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September 1915. Auf den Schlachtfeldern Europas tobt der Erste Weltkrieg, als in einem kleinen norddeutschen Dorf das Mädchen Marie Sophia Hoffstede zur Welt kommt. In den ärmlichen Verhältnissen, in die sie hineingeboren wird, muss Marie als Zweitälteste von zehn Geschwistern schon früh Verantwortung übernehmen, bevor sie sich nach einer viel zu kurzen Schulzeit als Magd bei einem Großbauern verdingt. Heimlich schreibt Marie Gedichte. Doch für ihre große Begabung ist in diesem harten Leben kein Platz, schon gar nicht, als sie selbst Mutter wird und als Bäuerin auf einer kleinen Siedlerstelle eine achtköpfige Familie zu versorgen hat. Es sollen vier weitere Jahrzehnte vergehen, bis Marie, zum größten Befremden ihrer erwachsenen Kinder und der Dorfgemeinschaft, einen Entschluss fasst …
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Seitenzahl: 261
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Prolog
1920
1. Kapitel
1925
2. Kapitel
1978
3. Kapitel
1935
4. Kapitel
1941
5. Kapitel
1983
6. Kapitel
1950
7. Kapitel
1961
8. Kapitel
1995
9. Kapitel
1970
10. Kapitel
1974
11. Kapitel
2005
12. Kapitel
Epilog
Ein Strahl der milden Herbstsonne fällt durch das halb geöffnete Balkonfenster und vergoldet das Nachmittagslicht. Ein leiser Lufthauch bauscht die leichten Musselingardinen auf und fängt sich in dem schneeweißen dünnen Haar der alten Frau, die tief eingesunken in dem weich gepolsterten Ohrensessel am Fenster sitzt.
Die alte Dame sieht gepflegt und adrett aus. Das gewellte Haar ist ordentlich frisiert und umrahmt weich wie Watte das klein gewordene, mit unendlich vielen Runzeln bedeckte Gesicht. Die feinen, noch dunklen Augenbrauen sind sorgsam nachgezogen, auf den Lippen liegt ein Hauch von rosafarbenem Lippenstift.
Die Kleidungsstücke der Greisin sind sorgfältig aufeinander abgestimmt. Ein weißer Spitzenkragen ziert die taubenblaue Seidenbluse, die burgunderrote Strickjacke passt gut zu dem einfachen grauen Rock, der die knochigen Knie bedeckt. Die dünnen Beine stecken in feinen hautfarbenen Baumwollstrümpfen, die Füße in schwarzen Lederhausschuhen.
Die wachen Augen der alten Frau sind von einem tiefen, klaren Blau, deren Lebendigkeit in einem seltsamen Kontrast zu der Hinfälligkeit des alten Körpers steht. Ihr aufmerksamer Blick ist auf das riesige altmodische Fotoalbum mit dem groben Textileinband gerichtet, das aufgeschlagen auf ihrem Schoß liegt und dessen schwarze Kartonseiten sie behutsam umblättert. Am Ringfinger der rechten Hand trägt sie zwei goldene Eheringe. Der eine ist schmal und schlicht und weist deutliche Altersspuren auf, der andere ist neuer, breiter, und hat einen silbernen Schmuckstreifen. Die Hände der alten Frau zeugen von einem langen Leben. Dicke Adern und Altersflecken bedecken den schmalen Handrücken, knotig und dünn wie dürre Äste sind die langen Finger.
Hin und wieder streichen die Fingerspitzen über eines der vergilbten Fotos. Das brüchig gewordene Seidenpapier zwischen den Seiten knistert leise, wenn sie eine neue Seite aufschlägt und in die Betrachtung der nächsten Bilder versinkt. Sie ist alt, diese Frau, sehr alt. Dennoch scheinen ihre Augen noch sehr gut zu sein, denn sie benutzt keine Brille.
Der Luftzug, der von draußen durch das Fenster in das Zimmer strömt, vermischt sich mit einem leichten Lavendelduft und dem aseptischen Geruch nach Medizin, der im Raum hängt. Auf dem Nachtschrank, der neben dem Bett steht, finden sich verschiedene Arzneifläschchen und Tablettenschachteln. Eine bunte, offenbar selbst gehäkelte Patchworkdecke auf dem Bett belebt die schlichte Farbigkeit des Raumes.
Es ist ein einfach eingerichtetes Wohnschlafzimmer, wie man es in Seniorenheimen häufig findet. Nur wenige Möbel und Gegenstände zeugen von der individuellen Person, die dieses Zimmer bewohnt. So wie der schöne Schreibtisch aus massiven Buchenholz, der einen großen Teil der Längswand einnimmt. Seine weich geschwungene Linienführung mit den abgerundeten Kanten, die gedrechselten Ziersäulen an der Vorderseite und die vielen kleinen Schubladen weisen auf einen weiblichen Geschmack hin. Die Schreibfläche quillt über von Schreibpapier, Stiften und Zetteln. Den Rest der Wandfläche beansprucht ein bis an die Decke reichendes Schrankregal mit zahllosen, unordentlich gestapelten Büchern und Zeitschriften sowie einer Galerie von gerahmten Fotos. Anachronistisch wirkt der Flachbildschirm, der in eine Nische der Schrankwand eingebaut ist, und der Laptop auf dem Schreibtisch.
