Diese verdammte Sehnsucht - Margarete Bertschik - E-Book

Diese verdammte Sehnsucht E-Book

Margarete Bertschik

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Beschreibung

Eigentlich ist Christina Wegner ganz zufrieden mit ihrem Leben als Lehrerin, Ehefrau und Mutter zweier erwachsener Kinder. Wenn da nur nicht diese immer wiederkehrenden depressiven Phasen wären, die ihr zu schaffen machen ... Eines Tages lernt sie im Internet einen Mann kennen, der ihr auf Anhieb sympathisch ist. Sie chattet mit ihm, und der Kontakt mit Dominic J. Anderson, so heißt der amerikanische Soldat aus Afghanistan, wird immer intensiver. Christina verliebt sich unsterblich in ihn .... Aber wer steckt wirklich hinter der Identität des Amerikaners? Und ist er es wert, dass Christina ihre gesamte bürgerliche Existenz aufs Spiel setzt, um der Erfüllung dieser "verdammten Sehnsucht" näher zu kommen? Der Roman erzählt die spannende und berührende Geschichte einer großen Liebe in den Zeiten des Internets, eine Geschichte von Vertrauen und Betrug, Leidenschaft und Enttäuschung und von der Möglichkeit, unbekannte neue Wege zu gehen.

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Seitenzahl: 343

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Zum Inhalt

Sollte es sie wirklich geben, die große Liebe? Und findet Christina Wegner, eine emanzipierte Frau in der Mitte ihres Lebens, die eigentlich ganz zufrieden ist mit ihrem bürgerlichen Alltag, diese Liebe tatsächlich online?

Der Roman erzählt die berührende und spannende Geschichte einer Liebe in den Zeiten des Internets, eine Geschichte von Vertrauen und Betrug, Leidenschaft und Enttäuschung und von der Möglichkeit, unerwartete neue Wege zu gehen auf der Suche nach der Erfüllung dieser „verdammten Sehnsucht“…

Zur Autorin

Margarete Bertschik, geboren 1951, studierte Kunst, Germanistik, Pädagogik und Philosophie, bevor sie nach Jahrzehnten als Lehrerin das Schreiben zu ihrem zweiten Beruf machte. Sie ist verheiratet und lebt mit ihrem Mann in Norddeutschland.

Bisher sind von ihr ein Roman, ein Kurzgeschichtenband und

zwei Kriminalromane erschienen.

Weitere Informationen unter:

www.autorin-margarete-bertschik.de

Die Personen und die Handlung dieses Romans sind frei erfunden. Namensgleichheiten oder Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und sind nicht beabsichtigt.

Manche der genannten Orte, Straßen oder Plätze sind authentisch, andere jedoch nicht. Eine Zuordnung der Schauplätze zu tatsächlichen Örtlichkeiten ist daher nicht immer möglich.

Inhaltsverzeichnis

Teil Eins

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Teil Zwei

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Teil Drei

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Teil Vier

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Teil Fünf

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Teil Sechs

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

TEIL EINS

1

„Für dich!“

Unwillig schaute Christina von dem Unterrichtsentwurf auf, an dem sie gerade herumtüfftelte. Die Fünftklässler brauchten präzise Arbeitsanweisungen, die eine kleinschrittige Planung erforderlich machten, und die Unterbrechung riss sie aus ihrer Konzentration. Ärgerlich zog sie die Augenbrauen zusammen, so dass zwei steile Falten zwischen ihnen entstanden. Stefan, ihr Mann, hielt ihr das Telefon hin, das Mikrofon mit der Hand abdeckend. Sein Gesichtsausdruck verhieß nichts Gutes.

„Der Vater eines deiner Schüler. Den Namen habe ich nicht verstanden“, flüsterte er.

Christina verdrehte die Augen und seufzte abgrundtief. Das hatte ihr noch gefehlt bei all dem Stress, den diese Zeit kurz nach den Halbjahreszeugnissen sowieso schon verursachte.

„Wegner hier“, meldete sie sich knapp. Stefan zwinkerte ihr aufmunternd zu und hob den Daumen, während er die Tür zu ihrem Arbeitszimmer hinter sich schloss.

„Wischkowski“, bellte eine kräftige Männerstimme ins Telefon. „Sie sind doch die Kunstlehrerin meines Sohnes Lennart, ist das richtig?“

Christina versuchte angestrengt, sich das Gesicht zu dem Namen Lennart Wischkowski ins Gedächtnis zu rufen, was nicht ganz leicht war bei den Hunderten von Schülern, die sie unterrichtete. Jetzt fiel es ihr ein: Der freche Fünfzehnjährige aus der 9b, dem jedes Verständnis für künstlerisches Gestalten vollkommen abging, der dafür aber wegen seiner coolen Klamotten und des abgefahrenen Haarschnitts bei den Mädchen der angesagteste Typ der ganzen Klasse war.

„Ja, Herr Wischkowski, Ihr Sohn Lennart geht in meine 9b. Was kann ich denn für Sie tun?“

„Sie könnten mir zum Beispiel mal erklären, wieso Lennart auf dem Halbjahreszeugnis nur eine Vier in Kunst bekommen hat. In der schriftlichen Arbeit hat er doch eine Drei geschrieben. Und seine Kunstarbeiten waren auch nicht schlecht. Wir verstehen das nicht, meine Frau und ich!“

Christina atmete ein paar Mal tief durch. Während sie mit der Linken den Hörer an ihr Ohr hielt, kramte sie mit der Rechten den Hefter mit den Unterlagen der 9b aus dem Stapel von Unterlagen hervor, der als unordentlicher Haufen auf dem Regal neben ihrem Schreibtisch lag. Nach einigem Blättern fand sie den Notenspiegel der Klasse. In den folgenden zehn Minuten erklärte sie dem aufgebrachten Vater mit mühsam unterdrückter Ungeduld, wie die Note seines Sohnes zustande gekommen war. Diesen Teil ihres Berufes mochte sie am wenigsten: Unzufriedenen Eltern verdeutlichen zu müssen, dass ihr Sprössling nicht in allem den Erwartungen seiner Lehrer entsprach. Nach zehn Minuten mühsamer Erklärungen war Herr Wischkowski schließlich besänftigt.

„Also dann: Nichts für ungut, Frau Wegner“, sagte er kleinlaut.

