Die Mutter des Kommissars und die Händler des Todes - Margarete Bertschik - E-Book

Die Mutter des Kommissars und die Händler des Todes E-Book

Margarete Bertschik

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Beschreibung

Liliane Thedieck, geschieden und Mutter zweier Teenager, ist überglücklich, als sie im Urlaub den Journalisten Eric Wilkens aus Hamburg kennen- und liebenlernt. Die beiden werden ein Paar. Doch dann geschieht das Unfassbare: Während der Verlobungsfeier, an der auch Lilianes Tante, Hanna Morgenroth, teilnimmt, wird Eric auf offener Straße von einem Auto überfahren und getötet. Die Polizei geht von einer Trunkenheitsfahrt aus, aber Hanna glaubt nicht an einen Unfall. Zu gezielt habe der Autofahrer auf Eric, der auf dem Bürgersteig stand, zugehalten, erklärt sie den Beamten. Aber nicht nur die Polizisten, auch Kriminalhauptkommissar Thomas Morgenroth, Hannas Sohn, ist skeptisch dem Verdacht seiner Mutter gegenüber. Also ermittelt Hanna wieder auf eigene Faust. Ihre Recherchen führen sie nach Hamburg zu einem internationalen Verbrecherring, dessen Gefährlichkeit sie unterschätzt. Sie gerät in Lebensgefahr ...

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Seitenzahl: 267

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Die Personen und die Handlung dieses Kriminalromans sind frei erfunden. Namensgleichheiten oder Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und sind nicht beabsichtigt.

Manche der genannten Orte, Straßen oder Plätze sind authentisch, andere jedoch nicht. Eine Zuordnung der Schauplätze zu tatsächlichen Örtlichkeiten ist daher nicht immer möglich.

Inhaltsverzeichnis

Peking, China

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Peking, China

Noch ist die Sonne nicht aufgegangen an diesem regnerischen Morgen in Peking, aber die Stadt ist durch zahllose Reklamebilder, Ampeln, Straßenlaternen und Autoscheinwerfer hell erleuchtet. Die Rushhour hat begonnen. Dichter Smog hängt wie Nebel zwischen den Häusern. In den Straßen drängen sich Autos, Motorräder, Mofas, Radfahrer und unzählige Fußgänger. Viele Menschen tragen eine weiße Atemmaske.

Eine große dunkle Limousine sucht sich ihren Weg durch den chaotischen Straßenverkehr. Sie folgt der Hauptverkehrsstraße eine Weile, biegt dann ab in eine ruhigere Nebenstraße und hält schließlich vor einem riesigen schmucklosen Gebäude.

Die Scheinwerfer des Autos erfassen eine hohe, mit Stacheldraht bewehrte Mauer. Wachtürme mit rotierenden Kontrollscheinwerfern flankieren ein schweres eisernes Tor. Neben dem Tor ist ein Schild zu sehen, auf dem chinesische Schriftzeichen stehen. Der Wagen hält unmittelbar davor an, mit laufendem Motor.

Langsam öffnet sich das Tor. Zwei Bedienstete in Uniform zerren grob einen an den Händen gefesselten Mann mit sich zum Auto. Der Gefangene ist jung, vielleicht fünfundzwanzig Jahre alt. Das Tor schließt sich sofort wieder.

Der Chauffeur des Autos, ein kräftig gebauter Chinese in einem schlichten Anzug mit Krawatte, ist ausgestiegen und öffnet eine der hinteren Türen des Mercedes. Die Wachmänner steigen mit ihrem Gefangenen ein und das Auto fährt los. Es biegt in eine Seitenstraße ein, an der ein Hinweisschild in Chinesisch und Englisch steht: Flughafen.

Im obersten Stockwerk des Gebäudes ist ein Fenster erleuchtet. Es gehört zu einem zweckmäßig eingerichteten Büro. Die reglose Gestalt eines Mannes steht an dem Fenster. Der Mann blickt dem davonfahrenden Wagen nach. Dann dreht er sich um, setzt sich an den Schreibtisch, nimmt den Telefonhörer auf und wählt eine lange Nummer. Er spricht Englisch mit deutlichem Akzent. Er sagt nur einen Satz, lauscht kurz und legt nach einem knappen Gruß auf.