Der alte Ohrensessel, in dem die Bewohnerin sitzt, nimmt den Platz vor dem Fenster ein. Kleine Risse und Abschabungen zeugen vom Alter des gemütlich aussehenden Sitzmöbels. Die schmale Gestalt der Greisin verschwindet fast in seinen Polstern.
Unversehens erhellt nun ein Lächeln die Züge der alten Frau und lässt einen Abglanz ihrer früheren Schönheit aufscheinen. Sie hat den Blick gehoben und auf das zierliche Sofa gerichtet, das ihr gegenüber auf der anderen Seite des schmalen, niedrigen Couchtisches steht..
»Wie schön, euch zu sehen«, sagt Marie Sophia Hoffstede. Ihre Lippen formen die Worte, aber ihre Stimme ist nur für ihre Gäste hörbar, die es sich auf dem Sofa Marie gegenüber gemütlich gemacht haben.
»Hallo, Mariechen«, sagt ihre Mutter lächelnd, »wir wollten mal sehen, wie es dir geht.«
Marie freut sich über das Lächeln. Wie selten hat ihre Mutter gelacht, als sie noch lebte. Immer nur gearbeitet hatte sie, und dann war sie müde gewesen, so müde.
»Wie geht es dir, Mama«, fragt sie zaghaft. In ihren Ohren klingt ihre Stimme wie die des kleinen Mädchens, das sie einmal war. Wieder lacht ihre Mutter, diesmal laut und fröhlich. Wie jung sie aussieht! Und wie schön! So unbeschwert, denkt Marie.
»Uns geht es gut, nicht wahr, Hermann?«, sagt ihre Mutter. Sie legt den Arm um die Schultern das Mannes, der neben ihr sitzt. Marie hatte ihn noch gar nicht richtig bemerkt. Ihr Vater! Nicht ihr richtiger Vater natürlich, der liegt irgendwo in einem namenlosen Soldatengrab auf dem Schlachtfeld von Verdun, sondern der Vater, mit dem sie aufgewachsen ist. Ihr geliebter Papa! Auch er sieht jung aus, und so glücklich. Er lächelt sie liebevoll an.
»Ja, meine kleine Marie, ich bin's. Uns geht es gut jetzt. Und du? Bist du denn glücklich geworden in deinem Leben?«
Marie muss überlegen. Ist sie glücklich? Was bedeutet das überhaupt, Glück? Sie kann die Frage nicht beantworten.
»Ich bin alt«, sagt sie bekümmert, »sehr alt. Ich glaube, ich werde bald sterben.«
»Ja, sicher wirst du das«, sagt ihr junger Vater, »jeder muss mal sterben. Aber du brauchst keine Angst davor zu haben. Alles wird gut sein.«
Marie sieht bedauernd, wie die Bilder ihrer Eltern verblassen. Sie hört noch ihr Lachen, wie aus weiter Ferne.
Von feuchten Wiesen steigt früher Nebeldunst auf.
Hoffen auf Sonne.
1920
Das junge Paar auf dem sepiabraunen Foto sitzt steif nebeneinander. Beide schauen frontal in die Kamera, ohne zu lächeln. Die Frau mag vielleicht dreißig Jahre alt sein. Ihr ebenmäßiges, etwas kantiges Gesicht mit den klaren dunklen Augen und der breiten Stirn erhält durch den herb geschlossenen Mund einen strengen Ausdruck. Sie trägt auf dem üppig gewellten, im Nacken zu einem Knoten zusammengefassten dunklen Haar eine kleine weiße Spitzenhaube. Ihr Kleid ist geschmückt mit einem weißen Kragen und einer Reihe mit Stoff bezogener runder Knöpfe am Vorderteil. Die langen Ärmel sind am Ansatz gerafft und betonen so die geraden Schultern.
Der Mann, um einiges älter als die Frau, trägt einen schlichten schwarzen Anzug mit Schulterpolstern, ein weißes Hemd mit weichem Kragen und eine dünne Krawatte. Sein bis auf einen kleinen Schnurrbart glatt rasiertes, gut geschnittenes Gesicht mit der schmalen Nase und dem runden, kräftigen Kinn zeigt deutliche Falten von den Nasenflügeln bis zu den Mundwinkeln. Die dunklen Augen blicken direkt und offen in die Kamera. Das helle, streng nach hinten gekämmte Haar lässt auf eine beginnende Glatze schließen.
Vor dem Paar sitzen drei kleine Mädchen, alle in identischen karierten Kleidern mit weißem Bubikragen. Sie sind etwa drei, fünf und sieben Jahre alt. Die Größte sitzt in der Mitte. Die rundlichen Kindergesichter zeigen eine geschwisterliche Ähnlichkeit. Alle drei tragen eine große weiße Schleife im Haar, das seitlich gescheitelt und zu Zöpfen geflochten ist, die bei der Jüngsten nur ein paar Zentimeter lang sind. Sie blicken ernst und still in die Kamera.
