen Schrift, die der Erzbischof von Buenos Aires reichlich fließen lässt. Zahlreiche Predigten sind Homilien, Auslegungen der Schrifttexte, wie Leseordnung oder jeweiliger Anlass sie vorgeben. Dabei folgt er dem ersten Satz der dogmatischen Konstitution über die göttliche Offenbarung, der ihm als Leitbild dient und den er daher öfters zitiert. Im konziliaren Text heißt es: »Gottes Wort ehrfürchtig hörend und getreu verkündigend [Dei verbum religiose audiens et fidenter proclamans]« (Dei verbum 1). Die andere Quelle ist die Vielzahl der konkreten Situationen, die er in seinem Erzbistum antraf und auf die er empathisch einging und pastoral antwortete – durch Diagnosen und Ermahnungen, Appelle und prophetische Kritik, vor allem aber durch personale Nähe, jene »projimidad«, welche dieser Band mit »Nächstheit« übersetzt und deren Bedeutung unten erläutert wird. Diese beiden Quellen, der Text der Schrift und die Textur der Stadt, sind beide zu entziffern und wechselseitig zu interpretieren: der biblische Text im Kontext der urbanen Textur und diese im Licht des biblischen Textes.

Die Vielzahl der angeschnittenen Themen erschließt sich nur durch eine meditative Lektüre, die sich auf Sprache, Stil und Duktus einlässt, wobei natürlich zu berücksichtigen ist, dass dem gedruckten Wort die Lebendigkeit des gesprochenen Worts abgeht, weil Kontext und Tageszeit, Stimmlage, Gestik und Mimik des Redners den Texten nicht zu entnehmen sind. Gleichwohl aber bleiben die Texte in der Unmittelbarkeit ihres Wortes wirksam und vermitteln dem Leser den Gehalt. Bei aller Diversität kommen die Themen jedoch darin überein, dass sie sich den drei pastoralen Tätigkeitsbereichen zuordnen lassen, die alle dem Ziel dienen, »den Seelen zu helfen/zu nützen« (span.: ayudar/aprovechar a las ánimas), wie eine Grundformel des Ignatius von Loyola und der Gesellschaft Jesu lautet. Das Pastoralprogramm der frühen Jesuiten6 bestand aus einer Triade von Diensten. Es waren (1) der Dienst am Wort, wozu etwa Predigt, Vortrag, Katechese, Exerzitien zählten; (2) der Dienst am Sakrament oder an der Liturgie, wozu vor allem die Beichte und das spirituelle Leben zählten; (3) die Werke der Barmherzigkeit, wozu Besuche bei Gefangenen und Kranken zählten, praktische Hilfe in Krankenhäusern, Unterstützung für Arme und Gefährdete oder die Versöhnung Zerstrittener. Diese dreifachen pastoralen Tätigkeiten hießen »gewöhnliche Dienste« (consueta ministeria) und zeichneten sich dadurch aus, dass sie Aufgabe aller Ordensmitglieder waren und unentgeltlich zu leisten waren. Zwanglos lassen sich die Themen, die Kardinal Bergoglio in seinen Predigten und Ansprachen aufgreift, diesen drei Diensten zuordnen. Auch die besondere Zuwendung zu Kindern und Jugendlichen ist schon in der Grundformel des Ordens zu finden. Die Beiträge des Buches führen die Inspirationen der ignatianischen Spiritualität und die pastoralen Erfordernisse von heute zusammen.

Die Vielfalt der Themen und Aktivitäten des Jesuiten- bischofs Bergoglio signalisiert keinen unkoordinierten Aktivismus, da alle Dienste dem erwähnten Ziel dienen, »den Seelen zu helfen« (lat.: iuvare animas). Genauer gesagt geht es in der ignatianischen Spiritualität (und Pädagogik) darum, den Einzelnen zu helfen, ihren Weg zu Gott zu finden, so wie Ignatius seinen Weg zu Gott biographisch gefunden hatte. In seiner Autobiographie, dem Bericht des Pilgers, beschreibt Ignatius seinen Weg, auf dem Gott ihn durch alle Höhen und Tiefen hindurch geführt habe. Er selber aber verstand seit seiner Bekehrung auf dem Krankenbett sein Leben als »Dienst« für Gott. Alle Dienste haben demnach ein doppeltes Ziel: Anderen zu nützen und zu helfen und zugleich Gott zu dienen. Die Dienste haben also auch damit zu tun, Gott zu finden. Diesen Weg der Alltagsmystik beschreibt Ignatius am Ende seiner geistlichen Autobiographie ausdrücklich. Nachdem er begonnen habe, »ihm [Gott] zu dienen (ital.: servire)«, habe er keiner Todsünde mehr zugestimmt. »Vielmehr wachse er dauernd in der Andacht, das heißt in der Leichtigkeit, Gott zu finden, und jetzt mehr als in seinem ganzen Leben. Immer und zu jeder Stunde, in der er Gott finden wolle, finde er ihn.«7

Schließlich wird der aufmerksamen Leserin und dem aufmerksamen Leser dieses Buches auffallen, dass die konkreten pastoralen und spirituellen Situationen gleichsam das Saatfeld darstellen, auf dem die zentralen Ideen und Begriffe gewachsen sind, die das pastorale Idearium des Kardinals abstecken. Eine Synthese seines Denkens und Handelns findet sich in jener kurzen, aber epochalen Rede, die Kardinal Jorge Mario Bergoglio bei der Vorbereitung zur Papstwahl im März 2013 vor den in Rom versammelten Kardinälen hielt. Offenbar hat diese Rede den Nagel so genau auf den Kopf getroffen, dass sie viel Zustimmung fand und Kardinal Bergoglio – divino afflante spiritu – als Mann der Stunde qualifizierte, den die Kirche nach dem weisen und mutigen Rücktritt von Papst Benedikt XVI. nun brauchte und braucht. Die Zusammenfassung der Kurzrede wurde auf Bitte des kubanischen Kardinals Jaime Ortega zuerst in der kubanischen Kirchenzeitung Palabra Nueva veröffentlicht. Folgende zentrale Ideen wurzeln in den hier veröffentlichten Texten: die Freude der Evangelisierung mit allem Freimut; die Begegnung mit Christus; die Forderung, die Selbstbezogenheit oder Autoreferentialität der Kirche abzustreifen und herauszugehen zu den existenziellen Peripherien; die beiden kontrastierenden Kirchenbilder einer mundanen Kirche und einer das Wort Gottes hörenden und es verkündenden Kirche.8

Die Grundidee einer nicht in sich selbst verharrenden, sondern zu den Rändern hinausgehenden Kirche formulierte eine Predigt an Katecheten (2005) so:

