Die Wandernden zwischen den Welten - Manfred Chaluppa - E-Book

Die Wandernden zwischen den Welten E-Book

Manfred Chaluppa

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Beschreibung

Vier Erzählungen über vier menschliche Schicksale. Tragisch, aber auch hoffnungsvoll. Gibt es einen zeitlich fortlaufenden Zusammenhang zwischen ihnen? Wer weiß es schon?

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DAS BUCH

Dies sind die Erzählungen von vier menschlichen Schicksalswegen. Tragisch, aber auch hoffnungsvoll verlaufend. Vielleicht gibt es doch einen zeitlich fortlaufenden Zusammenhang zwischen ihnen. Wer weiß es schon?

DER AUTOR

Geboren 1944 im damaligen Ostpreußen, besuchte Manfred Chaluppa die Volksschule und wurde von Beruf Maschinenschlosser. Nach einer Berufsqualifizierung erhielt er die Möglichkeit, an einer Fachhochschule und Universität zu studieren. Die meiste Zeit seiner Berufsjahre war er als Sozialpädagoge mit der Betreuung neuro-psychisch Erkrankter beschäftigt.

Er ist ein begnadeter, guter Zuhörer und macht sich stets Notizen über Gespräche. Nun fühlt er, dass seine Lebenserwartung immer kürzer wird. Auch das abnehmende Suchen hat ihm die innere Ruhe verschafft, all diese Mitteilungen in seinen Erzählungen darzulegen. Die Mitteilenden wurden dazu von ihrer Zahl her immer weniger.

Sei gegrüßt, du Wanderer zwischen den Zeiten. Das Meer hat dich gesehen und der Himmel, auch die Erde und das Nichts.

Hast du sie auch gesehen?

Oder konntest du nicht den Kopf wenden und heben?

Die Möwen sind nun flussaufwärts gezogen und werden nie mehr wiederkehren, in den Morgen, mit der Kraft des Aufstehens.

Manfred Chaluppa

Inhalt

In Gleichheit vereint

Nur der Steuermann sieht das Kielwasser

Er wird es schenken! Er wird es lenken!

Hinein in die Gegenwart

Nachtrag

Weitere Veröffentlichung

Die erste Erzählung handelt von den Lebenswegen zweier Menschen, Soljanka und Mani. Sie trafen einander. War es nun Zufall? Waren beide füreinander bestimmt? Oder auch nur ein Traum? Wer wird es jemals erfahren?

In Gleichheit vereint

»Ob’s donnert oder kracht, ob die Sonne uns lacht, die Panzer so sicher zum Erringen der Macht …«

Ein Millionenheer, gut ausgerüstet und bewaffnet, schwenkte siegesgewiss ab, gen Süden. Vergessen war die Schmach der bitteren Niederlagen im vorherigen Jahr vor Moskau. Man marschierte wieder siegesgewiss voran. Sie kamen schon näher heran an diese Stadt, die auch den Namen eines Führers der dort stattgefunden Revolution trug.

Zur selben Zeit hatte einer dieser kämpfenden Soldaten seinen Fronturlaub, in der Sommerzeit, mit seiner jungen blonden Frau und ihren drei noch kleinen Kindern in seiner deutschen Heimat verbracht. Es war wunderbar! Man genoss die warmen Sonnentage. Die Kinder liebten es, draußen im Sand zu spielen oder auch im Wasser zu planschen. Mutter und Vater kamen sich auch, in ihrer Sehnsucht verbunden zu sein, immer wieder näher und fühlten ihre warmen, weichen Körper und Lippen.

Das alles ging nun dem Ende entgegen. Der deutsche Soldat verabschiedete sich mit den zuversichtlich klingenden Worten: »Na, dann wollen wir das mal auch erledigen!« Dann fuhr er mit einem Truppenzug in die weite russische Steppe.

Mit seiner Division kamen sie gut voran. Es wurden feindliche Stellungen niedergemacht. Häuser in Brand geschossen. Geraubt und Menschen umgebracht. Er war so sehr von dem Sieg seines Landes und seines über alles verehrten Führers überzeugt!

Sie umzingelten mit ihrem Riesenheer die große Stadt an diesem breiten, grau und träge dahinfließenden Fluss. Es war die Wolga.

Dann flog eine Flugzeugarmada über diese hinweg, und sie sahen, dass die Stadt mit all ihren Gebäuden, Straßen, Autos und Bahnen, ihrem Grünland, alles Lebendem durch explodierende Bomben in Schutt und Asche versank.

Sie, er und seine Kameraden, wie sie sich untereinander nannten, konnten nun schnell in die Vororte der Stadt vordringen.

