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Lehrer, Erzieherinnen und Eltern wollen jungen Menschen eine Erziehung schenken, die sie zum selbständigen Leben befähigt. Im Alltag brauchen sie dabei oft gute Nerven und etwas, das auch ihnen selbst Halt und Orientierung gibt. Der heutige Papst Franziskus hat sich in seiner Zeit als Erzbischof von Buenos Aires intensiv und konkret mit den Themen Wertevermittlung und Persönlichkeitsbildung auseinandergesetzt. Seine – oft biblisch begründeten – Impulse sind geerdet, weil sie nicht bei Idealen, sondern in den Erfahrungen des Alltags ansetzen. Von dort her fragen sie nach Möglichkeiten, junge Menschen so zu begleiten, dass diese sich selbst und andere bejahen können und wollen. Dieser Band bietet eine Auswahl an Texten, die auch in Europa die religiöse Erziehung unterstützen und inspirieren werden.
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Seitenzahl: 205
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Jorge Mario Bergoglio SJPapst Franziskus
ERZIEHEN MITANSPRUCHUND LEIDENSCHAFT
Die Herausforderungenchristlicher Pädagogik
Aus dem Spanischen von Gabriele Stein
Mit einer Einführung von Michael Sievernich SJ
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2014
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Umschlaggestaltung: Designbüro Gestaltungssaal
Umschlagmotiv:© dpa Picture-Alliance
E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
ISBN (Buch) 978-3-451-33539-6
ISBN (E-Book) 978-3-451-80171-6
INHALT
Warum der Papst sich für Pädagogik interessiertEinführung von Michael Sievernich SJ
Vorwort zur spanischen Ausgabe
KATHOLISCHE ERZIEHUNG HEUTE: EINE GROSSE HERAUSFORDERUNG
Zeugen des auferstandenen Jesus
Die Herausforderungen unserer Kultur
Die Gabe Christi in anderen hervorbringen
Erziehen: die große Aufgabe, die Jesus Ihnen anvertraut
SICH WIEDER ERINNERN: EINE GRUNDLEGENDE AUFGABE
Die Erziehungsgemeinschaft als Kirche im Kleinen
Sich erinnern
Unser Glaube: Reichtum eines Volkes
Wir haben ein Projekt
Auf Erneuerung hin geeint
BOTEN DER HOFFNUNG SEIN
Pilger oder Verirrte?
Die Krise als Herausforderung zur Hoffnung
Uns den Weg zur Hoffnung bahnen
Auf dem Pfad der Unterscheidung
Die Wurzeln der Hoffnung
Die Hoffnung und die Geschichte
Einladungen
UNSERE GEMEINSCHAFTEN: OFFEN FÜR DIE NÖTE DER MENSCHEN
Ein gastliches Herz
In der Asche aufwachsen: die Verwaisung in der Gegenwartskultur
Die Erfahrung der Diskontinuität
Die Formen der Entwurzelung
Der Verlust der Gewissheiten
Die Vernunft: vergöttert, geschmäht und neu bewertet
Die Wiederherstellung der Rationalität
Das Wort: offenbarend und schöpferisch
Einladungen
MIT KÜHNHEIT UND MITEINANDER
Jesus, menschgewordene Weisheit Gottes
Unser Fundament: Christus, Gottes Weisheit
Dimensionen der christlichen Weisheit
Mit dem Meister Lehrer sein
Drei Herausforderungen
MIT UNRUHIGEM HERZEN
Sich auf den Weg machen
Mit unruhigem Herzen
Die Wahrheit wird euch frei machen
Zeugen der Wahrheit
Unterwegs in der Hoffnung
Einführung von Michael Sievernich SJ
Die höchste und wahre Schönheit
ist die Gerechtigkeit.
Augustinus1
Am 10. Mai 2014 war der ehrwürdige Petersplatz in Rom wie verwandelt. Mehr als 300000 Schülerinnen und Schüler mit ihren Familien und Lehrpersonen aus Italien waren zum Treffen mit Papst Franziskus gekommen. Sie verwandelten den Petersplatz und die Via della Conciliazione bis zum Tiber in ein riesiges Klassenzimmer und ein einziges Schulfest. Vor dem Papstpodium auf den sanften Stufen zur Basilika standen eine Schultafel und ein Flügel. Dort traten in einem farbenfrohen Spektakel Politiker und Entertainer auf, unterbrochen von Tanzeinlagen. Höhepunkt dieses Festes für die Schule war die kurze, immer wieder von Applaus begleitete päpstliche Ansprache, sowie das gemeinsame Gebet und der abschließende Segen.