„Schon gut, Herr Wischkowski. Schönen Tag noch!“

Christina kreuzte die Arme hinter ihrem Kopf und streckte den Rücken. Ihre Konzentration auf die Unterrichtsvorbereitung war durch die Unterbrechung völlig weg. Sie brauchte eine Pause. Ihr Blick fiel auf den schwarzen Computerbildschirm, der zusammen mit der Tastatur und dem Drucker auf der niedrigen Arbeitsplatte neben ihrem Schreibtisch stand. Mal sehen, was es bei Facebook Neues gab. Seit sie die Vertretungspläne sowie alle anderen schulischen Termine und Unterlagen per E-Mail übermittelt bekam, hatte sie sich mit den sozialen Medien angefreundet. Mit einigen ihrer Schülergruppen in der Oberstufe war sie in WhatsApp-Gruppen verbunden, obwohl sie dem E-Learning im Grunde nicht viel abgewinnen konnte. Der tägliche Kontakt mit ihren Facebook-Freunden war ihr dagegen schon zur Gewohnheit geworden. Sie hatte sich in einigen Gruppen angemeldet, deren Mitglieder Themen diskutierten, die sie interessierten. Hin und wieder beteiligte Christina sich an den Diskussionen und freute sich, wenn sie für ihre Beiträge geliked wurde. Ihre bescheidene Freundesliste umfasste fünfunddreißig Personen, zumeist Menschen aus ihrem persönlichen Bekannten- oder Freundeskreis.

Als sie jetzt einige Tasten betätigte, um online zu gehen und ihr Facebook-Profil aufzurufen, leuchtete in der Leiste am oberen Rand ein kleines rotes Icon auf. Aha, wieder einmal eine Freundschaftsanfrage. Schon komisch, dachte sie, sich vorzustellen, dass Menschen in aller Welt mein FB-Profil sehen und darauf reagieren. Neugierig klickte Christina auf das Symbol. Mal sehen, wer diesmal Interesse an ihr zeigte. Ein Dominic J. Anderson fragte an. Das lächelnde Gesicht eines Mannes in Khaki-Uniform erschien, im Vordergrund ein etwa vier- oder fünfjähriger Junge, der gerade ein Eis schleckte. Offenbar ein Selfie-Foto. Dann noch eines, ebenfalls Vater und Sohn. Dazu ein Landschaftsbild als Hintergrund. Sparsame Angaben zur Person: US-Soldat aus Kalifornien, USA, verwitwet, zurzeit in Afghanistan. Keine Freundesliste, keine weiteren Angaben. Christina betrachtete das Foto des Mannes genauer. Ein sympathisches Lächeln, das um die Augen herum lauter kleine Falten entstehen ließ, ein freundlicher, offener Blick aus blauen Augen, regelmäßige, weiche Gesichtszüge. Der Mann sah nett aus. Die Haare wurden von der Schirmmütze in Khakifarben verdeckt. Auf der Uniformjacke war der Name Anderson zu lesen.

Das runde Gesicht des Jungen hatte eine verblüffende Ähnlichkeit mit dem des Mannes, ganz offensichtlich Vater und Sohn. Unschlüssig kaute Christina auf ihrem Kugelschreiber herum. Die Anfrage weckte ihre Neugier. Der Mann wirkte nett. Sollte sie die Freundschaftsanfrage bestätigen und sehen, ob Mister Anderson sich bei ihr persönlich melden würde? Warum nicht? Was konnte schon passieren? Andere FB-Teilnehmer hatten schließlich Hunderte von Freunden. Sie klickte auf den Button „Freundschaft bestätigen“ und erhielt Sekunden später die Benachrichtigung von Facebook: „Sie sind mit Dominic J. Anderson im Messanger verbunden“. Und schon erschienen das Foto und der Name des Mannes in ihrer Freundesliste.

Gerade als Christina ihren Account schließen wollte, leuchtete in der Leiste das Nachrichtenzeichen auf: Eine erste Botschaft von Dominic Anderson sei angekommen, teilte Facebook ihr mit. Das ging aber schnell, dachte sie. Neugierig öffnete sie den Chat.

Hello, Christina! Thank you for accepting my request. How are you?

Englisch? Natürlich, der Mann war ja Amerikaner. Ob er wohl Deutsch sprach? Immerhin konnte er ja nicht erwarten, dass jeder auf der Welt Englisch beherrschte. Und aus ihrem, Christinas, Profil konnte er ersehen, dass sie Deutsche war.

Guten Tag! Sprechen Sie Deutsch?“

Gespannt wartete sie auf die Antwort. Im Display konnte sie an der laufenden Wellenlinie erkennen, dass er dabei war, etwas zu schreiben.

Ich kann einen Translator benutzen, so können wir uns unterhalten auf Deutsch, wenn du willst.

Ach so! Natürlich! Das war heutzutage ja alles so einfach. Na gut. Dann also auf Deutsch.

Wie bist du darauf gekommen, mich zu kontaktieren? schrieb sie.

Immerhin war es schon ungewöhnlich, eine solche Anfrage zu erhalten. Was versprach er sich davon? Der Sinn dessen, was der elektronische Übersetzer ihr in barbarisch schlechtem Deutsch als Antwort auf ihre Frage übermittelte, schien zu sein, dass ihr Lächeln ihm gefallen habe oder etwas Ähnliches. Dann doch lieber in Englisch, dachte Christina. Sie suchte ihre Sprachkenntnisse zusammen und schrieb:

Das Deutsch des Übersetzers ist schrecklich. Wir sollten uns besser in deiner Sprache unterhalten.

Seine Antwort kam prompt.

Oh ja, das wäre gut. Großartig, dass du Englisch sprichst!Christina freute sich über das Lob.

Okay, schrieb sie, aber ich mache bestimmt viele Fehler. Du kannst sie gerne korrigieren, wenn du sie siehst. Dann kann ich mich verbessern.

Darauf er:

Dein Englisch ist perfekt.

Also. Was sollte sie ihn fragen? Am besten erst einmal etwas Allgemeines.

Ich würde mich freuen, wenn du mir etwas über dich erzählen würdest, Dominic.

Sie sah, dass er längere Zeit schrieb. Das würde wohl eine ausführliche Antwort werden.

Okay. Wo soll ich beginnen? Also, ich bin geboren in Finnland. Meine Mutter war Finnin, mein Vater Amerikaner. Nach dem Tod meiner Mutter, als ich sechzehn Jahre alt war, ging mein Vater mit mir nach Amerika, Kalifornien. Später besuchte ich die Militärschule und ging zur Armee. Jetzt bin ich in Afghanistan stationiert, in einer UN-Friedensmission, in der Nähe von Kabul. Ich bin verwitwet, habe einen kleinen Sohn. Er heißt Samuel, aber er wird Sammy genannt. Er ist neun Jahre alt. Er ist alles, was ich habe.

Diese geballte Information musste Christina erst einmal verkraften. Verwitwet also. Wenn er auf der Suche nach einer neuen Frau war, sollte sie das Ganze wohl besser abbrechen.