Das Foto zeigt Anna und Hermann Hoffstede und Annas Töchter aus erster Ehe, Adelheid, Marie und Hedwig. Es wurde am 14. Oktober 1920 im Fotostudio der Fotografen Dirk Jürgens in Zweikirchen bei Oldenburg erstellt.
Anna, Maries Mutter, wachte an diesem Sonntag im Oktober 1920 besonders früh auf. Durch das kleine Fenster drang das erste graue Morgenlicht in die Schlafkammer und ließ die Konturen des kargen Mobiliars aus dem Dunkel hervortreten. Um die Kinder nicht zu wecken, die in dem schmalen Bett an der hinteren Wand schliefen, verzichtete Anna darauf, die elektrische Glühbirne anzuknipsen, die in einer blütenförmigen Glasfassung von der Decke hing. Leise schlug sie das Federbett zur Seite und stand auf. Sie wollte vor dem Kirchgang alle Vorbereitungen für die geplante Feier am Mittag fertiggestellt haben. Außerdem mussten die üblichen Arbeiten im Haus und im Stall erledigt werden.
In der Schlafkammer war es kühl. Anna fröstelte. Rasch zog sie ihre Alltagskleidung an, einen knöchellangen braunen Rock und eine baumwollene Bluse, band die Schürze um, schlüpfte in ihre groben Wollsocken und stieg in die mit einer geflochtenen Strohmatte ausgelegten Holzschuhe. Sie warf einen Blick auf die schlafenden Mädchen. Adelheid und Hedwig hatten sich dicht aneinandergekuschelt, Marie lag auf der Seite und hatte ein Bein unter dem dicken Federbett hervorgestreckt. Anna lächelte, schob das rundliche Bein vorsichtig wieder unter die Bettdecke und schloss leise die Tür hinter sich, als sie die Kammer verließ.
In der kalten Wohnküche zog Anna als Erstes den Aschekasten aus dem Herd, ging aus dem Haus und leerte ihn auf dem Komposthaufen in ihrem Gemüsegarten gleich neben der Seitentür des kleinen Bauernhauses. Prüfend warf sie einen Blick zum Himmel. Noch war es dämmrig an diesem Oktobermorgen, aber es versprach ein schöner Herbsttag zu werden. Über den Feldern und Wiesen lag der Morgennebel wie eine durchsichtige graue Wand, aber die ersten wärmenden Sonnenstrahlen würden ihn schnell vertreiben. Gut, dachte Anna, so würde es nicht nötig sein, den Wintermantel über ihr Sonntagskleid anzuziehen; er war schon so alt und abgetragen.
Zurück in der Küche, nahm Anna einige dünne Holzscheite und etwas Zunder aus dem Torfkasten, der neben dem Herd stand, strich ein Streichholz an und entzündete mit geschickten Händen das Feuer im Herd. Mit dem Wasser aus der Pumpe über dem steinernen Spülbecken füllte sie den emaillebeschichteten Kessel und setzte ihn auf das schon prasselnde Feuer. Während sie darauf wartete, dass das Wasser heiß wurde, füllte sie einen Löffel Teeblätter in die bauchige, braun glasierte Kanne und deckte den blank gescheuerten Holztisch für ihr bescheidenes Morgenmahl. Sie bestrich dazu eine Scheibe Schwarzbrot mit etwas Butter und einer sehr dünnen Schicht Marmelade. Dann goss sie den Tee mit dem inzwischen kochenden Wasser an, ließ ihn ein paar Minuten ziehen und füllte die Kanne anschließend mit dem heißen Wasser auf. Sehr sparsam süßte sie den Tee mit etwas Zucker, fügte einen Schuss Milch hinzu und sah zu, wie sich hellbraune Wölkchen in der Flüssigkeit ausbreiteten. Vorsichtig nahm sie einen Schluck. Das heiße Getränk tat ihr gut. Während sie frühstückte, verbreitete das Feuer im Herd eine wohlige Wärme in der Küche.
Anna liebte diese ruhige Morgenstunde, wenn die Kinder noch schliefen und sie ein paar Minuten für sich selber hatte.
Doch jetzt war sie unruhig. Unablässig kreisten ihre Gedanken um die bevorstehende Heirat. Hatte sie sich richtig entschieden? Ja, sagte sie sich zum wiederholten Male, wie um sich selbst zu überzeugen, es war vernünftig und richtig. Hermann, Alfreds älterer Bruder, war ein guter Mann. Er trank nicht, war sparsam und fleißig. Zwar war er fast zehn Jahre älter als sie, aber er war gesund und kräftig. Und er war immer freundlich zu den Kindern. Anna hatte ihn gern, wenn auch nicht so, wie sie Alfred gerngehabt hatte.
Aber Alfred lebte nicht mehr. Sie hatte ihn geliebt, ihren Alfred, er war lustig gewesen und hatte sie oft zum Lachen gebracht. Aber er war tot. Der Krieg hatte ihn ihr genommen. Anna fühlte, wie ihr die Tränen kommen wollten. Streng rief sie sich zur Ordnung. Sie schüttelte den Kopf und wischte sich mit einer energischen Bewegung über die Augen. Nein, sie durfte nicht zurücksehen, sie musste an die Zukunft denken. Und an ihre drei kleinen Mädchen. Die Kinder brauchten einen Vater, der Hof brauchte einen Bauern. Hermann würde ihr ein guter Mann sein und den Kindern ein guter Vater. Der Krieg war vorbei, es würde wieder aufwärtsgehen, sie musste nur fleißig sein und fromm, dann würde der Herrgott schon für sie sorgen.