Franziskus hielt ein eindrucksvolles Bekenntnis zur Bedeutung der Schule, welche die Sprachen des Geistes, der Hände und des Herzens zu lehren und den Sinn für das Wahre, Gute und Schöne zu wecken habe. »Ich liebe die Schule« (amo la scuola), sagte er, und diese Überzeugung habe ihm seine erste Lehrerin beigebracht. Die Schule lehre die Realität und sei ergänzend zur Familie ein Ort der »Kultur der Begegnung«.2
Papst Franziskus misst den Fragen von Bildung und Erziehung ein großes Gewicht bei. Das hat er schon als Erzbischof von Buenos Aires so gehalten, wie sich an diesem Buch ablesen lässt. Es enthält seine Ansprachen und Botschaften an all jene, die im Raum der Kirche pädagogisch tätig sind, von den Vätern und Müttern als den ersten Erziehern eines Kindes bis zu den Lehrern, darunter zahlreiche Ordensfrauen und -männer, die in Argentinien vielfältig im Schuldienst tätig sind. Darüber hinaus richtet er sich auch an Lehrerinnen und Lehrer, die ihren Beruf in den öffentlichen Schulen nicht nur mit pädagogischer Kompetenz, sondern auch aus christlicher Überzeugung leisten.
Mit seinen Beiträgen will er in Zeiten des Umbruchs, ja des drohenden »Schiffbruchs«, Leuchttürme aufstellen, die Orientierung geben. Es geht ihm dabei nicht um den Rückzug aus der (pädagogischen) Welt, sondern im Gegenteil um das engagierte Heraustreten aus der Selbstbezogenheit in eine anderen zugewandte Pädagogik. Wie man dort Gott suchen und finden kann, so lautet eine Formel des heiligen Ignatius von Loyola. Oder auf den Lehr- und Erziehungsalltag übertragen: Wie kann man jungen begeisterungsfähigen Menschen bei ihrer (religiösen) Suche und Lebenswahl helfen und sie zu einem Leben aus dem Glauben ertüchtigen?
Die rettenden Planken
Kardinal Bergoglio leitet seine pädagogischen Überlegungen mit einem wuchtigen Bild ein: dem Schiffbruch. Dahinter steckt eine klassische Vorstellung, die auf die Unwägbarkeiten und Unsicherheiten des Lebens verweist. Wer in See sticht, hat zwar unendliche Horizonte vor sich, verlässt aber auch den sicheren Hafen. Er kann Fremdes kennenlernen und neue Weltanschauungen gewinnen, aber auch in Stürme geraten und den ungewissen Ausgang der Lebensreise befürchten.
Seit der Antike wird diese Metapher verwendet, und da nun auch in postmodern gepflügten Meeren kein Ende der menschlichen Irrfahrten abzusehen ist, lag es für den argentinischen Erzbischof Bergoglio nahe, sie neu anzuwenden und auf unsere Zeit zu beziehen: »So haben wir postmodernen Schiffbrüchigen uns – von den verschiedenen Fundamentalismen bis hin zum New Age, von der Mittelmäßigkeit unseres eigenen Glaubenslebens bis hin zu den Lehren derer, die christliche Versatzstücke verwenden, dabei aber das Wesentliche des christlichen Glaubens verwässern – an den vollen Regalen des Supermarkts der Religionen bedient. Das Ergebnis ist der Theismus: ein Olymp aus Göttern, die ›nach unserem eigenen Bild und uns ähnlich‹ geschaffen sind und unsere Unzufriedenheit, unsere Ängste und unsere mangelnde Selbstkritik widerspiegeln.« (In diesem Band vgl. S. 27)
Wie immer die Kalamitäten im menschlichen Dasein und im christlichen Leben aussehen mögen, das Bild vom Schiffbruch signalisiert auf realistische Weise die vielfältigen Möglichkeiten des Scheiterns, schließt aber im christlichen Kontext auch die Hoffnung auf rettende Planken ein. Im vorliegenden Buch beschreibt Bergoglio zahlreiche gegenwärtige Gefährdungslagen, die gerade Kinder und Jugendliche betreffen. Zugleich verweist er aber auch auf die zahlreichen rettenden Planken, welche die Kirche mit ihren biblischen Schriften und sakramentalen Ritualen, mit ihrer Liturgie und Diakonie, mit ihrer Pastoral und Weisheit, mit ihren Institutionen im Bildungswesen zur Verfügung stellt.