Fassen Sie Mut und denken Sie die Pastoral und die Katechese von den Rändern her, denken Sie an diejenigen, die am weitesten entfernt sind, die in der Regel nicht in die Kirche gehen. Auch sie sind zum Hochzeitsmahl des Lammes geladen. […] Kommen Sie heraus aus der Sakristei, dem Pfarrbüro, den VIP-Lounges, gehen Sie hinaus! Praktizieren Sie eine Pastoral der Hinterhöfe, der Türen, der Häuser, der Straße. Worauf warten Sie noch? Gehen Sie hinaus! Und vor allem praktizieren Sie eine Katechese, die niemanden ausgrenzt, die andere Rhythmen beherrscht und offen ist für die neuen Herausforderungen dieser komplexen Welt. Seien Sie keine starren Funktionäre, keine Fundamentalisten einer Planung, die ausgrenzt.9

Pastorale und spirituelle Leitmotive

Wie die Musik Leitmotive kennt, die variantenreich durchgeführt werden, sich verknüpfen und wieder voneinander lösen und auf diese Weise ein symphonisches Ganzes bilden, so kennt auch das vorliegende Buch, das der heutige Papst Franziskus als Erzbischof von Buenos Aires, der Stadt der »günstigen Winde«, verfasst hat, eine Reihe von auffallenden Leitmotiven, welche die einzelnen Texte prägen. Zwar ist das Buch nicht streng durchkomponiert wie eine Symphonie, sondern eine thematisch zusammengestellte Sammlung kleiner Texte für die pastorale Praxis, deren Eigenmelodien sich jedoch symphonisch zusammenfügen und einige durchgehende Leitmotive erkennen lassen. Vier solche Leitmotive lassen sich in folgendem Satz formulieren: Im (1) urbanen Raum lebt und wirkt die (2) Kirche als weltweites Volk Gottes (3) in der vielfältigen Begegnung aus der Nähe und (4) auf dem gemeinsamen spirituellen Weg.

(1) Urbaner Kontext der Stadt

Papst Franziskus stammt aus der Großstadt Buenos Aires; dort ist er als Jorge Mario Bergoglio im Stadtteil Flores als Kind italienischer Einwanderer aufgewachsen und zur Schule gegangen. Er ist ein echter »porteño«, wie die Einwohner von Buenos Aires heißen. Er fühlt sich in der städtischen Kultur zu Hause und interessiert sich für Literatur und Musik, aber auch für Kino und Fußball. Er kennt jedoch auch die Stadtprobleme, das Überleben der Armen und die arbeitslosen Jugendlichen, die Mangelsituationen und Exklusion der Bedürftigen, die Migration vom Land und aus fernen Ländern. Daher ist es nicht verwunderlich, dass viele der Texte auf den urbanen Raum eingehen, denn dieser bildet den Kontext, in dem Kirche existiert und wirkt, zumal Buenos Aires ein ganz und gar städtisches Bistum ist. Auch in Rom ist er wieder Bischof einer großen Stadt geworden.

In einer Botschaft zur Erziehung gibt Erzbischof Bergoglio ein anschauliches Zeugnis von seiner Sicht der Stadt und von der Bedeutung der Stadtviertel:

Vielleicht können wir dieser Dimension [der Geographie] mitten in der Großstadt wieder einen Sinn abgewinnen, indem wir das Stadtviertel als Ort der Verwurzelung und des Alltagslebens neu entdecken. Obgleich das Wachstum der Stadt und der Rhythmus des Lebens dem Viertel manches von seiner einstigen Schwerkraft genommen haben, sind doch viele seiner Elemente – wenn auch im Strudel der Zersplitterung – nach wie vor wirksam. Denn als gemeinsamer Raum beinhaltet das Viertel (oder das Land) eine Vielfalt von Farben, Geschmäckern, Bildern, Erinnerungen und Klängen, die das Gewebe des Alltags bilden: etwas Kleines und beinahe Unsichtbares, das gerade deswegen so unentbehrlich ist. Die Menschen aus dem Viertel, die Farben des Fußballvereins, der Platz mit seinen Veränderungen, mit den Geschichten von Spiel, Liebe und Kameradschaft, die sich hier zugetragen haben, die Straßenecken und Treffpunkte, die Erinnerungen der Großeltern, der Lärm der Straße, die Musik, das besondere Licht in diesem Häuserblock oder in jenem Winkel – aus alledem entsteht Identität. Eine persönliche und eine gemeinsame Identität, oder besser: eine gemeinsame und ebendeshalb persönliche Identität.10

Das Städtische ist dem Christentum nicht fremd, sondern geläufig, vom Beginn bis in die Gegenwart.11 Denn Missionare wie Paulus gingen zuerst in die griechischen Städte der damaligen Zeit, auch in die Metropole Athen; auch Petrus ging in die Städte und gelangte in die Hauptstadt Rom. Das Christentum war von Beginn an eine Stadtreligion und hat sich dort und von dort verbreitet, zumeist auf kapillarem Weg, d. h. auf familiären und freundschaftlichen Wegen, aber auch durch mobile Berufe wie Händler und Soldaten. Ignatius von Loyola verfolgte in der frühen Neuzeit eine urbane Option; die Stadträume waren die Orte der pastoralen Dienste, aber auch der neuen Kollegien (höhere Schulen oder Universitäten), die der Jugend eine gediegene Bildung, Frömmigkeit und Persönlichkeitsentwicklung vermitteln sollten. Heute hat der globale Urbanisierungsprozess dazu geführt, dass über die Hälfte der Menschheit in Städten und Megacities lebt. Lateinamerika ist der verstädtertste und zugleich katholischste Kontinent, so dass hier besondere Aufgaben auf die Kirche zukommen. Daher hat die Fünfte Generalversammlung des lateinamerikanischen Episkopats, die 2007 im brasilianischen Aparecida tagte und auf der Kardinal Bergoglio eine wichtige Rolle spielte, in ihrem Schlussdokument zur missionarischen Erneuerung die »Pastoral in der Stadt« hervorgehoben, wenn denn der Glaube uns lehrt, »dass Gott in der Stadt lebt, inmitten ihrer Freuden, Sehnsüchte und Hoffnungen, aber auch in ihrem Schmerz und ihrem Leid.«12

(2) Volk (Gottes) in weltweiter Kirche

Ein weiteres Leitmotiv, das in den Texten unentwegt auftaucht, ist die Kategorie des »Volkes«. Handele es sich mit nationaler Konnotation um das Volk von Argentinien, die »Patria«, oder das Volk von Buenos Aires; handele es sich mit religiöser Konnotation um das Volk Israel oder das Volk Gottes; oder handele es sich mit sozialer Konnotation um das arme Volk und die einfachen Leute oder mit geistig-geist- licher Konnotation um das Volk (pueblo) mit seiner Weisheit und Frömmigkeit. Profane und spirituelle Bedeutungen sind zwar klar unterschieden, doch auch untrennbar miteinander verknüpft. Da das Volk Gottes immer Teil des Volkes ist und unter ihm lebt wie das Volk Israel (hebr.: ām, griech.: laós) unter den Heidenvölkern (hebr.: gojim, griech.: éthnē), gibt es semantische Überschneidungen und Bewegungen aufeinander zu. In den Texten Kardinal Bergoglios sind das soziale und das religiöse Grundverständnis immer präsent und miteinander verwoben.