Anna stand auf und band sich ihre Arbeitsschürze um. Zuerst musste das Vieh versorgt werden, dann würde sie die gute Stube für die Gäste vorbereiten und schließlich sich und die Kinder anziehen für den Kirchgang. Sie verließ die Küche und ging auf die Diele. Zwei Kühe standen dort im Stall und sahen ihr wiederkäuend entgegen. Das Schwein in dem niedrigen Schweinekoben auf der anderen Seite der Diele grunzte. Sie hatte es den ganzen Sommer über mit den Garten- und Küchenabfällen und mit gekochten Kartoffeln gefüttert. Bald würde es schlachtreif sein.
Wie froh sie war, das Vieh zu haben! Die Kühe versorgten die Familie mit Milch und Butter, das Schwein mit Fleisch, Wurst und Speck. In dem kleinen Hühnerstall neben dem Haus hielt sie zehn Legehennen mit ihrem Hahn. Da die Familie nicht alle Eier verbrauchte, konnte Anna die meisten verkaufen, sodass sie zusammen mit dem Erlös für die Milch über ein wenig Bargeld verfügte. Allerdings musste sie jede Mark möglichst schnell wieder ausgeben, denn die Inflation sorgte dafür, dass das Geld täglich an Wert verlor. Und sie musste die nötigen Lebensmittel wie Mehl, Salz, Zucker, Hefe für das Brot und alles, was sie nicht selbst eingelagert oder in Gläsern eingemacht hatte, teuer kaufen. Seit der Krieg vorbei war, konnte man sich langsam wieder mehr als nur das Allernötigste leisten. Gott sei Dank, dachte Anna, es geht wieder aufwärts.
Sie nahm den Melkeimer und den dreibeinigen Schemel und setzte sich unter die erste Kuh, die sich mit großen Augen nach ihr umsah. »Ruhig, ganz ruhig«, sagte Anna, »ich bin's nur«, und fing an zu melken. Der Duft der warmen Milch vermischte sich mit den scharfen Ausdünstungen der Tiere und dem Geruch ihrer Exkremente zu dem vertrauten Stallgeruch, den Anna gar nicht mehr bewusst wahrnahm. Als der Eimer voll war, goss sie die noch warme Milch in die bereitgestellten Milchkannen zu der vom Vorabend und melkte die zweite Kuh. Die vollen Milchkannen stellte sie an den Straßenrand, wo sie später von dem Milchwagen eingesammelt und zur Molkerei gebracht werden würden. Für den Tagesbedarf hatte Anna zuvor zwei Liter in den blau gepunkteten Milchtopf abgefüllt.
Nachdem sie die Kühe auf die Weide zum Grasen geführt hatte, fütterte sie das schon ungeduldig grunzende Schwein und streute den Hühnern einige Getreidekörner in den Hof. Sie sammelte die Eier aus den Nestern und ging zurück ins Haus.
In Gedanken ganz bei dem bevorstehenden Ereignis, wusch sie sich die Hände unter der Pumpe und trocknete sie mit dem blau karierten Leinentuch ab. Sie würde einen Kuchen backen zur Feier des Tages, einen feinen Topfkuchen aus weißem Mehl, Zucker, Milch, Eiern und der selbst hergestellten Butter. Die Kinder würden sich besonders darüber freuen. Zu Mittag sollte es den guten Schweinebraten geben, den sie gestern für das Eiergeld von einer Woche beim Schlachter im Dorf gekauft hatte, dazu Kartoffeln aus dem Garten und grüne Buschbohnen. Zum Nachtisch würde es vergorene Milch mit dem letzten Glas eingemachter Kirschen vom Vorjahr geben.
Anna lächelte vor Vorfreude auf das Festmahl. Ihre Schwiegereltern und ihre Eltern würden das außergewöhnliche Essen genießen.
Während sie den Teig für den Kuchen in der blauen Keramikschüssel anrührte, kamen die Kinder eins nach dem anderen aus der Schlafkammer. Sie rieben sich verschlafen die Augen und setzten sich auf die hölzerne Bank an den Küchentisch. Anna wandte sich an ihre Älteste.
»Adelheid, machst du bitte die Milch für euch warm und schneidest ein paar Scheiben Brot ab?«
Folgsam nahm die Siebenjährige einen kleinen Topf aus dem Küchenschrank, füllte ihn mit Milch, die sie vorsichtig mit einer Kelle aus dem Milchtopf schöpfte, und stellte ihn auf die Herdplatte. Zuvor legte sie einige Stücke Torf auf die Glut und schürte das Feuer. Dann deckte sie den Tisch mit drei großen Henkeltassen, schnitt von dem Laib des selbst gebackenen Brotes mit Bedacht einige dicke Scheiben ab und legte sie in den Brotkorb. Ein Klecks Butter und ein Glas Marmelade vervollständigten das Frühstück. Die Marmelade hatte Anna aus den wilden Brombeeren gekocht, die die Kinder mit großem Eifer in den letzten Wochen gepflückt hatten. Die fünfjährige Marie wollte ihr Brot selber mit Butter und Marmelade bestreichen, für die kleine Hedwig bereitete Adelheid eine Scheibe zu und schnitt sie in mundgerechte Stückchen.