Dominic, du konntest in meinem FB-Profil sehen, dass ich verheiratet bin. Wenn du eine Frau suchst, bin ich nicht die Richtige.

Schade eigentlich, dachte sie. Jetzt würde er sich wahrscheinlich höflich zurückziehen. Dabei wirkte er so sympathisch.

Ich bin nicht auf der Suche nach einer Frau, ich möchte eine freundschaftliche Unterhaltung. Hier im Camp sind nur meine Kameraden. Wenn du nichts dagegen hast, können wir uns doch weiter unterhalten, auch wenn du verheiratet bist. Ich würde mich freuen darüber. Was denkst du, Christina?

Überrascht von dieser Antwort, starrte Christina auf den Bildschirm, auf dem das Foto des Mannes mit seinem kleinen Sohn noch immer zu sehen war. Ja, warum eigentlich nicht?

Das ist nett. Also unterhalten wir uns.

Während Christina überlegte, was sie ihn als Nächstes fragen könnte, traf seine Antwort ein.

Ich muss leider jetzt aufhören. Meine Männer und ich gehen auf Patrouille. Wir reden später weiter, wenn du willst. Goodbye, Christina!

Ein wenig enttäuscht verließ Christina die Facebook-Seite und wandte sich wieder ihrer Arbeit zu. Es fiel ihr schwer, ihre Gedanken auf die Unterrichtsvorbereitungen zu konzentrieren, sodass sie dankbar war, als Stefan seinen Kopf zur Tür hereinsteckte

„Kommst du? Das Mittagessen steht auf dem Tisch!“

„Was gibt es denn?“, fragte sie, während sie ihrem Mann in die Küche folgte.

„Weißt du doch: Kartoffel-Tomaten-Gratin. Er ist jeden Moment fertig. Den Salat musst du noch anmachen, bitte.“

Stefan streifte sich die Küchenhandschuhe über die Hände, um den Auflauf aus dem heißen Backofen zu nehmen. Der köstliche Duft des Gratins breitete sich appetitanregend im ganzen Raum aus. Christine nahm das Tütchen mit der Gewürzmischung für das Salatdressing, schüttelte den Inhalt in eine Glasschüssel und gab die vorgeschriebene Menge an Öl und Wasser hinzu.

„Sag mal, Stefan, du bist doch auch bei Facebook“, sagte sie, während sie die Zutaten vermischte. „Bekommst du auch ständig Freundschaftsanfragen von irgendwelchen Fremden?“

„Gar nicht drum kümmern“, meinte Stefan, „am besten sofort löschen.“

Christina gab die gewaschenen Salatblätter in die Schüssel mit dem Dressing und hob sie vorsichtig unter.

„Ich frage mich sowieso, wie die Leute, die Hunderte von ‚Freunden‘ bei Facebook haben, mit all den Menschen Kontakt halten wollen“, sagte sie. „Geht doch gar nicht.“

„Tun sie auch nicht“, antwortete Stefan in seiner gewohnt selbstsicheren Art. „Soll wohl so eine Art Gradmesser für die eigene Beliebtheit sein, möglichst viele FB-Freunde zu haben. Weiß der Himmel, wo manche die herbekommen.“

Stefan stellte die Auflaufschüssel auf den Tisch, setzte sich und fing an, eine gewaltige Portion des knusprig-braun überbackenen Gratins auf seinen Teller zu schaufeln. Christina stellte die Salatschüssel dazu und rückte ihren Stuhl zurecht.

„Gibst du mir auch etwas, bitte?“ Sie hielt ihrem Mann den Teller hin. „Ich habe jetzt mal auf eine Anfrage geantwortet. Ein Typ aus Amerika. Scheint ganz nett zu sein.“

„Ach ja?“ Stefan sah sie überrascht an, während er ihren Teller füllte.

„Ja. Ich wollte wissen, ob er sich tatsächlich persönlich meldet.“

„Und?“

„Wie gesagt, er scheint ganz nett zu sein. Ein Soldat der US-Army. In Afghanistan stationiert. Sucht wohl irgendwie Kontakt.“

„Ach so. Na, dann …“

Stefan nahm die Tageszeitung zur Hand und schlug den Lokalteil auf.

„Hast du schon gesehen, sie planen die Gebühren für das Stadtbad zu erhöhen“, sagte er. „Jetzt soll es einen gestaffelten Preis geben. Richtig so. Es ist schließlich nicht gerecht, wenn man für eine Stunde genauso viel bezahlen soll wir für den ganzen Tag.“

Typisch, nie hört er mir richtig zu, dachte Christina. Sie musterte ihren Mann frustriert, während er jeden einzelnen Artikel in der Zeitung kommentierte. Neben seiner beruflichen Tätigkeit als Abteilungsleiter in der Stadtverwaltung engagierte er sich in allen möglichen Gremien: Im Kulturverein, im Rotary-Club, besonders in den verschiedenen Sportvereinen, in denen er auch selbst aktiv war. Wie gut er immer noch aussieht, ging es Christina durch den Kopf. Seine vollen graumelierten blonden Haare trug er modisch kurz geschnitten und seine hellblauen Augen blitzten wie eh und je. Sie beneidete ihn um seine sportliche Figur und die jugendliche Ausstrahlung, auf die er, wie sie wusste, nicht wenig stolz war. Niemand glaubte ihm seine neunundfünfzig Jahre, und seine extravertierte Art, mit der er auf die Menschen zuging, machte ihn zum geborenen Politiker und Vereinsmenschen. Wie hält er es nur in der trockenen Bürokratie der Stadtverwaltung aus, fragte Christina sich zum wiederholten Mal. Nun ja, schließlich war er Jurist und den Behördenkram gewöhnt.

Das Klingeln des Telefons riss sie aus ihren Gedanken.

„Ich geh schon“, sagte Stefan. Er wischte sich mit der Serviette den Mund ab, stand auf und ging in den Flur, wo das Telefon stand. „Hallo, Lukas“, hörte Christina ihn sagen. Offensichtlich hatte er im Display den Namen ihres Sohnes gesehen. Was Lukas wohl wollte? Hoffentlich war nichts mit den Kindern. Nach einer Weile kam Stefan mit dem Telefon in der Hand in die Küche. „Warte mal, das fragst du sie am besten selbst“, sagte er in den Hörer und reichte Christina das Telefon. Mit den Lippen formte er das Wort ‚Babysitten‘ und verdrehte die Augen.