Auf dem Schreibtisch vor ihm liegt aufgeschlagen eine Akte, in der sich ein formell aussehendes Blatt mit einem Passbild befindet. Der Mann nimmt mit unbewegtem Gesicht einen Stift, unterschreibt an einer dafür vorgesehenen Stelle und drückt einen Stempel auf das Blatt. Danach klappt er mit einer abschließenden Handbewegung die Akte zu.

***

1

„Jemand zu Hause?“

Liliane Thedieck stellte aufatmend den schweren Einkaufskorb auf der Küchentheke ab und ließ ihre Aktentasche auf einen Sessel fallen. Dann deponierte sie den großen Stoß Klassenarbeitshefte, den sie unter den Arm geklemmt hatte, auf den ohnehin schon überladenen Schreibtisch in der Arbeitsecke ihres unaufgeräumten Wohnzimmers. Mit einem erschöpften Seufzer sank sie aufs Sofa, streifte ihre hochhackigen Pumps von den Füßen, klopfte ein Kissen zurecht und streckte sich lang aus. Was für ein Vormittag! Zuerst der anstrengende Unterricht mit den zappeligen Schülern, die sich schon im Ferienmodus befanden und nicht im mindesten motiviert waren, sich am Unterricht zu beteiligen, und danach die nervige Abschlusskonferenz, auf der Kollege Neumeier wieder einmal seine Sticheleien loswerden musste, weil sie ihm die Beförderungsstelle vor der Nase weggeschnappt hatte. Sie sei ja nur eine Quotenfrau, wie er bei jeder sich bietenden Gelegenheit behauptete. Dabei war ihre Qualifikation für den Posten mindestens so gut wie seine! Und als wäre das nicht schon genug Stress gewesen, kam beim anschließenden Einkaufen im Supermarkt noch das nervtötende Warten in der Schlange an der Kasse hinzu. Anscheinend waren die Leute davon überzeugt, dass es morgen nichts mehr zu kaufen geben würde, denn jeder schob einen übervoll beladenen Einkaufswagen vor sich her, als hätte er eine ganze Kompanie zu versorgen. Es hatte ewig gedauert, bis sie endlich an der Reihe gewesen war. Liliane stieß einen tiefen Seufzer aus. Gott sei Dank hatte sie jetzt erst einmal zwei Wochen Ferien vor sich. Die hatte sie bitter nötig.

„Niklas? Svenja? Seid ihr da?“, rief sie mit müder Stimme.

Sie hörte tapsende Schritte und wandte den Kopf. Niklas, ihr zwanzigjähriger Sohn, schlurfte barfuß ins Zimmer, angetan mit Shorts und einem schlabbrigen T-Shirt, in dem er offensichtlich geschlafen hatte. Überhaupt sah er aus, als sei er gerade erst aufgestanden, was wahrscheinlich der Fall war. Lang und schlaksig, mit zerzaustem Haar und verschlafenem Gesicht, gab er das typische Bild eines Studenten ab.

„Hallo Mama! Was gibt’s zu essen?“

Bevor Liliane antworten konnte, kam Svenja, ihre Teenagertochter, die hölzerne Wendeltreppe heruntergehüpft. Mit einem fröhlichen Lächeln in dem hübschen Gesicht, das seine kindliche Rundlichkeit noch nicht verloren hatte, setzte sie sich zu ihrer Mutter auf den Rand der Couch und drückte ihr einen Kuss auf die Wange.

„Na, Mama, wie war der letzte Schultag?“

Liliane rieb sich die Stirn und seufzte abgrundtief.