Anna beobachtete ihre große Tochter wohlwollend. Wie fürsorglich Adelheid war mit ihren sieben Jahren, und wie vernünftig, dachte sie, während sie den fertigen Kuchenteig in die Blechform füllte und ihn in den Backofen schob. Eigentlich viel zu vernünftig für ein Kind. So ruhig und fleißig. Nun ja, sie war eben die Älteste. Sie musste besonders früh lernen Verantwortung zu übernehmen. Anna war dankbar dafür, dass ihre Tochter ihr schon jetzt eine Hilfe war.
»Kommt, wir wollen uns fertig machen für die Kirche«, sagte Anna, nachdem die Mädchen ihr Frühstück beendet hatten. »Ihr wisst doch, heute ist ein ganz besonderer Tag. Eure Mama heiratet und heute Mittag kommt Besuch.«
»O ja, Besuch«, rief die kleine Hedwig und hüpfte in der Küche hin und her.
»Und es gibt Kuchen«, ergänzte Marie strahlend. Adelheid fragte mit ernstem Gesicht:
»Wird Onkel Hermann dann unser neuer Papa?«, und sah ihre Mutter mit einem seltsam erwachsenen Ausdruck in den tiefliegenden hellblauen Augen an.
»Ja«, sagte Anna, »das wird er.«
Sie betrachtete ihre Große nachdenklich. Was ging in dem Kind vor? Sicher war es nicht leicht für sie, einen neuen Mann an der Seite ihrer Mutter zu sehen. Adelheid war die Einzige, die sich noch an ihren Vater erinnern konnte. Und auch die Einzige, die auffallende Ähnlichkeit mit ihrem Alfred hatte, dachte Anna. Dasselbe spitz zulaufende, fast dreieckige Gesicht mit dem kleinen Kinn und der breiten Stirn, dasselbe glatte dunkelblonde Haar. Zwar hatten die Mädchen alle drei die Augenfarbe von ihrem Vater geerbt, jedoch glichen die beiden jüngeren mit ihren runderen Gesichtern und dem krausen Haar eher ihrer Mutter.
Anna hatte die Kinder am Vorabend in der großen Zinkwanne, die sie zum Wäschewaschen benutzte, gebadet, sodass an diesem Morgen eine oberflächliche Reinigung mit kaltem Wasser genügte. Sie wusch der kleinen Hedwig das mit Marmelade verschmierte Gesichtchen und die klebrigen Hände, zog ihr das Leibchen mit den Strumpfbändern über Unterhemd und Hose und befestigte ein sauberes Paar langer brauner Wollstrümpfe an den Haltern. Dann zog sie dem Kind das neue rot-blau karierte Baumwollkleid über, das sie extra zu diesem Anlass hatte schneidern lassen. Sie hatte zwei Monate lang das Eiergeld gespart, um einen Ballen Stoff kaufen zu können, aus dem die drei identischen Kleider der Mädchen gefertigt worden waren. Die Schneiderin, das alte Fräulein Juknat, hatte wegen der Inflation für ihre Arbeit lieber ein gutes Stück Speck, eine Mettwurst und ein Dutzend Eier haben wollen statt Bargeld.
Voller Stolz blickte Anna nun auf ihre Töchter, wie sie vor ihr standen mit ihren blanken Gesichtern und den strahlenden Augen, noch etwas steif in den schönen neuen Kleidern. Anna bürstete ihnen das Haar und flocht es zu Zöpfen. Zur Feier des Tages band sie jeder von ihnen ein weißes Schleifenband in das gescheitelte Haar, sodass es die runden Kinderstirnen frei ließ.
»Ihr dürft euch nicht schmutzig machen, hört ihr?«, mahnte sie eindringlich, »nach der Messe werden wir fotografiert.« Zwar wusste die kleine Hedwig nicht, was das bedeutete, ›fotografiert werden‹, trotzdem hüpfte sie vor Begeisterung und Aufregung auf und ab. Die fünfjährige Marie hingegen setzte sich still auf die Küchenbank und nahm die Schulfibel ihrer älteren Schwester aus dem Ranzen, der seinen Platz neben der Bank hatte, schlug das schmale Buch auf und vertiefte sich in die Bilder und Geschichten. Zwar konnte sie noch nicht richtig lesen, aber sie hatte viele Buchstaben gelernt, wenn Adelheid sie auf der Schiefertafel übte, und einige Wörter konnte sie schon zusammensetzen.
Anna beobachtete das stille Kind mit leichtem Befremden. Wie verschlossen Marie war, und so in sich gekehrt. Als lebte sie in ihrer ganz eigenen Welt, dachte sie. Mit einem leichten Kopfschütteln ging sie in die Schlafkammer, um sich selbst für den Kirchgang zurechtzumachen.