Es wurde Abend. Sie brachen in die armselig aussehenden Häuser ein, um sich ein Nachtquartier zu beschaffen. Die dort noch lebenden Bewohner wurden dann einfach aus ihren Wohnstätten mit den Drohungen, erschossen zu werden, sollten sie nicht schnellstens verschwinden, vertrieben. In panischer Angst verließen die meisten, in großer Furcht vor diesen Soldaten, ihre Wohnstätten.

Er, dieser Soldat, und seine Mitkämpfer rammten auch mit ihren Gewehrkolben und Bajonetten die Türe eines Hauses ein. Und sie fanden darin eine Familie, eine Mutter mit fünf oder sechs Kindern, den Großeltern. Sie saßen alle beisammen, wie zu Stein erstarrt, blickten zu den einbrechenden Soldaten.

Es war ein erbärmlicher Anblick! Die meisten der kleineren Kinder trugen nur ein Leibchen an ihren zarten Körpern. Ihre Beinchen und Arme waren vor Hunger dürr wie die Körperglieder einer Spinne geworden. Ihre ungewaschenen Häupter wirkten grau und fahl mit ihren, die Soldaten anschauenden großen traurigen Augen. Ein größeres, schon zu einer Frau heranwachsendes Mädchen, befand sich auch unter ihnen. Es hielt eines der kleinen Kinder an der Hand. Sie schaute immer wieder angstvoll nach diesen fremden Soldaten.

Der Soldat sah dies alles. Ja, und dann, ganz überraschend, hatte er das Gefühl, dass er wieder bei seiner Familie, seiner Frau, seinen Kindern sei. Er sah sie ausgezehrt vor sich. Fühlte auf einmal ihren Hunger, ihr Elend mit. Er drehte sich nach seinen anderen Kameraden um, die dazu übergehen wollten, diese Bewohner aus ihren Behausungen zu vertreiben. In dem Moment, als sie von irgendetwas abgelenkt wurden, stellte er seinen Armeetornister auf einen Tisch. Packte seine Ration Nahrung, Brot, Butter, Speck aus und forderte die Mutter der Kinder auf, davon zu essen. Sie hielten zuerst inne, und dann wagten sie sich an die Lebensmittel heran. Ihre Mutter gab jedem von ihnen eine halbe Brotscheibe, bestrich diese mit Butter und schnitt den Speck in Scheiben. Alle fingen zu essen an. Es herrschte eine seltsame, stille Atmosphäre in dem Raum.

Und ganz zufällig trafen sich die Blicke dieses Soldaten mit denen dieser jugendhaft Heranwachsenden. Er verspürte auf einmal eine Sehnsucht, den Wunsch, gepaart mit einem aufkommenden Heimweh: »Ach könnte ich sie doch noch einmal, einmal in meinem Leben wiedersehen.«

Dann kam sein Gruppenführer in den Raum. Dieser herrschte ihn im Befehlston sofort an, dass dieses, was er dort getan habe, in der Wehrmacht strengstens verboten sei. Das deutsche Volk brauche weiteren Lebensraum und dürfe auf andere deswegen keine Rücksicht nehmen, so belehrte er ihn. Die junge Russin stand auch dabei. Vernahm dies alles, schlug ihre Augen auf und schaute diesen guten Menschen sanft an. Ihr Blick wirkte wie weich, so empfand es dieser Soldat jedenfalls in einem kurzen Moment.

Die Familie wurde aus dem Raum gedrängt. Der Soldatentrupp verbrachte eine ruhige, warme Nacht in diesem bescheiden eingerichteten Holzhaus. Dann zogen die Soldaten weiter. Steckten noch einige der Ortshäuser in Brand.

Der mitfühlende Soldat erhielt nach einigen Tagen eine Aufforderung, sich doch bei der Armeeführung zu melden. Das sei ein Befehl! Er folgte diesem.

In der Kommandantur wurde er von einer Gruppe von Offizieren verhört. Man warf ihm vor, dass er sich der Verbrüderung mit dem Feind schuldig gemacht habe. Das sei Fraternisieren und in allen Armeen der Welt strengstens verboten. Dann vernahm er noch den Befehl: »Abführen!«

Er war sehr verblüfft darüber und schwieg dazu. Das Militärtribunal richtete über ihn, verurteilte ihn zum Tode. Man ließ ihn nach einigen Tagen hinrichten. Er erhielt kein Soldatengrab. Man verscharrte ihn in einem Erdloch, in dieser weiten Steppenlandschaft. So fand er, trotz seiner jungen Jahre, auf ewig seine Ruhestätte in einem fernen Land. Seine Frau erhielt nach einigen Wochen die Mitteilung, dass ihr Ehemann auf dem Felde der Ehre für sein Vaterland gefallen sei.

