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1970 gelang den Brüdern Messner die Überschreitung des Nanga Parbat. Doch im Erfolg erlebte Reinhold seine größte Niederlage: Sein Bruder Günther wurde unter einer Eislawine begraben. Immer wieder ist Messner danach an den »Nackten Berg« zurückgekehrt;1978 meisterte er den Berg im Alleingang mit neuer Route und neuem Stil. Nirgendwo liegen für ihn Triumph und Tragödie so eng beieinander. »Die weiße Einsamkeit« ist eine Geschichte zwischen Schuld und Schicksal sowie die bewegte Chronik jenes Berges. 2005 endlich wurde mithilfe einer DNA-Analyse eindeutig nachgewiesen, dass Günther Messner erst nach der gemeinsamen Überschreitung am Fuß der Diamirwand des Berges verunglückt ist.
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Mit zahlreichen Schwarz-Weiß-Abbildungen im Text und einem farbigen Bildteil
ISBN 978-3-492-99069-1
© Piper Verlag GmbH, München 203 und 2018
Covergestaltung: Petra Dorkenwald
Covermotiv: mauritius images/Science Faction/Ed Darack
Litho: Lorenz & Zeller, Inning a.A.
Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell
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Für die Teilnehmer der Sigi-Löw-Gedächtnis-Expedition, die meinen Aufstieg zum Gipfel unterstützt haben: mit Einsatzfreude, ohne Ambitionen oder Eigennutz und ohne dafür je Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit zu fordern.
Abdruck der Grußkarte vom Nanga Parbat mit den Unterschriften der Teilnehmer: W. Haim, v. Kienlin, E. Raab, G. Baur, K.M. Herrligkoffer, F. Kuen, H. Kühn, M. Anderl, G. Messner, R. Messner, G. Kroh, G. Mandl, W. Bitterling, J. Winkler, P. Vogler, H. Saler, A. von Hobe.
Blick vom Gipfel des Nanga Parbat ins Diamirtal
Teleaufnahme: Reinhold Messner allein in der Diamirwand
Cover & Impressum
Widmung
Vorwort
Schicksalsberg
Einleitung
Schicksalsberg
Der lange Schatten des Nanga Parbat
Kapitel I
Tragödie
Der Schrecken des Todes
Einmal gestorben
Kapitel II
Trauma
Die Tragödie des Überlebenden
Unterstellungen und Verleumdungen
Kapitel III
Schuft
Im Zwielicht der Gutmenschen
Kapitel IV
Suche
Endlich überm Berg
Suchexpedition am Nanga Parbat
Kapitel V
Sterben
Mein zweiter Achttausender
Die Welt des Eises und der Stürme
Bergsteigen mit Uschi
Kapitel VI
Nanga
Ein Mann und ein Achttausender
Großexpedition
Wieder gescheitert
Kapitel VII
Tike
Kein Toter an der Merkl-Scharte
Die schwarze Einsamkeit
Inshalla
Kapitel VIII
Diamir
Träume leben
Allein gehen
Die Nacht der langen Schatten
Loslösen
Die weiße Einsamkeit
Fremde Stimmen
Alleingang
Geborgen im Eis
Nichts sagen können
Dem Tod begegnen
Allein sein
Kapitel IX
Rupal
Von Ehrgeiz, Wahn und Glück
Sex mit dem Tod
Kapitel X
Rache
Wo ist Günther?
Kapitel XI
Historie
1932–1939: Die großen Tragödien
Noch einmal die Daten
Kritischer Rückblick
Kapitel XII
Buhl
Der »Gipfelsieg« 1953
Kapitel XIII
Kinshofer
Erfolg an der Diamirflanke
Kapitel XIV
Fakten
Drei Versuche und zwei Erfolge an der Rupalwand
Nachspiel
Das Glück der späten Jahre
Kapitel XV
Fiktion
Vorverurteilt
Der einzige Zeuge
Auszüge aus dem ff-Interview
Ein Lehrstück, wie eine Lügengeschichte entsteht
Kapitel XVI
Chronik
Die Nanga-Parbat-Chronik (1841–2003)
Nanga-Parbat-Besteiger von A bis Z
Literaturhinweise
Bildteil
Die Messner-Route an der Rupalwand konnte nach zahlreichen Versuchen 2005 von einer koreanischen Expedition erstmals wiederholt werden. Damit erst sind letzte »Rätsel« entschlüsselt.
Ein Dutzend Mal bin ich inzwischen zum Nanga Parbat gereist, habe im Rahmen meiner Stiftung Messner Mountain Foundation Schulen und eine Krankenstation dort gebaut, nachdem ich den Berg zweimal bestiegen und einmal umrundet hatte. An der Nordflanke sind wir im Jahre 2000 gescheitert, 2006 bin ich mit meinen Geschwistern und deren Familien bis ins obere Diamir-Tal gepilgert, wo wir gemeinsam von unserem Bruder Günther Abschied genommen haben. Seine Überreste waren 2005 auf dem Toteisgletscher von Einheimischen gefunden worden.
Der Nanga Parbat ein Schicksalsberg? Ja, weil ich dort meinen Bruder, Kletterpartner, meine Zehen und damit – mit dem Verlust von Fähigkeiten – meine Leidenschaft fürs Felsklettern verloren habe. Mein Leben wäre sonst anders verlaufen, vermutlich ganz anders.
Schicksalsberg? Nein, hätte man Willo Welzenbachs Nanga-Parbat-Pläne 1930 oder 1931 im Deutschen Alpenverein nicht hintertrieben, die Geschichte der Besteigungsversuche wäre anders verlaufen, die Tragödien hätte es dann so nicht gegeben. Auch im neuen Jahrtausend haben Alpinisten am Nanga Parbat Schlagzeilen gemacht: Karl Unterkircher, der an der Nordseite starb; Steve House, der die direkte Rupalwand im Alpenstil meistern konnte; die Brüder Allen, denen endlich die Überschreitung des Berges über den Mazeno-Grat gelang. Und Simone Moro, der dem »König der Berge« in mehreren Versuchen und mit viel Ausdauer die erste Winterbesteigung abtrotzte.
Die große Veränderung aber gab es in den letzten zwanzig Jahren in der Einstellung der Alpinisten zum Berg. Heute wird die Kinshofer-Route an der Diamirseite für Gruppenaufstiege Jahr für Jahr präpariert. Und zwar im Vorfeld, also bevor die Touristen kommen, die eine Passage Basislager/Gipfel gebucht haben. Selten wagen sich heute traditionelle Bergsteiger in unbekanntes Gelände. Der Pistenalpinismus sorgt für Gänsemärsche an der einen Linie, der Rest des großen Berges allerdings bleibt »Arena der Einsamkeit«.
Reinhold Messner, 2017
An der Diamirflanke des Nanga Parbat gelingen Reinhold Messner drei Erstbegehungen. 1970 steigt er mit seinem Bruder Günther über die Mummery-Rippe ab (zwei Biwaks). Beim Alleingang 1978 klettert er rechts des großen Séracs hinauf und links davon ab.