„Lukas? Wie geht’s euch? Ist alles in Ordnung?“

„Alles okay, Mama. Wir haben nur wieder einmal ein Problem mit den Kindern. Könntest du vielleicht morgen auf die beiden aufpassen? Eileen und ich würden gerne zu einer Geburtstagsfeier in der Nachbarschaft gehen und wir können die beiden ja nicht allein zu Hause lassen. Ginge das?“

Christina unterdrückte einen Seufzer. Eigentlich hatte sie sich auf einen geruhsamen, entspannten Sonntag mit nur wenig Schularbeit gefreut. Daraus wurde also wieder einmal nichts.

„Na klar“, sagte sie. „Allerdings fahre ich nachts wieder nach Hause. Du weißt ja, ich muss am Montag zur ersten Stunde in der Schule sein.“

Er war eine knappe halbe Stunde Fahrt bis zu der Kleinstadt, in der Lukas mit seiner Familie lebte. Als IT-Ingenieur hatte er dort in der größten Maschinenbaufirma der Gegend einen lukrativen Job gefunden, so dass Eileen, seine Frau, ganz für die beiden Kinder da sein konnte. Zwar waren die fünfjährige Jasmin und der dreijährige Johannes der ganze Stolz ihrer Großeltern, aber dennoch empfand Christina es zuweilen als Belastung, auf Abruf bereitstehen zu müssen, wenn wieder einmal eine Babysitterin für die beiden gebraucht wurde. Stefan hielt sich dabei auffallend zurück. Meistens hatte er irgendwelche ehrenamtlichen Termine, sodass er sich vor seinen großväterlichen Pflichten erfolgreich drücken konnte.

Sie beendete das Gespräch. „Und warum kannst du diesmal nicht?“, fragte sie ihren Mann, der sich wieder seiner Zeitung zugewandt hatte. In ihrer Stimme schwang der leise Ärger mit, den sie empfand. „Ich hatte mich so auf einen freien Sonntag gefreut.“

Stefan blickte nicht von seiner Lektüre auf. „Ich muss zur Ausstellungseröffnung ins Kulturhaus, das weißt du doch. Ich soll die Begrüßung vornehmen. Das kann ich unmöglich absagen. Habe ich Lukas auch gesagt.“

Christina seufzte und stand auf. Sie räumte den Tisch ab und stellte das Geschirr in die Spülmaschine. Jedenfalls musste sie versuchen, alle anstehenden Unterrichtsvorbereitungen heute zu erledigen. Das bedeutete noch ein paar Stunden Arbeit am Nachmittag und Abend. Sie überließ Stefan das weitere Aufräumen der Küche und kehrte in ihr Arbeitszimmer zurück.

Das rote Lämpchen auf dem Computerbildschirm leuchtete. Eine neue Nachricht war eingetroffen. Von Dominik. Sie öffnete das Fenster.

Good day, my dear! Bist du da?

Ja, ich bin da.

Wie geht es dir? Wie ist dein Tag?

Gut. Es ist Wochenende.

Wie ist das Wetter bei euch? Hier ist es ziemlich kalt.

Hier auch. Typisches Februarwetter. Nasskalt und trüb.

Nicht gerade angenehm.

Was hast du heute gemacht?

Ach, das Übliche. Vorbereitungen für den Unterricht. Ich bin Lehrerin, musst du wissen. Nichts Besonderes. Und du?

Das hört sich gut an. Ich bin gerade von einem Patrouillengang zurückgekommen. Ich werde mich jetzt etwas frisch machen und dann essen.

In diesem lockeren Plauderton ging es eine Weile weiter. Christina wunderte sich, wie leicht es ihr fiel, sich mit diesem ihr völlig fremden Mann zu unterhalten. Eigentlich war sie kein Mensch, der unbefangen auf andere zugehen und Small Talk machen konnte. Vielleicht war es die offene Art des Amerikaners, von sich zu erzählen und Fragen zu stellen, die sie ermunterte, ihrerseits neugierig zu sein.

Darf ich dich etwas fragen, Dominic?

Aber sicher, my dear.

Auf dem Bild in deinem Profil siehst du sehr jung aus. Wie alt bist du?

Oh! Also. Im September werde ich 45 Jahre alt.

Wirklich? Das kann ich kaum glauben!

Ach, weißt du, die Uniform macht mich jünger. Und das tägliche Training, das wir absolvieren, hält uns fit.

Natürlich. - Wie sieht dein Tagesablauf aus dort in dem unruhigen Land?

Gespannt wartete sie auf seine Antwort. Wann hatte man schon einmal die Gelegenheit, aus erster Hand zu erfahren, wie es in dem krisengeschüttelten Afghanistan zuging.

Meine Tage hier sind wahrscheinlich so, wie du dir das vorstellst. Wir müssen rund um die Uhr wachsam sein, weil in jeder Minute alles passieren kann. Ich kann nicht wirklich sagen, dass die Friedensmission ein Erfolg ist, denn es ist eher ein Kriegsgebiet hier. Die Taliban geben nie auf, weil einige von ihnen glauben, wenn sie sterben und viele Menschen töten, bekommen sie einen gesicherten Platz bei Allah im Himmel.

Gibt es in dem Camp dort auch weibliche Soldaten? Oder überhaupt Frauen?

Ja, es gibt hier Soldatinnen, aber die Männer sind in der Überzahl. Es ist nicht einfach hier, aber die Frauen sind bemerkenswert stark und tapfer.

Ob sie es wagen durfte, ihn etwas Persönliches zu fragen? Warum nicht? Er brauchte ja nicht zu antworten, wenn es ihm nicht passte.

Keine dabei, die für dich in Frage käme? (Smily)

Sie versah ihre Frage mit einem Smily als Zeichen, dass er die Frage nicht allzu ernst nehmen sollte.

Hahaha, gute Frage! Aber nein, hier im Camp gibt es keine Beziehungen. Sie könnten Probleme bringen. Wir sehen uns hier als Bruder und Schwester. Die Mission kommt zuerst, sie steht immer an erster Stelle, verstehst du?

Ja, das verstehe ich gut. Ihr seid in erster Linie Kameraden, Gefährten, die sich aufeinander verlassen müssen.

Genau. - Und du? Wie verbringst du den Tag? Was ist das Erste, was du am Morgen tust, Christina?

Nun, ich drehe das Radio an und bereite das Frühstück zu. Und ich lese die Tageszeitung. Dann fahre ich in die Schule zum Unterricht.

Mein Gott, dachte Christina, als sie ihre Antwort las, ist mein Leben wirklich so langweilig? Wie lange war das jetzt schon so? Zwanzig, dreißig Jahre? Nun ja, es war ja wohl normal, dass das Berufsleben zur Routine wurde. Und ihr Privatleben? Christina schob den Gedanken beiseite.

Du bist sicher eine gute Lehrerin, Christina.