***
Die Messe war feierlich gewesen, die Trauung kurz und einfach. Anna erinnerte sich kaum noch an die Worte, die Pastor Hellmann an sie gerichtet hatte, nur der Satz »Bis dass der Tod euch scheidet« klang noch in ihr nach. Ihr »Ja« hatte fest und entschlossen geklungen, entschlossener, als sie es innerlich empfand. Aber sie wollte ihre Zweifel und ihre Angst vor dem Leben mit einem neuen Mann nicht wahrhaben. Es war gut und richtig so, wie es nun war, sagte sie sich immer wieder.
Hermann hatte sie und die Kinder von zu Hause abgeholt und gemeinsam waren sie bei herrlichem, fast spätsommerlichem Sonnenschein den Weg ins Dorf gegangen. Hermann sah gut aus in seinem schwarzen Anzug und dem weißen Hemd mit Krawatte. Seine Schuhe waren blitzblank geputzt, und er hatte sogar an einen Strauß Blumen, weiße Margeriten und rote Rosen aus dem heimischen Garten, gedacht.
Anna hatte sich bei ihm untergehakt, und zusammen mit den drei Mädchen waren sie zur Kirche gegangen. Dort hatten schon ihre und Hermanns Eltern gewartet, zusammen mit ihrer Schwester Annegret und Hermanns Bruder Konrad, die als Trauzeugen fungierten, alle im Sonntagsstaat.
Die Leute im Dorf hatten sie neugierig angestarrt, als sie in einer kleinen Prozession ganz nach vorne gegangen waren und in der ersten Bankreihe Platz genommen hatten. Man wusste, dass Anna verwitwet war, und man nahm stirnrunzelnd zur Kenntnis, dass ihr neuer Bräutigam der Bruder ihres verstorbenen Mannes war und dass er um einiges älter war als die Braut. Aber man wusste auch, dass jetzt, wo so viele Männer im Krieg gefallen waren, eine solche Heirat ein Glück bedeutete für die junge Witwe mit ihren drei kleinen Kindern. Wie sollte sie denn die Heuerstelle alleine bewirtschaften? Aus weiblichen Augen traf Anna manch neidischer Blick, waren doch viele Ehemänner, Verlobte oder Freunde nicht aus dem Krieg zurückgekehrt. Dennoch waren die Glückwünsche, die das junge Ehepaar nach der Trauung entgegennahm, zumeist ehrlich gemeint, und Anna spürte ein wohltuendes Gefühl von Zufriedenheit, als sie an der Seite ihres neuen Ehemannes händeschüttelnd durch die Reihen der Dorfbewohner ging.
***
»Du wirst es jetzt leichter haben, Anna«, sagte ihre Mutter zu ihr, als sie am weiß gedeckten Mittagstisch in der guten Stube saßen. Sie lächelte ihre Tochter mit müden Augen an. Anna warf ihr einen dankbaren Blick zu. Es geschah nicht oft, dass die wortkarge, früh gealterte Frau etwas derart Persönliches zu ihr sagte.
Ihre Schwiegermutter, eine streng aussehende, magere Frau in schwarzer Trauerkleidung, hatte außer einem Glückwunsch noch kein Wort zu ihr gesagt. Anna wusste, dass sie immer noch sehr unter dem Verlust ihres Sohnes Alfred litt. Ob es ihr wohl recht war, dass jetzt seine Witwe noch einen Sohn von ihr heiratete? Eigentlich war Hermann der Hoferbe der Hoffstedes, denn er war der Älteste der drei Söhne. Aber seine Frau war vor drei Jahren bei der Geburt des ersten Kindes am Kindbettfieber gestorben. Es war eine Frühgeburt gewesen, das Kind hatte ebenfalls nicht überlebt. Nun, da Hermann sie, Anna, geheiratet hatte, ging der Hof seines gefallenen Bruders an ihn über, und sein jüngerer Bruder Konrad übernahm den elterlichen Hof. Es waren Heuerhöfe, der Grund und Boden gehörte dem Großbauern, dem sie zu Hand- und Spanndiensten verpflichtet waren. Konrad, der Jüngste der drei Brüder, hatte schon Frau und Kinder, sodass die Nachfolge gesichert war.
Mitleidig betrachtete Anna das verhärmte, faltige Gesicht ihrer Schwiegermutter. Sie beschloss besonders freundlich zu ihr zu sein.
»Schmeckt es dir, Schwiegermutter?«, fragte sie und reichte die Schüssel mit den grünen Bohnen zu ihr hinüber. »Das waren die letzten frischen Bohnen aus dem Garten. Die anderen habe ich eingemacht. Zwölf Gläser sind es geworden. Hattest du auch eine gute Ernte dieses Jahr?«
»Ja«, antwortete die alte Frau, »das Wetter in diesem Sommer war günstig. Für den Winter ist der Keller gut gefüllt. Gott sei Dank!«
Anna blickte in die Runde. Sie war zufrieden. Das Essen war gut gelungen und alle, die dicht gedrängt um den mit ihrem besten Geschirr gedeckten Tisch saßen, langten mit gutem Appetit zu. Die Gespräche der Männer drehten sich um die Inflation und darum, welchen Ertrag das Getreide, die Kartoffeln und die Zuckerrüben wohl am nächsten Tag erbringen würde, wenn der Wert des Geldes weiterhin so verfiel.