Ich habe mir geschworen, es nie wieder zu versuchen.
Reinhold Messner
Zwischen den Brüdern war Reinhold stets die führende Figur und traf auch im Zweifel alle Entscheidungen. Er war etwa zwei Jahre älter, größer und kräftiger. Außerdem war er bedeutend ehrgeiziger und zeigte stets eine seltsame Mischung aus Waghalsigkeit und Überlebenswillen.
Max von Kienlin
Ich glaube, dass niemand erwarten konnte, dass die Messners in der Lage sind, lebend das Tal zu erreichen.
Hanns Schell
Im Lager war man überzeugt, dass beide tot sein mussten. Ja, das war das Naheliegendste.
Max von Kienlin
In meiner Besessenheit für die Berge habe ich am Nanga Parbat meinen Bruder und meine Frau verloren.
Reinhold Messner
Der Nanga Parbat ist ein besonderer Berg. Wenigstens für mich. Von Anfang an. Auch weil ich mehr über ihn als über andere Berge gelesen habe! Über seine Rakhiotseite, die Diamirflanke, die Rupalwand. Über die vielen Versuche, die Erstbesteigung 1953, die tragische Diamir-Expedition 1962. Immer wieder Tragödien: 1895, 1934, 1937, 1962. 1970 dann unser erster Berg im Himalaja – der Nanga Parbat.
Mein Bruder Günther und ich erreichen den Gipfel, manövrieren uns in eine Notlage, steigen in unbekanntes Gelände ab, verlieren uns aus den Augen, Günther bleibt verschollen. 1000 und mehr Bergtouren sind uns zusammen gelungen: gefährliche Wände, Erstbegehungen, Rückzüge. Günther ist mein Seilpartner, mein Vertrauter, mein Lieblingsbruder gewesen.
1971 kehre ich an den Ort der Tragödie zurück. Mit der Frau, die ich liebe. Mit ihr besuche ich meine Retter und steige, von Albträumen geplagt, zum Gletscher der Verzweiflung auf. Ich hoffe auf ein Wunder! Aber ich finde meinen Bruder nicht.
Uschi hilft mir, die Schuld zu tragen, überlebt zu haben. Sie gibt mir Lebenslust, Sicherheit, bestärkt mich in meiner Leidenschaft fürs Bergsteigen. Wir reisen gemeinsam, richten uns in Südtirol ein, sind ein nomadisierendes Liebespaar. Auch neue Herausforderungen locken. Wieder und wieder gehe ich fort, auf Expedition, in die Todeszone. Die Sehnsucht ist groß, die Trennungen schmerzen. Es ist nicht die Alternative »Die Berge oder ich«, die uns 1977 auseinanderreißt, es ist meine Besessenheit.
Mit der Ahnung, in meinem Wahn zwischen Selbstverschwendung und Selbstvernichtung unsere Liebe zerstört zu haben, gehe ich 1978 wieder zum Nanga Parbat. Um den Achttausender allein zu besteigen.
Im Biwak in der Wandmitte erschüttert ein Erdbeben die Steilwand. Millionen Tonnen Eis brechen von den Hängen, der Rückweg ist abgeschnitten. Entgegen jeder Vernunft steige ich weiter, erreiche den Gipfel, bin im Schneetreiben gezwungen, einen Schlechtwettereinbruch auszusitzen, und erreiche zuletzt über eine riskante Abstiegsroute den Wandfuß. Das Leben ist gerettet, meine Autonomie hergestellt, die schwarze hat sich in eine weiße Einsamkeit verwandelt. Wie viel aber musste ich dafür aufgeben! Die Liebe für den Alleingang, meinen Bruder für die höchste Steilwand der Erde. Das Schuldgefühl, allein geblieben zu sein, hält an. 30 Jahre später treibt es mich noch einmal zum Nanga Parbat. Zu meinem Schicksalsberg. Immer noch suche ich meinen Bruder. Wenn meist auch nur im Traum. Ein paar meiner früheren Kameraden aber kommen mit meinem Noch-Dasein nicht zurecht! Dass ich im Gegensatz zu meinem Bruder am Leben geblieben bin, erscheint ihnen trotz meiner Schuldgefühle als unverdientes Glück. Mit einer DNA-Analyse eines Knochens, den Hans Peter Eisendle 2000 im Gletscher am Fuß der Diamirflanke des Nanga Parbat gefunden hat, ist aber nun, im Frühjahr 2004, endgültig nachgewiesen, dass mein Bruder Günther 1970 nach der gemeinsamen Überschreitung erst am Fuß des Bergs verunglückt ist. Damit sind auch sämtliche Zweifel an meiner Unschuld ausgeräumt und Spekulationen ehemaliger Bergkameraden widerlegt. Wollten sie von der eigentlichen Frage ablenken, von einem schlechten Gewissen, das immer nach Entlastung suchen muss? Ich weiß es nicht, aber es spielt nun auch keine Rolle mehr.
[01]
Der obere Teil der Diamirflanke
Gerd Baur erinnert sich noch sehr gut an die Worte Reinhold Messners vor seinem Aufbruch. Reinhold bat eindringlich, dass sie – sein Bruder Günther und Gerd – unbedingt warten sollten, bis er wieder zurückkäme.
Horst Höfler
Da sah Reinhold Messner zu seiner Überraschung Günther, getrieben von Sorge um den Bruder, allein nachkommen. Das war nicht vorgesehen und löste in der Folge die Kettenreaktion aus.
Hias Rebitsch
Gerhard Baur, der die Merkl-Rinne ja nicht alleine versichern konnte, stieg zurück zum Lager IV.
Hans Saler
Dr. Herrligkoffer bringt Reinhold Messner wie einen verlorenen Sohn wieder. Nun wird unsere Vermutung zur traurigen Gewissheit: Sein Bruder Günther hat am Nanga Parbat den Tod gefunden. Reinhold selbst ist ebenfalls am Ende seiner Kräfte, er kann kaum sprechen und gehen und hat an Händen und Füßen starke Erfrierungen erlitten. Er ist über den Mummery-Sporn auf der Diamirseite abgestiegen, wo vermutlich eine Eislawine Günther erschlagen hat. Als es passierte, war Reinhold ein gutes Stück voraus.
Felix Kuen
Die Deutschen und ihr Schicksalsberg! Kein Ende der Toten und Gedächtnis-Expeditionen? 1962 stirbt Sigi Löw in der Bhazinmulde am Nanga Parbat – das 32. Opfer am Nackten Berg. Zwischen 1963 und 1970 erkundet Herrligkoffer die steilste Seite des Nanga Parbat, auch die allerschwierigste, die Rupalwand. Sie verkörpert den gewaltigsten Höhenunterschied des gesamten Himalaja.
Das Basislager steht auf 3600 Meter Höhe. Bis zum Gipfel sind es etwa zehn Kilometer Kletterstrecke – Lawinenhänge, Eisabbrüche, Felsrinnen – 4500 Meter Höhenunterschied. Der Neigungswinkel nimmt nach oben hin zu. Niemand kann sich vorstellen, dass eine derartige Problemstellung lösbar ist. Wir – zur Mannschaft gehören auch mein Bruder Günther und ich – wollen das Wagnis eingehen.