Die Gefährdungslagen, die sich besonders in der Großstadt zeigen, fasst Bergoglio unter dem Stichwort der »Verwaisung«, das auf Generationen hindeutet, die nie ein Zuhause hatten, weil sie elternlos aufgewachsen sind oder wo sich die Eltern nicht hinreichend um die Kinder gekümmert haben, die ihrem Zuhause entfremdet oder vor den Zuständen davongelaufen sind. Sicher hat der argentinische Kardinal dabei das extreme soziale Problem der Straßenkinder vor Augen, deren Zahl weltweit auf etwa 100 Millionen geschätzt wird, ein Drittel davon allein in Lateinamerika und der Karibik; aber auch auf europäischen Straßen sind sie zu finden. Es sind minderjährige Kinder und Jugendliche, die weitgehend oder gänzlich obdachlos auf der Straße leben, dort zu überleben versuchen und keinerlei schützende Erziehung oder Schulbildung erhalten. Sie stammen meist aus den »wilden« Ansiedlungen rund um die Städte, den so genannten Elendsvierteln, deren Einwohner freilich eine andere Sicht auf Ihr Leben haben und es auch anders gestalten wollen.
Seit etwa fünfzig Jahren existiert die von dem Jesuitenpater José María Vélaz SJ in Venezuela gegründete Organisation »Fe y Alegría« (Glaube und Freude), die inzwischen in den meisten Ländern Lateinamerikas, aber auch darüber hinaus verbreitet ist und heute etwa 1,2 Millionen Jugendliche in Schulzentren, Radioschulen oder pädagogischen Zentren erreicht. Die Organisation versteht sich als eine Bewegung integraler Erziehung und sozialer Förderung (Movimiento de Educación Popular Integral y Promoción Social) und bietet Bildung innerhalb und außerhalb von Schuleinrichtungen. Dabei kümmert sie sich in erster Linie um an den Rand gedrängte und von den Kreisläufen gesellschaftlichen Lebens ausgeschlossenen Bevölkerungsgruppen. Der nachgewiesene Erfolg dieser »glaubens-basierten Schulen« hat viele Gründe,3 darunter die Familienkultur, die Flexibilität, die Netzwerkstruktur und die Motivation der Mitarbeiter.
Handelt es sich hierbei wie bei den Schulen in kirchlicher Trägerschaft um Erziehungs- und Bildungseinrichtungen, so kommt es Kardinal Bergoglio vor allem auf die geistigen Hintergründe pädagogischen Handelns an. Denn er spricht zu praktisch orientierten Fachleuten in Fragen der familialen Erziehung und der schulischen Bildung und möchte ihnen die humanen, spirituellen, existentiellen und theologischen Dimensionen ihres Tuns nahebringen. Daher will er der »Verwaisung«, der geistigen und spirituellen Entwurzelung etwas entgegensetzen, und zwar durch bewusstes pädagogisches Handeln und eine christliche Erziehung.