„Na, wie schon? Immer dasselbe. Einen Haufen Arbeit habe ich mitgebracht.“ Sie zeigte mit dem Kinn in Richtung Schreibtisch. „Das muss alles in den Ferien erledigt werden.“

Niklas hatte inzwischen die Einkäufe auf der Esszimmertheke inspiziert. „Cool, Pizza! Soll ich die schon mal in den Ofen schieben?“

„Ja. Und räum‘ bitte auch die übrigen Sachen weg, Niklas. Svenja, könntest du den Salat machen? Ich bin so kaputt!“

„Klar, mach ich!“, sagte Svenja. „Aber vorher massier‘ ich dir noch die Füße. Das tut dir bestimmt gut. Arme gestresste Mama!“

Liliane musterte die Sechzehnjährige misstrauisch. Bei so viel Fürsorge musste etwas faul sein. Irgendetwas führte ihre Tochter im Schilde. Aber die kleine Fußmassage, die Svenja ihren müden Füßen angedeihen ließ, tat tatsächlich gut. Dankbar schloss Liliane die Augen und entspannte sich.

Als sich kurze Zeit später der appetitanregende Duft von knuspriger Pizza in der Wohnung ausbreitete, stand sie auf und kam zu ihren Kindern an den Tisch, auf dem Niklas inzwischen Teller und Besteck bereitgelegt hatte. Svenja stellte eine große Schüssel mit grünem Salat dazu.

„Hm, das riecht lecker“, sagte Liliane und ließ sich schnuppernd auf einem der Stühle nieder. „Danke, Kinder!“

„Gibst du mir ein Stück von deiner Champignon-Pizza, Mama, dann gebe ich dir etwas von meiner Pizza Hawaii“, schlug Svenja vor, während Niklas ohne weiteren Kommentar große Stücke seines Käsefladens in den Mund stopfte und geräuschvoll kaute. Bereitwillig teilte Liliane ihre Pizza mit ihrer Tochter. Eine Weile war nichts weiter als das Kauen der drei Menschen zu hören. Dann meldete sich Svenja wieder zu Wort.

„Du, Mama?“, fing sie an, mit zuckersüßer Stimme und in dem schmeichlerischen Tonfall, den Liliane nur allzu gut kannte. Jetzt kommt’s, dachte sie, wusste ich’s doch.

„Ja?“

„Die Sache mit dem Piercing …“

„Ach bitte, Svenja!“, unterbrach Liliane ihre Tochter, „nicht das schon wieder! Ich will nichts mehr davon hören. Wir haben schon so oft darüber diskutiert. Es gibt kein Piercing, schon gar nicht in der Zunge!“ Genervt spießte sie ein weiteres Stück Pizza auf ihre Gabel und schob es sich in den Mund.

„Bitte, Mama! Lisa und Alexa haben auch …“ So leicht gab das Mädchen nicht auf. Nach dem Motto ‚Steter Tropfen höhlt den Stein‘ lag sie ihrer Mutter jetzt schon seit Tagen in den Ohren mit ihrer Behauptung, ohne ein Piercing nicht mehr leben zu können.

„Svenja! Hör auf!“ Lilianes gereizte Stimme war nur noch einen Tick vom Schreien entfernt. „Es interessiert mich nicht, was Lisa und Alexa haben! Schluss damit!“

Das Mädchen zog einen Flunsch und widmete sich dem Rest ihrer Mahlzeit, während Liliane aggressiv und wütend in ihrem Salat herumstocherte. Ich habe einfach nicht mehr die Nerven für diesen ständigen Kleinkrieg, dachte sie.

„Wenn sie unbedingt ein Piercing will …“, meldete sich Niklas in einem Anfall brüderlicher Solidarität ungefragt zu Wort.

„Nun fang du nicht auch noch an, Niklas!“, fuhr Liliane ihn heftiger als beabsichtigt an. „Und überhaupt: Hattest du nicht eine Vorlesung heute Morgen? Wenn du so weitermachst, wird es nie etwas mit deinem Germanistikstudium!“

Das Telefon klingelte und unterbrach die Auseinandersetzung.