Nach der Rupal-Erkundungsexpedition 1963, einer Winterexpedition 1964 und der Toni-Kinshofer-Gedächtnis-Expedition 1968 gelingt es Karl M. Herrligkoffer, für seine Sigi-Löw-Gedächtnis-Expedition eine starke Mannschaft zu verpflichten. Erfahrene deutsche und österreichische Bergsteiger gehören zum Team. Dazu ein paar Helfer und Gäste.
Aus der 1968er-Mannschaft ist Peter Scholz dabei, ein ruhiger, sympathischer Spitzenbergsteiger. Felix Kuen und Werner Haim, die bekannten Tiroler Heeresbergführer, sind eine starke Seilschaft. Gerd Baur, Kletterer und Bergfilmer aus Friedrichshafen, gilt als verwegener Alpinist. Die Münchner Hans Saler und Gerd Mändl, der Ulmer Günter Kroh sowie der Allgäuer Peter Vogler gehören zum kleinen Kreis der Extrembergsteiger. Auch Hermann Kühn aus Heidelberg ist dabei, der »Lehrmeister« von Reinhard Karl, der seinerseits auf die Expedition nur verzichtet, weil ihm das Abitur wichtiger ist. Ursprünglich bin ich als einziger Südtiroler im Team. Weil aber der Zillertaler Peter Habeler und der Osttiroler Sepp Mayerl ihre Teilnahme absagen, kommt auch mein Bruder Günther dazu.
Unsere Begeisterung, unser ganzer Wille gilt dieser Wand. Ja, auch Günther und ich wollen zum Gipfel. Und hinter diesem Wunsch steht natürlich eine gute Portion Egoismus. Auch wenn unsere Chancen klein sind, wir geben unsere Hoffnungen nie auf.
Weitere Teilnehmer sind Elmar Raab, Jürgen Winkler, Michl Anderl, Wolf Bitterling, Alice von Hobe, Max von Kienlin. Nein, ohne die Unterstützung dieser ausgezeichneten Mannschaft würden wir nicht weit kommen. Jedenfalls nicht bis unter die Merkl-Rinne, die Schlüsselstelle der Wand.
Während der sechs Wochen, die wir beim Anmarsch, im Basislager und in der Wand zusammen sind, werden Sympathien und Abneigungen deutlich. Seilschaften bilden sich und Rivalitäten entstehen. Max von Kienlin, ein wohlhabender schwäbischer Landadeliger, besitzt Äcker, Schloss und Wälder, aber keine Erfahrung als Bergsteiger. Dafür ist er mutig. Mutig genug, auch gegen den Kleingeist eines Expeditionsleiters, der alle entweder im blinden Gehorsam vor sich oder im Gänsemarsch hinter sich sehen will, Wege zu gehen, die nicht erlaubt sind. So ist er mir von Anfang an sympathisch. Wir machen ein paar Ausflüge zusammen und trösten uns gegenseitig über die miserable Leitung der Expedition.
Felix Kuen und Werner Haim sind neben Günther und mir eine nach vielen gemeinsamen Touren eingespielte Seilschaft. Trotzdem gelingt es Herrligkoffer, die beiden Freunde zu trennen. Er versucht es auch mit uns Brüdern. Schon vor dem Aufstieg ins erste Hochlager. Nach Herrligkoffers Anweisungen sollen Günther und ich in getrennten Seilschaften klettern. Warum? Ganz einfach, er will nicht, dass wir zusammenbleiben. Wir aber wollen weder seine Argumente verstehen noch seinen Befehlen folgen. Also widersprechen wir und gehen ohne die Hunza-Träger, denen er den Transport unserer Lasten verbietet. Wir tragen unsere Ausrüstung selbst.
Günther und Reinhold Messner bleiben gegen den Willen des Expeditionsleiters eine Seilschaft
Günther und ich setzen uns damit gegen Herrligkoffer durch und bleiben zusammen. Während der gesamten Dauer der Expedition. Wir sind Kletterpartner und Brüder, keine Rivalen.
Und Gerhard Baur wird unser Komplize. Oft sind wir in den Hochlagern im Zelt zusammen. In unserer Begeisterung gehen wir so weit, uns auszumalen, auch dann in der Wand zu bleiben, wenn Herrligkoffer die Expedition abbrechen sollte. Wir wollen Proviant horten und weitermachen. Auch in Eigenregie, falls die anderen aufgeben. Wer sollte uns schon vom Berg holen! Irgendwie würden wir schon bis zum Gipfel kommen. Wir sprechen sogar davon, den Nanga Parbat zu überschreiten. Schließlich haben Amerikaner 1963 den höchsten Berg der Welt, den Mount Everest, überschritten. Aufstieg über den Westgrat, Abstieg über die Hillary-Route. Diese Visionen – kühne Gedankenspiele – sind ziemlich naiv. Es fehlt uns die Erfahrung, wie der Mensch in 8000 und mehr Metern über dem Meeresspiegel reagiert. Solche Tagträume werden von der Mannschaft belächelt und bleiben so vage, dass die Umsetzung niemand ernst nimmt. Eine Überschreitung des Nanga Parbat wird angedacht – mehr nicht.
Nach 40 Tagen Vorarbeit in der Wand erlaubt Herrligkoffer während eines Schönwetterfensters mehreren von uns einen letzten Versuch zum Gipfelsturm. Niemand weiß, wie lange das Wetter hält und welcher Logistik wir folgen. Herrligkoffer organisiert vom Basislager aus den Nachschub, wir graben Lager um Lager aus dem Schnee und kommen rasch höher. Einen Plan aber, wer wann und mit wem zum Gipfel gehen soll, gibt es nicht. Nachdem ein erster Plan aufgegeben worden ist, ist kein zweiter mit mir besprochen worden. Wir errichten ein viertes Lager. Als Sprungbrett zum Gipfel. Ein fünftes, das letzte Lager, ist nur notdürftig ausgerüstet. Weil die gesamte Mannschaft harmonisch zusammenarbeitet, scheint oben der letzte Schritt möglich zu werden.
Obwohl Herrligkoffer die Seilschaft aus Felix Kuen, einem Österreicher, und Peter Scholz, einem Deutschen, als erste Gipfelmannschaft zu favorisieren scheint, schlage ich am 26.Juni einen vorgezogenen Aufstieg vor. Alles nur, weil sich das Wetter zum Schlechteren wendet.