Schulen sollen laut Bergoglio Orte sein, die den Einzelnen aufnehmen, akzeptieren, Begegnung und Bindung ermöglichen. So bieten sie den Schiffbrüchigen gleichsam rettende Planken, von denen ihm drei besonders wichtig erscheinen. Zum einen betont er die wieder zu gewinnende Erinnerung im Sinne einer Rückkehr zu den Wurzeln und einer gleichzeitigen Ausrichtung in die Zukunft. Es handelt sich um die Erinnerung an die Gegenwart des Herrn in der eigenen Biographie, um die Erinnerung im Leben der Völker, aber auch um das kulturelle und religiöse Gedächtnis der Kirche, in das die Erinnerung an Gottes Heilsgeschichte mit seinem Volk und an Christi Passion und Auferstehung eingegraben ist. Eine biblische Matrix dieser Erinnerung ist die Begründung der Gebote, die von Generation zu Generation weiterzugeben ist: »Wenn dich morgen dein Sohn fragt: Warum achtet ihr auf die Satzungen, Gesetze und Rechtsvorschriften, auf die der Herr, unser Gott, euch verpflichtet hat, dann sollst du deinem Sohn antworten: Wir waren Sklaven des Pharao in Ägypten, und der Herr hat uns mit starker Hand aus Ägypten geführt.« (Dtn 6, 20 –21) Eine pädagogische Professionalität ist also ethisch und religiös eingebettet. In Bergoglios Worten: »Wir müssen dafür sorgen, dass unsere Arbeit Früchte bringt, ohne darüber die Resultate zu vernachlässigen; wir müssen eine Bildung anbieten, die unentgeltlich, aber deshalb nicht weniger effizient ist; und wir müssen Raum für eine Exzellenz schaffen, die nicht zulasten der Solidarität geht.« (In diesem Band vgl. S. 146)
Zweitens betont er die persönliche und soziale Bindung. Gemeint ist damit vor allem Freundschaft und Solidarität. In der Schule geht es natürlich um möglichst effiziente Wissensvermittlung auf kognitiver Ebene, doch kommt es beim Lehrpersonal auch darauf an, »Lehrer der Menschlichkeit« (in diesem Band vgl. S. 88) zu sein, d. h. wechselseitigen Respekt, Bindungsfähigkeit, Sinn für Gerechtigkeit und Barmherzigkeit zu fördern. Zum Dritten schließlich hebt Bergoglio die Weisheit hervor, die wie die Bindung eine intellektuelle, affektive und praktische Seite hat und daher mit Kopf, Herz und Hand zu tun habe. »Die weisheitliche Dimension umfasst das Wissen, das Fühlen und das Tun. In der Einheit des verstehenden, liebenden und staunenden Seins bringt sie die intellektuelle Einsicht, das Streben nach dem Besitz des Guten und die Betrachtung des Schönen miteinander in Einklang.« Diese von Thomas von Aquin systematisierte Sicht taucht bei Kardinal Bergoglio und auch heute bei Papst Franziskus immer wieder auf und verweist auf die Verwandtschaft dieser drei Dimensionen und ihren göttlichen Grund. Auch zeige das Neue Testament Jesus als »einen Lehrer der Weisheit, der uns von der Schönheit und Güte der Liebe Gottes kosten lässt, und als Gottes heilende Kraft« (in diesem Band vgl. S. 113).
Ein Leuchtturm: Ignatianische Pädagogik
Was hat den damaligen Kardinal Jorge Mario Bergoglio bewogen, sich regelmäßig an die praktizierenden Pädagoginnen und Pädagogen zu wenden? Darauf gibt es mehrere Antworten: Zum einen sind seine eigenen positiven Erfahrungen zu nennen, die er als Schüler mit guten Lehrerinnen und Lehrern sowie verständnisvollen Priestern machte. Auch seine Erfahrungen als Erwachsener waren positiv, als er mit Ende zwanzig eigene Erfahrungen als Lehrer sammelte. Drei Jahre, von 1964 bis 1966, unterrichtete er vor allem Literatur am Colegio de la Inmaculada Concepción in der nordöstlichen Stadt Santa Fé und am Colegio del Salvador in der feinen Avenida Callao von Buenos Aires. Mit den Schülern in Santa Fé behandelte er nicht nur die klassischen Texte des üblichen Schulstoffs, sondern ermutigte sie auch dazu, selbst Erzählungen zu schreiben. Unterstützt wurden sie dabei auch vom berühmten argentinischen Schriftsteller Jorge Luis Borges, der von Bergoglio in den Unterricht eingeladen wurde.
Doch sind es nicht nur subjektiv bedeutsame Erfahrungen, die Bergoglios Vorliebe für die Pädagogik weckten, sondern auch gesellschaftliche Gründe. Sicher bewegte und bewegt ihn die krisenhafte Situation der Gegenwart, die gerade den pädagogischen Sektor betrifft und vor neue Herausforderungen stellt. Auch sieht er die schwierige Situation, in der sich Kinder und Jugendliche zwischen den beiden Polen Globalisierung und Individualismus befinden. Nicht zuletzt prägte ihn auch die pädagogische Tradition des Jesuitenordens, die Jorge Mario Bergoglio durch die Ausbildung in der Gesellschaft Jesu und die Lehrtätigkeit an Jesuitenkollegien kennengelernt und verinnerlicht hat.