Niklas, froh, einer Antwort auf die Frage seiner Mutter fürs Erste enthoben zu sein, sprang auf. „Ich geh schon“, verkündete er auf dem Weg in den Flur, wo das Telefon stand. Liliane und Svenja lauschten, um zu erfahren, wer der Anrufer war.

„Hier Niklas Thedieck … Ja, einen Moment bitte!“, hörten sie Niklas sagen, dann, an seine Mutter gewandt, während er den Hörer mit der Hand abdeckte: „Mama, da ist eine Frau am Telefon. Sie sagt, sie sei die Mutter von Linus. Sie möchte dich sprechen.“

Oh nein, nicht auch das noch! Liliane schüttelte heftig den Kopf und machte Niklas mit eindeutigen Gesten deutlich, dass sie das Gespräch nicht annehmen wolle. Die Mutter von Linus!

Das war mehr, als sie jetzt ertragen konnte! Linus, dieser freche kleine Lümmel, der faul wie die Sünde war, für seine schlechten Leistungen aber immer irgendwelche Ausreden bei seinen überbesorgten Eltern fand. Meistens waren seiner Meinung nach die Lehrer schuld an seinem Versagen, davon schienen auch seine Erziehungsberechtigten vollkommen überzeugt zu sein. Seine Mutter hing alle Nase lang am Telefon und fand tausend Entschuldigungen für die miserablen Leistungen ihres Sprösslings, oder, was schlimmer war, sie warf Liliane vor, sich als Klassenlehrerin nicht intensiv genug um den Jungen zu kümmern.

„Aber sie sagt, es sei wichtig …“ Niklas hielt ihr den Hörer hin.

Das war der Augenblick, in dem Liliane alles zu viel wurde. Sie sprang vom Tisch auf, rannte quer durchs Zimmer und warf sich laut aufschluchzend auf die Couch, vergrub das Gesicht in den Armen und fing hemmungslos an zu heulen.

Bestürzt sahen ihre Kinder ihr nach. So hatten sie ihre Mutter noch nie erlebt.

Niklas beendete das Telefongespräch mit einer erfundenen Entschuldigung und die Geschwister stellten sich betroffen vor das Sofa und schauten auf ihre hysterisch schluchzende Mutter herab. Ratlos wechselten sie einen Blick miteinander, dann setzte sich Niklas auf die Sofakante und tätschelte unbeholfen den Rücken seiner Mutter.

„Was ist denn los, Mama? Ist es wegen meines Studiums? Keine Sorge, die Vorlesung von heute Vormittag kann ich auch in dem Buch vom Professor nachlesen. Das ist halb so wild. Beruhige dich doch!“

Kleinlaut setzte Svenja hinzu: „Wenn es wegen mir ist: Gut, dann eben kein Piercing. So wichtig ist das nun auch wieder nicht.“

Wider Willen musste Liliane lächeln über die Zerknirschtheit ihres Nachwuchses. Schniefend setzte sie sich auf, kramte ein Taschentuch aus ihrer Hosentasche und wischte sich die Tränen ab. Niklas und Svenja setzten sich links und rechts neben sie und Niklas legte fürsorglich den Arm um ihre Schultern, während Svenja ihre Hand nahm und unablässig streichelte.

„Schon gut, Kinder, es geht schon wieder. Ich bin nur völlig fertig. Immer dieser Ärger in der Schule, wisst ihr? Das ist schon richtiges Mobbing! Und alles nur wegen der Beförderungsstelle. Und nun auch noch diese nervige Mutter! Dauernd hängt sie am Telefon! Letztes Mal hat sie mir vorgeworfen, ich würde ihren Sohn ungerecht behandeln! Linus, dieses Früchtchen! Lange halte ich das nicht mehr aus!“

Sie fühlte, dass ihr schon wieder die Tränen kamen, und holte ein paar Mal tief Luft, um sich zu beherrschen. Die Anteilnahme ihrer Kinder tat ihr gut, aber sie wollte die beiden nicht allzu sehr mit ihren Problemen belasten.