Kuen: »Das Wetter ist noch immer sehr schön, doch stehen wir wegen der herannahenden Wolkenbänke unter gewaltigem Zeitdruck.«
Über Funk kündige ich dem Expeditionsleiter im Basislager an, dass ich mit dem Aufstieg zum Gipfel beginnen werde, bevor das Wetter schlecht wird. Einverständnis. Herrligkoffer verspricht, am Abend mittels Rakete – rot bedeutet schlechtes, blau gutes Wetter – das Ergebnis des Wetterberichtes zu signalisieren, der im Basislager über Radio täglich zu empfangen ist. Bei gutem Wetter würde der Gipfel nach mehrtägiger Vorarbeit zu zweit oder zu dritt bestiegen werden. Lager V soll ausgebaut, ein Fixseil in der Merkl-Rinne verankert werden. Andere Seilschaften könnten folgen. Bei schlechtem Wetterbericht will ich mit einem schnellen Alleingang reagieren. Gilt es jetzt doch, dem Schlechtwettereinbruch zuvorzukommen. Vor der zu erwartenden Lawinengefahr ins Basislager absteigen zu können. Es geht um unsere letzte Chance. Allein kann ich den Gipfel schneller erreichen als im Team, denke ich. Im Notfall kann ich aufgeben, rasch wieder absteigen, wenn die Schlüsselstelle in der Gipfelwand nicht kletterbar ist.
Am Abend steigen Günther, Gerhard und ich bis unter die Merkl-Rinne. Über uns nur noch die Schlüsselstelle der Wand. Eine rote Rakete kündigt Schlechtwetter an.
Am 27.6.1970 starte ich zum Alleingang. Um drei Uhr früh verlasse ich das Biwak. Ohne Rucksack. Schnell hinauf und wieder zurück ist mein Vorsatz. Jedes zusätzliche Gewicht würde mich in meiner Schnelligkeit bremsen. Es ist sehr kalt beim Einstieg in die Merkl-Rinne. Schneewehen. Mondschein. Langsam steige ich die Merkl-Rinne aufwärts. Zuerst über Schneehänge, dann in einen senkrechten Risskamin, später durch eine Art Schlucht. Auf 8000 Metern Höhe, wegen des Sauerstoffmangels langsamer werdend, quere ich nach rechts in die offene Wand, die 4500m senkrecht unter mir abbricht. Jetzt erst merke ich, dass jemand mir nachkommt. Der Bruder?
Günther hat doch versprochen, die schwierigsten Passagen der Merkl-Rinne hinter mir abzusichern. Mit Gerhard zusammen. Um mir den Abstieg zu erleichtern. Ist er mir nachgestiegen? Aus eigenem Entschluss? Trotzdem, als er mich einholt, gehen wir gemeinsam weiter. Ein Fehler. Nicht nur, weil wir beide ohne Seil klettern. Es ist spät. Wäre es nicht vernünftig, umzukehren? Ja, gewiss, wir handeln aber nicht vernünftig. In unserer jugendlichen Unbekümmertheit denken wir nicht an Nacht und Tod. Die größten Schwierigkeiten sind überwunden, der Gipfel nahe. Er muss bald erreicht sein. Am höchsten Punkt angekommen, ist es spät. Zu spät, um vor dem Dunkelwerden ins fünfte Lager zurückzufinden. Wir bleiben nicht lange. Beim Abstieg zur Südschulter erscheinen mir Günthers Bewegungen unsicher. Er schwankt, bleibt hocken, will anderswo absteigen. Mir ist klar, ohne Seil können wir nicht über die teilweise senkrecht abfallende Rupalwand absteigen. Unmöglich. Günther ist geschwächt, er würde abstürzen. Und bald wird das Wetter schlecht. Was tun, denke ich, und wir beschließen, bis in eine Scharte am obersten Ende der Merkl-Rinne abzuklettern. Damit sitzen wir in einer Falle. Wohin ohne Karte, ohne Zelt, ohne Biwakausrüstung, ohne Proviant?
An der Gratschneide zwischen Rupalwand und Diamirflanke, zwischen Süd- und Nordwestflanke des Berges überstehen wir die härteste Nacht unseres Lebens. Es ist ein mörderisches Biwak, das uns in 7800 Meter Höhe bei Wind und Kälte die letzten Kraftreserven nimmt. Nein, wir rechnen nicht damit, dass jemand nachkommt, aber wir brauchen Hilfe. Am Morgen, starr vor Kälte und irre geworden vor Verzweiflung, beginne ich zu rufen, vielleicht hören sie mich im Lager V, denke ich. Ich beuge mich immer wieder über den oberen Rand der Rupalwand, um nach Hilfe zu rufen. Dort, wo die Merkl-Rinne aufhört, wartet Günther am Biwakplatz.
Kuen: »In der Mitte der Rinne glaube ich Hilferufe zu vernehmen, aber Scholz beruhigt mich, ich hätte mich geirrt.«
Als ich die beiden sehe, weiß ich, sie sind unseretwegen gekommen. Wie soll ich auch ahnen, dass sie einem Befehl Herrligkoffers folgen, der uns im Fernglas beim Gipfelgang am Vortag beobachtet hat. An »seinem« Berg. Die Bergsteiger Kuen und Scholz kommen auf Sichtweite an uns heran. Schlechte Verständigung mit Gesten und Rufen. Sie tun am Ende so, als ob sie nicht helfen könnten. Erst als sie weiter aufwärtssteigen, Richtung Gipfel, weiß ich, dass wir verloren sind. Ich signalisiere »alles O.K.« und Abstieg über die Gegenseite. Warum? Weil ich Kuen und Scholz nicht zu einem lebensgefährlichen Manöver überreden will. Ein Aufstieg bis zu uns auf die Merkl-Scharte, der von oben unmöglich aussieht, ist auch für sie zu riskant. Kuen und Scholz würden kommen, wenn es irgend möglich wäre, sage ich mir, aber ihr Leben dürfen sie dabei nicht riskieren. Jeder Unfall bedeutet in unserer Situation das Ende für alle.
Jetzt bleibt uns keinerlei Hoffnung. Hoffnung auf Rettung, auf Hilfe, auf Leben. Kuen und Scholz würden erst am Abend den Gipfel erreichen und von dort zu uns absteigen können. Wenn sie, wie wir, zur Scharte abklettern würden. Dass Saler, Haim und Mändl die Merkl-Rinne mit Seilen absichern, weiß ich nicht. Nicht zu diesem Zeitpunkt. Für Günther und mich gilt: schlechtes Wetter im Anzug, nichts wie absteigen! Uns kann niemand mehr helfen. Nur wir uns selbst. Sollten vielleicht doch noch andere Seilschaften folgen? Undenkbar. Und wenn, sie könnten so wenig wie Kuen und Scholz bis zu uns auf die Merkl-Scharte klettern. Die Situation ist zum Verzweifeln. Und das Wetter wird schlecht.