Ignatius von Loyola, der Begründer des Ordens, hatte die desolate Situation erfasst, in der sich Erziehung und Bildung der Jugend zu Beginn der Neuzeit befand, und sich ihr deshalb besonders zugewandt. Zu seiner Zeit gab es kein staatlich geordnetes und flächendeckendes Bildungssystem, weshalb die junge Gesellschaft Jesu gerade diese Frage zu einer ihrer ersten und vordringlichen Aufgaben machte. Bald kamen auf Bitten von Städten, Fürsten oder Bischöfen Schulen auf verschiedenen Ebenen hinzu, die Kollegien genannt wurden und eine eigene Pädagogik herausbildeten.4 Dabei folgte Ignatius einem urbanen Konzept und nahm schön gelegene Orte in den Blick, die zugleich nicht in ländlicher Einsamkeit liegen sollten, sondern an zentralen Orten, an denen viele Menschen zusammenkommen, also im Herzen der Städte. Dort sollten die Kollegien nicht nur unentgeltlich exzellente Bildung bieten, sondern auch der Erbauung und dem Wohl der Stadt dienen.
In der Zeit bis zur Aufhebung des Ordens (1773) entstanden Hunderte dieser Kollegien in fast allen europäischen Ländern, aber auch in Übersee, von Mexiko und Brasilien bis Indien und Japan. Sie haben über Jahrhunderte stilbildend auf die Erziehung und Bildung der Jugend gewirkt, vor allem durch eine gemeinsame Studienordnung von 1599 (Ratio studiorum), mit der die Organisation, Lehrmethode und Lerninhalte festgelegt, aber auch Frömmigkeit, künstlerischer Ausdruck und Persönlichkeitsbildung gefördert wurde. Grundlage jesuitischer Bildung waren dabei die »humanistischen Studien«, zu denen vor allem die Beherrschung der alten und neuen Sprachen gehörte, aber auch das Wissen über Rhetorik, Geschichte und Geographie.
Man kann diese pädagogische Methode als »Erziehung zur Würde« bezeichnen, wie dies der polnische Philosoph Leszek Kołakowski getan hat. Als er 1977 in der Frankfurter Paulskirche den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt, nahm er die alle totalitären Systeme kennzeichnende Erziehung zum Hass aufs Korn und plädierte für eine Erziehung zur Würde. In der jesuitischen Philosophie sei eine solche Erziehung vorgesehen, so Kołakowski, da sie voraussetze, dass niemand hoffnungslos verdorben sei und »dass alle natürlichen Triebe und Energien etwas Gutes enthalten und zum Guten gelenkt werden können, so dass die übernatürliche Hilfe immer etwas findet, woran sie anknüpfen kann.«5 Eine positive Sicht auf den Menschen und seine Erziehung zur Würde seien zugleich eine Erziehung zur Demokratie. Auch in der Gegenwart stehen viele Schulen weltweit in der Verantwortung des Ordens und folgen den Prinzipien der ignatianischen Pädagogik. Diese geht von einer positiven Anthropologie aus, ist weltbejahend, ganzheitlich und fördert die religiöse Dimension. Sie nimmt den Einzelnen in den Blick, betont die Eigenaktivität und ist wert- und glaubensorientiert. Sie möchte auf einen an Glaube und Gerechtigkeit orientierten Lebenseinsatz vorbereiten und zur aktiven Mitgliedschaft in der Kirche erziehen, auf das Außergewöhnliche – das magis, das »Mehr« – zielen und den Sinn für Gemeinschaft fördern.