Im Hintergrund steht dabei die lateinamerikanische Reflexion auf den Volksbegriff, die von einem Subjekt ausgeht, bei dem gesellschaftlich marginalisierte Gruppen auf dem Land und in den Städten im Zentrum stehen, jedoch weniger in sozialwissenschaftlicher Perspektive – wie in der Befreiungstheologie –, sondern in der kulturhermeneutischen Perspektive der Argentinischen Schule. So sehen der verstorbene Theologe Lucio Gera und der Philosoph Juan Carlos Scannone, beide Argentinier, in diesen Gruppen des Volkes ein gemeinschaftliches Subjekt, das sich durch ein kulturelles Ethos auszeichnet; dieses tritt in einem eigenen Stil des Lebens und der Weisheit (sabiduría popular) zutage, dessen Kern die Volksfrömmigkeit (religiosidad popular) bildet. In solchen Zusammenhängen ist auch von einer »Theologie des Volkes« die Rede, die auf der einen Seite aufmerksam das Volk wahrnimmt und seinen Lebensstil und seine kulturellen Ausdrucksweisen ernst nimmt. Auf der anderen Seite ist ein differenziertes Verständnis von Theologie im Spiel, wonach es nicht nur die professionelle Fachtheologie der Gelehrten gibt, sondern auch die episkopale Theologie der Bischöfe, die sich aus der pastoralen Praxis speist. Darüber hinaus jedoch gibt es die populare Theologie, eine Theologie des Volkes, welche den Glaubensstil und die religiöse Erfahrung des Volkes widerspiegelt und Ausdruck einer Kirche des Volkes ist. Das Zusammenwirken von Bischofstheologie, Fachtheologie und Volkstheologie kann der Kirche gewiss ein geschärftes Profil verleihen, zumal Papst Franziskus mit seinem Stil, mit seinen Initiativen und mit einer pastoralen Bischofstheologie vorangeht.13

Die Texte des argentinischen Kardinals sind überdies durch das konziliare Kirchenverständnis grundiert, das vor allem in der dogmatischen Konstitution über die Kirche entfaltet wird. Dort wird die Kirche vor aller Differenzierung in Hierarchie und Laikat als »Volk Gottes« bestimmt, das sich auf vielfache Weise auszeichnet (vgl. Lumen gentium 9–17): Es ist ein messianisches Volk, auch wenn es als kleine Herde daherkommt; es zeichnet sich aus durch das gemeinsame Priestertum aller Gläubigen, ist sakramental verfasst und bildet durch die Sakramente eine priesterliche Gemeinschaft, unbeschadet des Dienstes des hierarchischen Priestertums; auch nimmt es teil am prophetischen Amt Christi und empfängt unter Leitung des Geistes und des Lehramts den »übernatürlichen Glaubenssinn«; auch erhält es eine Mission für alle Völker, unter denen es lebt. Auf die Christen anderer Konfession ist das neue Volk Gottes ökumenisch zugeordnet und auf andere Religionen missionarisch hingeordnet, damit »die Fülle der ganzen Welt in das Volk Gottes eingehe, in den Leib des Herrn und den Tempel des Heiligen Geistes« (Lumen gentium 17).14

Als Erzbischof von Buenos Aires und als Bischof von Rom praktiziert Papst Franziskus eine ausgeprägte Verehrung Mariens, wie sie für Lateinamerika typisch ist. Das argentinische Luján, das brasilianische Aparecida, das mexikanische Guadalupe sind nur einige der marianischen Wallfahrtsorte. Und da Maria als Jungfrau und Mutter Gottes Typus der Kirche ist, ist die Kirche auch selbst »Mutter« (Lumen gentium 64); solche mütterlichen Züge treten in den vorliegenden Texten deutlich hervor und verweisen auf eine bleibende Dimension der Theologie und Frömmigkeit.

(3) Begegnung aus der Nähe

Die Zeit, in der wir leben, ist nicht einfach; es ist keine Zeit für flüchtigen Enthusiasmus oder für sporadische, sentimentale oder gnostische Formen der Spiritualität. Die katholische Kirche verfügt über eine reiche spirituelle Tradition mit zahlreichen und ganz unterschiedlichen Lehrern, die uns Anleitung und Kraft für eine echte Spiritualität geben können – eine Spiritualität, die uns in der heutigen Zeit zu einer Diakonie des Zuhörens und einer Pastoral der Begegnung befähigt.15

Mit diesen Worten beschreibt Kardinal Bergoglio eine Spiritualität, die eine Pastoral der Begegnung (encuentro) im Auge hat. Diese Kategorie der »Begegnung« begegnet dem Lesenden auf Schritt und Tritt und hat ein breites Bedeutungsspektrum: Begegnung bezieht sich auf die klassischen Begegnungsweisen mit Christus, ganz persönlichen in der lectio divina – der meditierend verinnerlichenden Lektüre der Heiligen Schrift –, im Empfang der Eucharistie – der sakramentalen Begegnung unter der Gestalt des Brotes –, und in der sonntäglichen Eucharistiefeier – in der Gemeinschaft mit allen Gläubigen. Diese personale und gemeinsame Begegnung mit Jesus Christus in Wort und Sakrament gehört ebenso zum mystischen Glutkern des Glaubens wie die Begegnung im kontemplativen Gespräch; »wie ein Freund mit seinem Freunde spricht«, so beschreiben es die ignatianischen Exerzitien (Nr. 54). Solche Begegnungen begründen die Freundschaft mit Christus und die Freundschaft mit den Armen, denn zum Kern unseres Glaubens gehört es auch, »Jesus Christus in den Armen zu begegnen« (Dokument von Aparecida, Nr. 255 und 257).

Aus dieser Mitte heraus erfolgt der Impetus zu allen weiteren Begegnungen: die mit den Armen und den Alten oder die der Jugendlichen untereinander; die personale Begegnung in der Familie und im Freundeskreis. Die Christusbegegnung fördert und fordert alle Arten der Begegnung und der Kommunikation unter Christen, aber auch weit darüber hinaus, wenn man auf den urbanen Raum schaut. Der amerikanische Soziologe Richard Sennett bemerkte einmal treffend, die Stadt sei »eine Siedlungsform, die die Begegnung einander fremder Menschen wahrscheinlich macht«.16 Danach bietet die Stadt über den Kreis der Verwandten und Bekannten, der Nachbarschaft und des Viertels hinaus die Möglichkeit überraschender Begegnungen. So fordert der Raum der Stadt geradezu heraus, sich nicht im Eigenen zu verschanzen, sich nicht in der Sakristei einzuschließen, sondern den pastoralen Horizont zu weiten und an die Ränder und Peripherien zu gehen. Daher fordert der Kardinal eine »Kultur der Begegnung«, die insbesondere durch die pädagogische Begegnung geformt werden könne.