Kuen: »Seit dem Verlassen des Rastplatzes schneit es ununterbrochen, und unter uns tobt ein höllisches Gewitter. Um 14Uhr erreichen wir die Südschulter.«
Unser Problem ist die Orientierung. Das Gelände in der Diamirflanke sieht von oben kletterbar aus. Weiter unten aber nur Dunkelheit, Abgrund und Grauen. Ein Gewitter? Ja, das Wetter wird schlecht! Quergänge nach links oder nach rechts kommen also nicht infrage. Wir würden uns verlieren. Also geradewegs nach unten. Wie aber soll ich wissen, ob es bei der nächsten Spalte, bei Fels- oder Eisabbrüchen weitergeht? Von oben ist nichts zu erkennen. Also gehe ich voraus, gegen alle Regeln des Bergsteigens und im Bewusstsein, wieder aufsteigen zu müssen, wenn der Abstieg versperrt ist. Günther soll warten und nachkommen, wenn ich das Zeichen gebe, rufe oder winke, dass der Weg ein weiteres Stück frei ist. Diese Sorgen und die vielen Zweifel. Manchmal Todesangst. Für die anderen sind wir verschwunden. Ob sie nach uns suchen werden? Nein, nicht hier, Kuen muss verstanden haben, dass Günther und ich ins Diamirtal absteigen. Herrligkoffer auch. Er hat später auch alle weiteren Aufstiege zum Gipfel verboten.
Kuen: »Die zweite Partie mit Haim, Mändl und Saler darf nicht mehr den Gipfel besteigen, um ein weiteres Unglück zu verhindern.«
Mir ist bewusst, dass Günthers und mein Abstieg, obwohl ein Abstieg aus Verzweiflung, für die Kameraden auf der anderen Seite Fragen, Sorge, ja Ärger auslöst. Trotzdem, uns bleibt nur diese Möglichkeit. Oder der Tod.
Unser Bewusstsein scheint aufgelöst. Also auch keine Einsamkeit mehr. Nur noch die Angst umzukommen.
Kuen: »Beim Aufstieg war uns Baur begegnet, der wegen einer Halsentzündung aus dem Lager V zurückkehrte. Er berichtete uns Folgendes: ›Reinhold Messner hat verschlafen und ist dann doch um drei Uhr aufgebrochen. Im Alleingang. Baur und seinem Bruder Günther hatte er aufgetragen, die Merkl-Rinne mit Seilen zu versehen, um sich so den Rückweg zu sichern. Sie begannen um vier Uhr mit der Arbeit, wobei ein Seilsalat entstand, der Günther so in Zorn versetzte, dass er alles hinwarf. Ohne Ausrüstung stieg er hierauf seinem Bruder nach.‹«
Rettung gibt es für uns zwei nur noch im Tal. Also dorthin! Nachdem Hilfe nicht zu erwarten ist, können Günther und ich nur weiter über die Diamirflanke absteigen. Nebel sind aufgekommen, und wir haben diese Diamirwand nie vorher gesehen. Auch von unten nicht. Und nirgends ein Zelt. Keine Lager. Im Tal kein Basiscamp. Trotzdem, lieber, als das Leben zu verschenken, setzen wir es ein. Wir gehen also den gefährlichen, den unbekannten, den unvorbereiteten Weg.
Unter uns Gewitterwolken. Nur noch schwarzer Abgrund. Trotzdem, mit dem Weiter-Abwärts kommt Hoffnung auf. Mit letzter Kraft krallen wir uns ans Leben. Irgendein Geist, geboren aus dem Zusammenspiel aus Wolkenlöchern, Sonnenstrahlen und Intuition, führt mich durch ein Chaos von Gletscherspalten, Séracs und Abgründen. Günther folgt. In kürzer werdenden Etappen. Manchmal das Gefühl, dass alles eine Ordnung hat. Als würde ich sie kennen: die Landschaft, diesen Griff, diesen Weg. Dann packen mich wieder die Schrecken. Wenn es nicht weitergeht, Günthers Tempo nachlässt, der Körper zittert vor Kälte, weiß ich, dass wir sterben werden. Die Katastrophe hat begonnen. Endgültig.
Aber Günther erholt sich wieder. Langsam kommen wir tiefer und mit dem Eintauchen in sauerstoffreichere Luft kehren Willenskraft und Trittsicherheit zurück. Ich steige Stück für Stück voraus, um wieder und wieder einen gangbaren Weg auszukundschaften. Die Abbrüche nehmen nach unten hin zu: 200 Meter hoch, senkrecht stehen die Séracs. Oft kein Ausweg! Wenn ich trotzdem eine Möglichkeit finde, weiter abzusteigen, lotse ich den Bruder nach. Mit Gesten und Rufen. So dirigiere ich ihn nach unten. Wir gehen durch die Hölle.
Seit zwei Tagen haben wir nichts gegessen und getrunken. Auch nicht geschlafen. Verzweiflung und Erschöpfung. Wir sind benommen. Wie in Trance. Trotz der Angst.
Diamirflanke. Rechts unten der Gletscherkessel, wo Günther verschwindet
Unser zweites Biwak beginnen wir um Mitternacht. Auf einer Felsleiste. Mitten in der Wand. 2000 Meter über dem Talboden. Diese Nacht verbringen wir großteils stehend. Mit dem ersten Morgenlicht kommt auch das Vertrauen zurück. Ob wir durchkommen? Trotz allem? Wir brechen auf, klettern abwärts, bleiben hocken, rappeln uns wieder hoch. Weiter! Angekommen im konkaven Gletscherkessel am Wandfuß habe ich zwei Optionen: geradeaus talwärts oder nach rechts. Nur hocken bleiben darf ich nicht. Ich rieche die Gefahr! Diese Lawinengefahr! Von allen Seiten. Dazu ein paar Spalten! Wieder suche ich nach dem besten Weg. Ja, Günther folgt. Selbst wenn er weit zurück ist. Ob er mich sieht? Ich höre, wie Lawinen abgehen. Zwischen uns. Auf der Moräne hocke ich mich hin und warte auf Günther. Aber der Bruder kommt nicht.
Zuerst ist da keine Sorge. Günther wird kommen, denke ich. Aber er kommt nicht. Ich warte weiter auf ihn. Vielleicht ist er auf der anderen Seite vom Eisbruch abgestiegen und taucht weiter unten auf, tröste ich mich. Müde, am Ende meiner Kräfte halte ich Ausschau und steige ein Stück weit ab. Nirgendwo kann ich beide Routen überblicken. Unruhig geworden, kehre ich auf den Gletscher zurück. Der Schnee ist weich, Lawinen sind niedergegangen. Es ist Vormittag. Wieder und wieder gehen Lawinen ab. Eine gefährliche Situation. Wo ist Günther?
Ich suche am Wandfuß nach ihm. Rufe trotz der Erschöpfung. Umsonst. Halluzinationen narren mich. Eistrümmer, zu riesigen Kegeln aufgehäuft, sind zu queren. Obwohl ich jetzt weiß, dass Günther tot sein muss, suche ich weiter. Am Gletscher. Im Lawinenkegel. Eine ganze Nacht lang. Dabei beobachte ich mich. Als wäre ich Zuschauer und Akteur zugleich. Erfrierungen an Händen und Füßen. Die Füße angeschwollen, die Schuhe nass, beginne ich anderntags den Abstieg über das obere Diamirtal. Barfuß, auf Händen und Knien zum Teil. Ich gehe, solange ich gehen kann. Später krieche ich, rutsche über Hänge, hocke nur erschöpft da. Wie oft bleibe ich ohnmächtig liegen. Diese Trostlosigkeit. Dazu Erschöpfung, aber kein Selbstmitleid. Zuletzt mit dem Sterben einverstanden, bin ich mir selbst fremd. So weit weg. Trotzdem das Gefühl, Günther ist hinter mir. Immer noch.