Christliche Bildung und Erziehung
Wenn Papst Franziskus die Pädagogik als besondere Herausforderung benennt, dann gilt dies zunächst allgemein, wie aus seinem viel beachteten Apostolischen Schreiben Evangelii gaudium (2013) hervorgeht. In dieser Schrift, die übrigens rasch zu einem Bestseller wurde,6 plädiert er für eine Erziehung, »die ein kritisches Denken lehrt und einen Weg der Reifung in den Werten bietet«. Dabei unterstreicht er – wie auch in den Beiträgen dieses Bandes – immer wieder die Bedeutung der katholischen Schulen, die neben ihrer erzieherischen Aufgabe auch einen wertvollen Beitrag »zur Evangelisierung der Kulturen« erbringen, »auch in den Ländern und in den Städten, wo eine ungünstige Situation uns anregt, unsere Kreativität einzusetzen, um die geeigneten Wege zu finden.«
Bei der Thematisierung von Bildung und Erziehung geht es dem Kardinal Bergoglio und heutigen Papst nicht um fachwissenschaftliche Diskurse im weiten Feld der Pädagogik oder im engeren Bereich der Religionspädagogik, sondern um grundlegende anthropologische und theologische Fragestellungen und deren Übertragung auf die Lebenspraxis. So bringt er die Transzendenz ins Spiel, betont die Emotion jenseits des Rationalen und hebt Kategorien wie Begegnung, Bindung, Erinnerung, Person, Weisheit hervor. Bis in jüngste Texte hinein verweist er auf das Zusammenspiel von Wahrheit, Güte und Schönheit, wobei für ihn die Schönheit des Evangeliums, des Dienstes, des Glaubens bis hin zur »Schönheit Gottes« eine besondere Rolle spielt. Das erinnert an die biblische Selbstbezeichnung Jesu als »guter Hirt«, was eigentlich als »schöner Hirt« zu übersetzten ist. Damit knüpft Papst Franziskus an eine Theologie der Schönheit an, wie sie Augustinus in der späten Antike exemplarisch entwickelt hat. Er begreift die liebende Erinnerung der Schönheit, in der das schöpferische Prinzip wirkt, als Weise der Erkenntnis Gottes, als Augenblick der Ewigkeit in der Zeit. In ähnlicher Weise hält Kardinal Bergoglio fest: »Unser Glaube ist hierophantisch, kann also das Heilige im Profanen erkennen«. (In diesem Band vgl. S. 53)
Die lange Bildungstradition der Kirche, in der biblisch-religiöse Erziehung und griechisch-philosophische Bildung (paideía) zusammenlaufen, zeigt die große Wertschätzung gegenüber allem pädagogischen Tun. Sie kommt auch darin zum Ausdruck, dass mit dem Zweiten Vatikanum erstmals ein Konzil pädagogische Fragestellungen aufgenommen hat. In seinen Dokumenten verweist das Pastoralkonzil auf den Kulturauftrag der Kirche, zu der die Erziehung (educatio) des Menschen hin zu einer vollständigen Kultur seiner selbst sowie der Einklang der Kultur mit der christlichen Bildung (institutio) zählen.7 Vor diesem Horizont entfaltet das Konzil das Programm einer christlichen Erziehung und die Charakteristika einer katholischen Schule.8 Das Dokument gründet das unveräußerliche Recht auf eine Erziehung auf die allen Menschen eigene Würde. Papst Franziskus sagt es so: »Eine wahre Erziehung (educatio) verfolgt aber die Formung (formatio) der menschlichen Person in Hinordnung auf ihr letztes Ziel und zugleich auf das Wohl (bonum) der Gesellschaften, deren Glied der Mensch ist und an deren Pflichten (officium) er, wenn er erwachsen geworden ist, Anteil haben wird.«
In institutioneller Form stehen die konfessionellen und damit auch die über 900 katholischen Schulen vor der Frage, wie die allgemeinen pädagogischen Erfordernisse und Zielsetzungen so mit ihrem spezifischen Profil verschmolzen werden können, dass sie ein pädagogisch und religiös attraktives Angebot für Kinder und Jugendliche darstellen, aber auch für Eltern, denen eine wertgeprägte, gemeinschaftsorientierte und christlich bestimmte Bildung und Erziehung wichtig ist. So verstehen sich auch katholische Schulen als Institutionen, in denen sich Glaube, Kultur und Leben wechselseitig durchdringen und durch welche die Schülerinnen und Schüler befähigt werden sollen, wertbezogene und christlich motivierte Haltungen und Urteilsfähigkeit einzuüben.9 Es gilt das Leitbild einer Erziehungsgemeinschaft, in dem Eltern, Kinder und Lehrpersonen zusammenwirken am gemeinsamen Projekt von Erziehung und Bildung.
In staatlichen Schulen geht es darum, den Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach mit drei vornehmlichen Aufgaben anzufüllen: die Vermittlung eines strukturierten und lebensbedeutsamen Grundwissens über den Glauben; die Einübung der Formen gelebten Glaubens und die Ermöglichung von Erfahrungen mit Glaube und Kirche; die Förderung der religiösen Dialog- und Urteilsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler; dabei kommt dem Lehrpersonal an der Schnittstelle von Kirche und Schule eine besondere Bedeutung zu.