Die drei Mädchen hatten an einem kleinen Tisch abseits, dem ›Katzentisch‹, gegessen, Adelheid hatte aufgepasst, dass auch die kleine Hedwig ordentlich aß. Jetzt warteten sie auf den Nachtisch, auf den sie sich besonders freuten, da er eine seltene Köstlichkeit darstellte. Anna hatte eine große Schüssel vergorener Milch mit dem kostbaren Zucker gesüßt und mit den eingemachten Kirschen aus dem letzten Einweckglas vom Vorjahr verrührt. Jetzt servierte sie stolz die köstliche Quarkspeise.
Es war ein außerordentliches Festessen gewesen, und die kleine Hochzeitsgesellschaft, die an den täglichen Gemüseeintopf und die abendliche Milchsuppe gewöhnt war, genoss es sehr. Die Stimmung lockerte sich, hier und da wurde gescherzt und gelacht, und Anna wechselte einen stolzen Blick mit ihrem frisch angetrauten Mann.
Nach Tisch erhoben sich die Gäste, um einen Gang durch die Diele und den Hof zu machen, die Tiere zu begutachten und einen Verdauungsspaziergang über die Felder zu unternehmen. Ein herrlicher Herbstnachmittag mit frischer, kühler Luft und mildem Sonnenschein empfing die kleine Gruppe. Hermann Hoffstede erklärte seinen Eltern und den Schwiegereltern, wie er sich die Bewirtschaftung des kleinen Bauernhofes vorstellte. Einen Ochsen als Zugtier würde er vom elterlichen Hof mitbringen, auch einiges an Arbeitsgerät und ein paar Möbelstücke und Haushaltsgegenstände. Es war nicht viel, aber es war ein neuer Anfang.
Anna räumte unterdessen mit Hilfe ihrer Schwester Annegret die Stube auf, wusch das Geschirr und deckte den Tisch für den Nachmittagskaffee. Der Kuchen sah prächtig aus und würde einen schönen Abschluss bilden für die Hochzeitsfeier.
Die kleine Marie hatte sich die Schiefertafel ihrer Schwester geholt, sich damit auf die Bank gesetzt und übte mit dem Griffel immer wieder, den Buchstaben B zu schreiben, während Adelheid und die kleine Hedwig draußen Verstecken spielten.
»Willst du nicht auch ein wenig draußen spielen?«, fragte Anna ihre Tochter, die jedoch die Frage kaum gehört zu haben schien und weiter konzentriert ihre Bs malte. Zu Annegret gewandt, sagte Anna: »Das Kind entwickelt sich noch zu einem richtigen Stubenhocker«, und schüttelte missbilligend den Kopf.
»Ach, lass sie doch, die Kleine. Sie wird bestimmt mal eine ganz Kluge«, erwiderte Annegret. Sie strich dem Mädchen über die dunklen Locken und lächelte es freundlich an.
»Wenn du erst richtig lesen kannst, schenke ich dir ein schönes Buch mit vielen Bildern, Mariechen.«
Strahlend blickte das Kind zu ihr auf. »Oh ja, das wäre schön, Tante Annegret«, sagte sie, »ich kenne schon fast alle Buchstaben.«
Annegret, die einzige noch unverheiratete Schwester Annas, streichelte das zarte runde Gesichtchen ihrer kleinen Nichte. »Sie hat ganz die Augen von Alfred«, sagte sie nachdenklich, »dasselbe tiefe Dunkelblau. Es erinnert mich an das Blau der Kornblumen.«
Anna betrachtete ihre Schwester nachdenklich und etwas mitleidig. Annegrets Verlobter war in derselben Einheit gewesen wie Alfred und war ebenfalls nicht zurückgekehrt. Jetzt würde es schwer sein für die junge Frau, noch einen Mann zu finden. Sie seufzte und legte ihrer Schwester den Arm um die Schulter.
»Annegret, die anderen werden gleich kommen. Willst du vielleicht schon Kaffeewasser aufsetzen? Es ist zwar nur Muckefuck, aber er wird uns schon schmecken.«
Sie schnitt den Kuchen sorgfältig in gleich große Stücke. Er würde gerade so für alle reichen. Wenn nötig, würde sie selbst auf das ihr zustehende Stück verzichten. Nach dem Kaffee würde es für alle Zeit sein heimzugehen. Das Vieh musste versorgt werden, und Hermann würde mit dem Ochsen und dem Leiterwagen, auf den er seine Gerätschaften, die Kleidung und seine sonstigen Habseligkeiten laden würde, wieder zurückkommen. Jetzt war er ja hier zu Hause.
***
»Das war heute das leckerste Essen, das ich je gegessen habe«, sagte Hermann. Er schob den leeren Teller von sich und rieb sich demonstrativ den Bauch. »Du bist wirklich eine gute Köchin, Anna!«
Anna hatte eine große Portion Bratkartoffeln mit Zwiebeln und ein paar Würfeln geräucherten Specks zum Abendessen gebraten. Hermann hatte sie ohne viel Federlesens mit großem Appetit verschlungen. Sie freute sich sehr über das Lob des Mannes. Verlegen merkte sie, dass sie errötete, und senkte den Blick. Hermann schmunzelte. Er dickte gerade die leicht gesalzene Milch, die den Abschluss der Abendmahlzeit bildete, mit ein paar Brocken Schwarzbrot an. Anna setzte sich zu ihm an den Tisch, löffelte ihre eigene Milchsuppe und lächelte ihm dann und wann schüchtern zu.