Bei dieser Expedition bin ich gestorben. Nicht physisch gestorben – ich glaube nicht an die Auferstehung –, gestorben waren Geist, Wille und Hoffen. An der Merkl-Scharte schon das Gefühl der Auflösung. Im Diamirtal schwindet die letzte Hoffnung. Wenn ich dort weitergegangen bin, dann nur aus Gewohnheit. Es ist also nicht mehr mein Wille, der mich antreibt, ich folge dem Instinkt. Das Einverständnis mit dem Tod bleibt. Ja, das Sterben hat seine Schrecken verloren. Nein, dem Tod begegne ich nicht, bin nur weit weg von den Menschen, von mir selbst. Aber mein Körper tut weiter, wozu er bestimmt ist. Also weiter, auch wenn ich dabei umkommen sollte. Und Günther? Zur rechten Zeit zu sterben ist nicht Bestimmung, eher Erlösung.
Kuen: »Gibt es ein schöneres Grab als hier am Nanga Parbat?«
Ich krieche weiter, talauswärts. Gegen Abend überquere ich einen toten Gletscher. Auf der anderen Seite stoße ich auf ein paar Holzfäller. Sie bringen mich auf eine Alm, geben mir zu essen und saure Milch zu trinken. Bauern tragen mich Tage später bis zur Bunar-Brücke im Indus-Tal. Zuletzt auf einer Bahre.
Inzwischen hat Gerhard Baur dem Expeditionsleiter von unseren letzten gemeinsamen Stunden im höchsten Lager erzählt. Auch von meiner naiven Schwärmerei einer Nanga-Parbat-Überschreitung. Herrligkoffer schickt trotzdem niemanden ins Diamirtal.
Zuletzt hält mich nur noch das Pflichtgefühl am Leben. Ich muss der Mutter von der Tragödie erzählen. Irre geworden an meinem Verlorensein, kehre ich wie durch ein Wunder und als ein anderer zu den Menschen zurück.
Ein halbes Jahr später erst kann ich wieder laufen, klettern, träumen. Statt mein Studium zu beenden, steige ich aus dem bürgerlichen Leben aus. Endgültig auf und davon.
Unser Expeditionsleiter aber, der sich mit einem Expeditionsvertrag das alleinige Recht gesichert hat, vom Rupal-Aufstieg zu berichten, erfindet immer neue Details zu meiner Tragödie, die er in Büchern, Interviews und auf der Bühne vorträgt. Als ob er dabei gewesen wäre.
Blick zurück auf den Nanga Parbat
Natürlich bin ich für den Tod meines Bruders mitverantwortlich. Günther wäre nicht gestorben, wenn ich ihn nicht zu dieser Expedition aufgefordert hätte. Ich habe ihm die Chance gegeben, mit mir in einer Seilschaft zu klettern. Gegen den Willen des Expeditionsleiters. Wäre er nicht bis ins letzte Lager gekommen, hätte er mir nicht nachsteigen können. Und wäre ich nicht sein Bruder gewesen, hätte er wahrscheinlich nicht versucht, mich in der Rupalflanke einzuholen. Ja, ich war mitverantwortlich. Für sein Leben wie für sein Sterben. Nein, ich gehöre nicht zu denen, die sagen: »Ich habe nichts damit zu tun, es ist nicht mein Fehler, es ist nicht meine Sache.« Es ist meine Sache, und ich lebe damit.
Herrligkoffer: »Günther Messner war eigentlich für den Gipfelangriff nicht vorgesehen, er wusste aber, dass Reinhold Messner, der die Rupalflanke lediglich rekognoszieren wollte, das nicht tut, sondern dass er zum Gipfel vorstößt. Und so ließ er dann Gerd Baur zurück und sagte: ›Nein, ich gehe meinem Bruder nach, denn der geht doch zum Gipfel.‹
Am Tode seines Bruders ist er wohl selbst schuld!«
Ich weiß, daß die Überschreitung des Nanga Parbat nicht gelungen ist. Nur überlebt.
Ja, ich habe Glück gehabt. Und nach der Expedition mache ich neue Erfahrungen. Trotz des Glücks, früh »zu sterben«. Es ist die Voraussetzung weiterzumachen. Meine Irrgänge geben mir Kraft. Die Kraft, auch weiterhin Risiken einzugehen. Zuletzt ist jedes einzelne Wagnis, ob es zum Erfolg führt oder nicht, ein unverzichtbarer Bestandteil des Glücks.
Lange habe ich mich gewehrt gegen Anfeindungen und Vorwürfe, die unsere Nanga-Parbat-Überschreitung heraufbeschworen hat! Inzwischen weiß ich, dass es mich nicht weiterbringt. Wer ständig über den Sinn von Glück und Unglück nachdenkt, kann es nicht verarbeiten. Ob ich enttäuscht bin über den Ausgang der Expedition? Von Schuldgefühlen geplagt? Weil Günther nicht überlebt hat. Erst als ich mich in die Tragödie hineinfallen lasse, werde ich mit ihr fertig. Was immer aber andere mir glauben einreden zu müssen, hilft weder meinem Bruder noch mir. Vielleicht ihrem »reinen Gewissen«.
Für den Entschluss, in die Diamirseite abzusteigen, trage allein ich die Verantwortung. Ob es richtig war oder nicht, kann aus der Höhe eines Schreibstuhls niemand beantworten. Viele haben darüber gerichtet, aber nur Günther und ich haben dort oben gestanden: zwischen Leben und Tod.
Ich nehme mein Leben wieder selbst in die Hand. Dabei richte ich mein Tun weniger danach, was andere von mir erwarten, als vielmehr danach, was ich tun muss.
Zeitungsnotiz: Erste Unsicherheiten über die Tragödie
Im Himalaja entscheidet vor allem das Zusammenwirken gleichgesinnter Charaktere, die Gemeinschaftsarbeit, die allen persönlichen Ehrgeiz dem großen gemeinsamen Ziele unterordnet. Darüber hinaus muss jeder auf sich selbst gestellt ausharren können, muss stets bereit sein zum Kampf mit den Elementen und muss Kamerad sein bis zum letzten Atemzug.
Karl M. Herrligkoffer
In der Teilnehmer-Erklärung, einem typischen Maulkorb-Vertrag, dessen Text die meisten von uns erst bei späteren gerichtlichen Auseinandersetzungen kennenlernten, weil keiner von uns eine Kopie davon erhielt, war jedem Expeditionsmitglied untersagt, irgendeine Notiz, einen Artikel oder gar ein Buch zu veröffentlichen. Dieses Recht stand einzig und allein dem Expeditionsleiter zu, der es in schamloser Weise ausnützte und die Geschichte dieses Unternehmens so zurechtfrisierte, wie es ihm passte.