Neuere Diskurse zu (religiöser) Bildung und Erziehung bringen neue Aufgaben mit sich, wie etwa die Entwicklung einer Kindertheologie, die auch die Religionsausübung und den Zugang zu Bildungsinstitutionen gewährleisten sollen. Aber auch kritische Rückfragen zur religiösen Erziehung werden vermehrt gestellt: Behindert religiöse Erziehung die Selbstwerdung, brauchen Kinder überhaupt Religion? Auf diese Fragen geben Religionspädagogen beider christlicher Konfessionen durchaus ökumenische Antworten. Eine davon artikuliert fünf Grundelemente religiösen Lernens, die auf die Bedürfnisse der Kinder eingehen: Kinder brauchen Gott, Kinder brauchen Jesus, Kinder brauchen Be-Geist-erung, Kinder brauchen Gemeinschaft, Kinder brauchen Religionsunterricht.10
Das Buch von Papst Franziskus / Jorge Mario Bergoglio greift diese Grundfragen einer christlichen Pädagogik auf und unterstreicht geist- und kraftvoll die Herausforderungen, welche die Megathemen von Bildung und Erziehung für die Zukunft der Menschheit bilden. Es zeigt, wie Lehrerinnen und Lehrer im pädagogischen Berufsalltag die Herausforderung annehmen und im pluralistischen Zeitalter christliches Zeugnis geben (können). Und es zeigt, wie Schulen einen religiösen Boden schaffen, auf dem jene Werte entstehen können, die für ein gelingendes Leben unabdingbar sind. Menschen, die durch christliche Pädagogik die Würde der Person gelernt haben und sich daran ausrichten, werden zum Salz in der Suppe säkularer Gesellschaften. Orientierung ist ihre Würze. Sie kommt von dort, wo Christus als »Sonne der Gerechtigkeit« (Maleachi 3, 20) in aller Schönheit aufgeht.
Für viele von uns Ordensmännern und Ordensfrauen ist die Erziehungsmission Teil unseres Charismas. Diese Mission ist schon immer mehr als ein Beruf gewesen: Sie ist eine Berufung, eine Herausforderung und eine Aufgabe – zumal heute, in einer sich wandelnden, schwindelerregenden, globalisierten Gesellschaft, die bisweilen die Richtung und auch das Gespür für den Wert der menschlichen Person verliert. Genau das bringt Papst Franziskus im Verlauf dieses Buches zum Ausdruck. In den gehaltvollen Texten, die Jorge Mario Bergoglio als Erzbischof von Buenos Aires an die Pädagogen seines Landes gerichtet hat, erläutert er mit Klarheit, Tiefe und unverbrüchlicher Hoffnung, wie wir uns den Herausforderungen unserer Zeit stellen und darauf reagieren können.
Zwei Ordensverlage (Publicaciones Claretianas und Editorial CCS) haben sich zusammengetan, um diese Texte1 zu edieren und sie sowohl im schulischen als auch im sozialen Bereich einer möglichst großen Anzahl von Pädagogen zugänglich zu machen. Damit bringen sie ihre Sorge um die katholische Schule zum Ausdruck und verdeutlichen ihren Wunsch, einen Beitrag zur Ausbildung der Pädagogen und der jungen Generationen zu leisten.