Wie nett von Dominic, das zu sagen! Christina war erstaunt darüber, wie sehr sie sich über dieses kleine Kompliment freute. Ihr Blick fiel auf die digitale Zeitanzeige ihres Computers. Erschrocken stellte sie fest, dass sie schon seit fast zwei Stunden mit Dominic Anderson chattete. Und dabei hatte sie noch so viel zu tun! Es wurde Zeit, sich zu verabschieden. Erstaunlich, wie interessant und anregend die Unterhaltung mit diesem Mann gewesen war, den sie gerade erst kennengelernt hatte.

Dominic, ich muss jetzt arbeiten. Lass uns aufhören für heute.

Okay, liebe Chrissie! Ich darf dich doch so nennen, oder? Hab‘ vielen Dank für deine Zeit. Ich bin wirklich glücklich, eine so liebenswerte Frau wie dich kennengelernt zu haben. Ich freue mich darauf, morgen wieder mit dir zu reden. Goodbye!

Du bist sehr freundlich, Dominic! Bis morgen!

Christina betätigte das X zur Beendigung des Chats. Chrissie. Niemand hatte sie bisher so genannt. Sie lächelte. Es klang nett, fand sie.

2

Wie jeden Morgen wachte Christina früh auf. Ihr Körper war darauf programmiert, rechtzeitig wach zu werden für den Schulbetrieb. Ein Blick auf die Digitalanzeige ihres Weckers sagte ihr: 6.30 Uhr. Viel zu früh zum Aufstehen an einem Sonntag! Sie drehte sich auf die andere Seite und versuchte wieder einzuschlafen. Keine Chance. Sie war hellwach. Stefan neben ihr schlief noch tief und fest, wie ihr seine regelmäßigen Atemzüge verrieten. Durch die Jalousien drang fahles Dämmerlicht. Gott sei Dank wurde es jetzt schon wieder etwas früher hell. Christina hasste es, im Dunkeln aufstehen zu müssen. Bis die Sonne richtig aufgegangen sein würde, dauerte es jetzt Mitte Februar wohl noch eine Stunde. Sie streckte ihre Glieder unter der warmen Decke. Was ist das Erste, was du tust am Morgen, hatte dieser Mann auf Facebook sie gefragt. Was hatte sie geantwortet? Frühstück machen, Zeitunglesen, Radio anstellen oder so ähnlich. Die Erinnerung daran bereitete ihr Unbehagen. Plötzlich hatte sie Lust, joggen zu gehen. Wenn sie Glück hatte und das Wetter im Gegensatz zu den trüben, regnerischen Tagen der letzten Zeit einigermaßen gut war, konnte sie dabei den Sonnenaufgang beobachten.

Vorsichtig schlug sie die Bettdecke zurück, schlüpfte in ihre ausgetretenen Latschen, von denen sie sich einfach nicht trennen konnte, und stand auf. Im Halbdunkel griff sie nach ihre Joggingsachen und verlies leise das Schlafzimmer. Als sie vor die Haustür trat, zog sie trotz Mütze, Schal und Handschuhe fröstelnd ihre Schultern hoch. Es war kalt, vielleicht kurz über dem Gefrierpunkt, aber es waren keine Wolken zu sehen und die Luft roch rein und frisch. Der Himmel fing gerade an, sich im Osten orange zu färben. Nach ein paar Aufwärmübungen lief sie los. Die Siedlung, in der sie wohnte, lag am Südrand der Kreisstadt Schönfelde und es waren nur einige hundert Meter, bis sie die Straßen mit den adretten Einfamilienhäusern verlassen hatte und über einen geteerten Weg aufs freie Feld gelaufen war. Sie liebte es, allein zu laufen, ohne sich mit jemanden unterhalten oder sich, was das Tempo betraf, auf andere einstellen zu müssen. Sie atmete tief die kühle Winterluft ein und genoss die stete Bewegung. Beim Laufen konnte sie ihren Gedanken nachhängen, die sich in der Regel mit ihrer Arbeit in der Schule beschäftigten. Oft kamen ihr dabei die besten Ideen für ihren Unterricht. Wieder musste sie an den Amerikaner denken. Ob er sich bald wieder bei ihr melden würde? Die Unterhaltung mit ihm war wirklich nett gewesen.

Sie beschleunigte ihre Schritte. Wenn sie zu Hause war, wollte sie gleich einmal nachsehen, ob dieser Dominic J. Anderson sich vielleicht schon wieder gemeldet hatte. Wie spät war es jetzt in Afghanistan? Zwei oder drei Stunden unserer Zeit voraus, nahm sie an.

Noch im Jogginganzug und völlig verschwitzt setzte sich Christina an ihren Schreibtisch und fuhr den Computer hoch. Ungeduldig wartete sie darauf, dass der Browser ihren Facebook-Account aktivierte. Tatsächlich, das kleine rote Icon leuchtete, eine Nachricht war für sie angekommen! Erwartungsvoll öffnete sie das Fenster. Eine Message von Dominic Anderson. Ein Bild erschien und eine lange Textnachricht. Das Bild zeigte ein Arrangement weißer Rosen neben einer dampfenden Kaffeetasse auf einer hellblauen Tischdecke. Ein Kärtchen mit den handgeschriebenen Worten GOOD MORNING war an dem Strauß angeheftet. Dazu ein langer Text:

Liebe Chrissie, jeder Morgen ist wie ein neues Versprechen. Er kann das Beste in dir hervorbringen. Er ist wie eine Botschaft für dich, dass all deine Träume sich erfüllen werden. Mögest du dich schön und neu fühlen gerade wie der neue Tag. Du bist ein wundervoller Mensch und du verdienst das Beste vom Leben. Ich bin glücklich, solch eine liebenswerte und einzigartige Person wie dich getroffen zu haben. Guten Morgen, meine liebe Chrissie, und einen schönen Sonntag.

Überrascht und mit einem ungläubigen Lächeln im Gesicht saß Christina vor dem Bildschirm. Was für eine unglaublich nette Geste! Sie schaute auf die Uhrzeit, zu der die Nachricht abgeschickt worden war: 5.10 Uhr. Wenn sie den Zeitunterschied dazurechnete, hatte sich dieser Mann also gleich zu Beginn seines Dienstes an seinen Computer gesetzt, um ihr diesen bezaubernden Morgengruß zu schicken! Wirklich reizend! Was sollte sie ihm antworten? Sie sah, dass er im Moment nicht online war, also konnte sie sich ihre Antwort in Ruhe überlegen. Unschlüssig kaute sie an ihrer Unterlippe. Sie wollte nicht überschwänglich klingen, aber er sollte wissen, dass er ihr eine große Freude bereitet hatte.