Niklas drückte Lilianes Schultern. „Was du brauchst, Mama, sind ein paar Tage richtigen Urlaub! Einen Tapetenwechsel! Nur Ruhe und Entspannung ohne Telefon und den Blick auf den vollen Schreibtisch.“ Er sprang auf. „Wie wäre es mit der Nordsee? Ich guck‘ gleich mal im Internet nach, ob auf einer der Inseln noch ein Zimmer für dich frei ist jetzt zu Ostern.“

Zögerlich stand Liliane vom Sofa auf und folgte ihrem Sohn an den Schreibtisch, wo er mit flinken Fingern ihren Laptop aktivierte und im Nu die entsprechenden Seiten der Tourismusbranche aufgerufen hatte. Der Gedanke, einmal für kurze Zeit den ganzen Alltagskram zu vergessen und sich den frischen Wind der Nordsee um die Nase wehen zu lassen, hatte etwas ungemein Verlockendes. Sie schaute Niklas gemeinsam mit Svenja, die ihnen gefolgt war, über die Schulter und beobachtete, wie auf dem Bildschirm eine Insel-Webseite nach der anderen erschien.

„Norderney ist natürlich ausgebucht“, meldete Niklas, „Langeoog und Spiekeroog auch. Aber hier, guck mal, in dieser Pension auf Wangerooge ist noch ein Zimmer frei. Und gar nicht teuer! Was hältst du davon?“

Liliane betrachtete die Abbildungen von dem hübschen Gebäude und den einladenden Zimmern, die von Erholung und Gemütlichkeit sprachen.

„Nicht schlecht. Ein paar Tage dort würden mir schon gefallen.“ Sie legte ihren beiden Kindern je einen Arm um die Schultern. „Aber ich kann euch doch nicht einfach so allein lassen.“

„Natürlich kannst du!“, unterbrach Niklas seine Mutter. „Ich werde schon auf die Kleine aufpassen. Wir werden bestimmt nicht verhungern. Also: Soll ich das Zimmer buchen? Und auch gleich eine Zugfahrt von hier nach Harlesiel zur Fähre?“

„Meint ihr wirklich?“

„Ja, Mama, wirklich!“, antwortete Svenja, während Niklas die entsprechenden Daten in den Computer eingab.

„Schon erledigt“, verkündete er. „Du brauchst nur noch deinen Koffer zu packen. Sieben Tage Wangerooge warten auf dich. Morgen 7.50 Uhr geht’s los!“

Liliane lächelte ihre Kinder unsicher an. „Und ihr kommt wirklich ohne mich zurecht?

„Natürlich, Mama, wir sind doch keine Babys mehr“, versuchte Svenja ihre Mutter zu beruhigen. „Mach dir bloß um uns keine Sorgen!“

„Trotzdem: Ich rufe lieber Tante Hanna an und sage ihr Bescheid. Sie soll gelegentlich mal nach euch sehen“, sagte Liliane entschieden. „Dann fühle ich mich besser.“

2

Hanna Morgenroth stellte ihre Walking-Stöcke in die Ecke der Garderobe und zog ihre Sportjacke aus. „Bin wieder da!“, rief sie.

„Wie war’s, Hanna?“, antwortete Inga aus der Küche, wo sie den Abendbrottisch deckte. Hanna hörte die Stimmen der Zwillinge aus dem Kinderzimmer; offenbar hatten die beiden viel Spaß, denn immer wieder erklang ihr kreischenden Lachen.

„Es war herrlich, Inga! Ein wunderbarer Frühlingsabend! Du glaubst nicht, wie schön es um diese Jahreszeit im Wald ist!“

Bei solch schönem Wetter wie heute genoss Hanna die zügigen Nordic Walking-Spaziergänge durch den Wald, die sie vor allem wegen ihrer Arthrose im rechten Knie gewissenhaft täglich absolvierte, besonders. Die Birken und Kastanien waren die Ersten, die sich mit zarten Blattgrün schmückten, das Moos zeigte eine saftige sattgrüne Farbe und die Anemonen breiteten riesige weiße Blütenteppiche an sonnigen Stellen auf dem Waldboden aus. Gegen Abend ließen die Vögel ihr Lied hören und zu allem Überfluss hatte Hanna in der Asthöhle einer riesigen, noch kahlen Buche ein Amselnest mit vier Eiern entdeckt; auf das Schlüpfen der Jungen und deren weitere Entwicklung war sie schon gespannt.