Ein entscheidendes Moment der Begegnung aber ist der Bezug zum Nächsten. Bekanntlich gibt Jesus auf die Frage, wer denn der Nächste sei, keine definierende Antwort, sondern erzählt die Geschichte vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25–37). Dieser zufolge aber ist der Nächste zunächst derjenige, der sich dem anderen nähert, sich ihm zum Nächsten macht, indem er barmherzig an ihm handelt. In diesem Sinn der empathischen Wahrnehmung des bedürftigen anderen und der wortlosen Zuwendung geht es bei dem Stichwort der Proximität (projimidad), das Kardinal Bergoglio in seinen Texten vielfach ins Spiel bringt. Begegnung zeichnet sich durch solche Proximität oder Nächstheit aus, die freilich den anderen in seiner Würde respektiert und Nähe und Distanz wahrt, wie sie jede personale Begegnung auszeichnet. Proximität ist auch ein Stichwort unserer Tage, wenn in französischen Diözesen kleine Equipes in Situationen des Alltags »proximité« erreichen wollen. Begegnung und Proximität aber haben mit dem Zeugnis eines lebendigen Glaubens zu tun, ja geradezu mit einer »zeugenden Pastoral« (engendrement), die in der kreativen Kirche Frankreichs hoch im Kurs steht.17 Schon die Pastoralkonstitution des Konzils über die Kirche in der Welt von heute hielt fest:

Dieser Glaube muss seine Fruchtbarkeit kundtun, indem er das gesamte Leben der Glaubenden, auch das profane, durchdringt, und sie zu Gerechtigkeit und Liebe, insbesondere gegenüber den Bedürftigen, bewegt. Dazu, dass Gottes Gegenwart kundwerde, trägt schließlich besonders die brüderliche Liebe der Gläubigen bei, die im Geist einmütig für den Glauben an das Evangelium zusammenarbeiten und sich als Zeichen der Einheit erweisen. (Gaudium et spes 21)

(4) Wege in bewegende Weite

Auch das Stichwort des Weges kann als Leitmotiv der kardinalen Texte dieses Buches gelten. Das Allerweltswort »Weg« wird zum Sinnbild für die Wege, die Gott einen Menschen führt, aber auch für den Lebensweg eines Menschen mit all seinen Höhen und Tiefen. Den entscheidenden Hintergrund für den metaphorischen Gebrauch des Wortes »Weg« bilden die zahlreichen biblischen Bezüge sowohl im Alten wie im Neuen Testament, etwa wenn der Psalm davon spricht, dass alle Wege des Herrn »Huld und Treue« für diejenigen sind, die Bund und Gebote halten (Ps 25,10). Der Evangelist Lukas orientiert seine Erzählungen am Motiv des Weges Jesu nach Jerusalem und am Weg als neuer Lebensweise; im Johannes-Evangelium bezeichnet sich Jesus selbst als Weg zum Vater: »Ich bin der Weg« (Joh 14,6). Jesus Christus ist also nicht nur einer der viele Wege zum Göttlichen, die auch andere Religionen kennen, sondern der Weg zu Gott. Denn »Gott selbst hat dem Menschen Kenntnis gegeben von dem Weg (via), auf dem die Menschen, ihm dienend (inserviendo), in Christus erlöst und selig (salvi et beati) werden können.« So die konziliare Erklärung über die Religionsfreiheit (Dignitatis humanae 1).

Es ist daher nicht verwunderlich, dass im Christentum der Wegcharakter eine große Rolle spielt – von den Wegen des Herrn und der Selbstbezeichnung Jesu als Weg über die Wege der Nachfolge Christi bis hin zu den Bewegungen, welche die Kirche unterwegs in Bewegung brachten und auf ihrem Weg hielten. Dazu zählen die mittelalterlichen Mönche Irlands, die aszetisch die Heimatlosigkeit suchten (peregrinatio) und sie auf dem Festland fanden, doch zugleich Missionare wurden; dazu gehören Tausende von Ordensleuten, die in der Neuzeit die Mission als ihre Aufgabe entdeckten und die weiten Wege in der Fremde bahnten, um auf den damals weitgehend unbekannten Kontinenten Amerika, Asien und Afrika den »neuen Weg« des Christentums (Apg 9,2) bekannt zu machen.18 Pilgerinnen und Pilger machten sich immer wieder neu auf den Weg zu den großen Wallfahrtsorten Jerusalem und Rom, aber auch auf den »Camino«, das verzweigte Netz der Wallfahrtswege nach Santiago de Compostela, das ganz Europa durchzieht. Ignatius von Loyola machte sich auf den spirituellen und intellektuellen Pilgerweg durch europäische Städte. In Lateinamerika kennen die einzelnen Länder regionale und nationale Wallfahrten zu den Heiligtümern, aber auch Wallfahrtsorte mit übernationalem Charakter wie das Heiligtum der Virgen de Guadalupe in Mexiko-Stadt. Die Gottesvolk selbst, das aus allen Menschen gerufen ist und in allen Völkern wohnt, zeichnet sich durch seine »Universalität« aus (Lumen gentium 13), ist demnach das weltweit ausgesandte wandernde Volk Gottes und damit eine »pilgernde Kirche« (Lumen gentium 14) unter den Völkern und in der Menschheit.

Dass dies nicht nur im Großen und Ganzen gilt, sondern auch ganz persönlich und für das gemeinsame Unterwegssein, macht Kardinal Bergoglio deutlich, wenn er das Modell des »unermüdlichen Pilgers« und seine Spiritualität des Weges entfaltet:

In dieser Spiritualität des Unterwegsseins gerät man überdies leicht in Versuchung, den gemeinschaftlichen Aspekt der Pilgerschaft aus den Augen zu verlieren: Man verrät sein Volk und läuft wie ein Verrückter den Marathon des Erfolgs. Damit gefährden wir unseren Stil und werden zu Mitläufern in einer Kultur der Ausgrenzung, in der alte Menschen keinen Platz mehr haben, Kinder als störend empfunden werden und niemand Zeit hat, am Wegrand stehen zu bleiben. Besonders groß ist die Versuchung, wenn man den neuen, modernen Dogmen der Effizienz und des Pragmatismus anhängt. Deshalb braucht es sehr viel Mut, um gegen den Strom zu schwimmen, um nicht auf die mögliche Utopie zu verzichten: dass es nämlich die Inklusion ist, die den Stil und Rhythmus unserer Schritte prägt.19

Eine besondere Wertschätzung des Erzbischofs gilt dabei der für Lateinamerika typischen Volksfrömmigkeit, welche wie die Weisheit die Wege des Volkes und des Einzelnen begleitet. Das Dokument von Aparecida bezeichnet die Volksfrömmigkeit als »Mystik des einfachen Volkes« (Nr. 262), in der ein großes Potenzial an Heiligkeit und Gerechtigkeit enthalten sei. Sie ist eine Art des Glaubens, in der sich das Volk, das mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten auf dem Weg ist, selbst evangelisiert und zugleich missionarisch agiert. Im Rahmen des Volkskatholizismus,20 der Devotion und Bitte hochhält, gelten vor allem Maria und die Heiligen als tröstende Begleiter und gleichsam Relaisstationen für die Bitten auf dem Lebensweg. Einer der in Buenos Aires besonders verehrten Heiligen ist San Cayetano (Kajetan), ein frühneuzeitlicher Kirchenreformer und Gründer des Theatinerordens, der im popularen Stadtviertel Liniers am Rande der Stadt sein Heiligtum hat, zu dem regelmäßig viele Menschen strömen. Dort pflegte Erzbischof Bergoglio am Festtag des Heiligen im August die Predigt zu halten, und selbst als Papa Francisco ließ er es sich nicht nehmen, via Videoportal YouTube seine Botschaft zu übermitteln. In einer Predigt hielt er fest:

Denn der Heilige ist gleichsam ein besonderes Ohr unseres Vaters für eine besondere Bitte seines Volkes: die Bitte um Brot und Arbeit. Die Heiligen sind wie die Ohren Gottes, und für jede Not seines Volkes gibt es einen besonderen Schutzpatron. In diesem Sinne können auch wir Heilige sein: Wir können in unserer Familie, in unserem Viertel, überall dort, wo wir uns aufhalten und arbeiten, Ohren Gottes sein.21

Bei seinem Amtsantritt am 19. März 2013 sagte der neue Bischof von Rom, das Amt des Nachfolgers Petri sei »ein Amt, das auch Macht beinhaltet«. Aber um welche Macht handelt es sich dabei? Bei der Antwort greift er genau den Titel dieses Buches auf. Was er hier geschrieben hat, gilt auch in seinem Amt als Papst. »Vergessen wir nie, dass die wahre Macht der Dienst ist, und dass auch der Papst, um seine Macht auszuüben, immer mehr in jenen Dienst eintreten muss, der seinen leuchtenden Höhepunkt am Kreuz hat …«22

Mit einfachen Gesten und Worten hat Papst Franziskus einen neuen, überzeugenden Stil der Verkündigung kreiert, der Kontemplation und Aktion zur Synthese von Spiritualität und Solidarität zusammenführt. Wer das kommunikative Geheimnis von Papst Franziskus kennenlernen möchte, seine humane Zuwendung zu den anderen in allen Lebenslagen, wird in diesem Buch eine authentische Antwort finden. Denn hier breitet Kardinal Bergoglio als Bischof einer Großstadt seine pastorale Weisheit aus, indem er die Bibel auf den urbanen Kontext hin auslegt und die Fragen und Anliegen des modernen Menschen im Licht des Evangeliums betrachtet. Hier wird die Mystik der ignatianischen Weltfreudigkeit an konkreten Situationen des Alltags durchgespielt. Und es wird die kreative Kraft des Volkes Gottes deutlich, das auch in der späten Moderne seinen Weg geht. Die Inspiration, die dieses Buch vermittelt, gehört nun der Weltkirche.

Prof. Dr. Michael Sievernich SJ

Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Hochschule Sankt Georgen, Frankfurt

VORWORTDES ARGENTINISCHEN VERLEGERS

Vor einigen Jahren hat Editorial Claretiana damit begonnen, kleinere Schriften des Erzbischofs von Buenos Aires zu veröffentlichen, die von unseren Lesern sehr gut aufgenommen worden sind. Seither steht auch die Idee im Raum, alle seine Werke in einem einzigen Band herauszugeben. … Ich bin überzeugt, dass diese Texte nicht nur der Teilkirche von Buenos Aires, sondern dem ganzen Volk Gottes hervorragende Dienste leisten können.

Wir – das Herausgeberteam – haben das Buch in gewisse Kernbereiche gegliedert, die uns das Denken und die Lehre von Jorge Bergoglio näherbringen. Ein erster Teil umfasst die katechetischen, pädagogischen und marianischen Schriften; ein zweiter Kernbereich die Weihnachts-, Gründonners- tags-, Oster und Fronleichnamspredigten. Abschließend folgt eine Reihe von Texten, die dem Dialog mit der Welt der Kultur gewidmet sind.

Trotz dieser Einteilung gibt es gewisse Konstanten, die das ganze Buch, all seine Positionen und damit auch das gesamte pastorale Handeln seines Autors durchziehen und die ich hier kurz herausstellen möchte:

Da ist auf der einen Seite die Herausforderung, »ein Gemeinwesen zu schaffen«, auf den Ruf »tief in unserem Inneren« zu hören und »Freude und Zufriedenheit zu stiften, indem wir gemeinsam ein Zuhause errichten, gemeinsam unsere Heimat aufbauen«. Und auf der anderen Seite ist es angesichts der schwierigen und komplexen Verhältnisse, in denen wir leben, geradezu eine Pflicht, »uns von der Kraft der sozialen Freundschaft versammeln und verwandeln [zu] lassen, damit aus den vielen Gruppen und Kulturen, die unser Land bevölkert haben und bevölkern, ein Volk wird. Ein Volk, das auf die Zeit setzt und nicht auf den Augenblick«

Über alledem steht der Dienst, das Tun »durch und für die anderen«. … Macht ist Dienst. Dieses Dienen allerdings hat nichts mit Servilität – blinder Unterwerfung unter die Autorität – zu tun. Wir müssen »in das Reich der Dienstbereitschaft eintreten, jenen Raum, der auch unser Engagement für das Gemeinwohl umfasst und unsere eigentliche Heimat ist«.

Und schließlich müssen wir uns der Zerbrechlichkeit bewusst sein, die uns in jeder Dimension unseres Lebens – im persönlichen Bereich, in unseren Familien, im Beruf, in der Gesellschaft – begegnet. »Wir müssen uns der Zerbrechlichkeit unseres Volkes annehmen. Das ist die Gute Nachricht: dass wir, so arm, zerbrechlich, verwundbar und klein wir auch sein mögen, wie Maria in all unserer Niedrigkeit mit Güte angeschaut worden sind und einem Volk angehören, dem von Geschlecht zu Geschlecht die Barmherzigkeit des Gottes unserer Väter gilt.«

P. Gustavo Larrazábal CMF

Verlagsleiter von Editorial Claretiana

Buenos Aires

Jorge Mario Bergoglio/Papst Franziskus

DIE WAHRE MACHT IST DER DIENST

»DIE WORTE, DIE ICH ZU EUCH GESPROCHEN HABE, SIND GEIST UND SIND LEBEN« (Joh 6,63)

»Kehr um und glaub an das Evangelium«

»Kehr um und glaub an das Evangelium«, mit diesen Worten hat uns der Priester am vergangenen Mittwoch das Aschenkreuz auf die Stirn gezeichnet.

Stellen wir diesen Appell wirklich an den Beginn dieser Fastenzeit. Damit unser Herz erschüttert wird, damit es sich öffnet und an das wahre Evangelium glaubt: nicht an ein Comic-Evangelium, nicht an ein Light-Evangelium, nicht an ein gefiltertes Evangelium, sondern an das wahre Evangelium. Ganz besonders von Ihnen als Katecheten wird das heute erwartet: »Kehrt um und glaubt an das Evangelium!«

Doch es ist vor allem eine Mission, welche die Kirche Ihnen anvertraut: Sorgen Sie dafür, dass andere an das Evangelium glauben. Wenn die anderen Sie sehen, wenn sie erkennen, was Sie tun, wie Sie sich verhalten, was Sie sagen, was Sie fühlen, wie Sie lieben – dann sollen sie an das Evangelium glauben können.