Good morning, Dominic! Herzlichen Dank für die schöne Überraschung! Ich habe mich sehr über diesen Morgengruß gefreut. Ich wünsche dir einen angenehmen Tag!

Ja, das klang angemessen dankbar, aber nicht übertrieben. Christina hörte, dass Stefan aus dem Schlafzimmer kam und ins Bad ging. Schnell schloss sie das Chatfenster und verließ ihren FB-Account. Aus irgendeinem Grund wollte sie nicht, dass ihr Mann diesen netten Gruß ihres neuen Freundes sah und womöglich sarkastisch kommentierte. Sie ging eilig in die Küche und fing an, den Frühstückstisch zu decken.

Es war schon nach elf Uhr nachts, als Christina von dem Besuch bei der Familie ihres Sohnes zurückkam. Sie parkte ihren Twingo neben der Garage, die für den Familienwagen vorbehalten war, und schloss die Eingangstür auf. Das Wohnzimmer war dunkel, anscheinend war Stefan schon zu Bett gegangen. Vorsichtig, um ihn nicht zu wecken, falls er schon schlief, öffnete sie die Schlafzimmertür.

„Hallo! Da bist du ja endlich!“ Stefan lag mit einem Buch in der Hand im Bett und sah ihr entgegen.

„Wie war’s?“

„Anstrengend. Du weißt, wie die Kinder sind, wenn etwas Besonderes los ist. Aufgedreht und nicht zur Ruhe zu kriegen.“ Tatsächlich waren der Nachmittag und der Abend stressig gewesen. So gern Christina die beiden Enkel hatte, so froh war sie, wenn sie sie wieder ihren Eltern überlassen konnte. Sie empfand besonders den dreijährigen Johannes als sehr anspruchsvoll. Dauernd wollte er unterhalten werden, ständig sollte man mit ihm spielen oder ihm vorlesen oder ihm zusehen, wenn er alle möglichen Faxen machte. Seine fünfjährige Schwester dagegen war schon recht selbstständig und konnte sich gut eine Weile allein beschäftigen. Sie war auch gegen halb neun brav in ihrem Bett eingeschlafen, während der Kleine noch um halb zehn verlangt hatte, die Oma solle ihm eine Geschichte vorlesen.

„Und bei dir?“, fragte sie.

„Erzähl‘ ich dir morgen“, sagte Stefan und gähnte. Er legte sein Buch beiseite und legte sich zum Schlafen zurecht. „Kommst du auch bald?“

„Ja. Ich will nur noch kurz nachschauen, was der Vertretungsplan sagt. Schlaf ruhig schon. Gute Nacht!“

Sie ging in ihr Arbeitszimmer und startete den Computer. Hoffentlich hat Berger mir nicht wieder eine Vertretungsstunde verpasst, dachte sie. Ludger Berger, der für den Einsatz von Vertretungen zuständige Koordinator an ihrem Gymnasium, war nicht zu beneiden, hatte er doch oft in kürzester Zeit für die Unterrichtsstunden, die ausfielen, wenn ein Kollege krank wurde oder aus anderen Gründen nicht unterrichten konnte, einen möglichst adäquaten Ersatz zu finden. Wenn sich im Stundenplan eines Lehrers eine Freistunde befand, wurde dieser Kollege natürlich gern vom Computerprogramm ausgewählt, um als Vertretung für den verhinderten Lehrer einzuspringen. Oft sogar in einer Klasse, die er gar nicht kannte und in einem ihm fremden Fach. Solche Vertretungen waren besonders verhasst, weil man trotz allen Improvisationstalents kaum eine Möglichkeit hatte, sinnvoll zu unterrichten.

Gott sei Dank, dachte Christina, als sie die Liste der Vertretungen für den morgigen Schultag auf den Schirm rief, ihre freie dritte Stunde war von einer Vertretung verschont geblieben. Sie starrte auf den Monitor. Sollte sie kurz ihre FB-Seite aufrufen? Vielleicht hatte Dominic ja auf ihre Nachricht geantwortet.

Tatsächlich, er war online. Christina fühlte, wie ihr Herz anfing, schneller zu schlagen.

Good evening, Dominic. Wie geht es dir?

Good evening, Chrissie! Ich bin okay. Geht es dir gut? Ich hoffe, du hattest einen schönen Tag?

Mir geht es gut. Ich habe den Tag mit meinen Enkeln verbracht. Babysitting. Es war ein wenig stressig.

Ich hätte nicht gedacht, dass du schon Großmutter bist. Du siehst auf dem FB-Foto so jung aus.

Danke für das Kompliment!

Okay. Was machst du gerade?

Ich habe gerade die letzten Vorbereitungen für den morgigen Schultag getroffen. Du weißt ja, ich bin Lehrerin.

Du wirst es sicher gut machen.

Danke. Es ist nicht immer einfach, weißt du? Die Kinder und Jugendlichen sind heutzutage manchmal recht schwierig.

Ich verstehe. Aber du bist eine kluge und selbstbewusste Frau. Ich bin sicher, du machst es gut.

Danke! Du machst wirklich nette Komplimente, Dominic!

Das sind keine Komplimente, my dear. Ich meine es wirklich so, Chrissie.

Du bist sehr freundlich, Dominic! – Worüber sollen wir uns unterhalten?

Eine kurze Pause entstand. Anscheinend musste er nachdenken. Dann seine Antwort:

Sag mir, was hat dich in deinem Leben am meisten beeinflusst?

Interessante Frage.

Das ist schwierig zu beantworten. Hm, … ich muss erst einmal überlegen. Mein Vater. Er hat mir immer Mut gemacht, wenn ich mir etwas nicht zutraute oder wenn ich Angst hatte.

Christina hielt inne. Ja, es stimmte, ihr Vater hatte ihr Mut gemacht bei allem, was sie als Kind unternommen hatte. Aber er hatte ihr auch immer deutlich gemacht, was er als richtig oder falsch ansah, und irgendwie hatte sie sich stets verpflichtet gefühlt, seinen Vorstellungen zu folgen. Bis in ihr Erwachsenenleben hinein. Schließlich war sie seine „liebe Kleine“ gewesen und immer geblieben. Sicher, er hatte sie behüten und beschützen wollen, genau wie Julius und Simon es taten, ihre beiden älteren Brüder, die sie als Nesthäkchen und Nachkömmling nicht ernst genommen hatten. Wie schüchtern und zurückhaltend sie gewesen war! Kaum, dass sie gewagt hatte, in Gegenwart von Erwachsenen den Mund aufzumachen. Am liebsten hatte sie allein mit ihren Puppen gespielt und sich alle möglichen phantastischen Geschichten ausgedacht. Manchmal hatte sie diese Geschichten sogar aufgeschrieben, und am schönsten war es gewesen, wenn ihr Vater sie auf den Schoß genommen hatte und sie ihm ihre kleinen Geschichten vorlesen durfte.