Es war schon spät. Die Kinder schliefen, das Vieh war versorgt und die Dinge, die Hermann mitgebracht hatte, waren eingeräumt. In dem Kleiderschrank in der Schlafkammer hing nun neben Annas Sonntagskleid Hermanns schwarzer Anzug, und in einem Schrankfach lagen seine wenigen Hemden, Pullover, Socken und die Unterwäsche. Die Sachen von Alfred, der eine schlankere Statur als Hermann gehabt hatte, lagen ausrangiert in einer Kiste auf dem Dachboden, ebenso seine Holzschuhe und die guten Sonntagsschuhe. Bei nächster Gelegenheit würde Anna sie an einen Trödler verkaufen.
Es war still in der angenehm warmen Küche. Nachdem sie die Mahlzeit beendet hatten, sprach Anna das Dankgebet, räumte das restliche Geschirr ab und stellte es in die steinerne Spüle, um es abzuwaschen.
»Komm doch einmal her zu mir«, sagte Hermann. Er war vom Tisch aufgestanden und hinter sie getreten. Sie drehte sich zu ihm um und sah ihn verlegen an. Wie groß und kräftig er war, viel breiter als Alfred, der eher hager gewesen war. Hermann legte seine Hände an ihre Schultern und zog sie sanft an sich.
Es war die erste Umarmung, die sie seit Langem erlebte, und Anna fühlte, wie etwas in ihrem Inneren ganz weich wurde. Sie lehnte ihren Kopf an seine Schulter. Ausruhen können, einmal nicht stark sein müssen: was für ein wunderbares Gefühl! Hermann umfasste sie mit seinem kräftigen Armen und drückte sie fest an sich. Anna spürte die Wärme seines Körpers, hörte den ruhigen Atem und den starken Herzschlag und fühlte sich sicher und geborgen. Sie horchte in sich hinein, ob sich Widerstand regte oder Abwehr, aber da war nichts als große Erleichterung.
Eine lange Weile standen sie so da, sich gegenseitig haltend und umfangend. Dann löste Hermann sich etwas von ihr, umfasste mit einer Zärtlichkeit, die Anna seinen groben, harten Arbeitshänden nicht zugetraut hätte, ihren Kopf und sah sie an. Sein breites, freundliches Gesicht war ihrem ganz nahe, seine warmen braunen Augen blickten tief in ihr Inneres. Ganz sanft küsste er sie auf die Stirn, die Wangen und schließlich auf den Mund. Seine Lippen waren überraschend weich, und ein lange vergessenes Gefühl der Leidenschaft durchfuhr Annas Körper. Unwillkürlich drängte sie sich an ihn, umschlang seinen Nacken mit beiden Armen und erwiderte seinen Kuss. Sie atmete seinen Geruch nach Schweiß, Stall und Erde tief ein, fühlte seine Muskeln unter dem Hemd und seine Hände, die ihren Rücken streichelten. Als es die Schleife ihrer Schürze löste, sie von ihrem Schultern abstreifte und achtlos über eine Stuhllehne hängte, ihre schmale Gestalt dann mit Leichtigkeit aufhob und über die Schwelle ins Dunkel der Schlafkammer trug, wusste sie: Ja, ihre Entscheidung war richtig gewesen.
»Die Kornblume blüht, die Lerche singt. Unbewegt wartet die Erde.«
1925
Das Schwarz-Weiß-Foto im Querformat zeigt ein schlichtes, langgezogenes Bauernhaus mit einem einfachen Fachwerk am Frontgiebel, der durch schmale Fenster mit je sechs kleinen Scheiben dreigeteilt wird. An der Längsseite, die zur Straße zeigt, gibt es ebenfalls drei Fenster sowie eine schmale Eingangstür, die den Wohntrakt vom Dielen- und Stallbereich des Hauses trennt. Ein mit Maschendraht eingefasster Gemüsegarten umrahmt den vorderen Teil des Hauses.
Es muss Frühjahr oder Herbst sein, denn die noch niedrigen Bäume am Straßenrand zeigen nur wenig Laub. Ein breiter Weg führt schräg an dem Haus vorbei. Auf ihm stehen, nebeneinander aufgereiht und frontal dem Fotografen zugewandt, sieben Menschen, offenbar eine Familie.
Die Eltern, etwa zwischen fünfunddreißig und fünfundvierzig Jahre alt, blicken ernst, ohne zu lächeln, in die Kamera. Die schlanke Frau trägt ein einfaches knöchellanges Kleid, darüber eine Kittelschürze, dunkle Strümpfe und an den Füßen Holzschuhe, der kräftig gebaute Mann einen Arbeitskittel, eine grobe Hose, dicke Strümpfe und ebenfalls Pantinen aus Holz.