Das Evangelium erzählt, dass der Geist Jesus in die Wüste geführt und Jesus dort unter den wilden Tieren gelebt hat, als sei dies das Normalste von der Welt. Das erinnert uns daran, wie es am Anfang war: Der erste Mann und die erste Frau lebten unter den wilden Tieren, und das war völlig normal. Im Paradies war alles Frieden, alles war Freude. Sie wurden in Versuchung geführt, und auch Jesus wurde in Versuchung geführt.

Nachdem Jesus sich hat taufen lassen, will er den Beginn seines Lebens wie eine Neuauflage dessen gestalten, was am Anfang war. Diese Geste Jesu – dass er in Frieden mit der ganzen Natur, in fruchtbarer Einsamkeit des Herzens und in der Versuchung lebte – zeigt uns, wozu er in die Welt gekommen ist. Er ist gekommen, um wiederherzustellen, um zu erneuern. Im Lauf des Jahres haben wir in einem Tagesgebet während der Messe etwas sehr Schönes gebetet: »Gott, du hast alles wunderbar erschaffen und noch wunderbarer wiederhergestellt.«

Seiner wunderbaren Berufung folgend ist Jesus gekommen, um die Dinge neu zu erschaffen, um sie wieder in Einklang zu bringen, um selbst inmitten der Versuchung Harmonie zu erzeugen. Ist uns dies bewusst? Und die Fastenzeit ist dieser Weg. Wir alle müssen während der Fastenzeit Raum schaffen in unserem Herzen, damit Jesus mit der Kraft seines Geistes – desselben Geistes, der ihn in die Wüste geführt hat – unser Herz wieder in Einklang bringt. Aber nicht, wie einige es gern hätten, nämlich in Übereinstimmung mit einigen wenigen Gebeten und plumpen Vertraulichkeiten. Sondern mit der Mission, mit dem apostolischen Einsatz, mit dem täglichen Gebet, mit der Arbeit, der Anstrengung, dem Zeugnis. Wir sollen Raum schaffen für Jesus, weil die Zeit drängt, wie uns das Evangelium sagt. Wir leben bereits in der Endzeit, schon seit 2000 Jahren, in jener Zeit, die Jesus eingeleitet hat – genau der richtigen Zeit für diesen Prozess, der alles wieder harmonisch werden lässt.

Die Zeit drängt. Wir haben nicht das Recht, uns die Seele zu streicheln. Uns in unser stilles Kämmerlein, in das Klein-Klein unseres Lebens zurückzuziehen. Wir haben kein Recht, uns ruhig zu verhalten und nur uns selbst zu lieben. Wie toll ich doch bin! Nein, dazu haben wir kein Recht. Wir müssen hinausgehen und erzählen, dass es vor 2000 Jahren einen Mann gegeben hat, der das irdische Paradies wiederherstellen wollte und genau dazu in die Welt gekommen ist. Um die Dinge wieder in Einklang zu bringen. Wir müssen es »Doña Rosa«1 erzählen, die gerade auf dem Balkon steht. Wir müssen es den Kindern erzählen. Wir müssen es denen erzählen, die keine Träume mehr haben, und jenen Menschen, denen alles gleichgültig, für die alles Tangomusik,2 alles »Cambalache«3 ist. Wir müssen es der koketten Dicken erzählen, die ewiges Leben mit ewiger Jugend verwechselt und sich die Falten straffen lässt. Wir müssen es den jungen Leuten erzählen, denen man ansieht, dass wir heute alle »in einen Topf« geworfen werden sollen – wie der dort auf dem Balkon. Fast meint man ihn singen zu hören: »Nur zu, mach, was du willst, ist doch eh alles egal.«4

Wir müssen hinausgehen und mit diesen Leuten in der Stadt sprechen, die wir auf den Balkonen sehen. Wir müssen unseren geschützten Bereich verlassen und ihnen sagen, dass Jesus lebt, für ihn, für sie, und wir müssen es ihnen voller Freude sagen … auch wenn es einem vielleicht manchmal ein bisschen verrückt vorkommt. Die Botschaft des Evangeliums ist eine Torheit, sagt der heilige Paulus. Unser Leben wird zu kurz sein für diese Aufgabe: allen zu verkündigen, dass Jesus das Leben wiederherstellt. Wir müssen hinausgehen und Hoffnung säen, wir müssen hinaus auf die Straße. Wir müssen hinaus und nach den Leuten suchen.

Wie viele alte Menschen haben – ähnlich wie diese Doña Rosa – ihr Leben satt, haben oft nicht einmal genug Geld, um Medikamente zu kaufen. Wie vielen Kindern werden Ideen in den Kopf gesetzt, die wir als vermeintlich neue Erkenntnisse begeistert aufgreifen – dabei hat man sie vor zehn Jahren in Europa und den Vereinigten Staaten auf den Müll geworfen und präsentiert sie uns jetzt als großen pädagogischen Fortschritt.

Wie viele Jugendliche sehen keinen Sinn in ihrem Leben und betäuben sich mit Drogen und mit Lärm, weil niemand ihnen erzählt hat, dass da etwas Großes ist. Wie viele Menschen sieht man auch in unserer Stadt am Tresen sitzen, weil sie den Schnaps brauchen, um ihre Sehnsucht hinunterzuspülen und zu vergessen. Wie viele gute, aber eitle Menschen leben vom Schein und laufen Gefahr, überheblich und stolz zu werden.

Und da sollen wir zuhause bleiben? Uns in unsere Gemeinde zurückziehen? Uns auf dem Friedhofsgelände verschanzen, in der Schule oder in der Pfarrkirche? Wie sehnsüchtig warten alle diese Leute auf uns! Die Leute in unserer Stadt! Einer Stadt, die religiöse Reserven, die kulturelle Reserven hat, einer kostbaren, wunderschönen Stadt, in der aber der Versucher sein Unwesen treibt. Wir können nicht für uns bleiben, wir dürfen uns nicht in der Pfarrei und in der Schule einschließen. Katechet, hinaus auf die Straße! Verkündige den Glauben, suche nach den Menschen, klopfe an die Türen. An die Türen der Herzen.

Sobald sie [die Jungfrau Maria] die Gute Nachricht gehört hatte, eilte sie hinaus, um einem anderen Menschen zu dienen. Eilen auch wir hinaus, um zu dienen: um den anderen die Gute Nachricht zu bringen, an die wir glauben. Das soll unsere Umkehr sein: die Gute Nachricht Christi gestern, heute und immer. Amen.

(Predigt an Katecheten, EAC, im März 2000)

Sich finden lassen, um Begegnung zu stiften

Jeden zweiten Samstag im März haben wir die Gelegenheit, einander auf dem EAC [Encuentro Arquidiocesano de Catequesis: »Katechese-Treffen des Erzbistums«] zu begegnen. Dort nehmen wir gemeinsam den Jahreszyklus der Katechese wieder auf und konzentrieren uns auf einen Leitgedanken, der uns im Lauf des Jahres begleiten soll. Es ist eine intensive Zeit des Austauschs, der Feier, der Gemeinschaft, die für mich – und ganz sicher auch für Sie – sehr wichtig ist.