Dieses heranwachsende russische Mädchen musste nun all die Härte des Kriegers weiter leidensvoll miterleben. Ihr Haus fiel den Flammen zum Opfer. Die Familie grub sich einen Erdbunker, in dem sie dann hausten. Die Großeltern und mehrere ihrer jüngeren Geschwister starben an Entkräftung.

Sie hörte das Geschützfeuer, die Gewehrsalven, die Schreie der vielen Verwundeten und sah in den Trümmern unzählige gefallene Soldaten und andere Bewohner. Dann meldete sie sich bei einer Sanitätseinheit zum Einsatz. Half mit, verwundete Soldaten zu den Verbandsplätzen auf dem gegenüberliegenden linken Flussufer zu schleppen.

Von einer Anhöhe aus sah sie, mit anderen im Einsatz, eine heranrückende feindliche Soldatenkolonne. Ausgerüstet mit Maschinengewehren, Artilleriegeschützen und Panzern. Sie hatten eine Flakabteilung, besetzt mit Frauen als Geschützbedienungen, eingekesselt. Nun schossen sie mit ihren Kanonen, ihren Waffen in deren Stellungen. Die Soldatinnen versuchten in aufschreiendem Untergang, die Rohre der Flaks in waagerechte Stellung zu bringen.

Doch es gelang nicht. Sie wurden alle von ihren Gegnern niedergemacht.

Sie wollte sich abwenden, um des furchtbaren Sterbens dieser vielen Frauen nicht mehr ansichtig zu sein. Irgendwohin, weg von diesem Geschehen, in die Landschaft schauen. Doch ihre Augen, voller Tränen, nahmen ihr die Sicht. Sie vernahm, aus der Ferne kommend, Motorengeräusche von Flugzeugen, Maschinengewehrsalven, Befehle, Schreie, das Detonieren von Granaten und Bomben. Dann überkam sie innerlich eine Leere.

In der darauffolgenden Nacht hatte es geschneit. Als der Morgen aufkam, war das Umland mit einer weißen Decke überzogen, anzuschauen wie ein riesengroßes Bettlaken, unter dem alles Umliegende begraben lag. Der Winter hatte Einzug gehalten.

Ihr Unterleib wölbte sich dabei immer mehr, und sie selbst litt stark unter einem ziehenden, immer vorhandenen Hungergefühl.

Mit einem nicht zu beschreibenden Blutzoll an Menschenleben wurden die feindlichen Truppen dann doch geschlagen, getötet, gefangengenommen und vertrieben. Sie zogen tausendfach, die meisten ohne Rückkehr, in die Gefangenschaft. Die Ruinen dieser Stadt waren befreit. Die wenigen Überlebenden trauten sich wieder ins Freie, in diese hinterlassene Trümmerlandschaft. Nun hieß es für sie nicht sterben, sondern leben wollen. Es gab nichts mehr. Keine Nahrung, keine Wärme, keine Kleidung. Nichts, gar nichts, nur Kälte und Hunger. Die Menschen fingen häufig kleine Nagetiere, um überleben zu können.

Die siegreiche Rote Armee, wie sie bezeichnet wurde, drängte ihre Feinde immer weiter zurück. Sie erreichten ein dreiviertel Jahr später ihre Landesgrenze und marschierten in das Land ihrer Gegner ein.

Auch dieses, zur Frau herangewachsene Mädchen überlebte. Und wie ein Wunder, gebar sie in dem Sommermonat des Jahres eine Tochter in einem städtischen Krankenhaus. Sie gab ihm den Namen Soljanka. Ihr Leib war aber von dem erduldeten Leiden so geschwächt, dass sie ihrem Neugeborenen nicht ihre warme, lebenspendende Muttermilch weitergeben konnte. Doch sie hatte das Glück, dass eine sie pflegende Krankenschwester ihr einen Vorrat an aufbauend wirkendem Milchpulver abgab. Ihr kleines, neugeborenes Lebewesen dankte ihr dafür, indem es am Leben blieb.

Es wuchs heran. Ging, als es älter wurde, begeistert zur Jungschar, dann zum Lernen in eine wieder errichtete Schule.