Die überaus aktuellen Texte greifen unsere Befürchtungen, unsere Träume und die konkreten Verhältnisse auf, in denen wir leben. Bergoglio ruft uns zu: »Wir christlichen Pädagogen sind Zeugen: Zeugen in der Zeit der Postmoderne, einer Zeit des Übergangs, die man treffend als eine ›Kultur des Schiffbruchs‹ charakterisieren könnte. […] Wir haben aktiv an dieser Situation teil: Wir sind Schiffbrüchige. Ein Schiffbrüchiger ist immer allein mit sich selbst: mit seinem Sein, mit seiner Geschichte. Sie ist sein größter Reichtum.«
Unser Sein als christliche Pädagogen, unsere Geschichte und die Geschichte der Einrichtungen, denen wir angehören oder an denen wir unserer gemeinsamen Mission und Arbeit nachgehen, sind unser Reichtum. Sein und Geschichte müssen uns die Kraft und die Fähigkeit verleihen, die Worte und Taten unserer Gründer auf kreative Weise neu zu lesen. »Erinnerung«, so schreibt Bergoglio, »ist sehr viel mehr als nur die Dankbarkeit für alles, was uns geschenkt worden ist: Sie will uns lehren, mehr zu lieben, will uns in unserem begonnenen Weg bestärken.« »Bitten wir also um die Gnade, unsere Erinnerung wiederzuerlangen«; sie »kann uns aufrütteln, sodass wir das Wort Gottes intensiver erfassen«. »Die Erinnerung der Völker ist kein Computer, sondern ein Herz.« Gerade jetzt, da wir mit neuem pädagogischem Rüstzeug alte Werte bewahren wollen, ist es besonders wichtig, uns auf unsere Wurzeln, unsere Träume und unsere ursprüngliche pädagogische Intuition zu besinnen und sie auf den gegenwärtigen Kontext anwenden zu können.
Dieses Buch kann uns – um im Bild vom Schiffbruch zu bleiben – als ein nützlicher Kompass dienen, der uns den Kurs angibt. Den vier Himmelsrichtungen entsprechen dabei vier Leitbegriffe, die uns im Laufe des Textes immer wieder begegnen:
Norden: Jesus Christus. Das tragende Fundament unserer Identität. Gottes menschgewordene Weisheit, unsere Grundlage und unser Meister. Auf ihn muss all unser Tun bezogen sein. Jesus und sein Evangelium verkünden. Den Glauben stärken, den Glauben feiern und ihn engagiert leben: in der Kirche, mit der Kirche und mit allen Menschen guten Willens.
Süden: Im Dienst des Menschen, jedes Menschen und insbesondere der Ärmsten und Schwächsten – um ihrem Leben Würde und Sinn zu geben. Das hilft uns, die wahre Anthropologie zu entdecken. Auf diese Weise können die Kinder und Jugendlichen, denen wir dienen, eine neue Menschheit hervorbringen.
Osten: Als Erziehungsgemeinschaft. Das heißt in der Gruppe, als ein Leib mit vielen Gliedern, die einander ergänzen und Hand in Hand arbeiten: Familie, Schule, Gemeinde, städtische Verbände … »Eine Erziehungsgemeinschaft ist eine Kirche im Kleinen: größer als die Familie und kleiner als die Diözesankirche. Ein Platz zum Leben und Zusammenleben. In ihr pilgern wir als Kinder Gottes und als Brüder und Schwestern der Ewigkeit entgegen.« »Wir sind eingeladen, eine Kultur der Gemeinschaft zu stiften«, »wahrhaftige Zeugen zu sein für das, was man glaubt und liebt, und dieses Zeugnis geschwisterlich zu leben, indem wir versuchen, nicht unsere eigenen Trübungen, sondern das Wort eines Anderen zu spiegeln.« Das heißt, es geht um Verständnis, um die Fähigkeit, zuzuhören und miteinander zu reden, um die gemeinsame Suche, um Teamgeist, Führungsqualitäten … Es geht darum, »Bande und Verbindungen zu Menschen, Gedanken und Orten zu knüpfen, damit die Heranwachsenden Zugehörigkeit erfahren«.
Westen: Mit Kreativität, Kühnheit und als Boten der Hoffnung. In dem Wissen, dass wir Pilger sind und eine Saat ausbringen. Ohne an uns und unseren Erfolg zu denken. Nicht die Ernte ist wichtig, sondern die Aussaat. Unermüdlich auf der Suche nach dem, was unserer gesellschaftlichen Realität und dem Leben der Kinder und Jugendlichen, denen wir dienen, am angemessensten ist. Mit einer Mentalität und Methodologie der Demut, Sanftmut, Toleranz, Aufgeschlossenheit und Kreativität; ohne Furcht, kampfbereit und leidensfähig. »Die christliche Hoffnung widerspiegeln« und uns »mit wahrhaft österlichem Geist der Wirklichkeit stellen«.
Vergessen wir nicht: Es gibt keine Geburt ohne Schmerzen, und die Ähre kann nur wachsen, wenn das Weizenkorn zuvor in die Erde gefallen, aufgebrochen und gestorben ist. All das aber werden wir leben, wenn wir uns in unserem Selbst und in unserem Tun für das Leben entscheiden.