Hans Ertl, 1953
Man spürt, dass Reinhold innerlich noch nicht zur Ruhe gekommen ist, wie stark die Tragik um den Tod seines Bruders seelisch an ihm zehrt.
Hias Rebitsch
Auch wenn Günther Messner, wie behauptet wurde, hoch am Berg im Sterben lag und vom Bruder zurückgelassen wurde, sehe ich darin zwar eine menschliche Tragödie, aber nichts Verwerfliches.
Hanns Schell
Wenn man kein Glück hat, soll man sich Glück anschaffen.
Friedrich Nietzsche
Der Überlebende zu sein ist ein Zustand der Schuld. Dazu die Frage, wie Günther und ich in eine so ausweglose Situation kommen konnten. Immer wieder.
Kienlin: »Am Südhimmel sahen wir von den Hochlagern schon die gefürchtete fisch- oder ambossförmige Wolke, welche den Monsun ankündigt, in Warteposition stehen. Ein schneller Wechsel der Windrichtung, und die Männer in der Wand hätten um ihr Leben kämpfen müssen, wie bei früheren Expeditionen, wo mancher unter solchen Umständen an diesem Berg schon zu Tode kam.«
Nicht den Monsun, einen Schlechtwettereinbruch fürchtete ich. Es war die letzte Chance, die ich nutzen wollte. Deshalb mein Vorschlag, allein loszugehen. Auch bei schlechtem Wetterbericht.
Aber Herrligkoffer zündet trotz guter Wetternachrichten eine rote Rakete. Fälschlicherweise. Wir im Lager V sind damit falsch informiert. Wer in den Hochlagern den Widerspruch erfährt, ist entsetzt. Uns aber können die Kameraden nicht warnen. Nicht mehr. Die Entscheidung, einen Alleingang zu wagen, liegt allein bei mir. Natürlich habe auch ich Angst. Aber ich fühle mich sicher, in Form, bin hochmotiviert. So mache ich mich am Samstag, den 27.Juni, auf den Weg. Richtung Gipfel. Nachts, bei dünnem Mondlicht. Im Laufe des Tages sehe ich, dass das Wetter gut bleibt. Vorerst wenigstens. Ich nutze die Chance. Auf die Idee, dass die rote Rakete ein Irrtum gewesen sein könnte, komme ich nicht. Wie auch? Das Wetter könnte sich rasch zum Schlechteren wenden. Nebel umwabern den Gipfelbereich des Nanga Parbat, und im Süden stehen immer noch diese Haufenwolken, die wie Atompilze in den Himmel greifen.
Ich weiß nicht, ob ich es bis zum Gipfel schaffen kann. Und ich muss ja auch zurück. Ins Lager V. Am gleichen Tag.
»Wenn der Wetterbericht schlecht ist, will ich versuchen, allein hinaufzugehen, so weit ich komme«, habe ich dem Expeditionsleiter versprochen und natürlich bis zum Gipfel steigen wollen. »Reinhold, du sprichst mir aus der Seele«, hat Herrligkoffer geantwortet. Als Bestätigung meines Vorschlags.
Das weitere Vorgehen habe trotzdem allein ich zu verantworten. Die rote Rakete ist bald vergessen. Auch das Wetter am Morgen des 27.Juni ist strahlend schön. Ich erwarte aber schlechtes Wetter, beobachte die Wolkenzüge, die aus der großen Höhe gut zu beurteilen sind. Wie lange wird es halten? Die Sorge bleibt.
Meine Sorge gilt also dem Wetter. Denn ich sehe, dass die Merkl-Rinne bei Schneefall zur Lawinenrinne wird. Im White out wäre ein Zurückfinden unmöglich. Wer sich in der Gipfelwand im Nebel verliert, ist verloren.
Der Entschluss, ohne Rucksack loszugehen, hat mit meiner Taktik zu tun: schnell sein. Ich will zum Gipfel und zurück ins Lager V. An einem Tag! Die letzten Tage des Schönwetterfensters nutzen, das diesen allerletzten Versuch erst möglich gemacht hat. Gerhard, Günther und ich müssen bis ins Lager IV absteigen, ehe es stürmt und schneit, denke ich. Im Merkl-Eisfeld hängen keine Fixseile. Eine Todesfalle bei Lawinengefahr.
Deshalb ist mein Rucksack im Zelt des letzten Lagers zurückgeblieben. Weder Sicherungsseil noch Haken, noch Biwakausrüstung habe ich mitgenommen. Nur Steigeisen, Pickel, Stirnlampe. Mein Aufbruch in die Merkl-Rinne mag nach einem kurzfristigen Erkundungsvorstoß ausgesehen haben. Mein Plan ist ein Gipfelgang und wohlüberlegt. Allerdings: Bei schlechtem Wetter wäre ich gar nicht erst losgegangen.
Das Gipfeltrapez des Nanga Parbat. Rechts die Merkl-Scharte
Im oberen Teil der Merkl-Rinne quere ich über eine Rampe nach rechts in die Eisfelder. Unter der Südschulter vorbei. Der oberste Teil der Rinne ragt jetzt links über mir auf. Das Gelände aber interessiert mich nicht. Mein Weg führt nach rechts.
Ich weiß nichts davon, dass Günther mir nachsteigt. Ebenfalls ohne Ausrüstung. Als er mich einholt, erschrecke ich zuerst. Dann aber gibt es keinen Zweifel, dass wir zu zweit weitersteigen. Ein Fehler? Vielleicht. Es ist spät, und die Kameraden sind weit weg. Sie können nicht wissen, was wir tun. Die Gipfelnähe und unsere Begeisterung treiben uns an. Kein Zögern. Wir erreichen den Gipfel. Was andere dazu sagen, interessiert uns jetzt nicht. Unsere Sorge gilt nur dem Abstieg.
Kienlin: »Es gibt für mich aber keinen vernünftigen Zweifel daran, dass die beiden auf dem Gipfel standen.«
Jetzt erst, beim Abstieg, beginnen die Probleme. Für Außenstehende mögen es Ungereimtheiten sein. Wegen großer Müdigkeit zeigt Günther Unsicherheiten. »Können wir nicht über eine andere Route absteigen?«, fragt er.
Der Weg zurück durch die Merkl-Rinne ins Lager IV ist ihm zu steil. An der Südschulter schaue ich nach Westen. Der Weg bis zur Scharte am Ende der Merkl-Rinne ist leicht. Das mitgeführte Foto der Rupalflanke suggeriert uns die Möglichkeit, von dort in die Rinne zurückzukommen. Dieses Foto zeigt die Rupalflanke in der Totalen. Details sind nicht zu erkennen. Aber da ist eine Schneerampe zwischen Scharte und Rinne.
Kuen: »Aus diesem Foto war nicht ersichtlich, ob es möglich ist, in die Rinne hineinzuqueren. Außerdem hatte Reinhold Messner ganz sicher schon während des Aufstiegs in der Merkl-Rinne erkannt, dass der letzte Teil nicht gangbar und dass hier weder ein Auf- noch ein Abstieg möglich ist.«
Nein, aber immerhin hat mir dieses eine Bild in der Rupalwand öfters als Orientierungshilfe gedient.