Dort hörte sie zum ersten Mal von dem verheißungsvollen Aufbau einer neuen Gesellschaft ohne Ausbeutung, mit gerechter Aufteilung der erarbeiteten, notwendigen Lebensgüter. Sie begeisterte sich immer mehr für diese gute Sache. Der Verwirklichung einer sozialistischen Gesellschaft. Meldete sich auch, als sie zu einer anmutenden jungen Frau heranwuchs, zu dieser Ehrenmannschaft. Sie hatte nun die Aufgabe, vor der hergerichteten Gedenkstätte der ruhmreichen, für das Vaterland gefallenen tausenden Soldaten in schön anzusehender Uniform Wache zu stehen. Ihre Mutter befestigte an ihren gebundenen Haarzöpfen zwei weiße Papierblüten. Vor der Stelle, wo zum Gedenken der Gefallenen des Großen Vaterländischen Krieges für ewig eine Flamme entzündet war, hielt sie nun in stolzer Haltung mit einem Gewehr in ihren Händen Wache. Ihr Blick war hocherhoben in die weite Ferne gerichtet. Es erfüllte sie mit Stolz, und sie fühlte, dass sie, wenn es sein musste, für ihr Vaterland auch ihr Leben hergeben würde.

Sie wunderte sich nur eines Tages, dass ihre Stadt einen neuen Namen erhielt. Stalin, diesen großen Führer, der sein Volk in diesem Krieg zum Sieg geführt hatte, sollte man vergessen. Sie fragte ihren gleichaltrigen Schulfreund, mit dem sie schon Zärtlichkeiten ausgetauscht hatte, nach dem Grund der Umbenennung der Stadt.

»Er, Väterchen Stalin, hat im eigenen Lande viel Unheil angerichtet«, klärte er sie auf.

Ihre Mutter, die tagsüber in einem Traktorenwerk am Fließband arbeitete, blieb weiterhin eine Anhängerin ihres großen revolutionären Führers. Sie bat aber auch, an den Sonntagen eine Kerze anzündend, in der heiligen Messe ihren allerhabenen Gott, dass ihrer Familie kein Leid geschehen solle. Sie trug vielleicht doch noch Zweifel in ihren Gefühlen, dass nicht Stalin, sondern dieser ewige Nichtfassbare ihr richtiger Gott sein müsse. Doch das Leben zeigte sich für sie von der harten Seite. Immer wieder kam es vor, dass die Versorgung an lebensnotwendigen Mitteln nicht genügte. Der Kampf, um weiter existieren zu können, war häufig sehr hart. Es fehlte noch an sehr vielem, was zum Leben benötigt wurde.

Soljanka wurde immer neugieriger, wer nun ihr Vater sei. Ja, und warum dieser auch nicht nach Hause komme? Sie mochte unbedingt einen Papa haben. Den brauche sie für ihr Leben! Zum Schmusen, zum Reden und um von ihm auch zu hören, was nun wichtig sei im Leben. Ihre Mutter musste ihr, nach langem Zögern erzählen, dass ihr Vater nie, niemals wiederkommen werde. Dass der große Krieg ihn verschlungen habe.

Nun ahnte sie, diese Heranwachsende, dass es etwas, welches für immer vergangen war, geben musste, welches niemals mehr wieder gegenwärtig sein konnte. Und ihr fiel dabei ein, dass es aber auch für sie etwas geben könne, was morgen sein konnte. So entwickelte sich in ihr der Wunsch, eine gute Schülerin zu sein. Gute Schulnoten zu erhalten, um dann auch später in einem zu erlernenden Beruf die Zukunft in ihrem sozialistischen Land mit aufbauen zu können. Sie wurde schon in jungen Jahren Mitglied dieser Partei, die den Sozialismus und sogar eine kommunistische Gesellschaft, wie es hieß, gestalten wolle. Folglich studierte sie dann noch an einer Hochschule Politische Ökonomie, um Lehrerin zu werden.

Doch nochmals eine Zeitspanne in die Vergangenheit zurückgehend. In Manis Land, welches Soljanka nicht ihr Leben gönnen wollte:

Es war im frühen Sommer des letzten Kriegsjahres gewesen. Manis Mutter half als Magd, genannt Hofgängerin, auf dem großen Gutsherrnhof, die geschnittenen Getreideähren zu binden, als ihre Wehen einsetzten. Andere Frauen legten sie auf einen kleinen, in der Nähe stehenden Leiterwagen und fuhren sie, so behutsam wie möglich, in das nahe Dorf. Betteten sie in ihrer Wohnstätte auf ein Lager. Erfahren und geschickt, weil sie schon mehreren Kindern das Leben geschenkt hatte, steuerte sie durch regelmäßiges Pressen ihre stürmisch, aber auch schmerzhaft anfühlenden Geburtswehen. Die herbeigerufene Hebamme unterstützte sie. Griff dabei ihre Oberschenkel. Drückte sie zum Öffnen des Muttermundes zur Seite. Redete beruhigend auf sie ein. Nach einer gewissen Weile war es da. Dieses kleine, neugeborene Wesen.