Bald feiern wir das Fest des heiligen Pius X., des Patrons der Katecheten. Grund genug für mich, Ihnen – jedem Einzelnen von Ihnen! – diesen Brief zu schreiben. Ich möchte Ihnen jetzt, mitten in den Aktivitäten, da vielleicht schon die ersten Anzeichen von Müdigkeit zu spüren sind, als Vater und Bruder Mut zusprechen und Sie einladen, innezuhalten und mit mir gemeinsam über einen Aspekt der katechetischen Pastoral nachzudenken.

Ich tue dies in dem Bewusstsein, dass ich als Bischof berufen bin, der erste Katechet der Diözese zu sein … Doch vor allem möchte ich auf diesem Weg die Anonymität der Großstadt überwinden, welche der persönlichen Begegnung, die wir uns sicherlich alle wünschen, so oft im Wege steht. Außerdem ist dies vielleicht eine zusätzliche Möglichkeit, die gemeinsame Linie der katechetischen Pastoral in unserem Erzbistum noch einmal zu skizzieren und damit innerhalb der natürlichen und gesunden Vielfalt einer so großen und komplexen Stadt wie Buenos Aires eine gemeinsame Grundlage zu schaffen.

Ich möchte mich in diesem Brief weniger mit einem bestimmten Aspekt der katechetischen Praxis als vielmehr mit der Person des Katecheten selbst befassen.

Zahlreiche Dokumente erinnern uns daran, dass die gesamte christliche Gemeinschaft für die Katechese verantwortlich ist. Das ist nur natürlich, denn die Katechese ist ein wichtiger Teilbereich der Evangelisierung. Und Evangelisierung geht die ganze Kirche an; deshalb sind für diese vertiefende Einführung in das Mysterium der Person Christi »nicht bloß Katechisten und Priester … sondern die ganze Gemeinde der Gläubigen« (Ad gentes, 14) zuständig. Die Katechese würde ernstlich beschädigt, wollte man sie dem isolierten und solistischen Handeln der Katecheten überlassen. Dieses Bewusstsein werden wir uns immer wieder mühsam erarbeiten müssen. Der Weg zu einer ganzheitlichen Pastoral, den wir vor Jahren eingeschlagen haben, hat spürbar dazu beigetragen, dass die gesamte christliche Gemeinde sich nun stärker um die christliche Initiation, Bildung und Erziehung zur Glaubensreife bemüht. Was diese gemeinsame Verantwortung der christlichen Gemeinde für die Weitergabe des Glaubens betrifft, kann ich nicht umhin, an die Realität der Person des Katecheten zu erinnern.

Die Kirche betrachtet die Katechese als eine Form des Dienens, die im Lauf der Geschichte dafür gesorgt hat, dass die Kunde von Jesus von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Nicht ausschließlich, aber in besonderer Weise erkennt die Kirche in diesem Teil des Gottesvolkes die Kette von Zeugen wieder, von der im Katechismus der Katholischen Kirche die Rede ist: »Der Glaubende hat den Glauben von anderen empfangen«; er ist wie »ein Glied in der großen Kette der Glaubenden. Ich kann nicht glauben, wenn ich nicht durch den Glauben anderer getragen bin, und ich trage durch meinen Glauben den Glauben anderer mit« (Katechismus der Katholischen Kirche, 166).

Wir alle entdecken, wenn wir uns an unser persönliches Glaubenswachstum erinnern, Gesichter bescheidener Katecheten, die uns mit dem Zeugnis ihres Lebens und mit ihrem großzügigen Engagement geholfen haben, Christus kennen- und lieben zu lernen. Voller Zuneigung und Dankbarkeit erinnere ich mich an Schwester Dolores vom Colegio de la Misericordia de Flores, die mich auf meine Erstkommunion und auf meine Firmung vorbereitet hat. Und bis vor einigen Monaten hatte ich regelmäßigen Kontakt zu einer weiteren meiner Katechetinnen: Es hat mir gutgetan, sie zu besuchen, ihren Besuch zu empfangen oder mit ihr zu telefonieren. Auch heute gibt es viele Jugendliche und Erwachsene, die nach wie vor in stiller Demut Werkzeuge des Herrn sind, um die Gemeinschaft von unten her aufzubauen und das Himmelreich Gegenwart werden zu lassen.

Deshalb denke ich heute an jeden einzelnen Katecheten und will auf einen Aspekt verweisen, der mir in unserer gegenwärtigen Situation besonders wichtig erscheint: die persönliche Beziehung des Katecheten zum Herrn.

Mit großem Weitblick mahnt uns Johannes Paul II. in seinem Apostolischen Schreiben Novo Millennio ineunte: »Unsere Zeit ist in ständiger Bewegung, die oft den Zustand der Ruhelosigkeit erreicht, mit der Gefahr des ›Machens um des Machens willen‹. Dieser Versuchung müssen wir dadurch widerstehen, dass wir versuchen zu ›sein‹, bevor wir uns um das ›Machen‹ mühen. Wir denken in diesem Zusammenhang an den Vorwurf Jesu gegenüber Marta: ›Du machst dir viele Sorgen und Mühen. Aber nur eines ist notwendig‹ (Lk 10,41f.)« (Novo Millennio ineunte, 15).

Die Mitte des Seins und der Berufung jedes Christen ist die persönliche Begegnung mit dem Herrn. Gott zu suchen heißt, sein Antlitz zu suchen, sich in sein Innerstes zu versenken. Jede Berufung und erst recht die des Katecheten setzt eine Frage voraus: »Meister, wo wohnst du? – Komm und sieh« (vgl. Joh 1,38f.). Von der Qualität der Antwort, von der Tiefe der Begegnung hängt die Qualität der Vermittlung ab, die wir als Katecheten leisten. Die Kirche steht auf dem Fundament dieses »Komm und sieh«. Diese persönliche Begegnung und Nähe zum Meister liegt der echten Jüngerschaft zugrunde, verleiht der Katechese ihren unverwechselbaren Charakter und hält die Rationalismen und Ideologisierungen fern, die immer auf der Lauer liegen, um der Guten Nachricht ihre Lebendigkeit und Fruchtbarkeit auszusaugen.

Die Katechese braucht heilige Katecheten, die allein durch ihre Anwesenheit schon ansteckend wirken und mit dem Zeugnis ihres Lebens helfen, eine individualistische Zivilisation zu überwinden: eine Zivilisation, die von »einer minimalistischen Ethik und einer oberflächlichen Religiosität« geprägt ist (Novo Millennio ineunte, 31). Es ist heute wichtiger denn je, dass wir uns von der Liebe finden lassen, die immer die Initiative ergreift, um den Menschen die Gute Nachricht der Begegnung nahezubringen.