Dominics nächste Frage riss sie aus ihren Erinnerungen.

Well, das ist schön. Sag mir, worauf bist du stolz in deinem Leben?

Was dieser Dominic für Fragen stellte! Fast ein bisschen zu persönlich. Aber interessant. Stolz? Worauf konnte sie stolz sein? Hatte sie je etwas Herausragendes geleistet? Nein. Alles war immer ganz normal gewesen. Immerhin: Sie hatte zwei wunderbare Menschen in die Welt gesetzt.

Der Stolz meines Lebens sind meine beiden Kinder, Julia und Lukas.

Das war eine angemessene Antwort, fand sie.

Das finde ich schön. Ich bin auch stolz auf meinen Sohn Sammy. Er ist tapfer und für sein Alter sehr verständig. Ich habe großen Respekt vor ihm. Pause. Und was macht dich traurig, Chrissie?

Wieder eine solch persönliche Frage. Christina wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Sie wich aufs Allgemeine aus.

Wenn ich mich in der Welt umschaue und sehe was passiert: Krieg und Gewalt und Leid und Tod. Und überall sind Soldaten wie du, die kämpfen und sterben müssen… sterben wofür? Kannst du mir das sagen?

Eine unfaire Frage an einen Soldaten im Einsatz, dachte Christina schuldbewusst. Was sollte Dominic darauf antworten?

Wir kämpfen, um aus der Welt einen besseren Platz zu machen für die junge Generation. Sie soll in einer besseren Welt leben. Wenn wir den Krieg hier ignorieren, werden wir ihn bald vor der eigenen Haustür haben. Und das wäre wirklich schlimm.

Natürlich, die Allgemeinplätze, die man immer wieder hörte.

Du bist ein Idealist, mein tapferer Soldat. Aber du musst wohl so denken und du hast vielleicht auch Recht. Ich respektiere und bewundere das, was du tust.

Ich danke dir sehr, my dear.

Wieder entstand eine kleine Pause. Christina hatte plötzlich keine Lust mehr, sich über solch ernste Themen zu unterhalten. Sie fragte, ob Dominic nicht etwas Lustiges wüsste, und sie fingen an, sich gegenseitig Witze zu erzählen.

Schließlich fiel Christinas Blick fiel auf die Uhr am Rande ihres Bildschirms. Halb eins! Seit anderthalb Stunden saß sie jetzt bereits hier und sprach mit dem Mann im fernen Afghanistan. Für ihn musste es doch bereits zwei oder drei Uhr sein!

Entschuldige bitte, Dominic, es ist schon spät. Wir sollten Schluss machen für heute.

Okay, my dear, entschuldige, dass ich so viel von deiner Zeit in Anspruch genommen habe! Wenn ich mit dir rede, vergesse ich alles. Du bist wirklich großartig, Chrissie!

Es ist sehr spät dort in Afghanistan. Du musst sehr müde sein.

Ja, ich bin ein bisschen müde. Ich muss früh aufstehen für meinen Dienst. Schreibst du mir morgen?

Ja. Gute Nacht, Dominic!

Okay. Ich wünsche dir eine gute Nacht und süße Träume, my dear.

Während Christina noch selbstvergessen auf den Bildschirm starrte, erschien in dem Chat-Fenster das wunderschöne Bild einer blauen Mondnacht über einem verträumten See, darüber der Schriftzug „Good night“. Wie nett, dachte sie lächelnd. Was für ein netter Mann! Sie gähnte ausgiebig, schaltete den Computer aus und stand auf. Süße Träume. Die würde sie haben heute Nacht.

3

„Ich komme nicht mit, Stefan! Geh bitte allein.“ Christina saß in ihrer alten Schlabberhose und einem ausgeleierten Sweatshirt zusammengekauert in einer Ecke der Wohnzimmercouch und zog die Wolldecke über sich. „Sag einfach, ich hätte eine schlimme Erkältung oder Migräne. Bitte, Stefan!“

„Das kannst du nicht machen, Christina!“

Stefan kam, halb fertig zum Ausgehen angezogen, aus dem Schlafzimmer und blieb an der Tür stehen. „Simon ist schließlich dein Bruder und er feiert seinen sechzigsten Geburtstag. Da kannst du nicht einfach wegbleiben!“ Er trat an die Couch heran und betrachtete Christina prüfend. „Du bist doch nicht wirklich krank, oder?“

Wortlos schüttelte sie den Kopf.

„Was ist nur los mit dir? Hast du etwa wieder deine Zustände?“ Sein Gesicht hatte sich vor Ärger gerötet. „Also bitte! Nicht schon wieder!“

„Wenn du es so nennen willst“, murmelte Christina. Sie wickelte sich fester in die Wolldecke und starrte auf den Fernseher, in dem mit abgestelltem Ton die Abendnachrichten liefen.

„Mein Gott, nun stell dich doch nicht so an!“, sagte Stefan gereizt. Er zog an der Decke. „Komm, nun steh schon auf. Zieh dich an und mach dich hübsch!“

Christina hielt die Wolldecke fest und zog sie wie einen Schutzschild hoch bis unters Kinn. „Bitte, versteh doch, Stefan. Ich kann einfach nicht. Ich fühle mich nicht gut. Dieses ganze Getue. Ich hab einfach nicht den Nerv, den ganzen Abend mit der Verwandtschaft zusammen zu sein.“

Mit hängenden Armen stand Stefan vor ihr und sah sie verständnislos an. Noch einmal startete er einen Versuch, sie zu überreden. „Es ist schließlich dein Bruder, Christina. Alle werden da sein: deine Schwägerinnen, deine Nichten und Neffen! Und Julia und Lukas sind natürlich auch da. Was soll ich ihnen denn sagen?“

„Ach, lass mich doch einfach in Ruhe, Stefan! Ich sage dir doch: Ich kann nicht!“

Christina vergrub sich in ihre Decke und drehte sich mit dem Gesicht zur Wand. Sie hörte, wie ihr Mann einen resignierten Seufzer ausstieß und das Wohnzimmer verließ. Heiß stiegen ihr die Tränen in die Augen. Armer Stefan, dachte sie. Was sie ihm zumutete, war wirklich zu viel. Aber sie konnte nicht anders. Ihr ganzer Körper war wie gelähmt, ihre Gliedmaßen schwer wie Blei. Völlig gefühllos ihr Inneres.