Es war ein Junge, und er wurde Mani genannt.

Seine anderen Geschwister, alle in einem Nebenraum untergebracht, spähten immer wieder durch das Schlüsselloch der Tür. Vernahmen mit einem Mal ein kräftiges Miauen ihres neu angekommenen Brüderchens. Seine ihm sein Leben erschenkte Mutter war eine kräftige Frau mit breiten Hüften und großen Brüsten. Sie hatte genügenden Vorrat für ihn von dem lebensaufbauenden, warmen Saft. Er gedieh in diesem Sommer prächtig.

Nur seltsam!

An manchen Tagen vernahmen die Menschen, noch in der Ferne liegend, so an der Grenze ihres Landes Deutschland, ein merkwürdiges dumpfes Grollen und Donnern. War es womöglich nur ein fernes, herannahendes Gewitter?

Der Sommer ging zu Ende. Es kam der Herbst. Erst die umgebende Natur buntfärbend, dann dunkelerscheinender mit Regenschauern, welche die kälter und kürzer werdenden Tage anzeigten. Die Nächte brachten den ersten Frost mit sich.

Ja, und dann für die dort wohnenden Menschen, als sie frühmorgens aus ihren Fenstern auf die Straßen schauten: Da sahen sie, Reih an Reih hintereinander Pferdegespanne, die vollbepackte Deichselwagen hinter sich her zogen. Auf ihnen saß eine Anzahl von Menschen, welche in wärmende Winterkleider verpackt waren.

Seine Geschwister liefen hinaus auf die Straße, fragten diese Menschen: »Wer seid ihr? Wo kommt ihr her? Wo wollt ihr hin?«

Einige antworteten, meist mit grimmiger Miene, dass sie auf der Flucht vor den russischen Soldaten, den Ivans, wie sie diese auch bezeichneten, seien.

»Ja, und wo wollt ihr hin?«

Sie wussten es nicht genau. Immer westwärts, riefen einige, um gleichzeitig nach etwas Essbarem, nach Brot und Milch zu fragen.

Was war geschehen?

Die ersten Panzer- und Geschützverbände mit ihren Infanteriegruppen hatten die deutschen Verteidigungslinien durchbrochen und überrollten nun die fremden Landesgrenzen. Meist verhielten sie sich noch abwartend, damit ihre immer mächtiger anschwellenden nachrückenden Divisionen mit ihnen in Kontakt bleiben konnten. Zum Winter hin verbanden sie sich zu mehreren großen Armeeverbänden. Mit ihren Soldaten, Geschützen, Panzern und Flugzeugen drangen sie dann immer tiefer in die östlichen Provinzen des Deutschen Reiches ein. Ihr Sieg über die Deutschen, diese Faschisten, wie sie diese auch nannten, die ja zu ihrer Vernichtung ihr Land überfallen, gemordet und zerstört hatten, war ihnen nicht mehr zu nehmen. Der Winter setzte dazu früh ein. Mit Schnee, Eis und bitterkalten Nächten. Flüchtlingstrecks gen Westen sah man nun immer häufiger auf den Straßen, vermischt mit hastig zurückflutenden Soldatenkolonnen. Dann kam auch der Tagesbefehl des Gauleiters der Provinz, dass man sich zur Flucht vor den Russen vorbereiten, bereitmachen solle.

Er war nun ein halbes Jahr auf der Erde, und in dieser Zeit prächtig gediehen. Seine Mutter, ohne seinen Vater, der als Soldat noch im Krieg war, seine Großmutter, ein junger, aus Polen stammender Zwangsarbeiter und seine beiden schon älteren Schwestern wurden dick vermummt auf den mit Decken, Betten, Hausrat und Nahrungsmitteln beladenen Pferdewagen gesetzt. Dann ging es in dem anbrechenden Tag mit dem Pferdegespann auf die Flucht vor der Roten Armee. Der Polenjunge war ein geschickter Kutscher, der es auch gut verstand, das eingespannte Pferd zu führen. Viele der Flüchtenden besaßen aber kein Pferdefuhrwerk. Sie kamen mit ihren Angehörigen zu Fuß. Schoben meist einen vollbepackten Kinder- oder Leiterwagen vor oder zogen diesen hinter sich her. Die Kinder, welche schon laufen konnten, gingen ahnungslos neben ihren Müttern her. Die ganz Kleinen lagen entweder dick eingewickelt auf den Wagen oder andere Familienangehörige trugen sie umwickelt an ihren Körpern.