Irgendwo müssen wir hinunter. Viel Zeit haben wir nicht mehr. Das schlechte Wetter! Ohne Schutz können wir nicht am Gipfelgrat biwakieren! Und Günther fürchtet sich vor dem Abstieg. Nein, nicht mein höhenkranker Bruder soll entscheiden, was zu tun ist. Seine Ängste aber nehme ich ernst. Also wählen wir den flacheren Weg. Ist es eine Fehlentscheidung, geradewegs zur Merkl-Scharte abzusteigen? Getroffen nach der Fehlbeurteilung eines Fotos?
Ja, wie ich heute weiß. Damals aber war ich mir sicher, dass es der kürzere und leichtere Weg zum Lager war.
Sicher, dieser Abstiegsweg ist unbekannt. Unbekannt aber ist alles für uns: unsere Resistenz in der Höhe, das Wetter, das Morgen. Die vage Idee einer Überschreitung des Berges zur westlichen Diamirseite hin ist längst ausgeblendet. Es geht nur noch ums Überleben. Auch ich habe Angst, über die ungesicherte Merkl-Rinne abzusteigen. Wie gut ich Günthers Ängste verstehe!
»Damit war die Vorentscheidung gefallen, die Sackgasse programmiert!«, wie sich hinterher leicht urteilen lässt.
Uns stellt sich die Situation anders dar. Wir erreichen einen tauglichen Biwakplatz, überleben eine schlimme Nacht. In der Todeszone ist Erholung nicht möglich. Im Gegenteil. Kälte und Angst zehren uns aus. Der Morgen kommt in Schüben von Kältezittern.
Wir stecken in einer Notlage. Günther ist geschwächt. Der Abstieg von der Scharte in die Merkl-Rinne unmöglich. Deshalb rufe ich am Morgen des 28.Juni von der Scharte aus um Hilfe. Von dort aus habe ich Einblick in die Steilwand, die wir am Vortag durchstiegen haben.
Die ersten Hilferufe hat kein Mensch gehört.
Aber an diesem Vormittag steigen Felix Kuen und Peter Scholz durch die Merkl-Rinne. Auch sie sollen den Gipfel besteigen. Außerplanmäßig. Dahinter Werner Haim, Hans Saler und Gert Mändl, die in der Merkl-Rinne Seile anbringen, um den erschöpft zurückkehrenden Kameraden, auch uns, den Abstieg zu erleichtern. Günther und ich können all das nicht wissen. Als ich Kuen und Scholz sehe, nehme ich an, sie seien allein unseretwegen gekommen. Warum also weiter um Hilfe rufen? Mit Felix gibt es kurz Rufkontakt. Die Verständigung aber ist schlecht. Wegen der Höhe, den Windböen, der Entfernung. Felix und Peter sollen zu unserem Standplatz kommen, teile ich mit. Weil wir ein Seil für die Rückkehr in die Merkl-Rinne brauchen. Deshalb habe ich doch drei Stunden lang um Hilfe gerufen! Aber Felix sieht keine Chance, das letzte Stück Wand bis zur Scharte zu klettern. Sowenig ich zu ihm abklettern kann, wagt er es, von Peter gesichert zu uns aufzusteigen.
Gipfelaufbau. Das Wandstück zwischen Merkl-Rinne und Merkl-Scharte ist 1970 nicht kletterbar
Ja, Felix und Peter haben ihre Aufstiegsstrategie, nach der sie sich richten. Sie würden von der Route, die auch wir genommen haben, abweichen, wenn es eine minimale Chance gäbe, uns zu helfen. Nur abstürzen darf jetzt keiner. Ich spüre es, ich darf Felix nicht in ein Todesrisiko treiben.
Ein Sturz hätte einen Schock und den Tod von uns vieren bedeutet. Deshalb mein: »Ja! Alles in Ordnung«, am Ende auf die Frage von Felix: »Ist alles in Ordnung?« Ich hätte nicht anders reagieren können.
Nur wer sich in beide Positionen versetzt – was wusste Felix, was wusste ich –, erkennt die unausweichliche Notlage, in der wir stecken. Selbstverschuldet gewiss, aber ohne Hoffnung auf Hilfe. Wenn Felix nicht zu uns hinklettern kann, weil das Wandstück zwischen uns unzugänglich ist, kann uns auch sonst niemand hier herausholen.
Nicht nur ich, alle, die später andere glauben machen wollen, dass Felix und Peter uns zu Hilfe gekommen wären, wenn ich nur deutlich genug auf Günthers Schwäche verwiesen hätte, unterstellen Felix – Peter reagierte nicht – unterlassene Hilfeleistung. Es gibt dazu zwei Standpunkte. Auch zwei Wahrheiten. Das Gemeinsame an den beiden Wahrheiten lautet: Das Gelände zwischen Merkl-Rinne und Merkl-Scharte ist nicht passierbar. Erst als mir diese Tatsache dämmert und unsere Notlage klar wird – Günther ist höhenkrank –, kommt Verzweiflung auf. Wenn Peter und Felix jetzt ihr Leben riskieren, um uns zu helfen, stürzen sie ab. Das Risiko, uns entgegenzusteigen, ist also zu hoch. Die mögliche Rettung des Bruders liegt jetzt nur noch bei mir. Also Abstieg auf der anderen Seite des Berges.
Hilfe von der zweiten Gipfelseilschaft hätte in die Merkl-Scharte erst 24 Stunden später kommen können. Dies hätte ein zweites Biwak in der Todeszone für uns bedeutet. Es wäre tödlich gewesen. Mit Sicherheit.
Felix und Peter hätten ihren Aufstiegsplan sicher geändert, um uns zu Hilfe zu kommen, wenn sie eine Chance dazu gesehen hätten. Das Wandstück aber, das uns voneinander trennt, ist zu steil: In dieser Höhe kann es 1970 keiner sturzfrei klettern.
Nein, ich empfehle Felix keine Route links in die Südschulter. Wie auch? Ich kenne sie nicht. Am Ende zeige ich Felix nur an, dass wir nach Westen absteigen. Wie wir wieder ins Basislager kommen, weiß ich nicht.
Ich kann und darf Günther nicht allein lassen. Jetzt haben wir nur einen Ausweg: die Diamirseite.
Felix und Peter steigen weiter bis zum Gipfel. Nach einem Biwak kehren sie auf ihrer Abstiegsroute zurück ins letzte Lager.
Herrligkoffer: »Hatte Reinhold wirklich nur einen Ausweg, um den höhenkranken Bruder in Sicherheit zu bringen? Wenn er nun schon einmal gegen alle Vernunft in der Diamirflanke biwakiert hat und sein Bruder dort höhenkrank wurde – bot sich da nicht der einfache Abstieg zum 1000m tiefer gelegenen Westsattel an?«
Ende der Leseprobe