Mehr denn je ahnen wir heute hinter den vielen Ansprüchen unserer Zeitgenossen eine Suche nach dem Absoluten, in der sich zuweilen der Schmerzensschrei einer geschundenen Menschheit Bahn bricht: »Wir möchten Jesus sehen« (Joh 12,21). Es sind viele Gesichter, die diese Bitte schweigend an uns richten – und ihr Schweigen sagt mehr als tausend Worte. Wir kennen sie gut: Sie sind mitten unter uns, sie sind Teil dieses Glaubensvolks, das Gott uns anvertraut. Gesichter von Kindern, von Jugendlichen, von Erwachsenen … Einige von ihnen haben den reinen Blick des »Lieblingsjüngers«, andere blicken zu Boden wie der verlorene Sohn. Und es fehlt auch nicht an Gesichtern, die von Schmerz und Verzweiflung gezeichnet sind.

Doch sie alle warten, suchen, wollen Jesus sehen. Und deshalb brauchen sie die Gläubigen und vor allem die Katecheten, die imstande sind, »nicht nur von Christus zu ›reden‹, sondern ihnen Christus zu zeigen, ihn gleichsam ›sehen‹ zu lassen. […] Unser Zeugnis wäre jedoch unerträglich armselig, wenn wir nicht zuerst Betrachter seines Angesichtes wären« (Novo Millennio ineunte, 16).

Mehr denn je verpflichten die derzeitigen Probleme die von Gott Gerufenen, sein Volk zu trösten und fest im Gebet verwurzelt zu sein, damit wir uns »dem paradoxesten Gesichtspunkt seines Geheimnisses« nähern können, »der Stunde des Kreuzes« (Novo Millennio ineunte, 25). Nur aus der persönlichen Begegnung mit dem Herrn heraus können wir den Dienst der zärtlichen Liebe verrichten, ohne unter der Last von Schmerz und Leid in die Knie zu gehen oder zu zerbrechen.

Mehr denn je muss sich heute jeder Schritt auf den Mitmenschen zu und jeder kirchliche Dienst auf die Voraussetzung und Grundlage der Nähe und Vertrautheit mit dem Herrn stützen. Auch Marias Besuch bei Elisabet, die Hilfsbereitschaft und Freude, von der er getragen ist, werden nur im Licht der Begegnung und hörenden Aufmerksamkeit verständlich und wirklich, die sich in der Stille von Nazaret zugetragen hat.

Unser Volk ist der Worte müde: Es braucht keine Schulmeister, sondern Zeugen … Und der Zeuge schöpft seine Kraft aus der Innerlichkeit, aus der Begegnung mit Jesus Christus. Jeder Christ und erst recht der Katechet muss vor allem in der Kunst des Betens unablässig ein Schüler seines Meisters sein. »Beten muss man lernen, indem man diese Kunst immer aufs Neue gleichsam von den Lippen des göttlichen Meisters selbst abliest. So haben es die ersten Jünger getan: ›Herr, lehre uns beten!‹ (Lk 11,1). Im Gebet entwickelt sich jener Dialog mit Christus, der uns zu seinen engsten Vertrauten macht: ›Bleibt in mir, dann bleibe ich in euch‹ (Joh 15,4)« (Novo Millennio ineunte, 32).

Deshalb müssen wir die Einladung Jesu, hinaus auf den See zu fahren, als einen Appell und eine Ermutigung verstehen, uns in die Tiefe des Gebets hineinfallen zu lassen. Diese Tiefe verhindert, dass der Same unter den Dornen erstickt. Manchmal ist unser Fischfang erfolglos, weil wir ihn nicht in seinem Namen durchführen; weil wir allzu sehr an unsere eigenen Netze denken … und vergessen, mit ihm und für ihn zu arbeiten.

Die Zeit, in der wir leben, ist nicht einfach; es ist keine Zeit für flüchtigen Enthusiasmus oder für sporadische, sentimentale oder gnostische Formen der Spiritualität. Die katholische Kirche verfügt über eine reiche spirituelle Tradition mit zahlreichen und ganz unterschiedlichen Lehrern, die uns Anleitung und Kraft für eine echte Spiritualität geben können – eine Spiritualität, die uns in der heutigen Zeit zu einer Diakonie des Zuhörens und einer Pastoral der Begegnung befähigt. Wenn Sie das dritte Kapitel des päpstlichen Schreibens Novo Millennio ineunte aufmerksam lesen, werden sie dort die Inspirationsquelle für vieles entdecken, das ich heute mit Ihnen habe teilen wollen. Nur um zum Ende zu kommen, will ich Sie nun bitten, sich verstärkt um drei Aspekte zu bemühen, die für das spirituelle Leben jedes Christen und erst recht des Katecheten grundlegend sind.

Die persönliche und lebendige Begegnung in der betenden Lesung des Gottesworts

Ich danke dem Herrn dafür, dass sein Wort bei den Katechetentreffen immer stärker ins Zentrum rückt. Mir ist überdies klar, dass die biblische Ausbildung der Katecheten große Fortschritte gemacht hat. Es besteht allerdings die Gefahr einer unterkühlten Exegese oder einer distanzierten Anwendung der biblischen Texte, wenn die persönliche Begegnung fehlt, die unerlässliche Beschäftigung mit der Heiligen Schrift, die jeder Gläubige und jede Gemeinde regelmäßig pflegen muss, damit »das Hören des Wortes zu einer lebendigen Begegnung in der alten und noch immer gültigen Tradition der lectio divina wird. Sie lässt uns im biblischen Text das lebendige Wort erfassen, das Fragen an uns stellt, Orientierung gibt und unser Dasein gestaltet« (Novo Millennio ineunte, 39). Hier wird der Katechet die Inspirationsquelle seiner ganzen Pädagogik finden, die unweigerlich von der Liebe geprägt sein wird – einer Liebe, die sich in Nähe, Opfer und Gemeinschaft ausdrückt.

Die persönliche und lebendige Begegnung in der Eucharistie

Wir alle erfreuen uns als Kirche an dieser nahen und täglichen Gegenwart des auferstandenen Herrn bis zum Ende der Geschichte. Es ist das zentrale Geheimnis unseres Glaubens, das Gemeinschaft stiftet und uns in unserer Sendung bestärkt. Der Katechismus der Katholischen Kirche erinnert uns daran, dass wir in der Eucharistie das gesamte Gut der Kirche finden. In ihr haben wir die Gewissheit, dass Gott seiner Verheißung treu ist und bis zum Ende der Zeiten bei uns bleibt (vgl. Mt 28,20).

Im Besuch und in der Anbetung des Allerheiligsten erfahren wir die Nähe des Guten Hirten, die Zärtlichkeit seiner Liebe, die Gegenwart unseres treuen Freundes. Wir alle haben diese große Hilfe erfahren, die der Glaube uns bietet: die vertraute und persönliche Zwiesprache mit dem Herrn im Sakrament. Und der Katechet darf nicht vor dieser schönen Berufung zurückweichen, über das zu sprechen, was er geschaut hat (vgl. 1 Joh 1ff.).