Sie wollte nur eines: Hier liegen und weinen. Später würde sie sich einen kitschigen Liebesfilm im Fernsehen ansehen, einige Gläser Wein trinken und hoffen, dass sie schlafen konnte. Vielleicht war morgen diese Depression ja schon wieder vorbei. Ach, wie sie diesen Zustand verabscheute, in dem sie sich wieder einmal befand! Diese Niedergeschlagenheit! Diese Lustlosigkeit! Sie wollte niemanden sehen, mit niemanden sprechen, nichts tun als hier liegen.

Dass es ausgerechnet heute passieren muss, an Simons Geburtstag, dachte sie. Aber vielleicht war die Geburtstagsfeier sogar der Grund für ihre Deprimiertheit. Manchmal konnte sie sie einfach nicht ertragen, die zur Schau getragene Fröhlichkeit ihrer Verwandtschaft. Alles war immer so harmonisch und so nett! Alle waren freundlich zueinander, jeder hatte dieses glückliche Lächeln im Gesicht. Nicht auszuhalten! Niemals wurde über das gesprochen, was hinter der intakten Fassade lauerte. Probleme, Krankheit oder andere Sorgen, so etwas gab es anscheinend in ihrer Familie nicht. Vielleicht war es ja tatsächlich so, musste sie sich eingestehen. Trotzdem: Heute konnte sie diese geballte Harmonie nicht aushalten. Nein, heute nicht!

Als Stefan gegangen war, er hatte wortlos das sorgfältig verpackte Geschenk und die Blumen genommen und die Tür hinter sich zugeschlagen, ließ Christina ihren Tränen freien Lauf. Wieso überkam sie immer wieder diese schreckliche Traurigkeit, fragte sie sich zum hundertsten Mal. Alle paar Wochen oder Monate, sie wusste gar nicht genau, wie oft, überfiel sie grundlos dieser lähmende, tieftraurige Zustand, in dem sie nichts anderes tun konnte als dazusitzen, sich abzuschotten gegen alles, was von draußen an sie herangetragen wurde, und sich alberne Liebesfilme anzugucken. Manchmal hielten diese Zustände tagelang an. Dann war es meistens Sanne, die kam und sie zwang, sich wieder aufzuraffen.

Das Telefon klingelte. War sie eingeschlafen? Christina sah auf ihre Armbanduhr. Eine Stunde war vergangen, seit Stefan weg war. Sicher rief ihre Schwägerin Marianne an, Simons dicke Frau, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen. Nein, sie konnte jetzt mit niemandem sprechen. Sie ließ das Telefon klingeln und stellte den Ton des Fernsehers an. Eine Reportage. Sie zappte so lange durch das Programm, bis sie einen Film fand, in dessen Handlung sie sich vertiefen konnte. „Falling in love“ mit Meryl Streep und Robert de Niro. Dabei konnte sie mit den Protagonisten weinen; auf diese Weise hatten ihre Tränen wenigstens einen Grund. Genau das Richtige für ihre momentane Stimmung.

Jetzt brauchte sie nur noch ein Glas Wein. Sie schälte sich mühsam aus der Decke, lief auf Strümpfen in die Küche und holte sich eine Flasche Rotwein aus dem Weinregal. Auf dem Rückweg sah sie, dass in ihrem Arbeitszimmer noch das Licht brannte und der Computermonitor leuchtete. Das rote Icon, das eine eingegangene Nachricht anzeigte, fiel ihr ins Auge. Dominic J. Anderson!! Ihn hatte sie ganz vergessen. Seit vorgestern hatte sie sich nicht mehr bei ihm gemeldet. Eigentlich sehr unhöflich von ihr, wo er immer so nett zu ihr war. Ob sie einmal nachschaute, was er geschrieben hatte? Sie brauchte ja nicht mit ihm zu chatten, wenn ihr nicht danach zumute war.

Sie öffnete den Messenger. Dominic hatte wieder hübsche, liebevolle Morgen- und Abendgrüße geschickt, auf die sie nicht geantwortet hatte. Augenblicklich meldete sich ihr schlechtes Gewissen.

Good evening, Chrissie! Bist du da?

lautete seine letzte Nachricht, die er vor ein paar Minuten geschickt hatte. Er war online, wie sie an dem grünen Punkt neben seinem Namen sah. Da auch er erkennen konnte, dass sie ihren Facebook-Account geöffnet hatte, wäre es sehr unhöflich gewesen, nicht zu antworten. Wer weiß, dachte sie, vielleicht konnte dieser nette Mann sie aus ihrer depressiven Stimmung herausholen.

Ja, ich bin hier, Dominic! Guten Abend.

Seine Antwort kam umgehend.

Ich freue mich, von dir zu hören, my dear. Ich habe dich vermisst. Wie geht es dir?

Wie es mir geht, willst du wissen, dachte Christina. Schlecht, miserabel, scheußlich geht es mir. Und frag bloß nicht, warum. Ich weiß es nicht. Das ist ja das Schreckliche.

Ich bin ein bisschen krank, nichts weiter, schrieb sie.

Oh. Das tut mir leid. Hoffentlich geht es dir bald wieder besser. Kann ich etwas für dich tun?

Eigentlich nicht. Erzähl mit etwas Nettes. Etwas, das mich aufheitert.

Okay. Mal sehen ob mir etwas einfällt.

Eine Pause entstand. Christina sah an der Wellenlinie, dass Dominic etwas schrieb. Gespannt wartete sie.

Ich werde dir ein wenig von meiner Heimat Kalifornien erzählen. Ich lebe in San Francisco. Wenn ich Urlaub bekomme, werde ich mit Sammy Ferien machen. Ich freue mich schon sehr darauf, ihn wiederzusehen. Er ist dort im Internat. Er fühlt sich wohl dort, aber ich bin sicher, er vermisst mich genauso wie ich ihn. Kennst du San Francisco, Chrissie? Es gibt einen sehr schönen Strand dort. Man kann alles Mögliche unternehmen: Schwimmen, Surfen, Joggen, Reiten oder einfach in der Sonne liegen. Meistens ist das Wetter schön. – Ich hoffe, ich langweile dich nicht, my dear?

Christina musste lächeln. Wie nett, sein Versuch, sie abzulenken! San Francisco: Was für ein Traum!

Wie gern würde ich dort bei euch sein, Dominic!

Wer weiß, vielleicht kommst du uns eines Tages besuchen, Chrissie.

Ja, das wäre schön.

Sie trank einen Schluck Wein und fühlte, dass sie schläfrig wurde. Am besten, sie ginge jetzt ins Bett. Irgendwie fühlte sie sich besser. Vielleicht ist diese depressive Phase morgen schon wieder vorbei, dachte sie. Sie verabschiedete sich von Dominic, der ihr gute Besserung wünschte, wartete, bis sein übliches Gute-Nacht-Bild erschien und stellte den Computer aus.

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