Hanna schaute kurz in die Küche. „Ich will schnell noch duschen, Inga, dann helfe ich dir“, versprach sie ihrer Schwiegertochter. „Ist Thomas noch nicht da?“

Inga lächelte ihr zu, während sie die Teller, Tassen und Bestecke auf dem großen Esstisch in der Wohnküche verteilte. „Nein, aber er muss jeden Augenblick kommen“, sagte sie. „Wenn nicht irgendwas Unvorhergesehenes passiert ist“, ergänzte sie.

Das Telefon klingelte. „Da haben wir’s!“, seufzte Inga.

„Ich geh schon“, sagte Hanna und nahm den Hörer von der Ladestation im Flur.

„Hanna Morgenroth“, meldete sie sich. Sie lauschte auf die aufgeregte Stimme im Telefon und antwortete: „Grüß dich, Liliane! Wie schön, mal wieder von dir zu hören! Wie geht es dir?“

Während sie zuhörte und den Wortschwall am anderen Ende mit regelmäßigen „Ahas“, „Hms“ und „Ach sos“ begleitete, ging sie in der Diele auf und ab und wartete geduldig auf eine Gelegenheit, zu Wort zu kommen. Schließlich rückte Liliane mit ihrem Anliegen heraus und Hanna antwortete: „Aber selbstverständlich, Liliane, das mache ich doch gern! Ich freue mich darauf, die Kinder einmal wiederzusehen. Wann fährst du?... Also werde ich gleich übermorgen einmal bei den beiden vorbeischauen … Mach dir keine Sorgen, schließlich sind sie ja schon erwachsen, Niklas zumindest … Nichts zu danken, Liebes! … Erhol dich gut! Bis dann!“

Nachdenklich legte sie den Hörer auf die Station.

Liliane … Es war schon einige Zeit her, seit Hanna ihre Nichte das letzte Mal gesehen hatte. Die einzige Tochter ihres Schwagers, Gerald Morgenroth, der mit seiner Frau bei einem Autounfall ums Leben gekommen war, hatte den frühen Tod ihrer Eltern erstaunlich tapfer ertragen, beherrscht und pragmatisch, obwohl sie damals erst Mitte zwanzig gewesen war. Auch ihre Scheidung nach achtzehn Jahren Ehe, nachdem ihr Mann sie mit einer seiner jungen Kolleginnen betrogen hatte, hatte sie selbstbewusst und souverän über die Bühne gebracht. Typisch Liliane, dachte Hanna. Obwohl: Manchmal vermutete sie, dass Liliane in Wirklichkeit gar nicht so stark war, wie sie gern den Anschein erweckte.

„Wer war denn dran?“, fragte Inga aus der Küche. Bevor Hanna antworten konnte, hörte sie, wie die Haustür aufgeschlossen wurde. Thomas, ihr Sohn, kam nach Hause. Er begrüßte seine Mutter mit einem Kuss auf die Wange, entledigte sich seiner Jacke und ging in die Küche, um seine Frau zu begrüßen. Die Zwillinge, die das Kommen ihres Vaters gehört hatten, kamen aus dem Kinderzimmer gestürmt. Hanna beobachtete lächelnd, wie die beiden Achtjährigen Thomas um den Hals fielen. Wie schön, eine Familie zu haben, in der die Welt noch in Ordnung ist, dachte sie. Selten genug in einer Zeit, in der alles im Umbruch zu sein schien. Hanna musste wieder an ihre Nichte denken, deren Leben nicht so harmonisch aussah wie das ihres Sohnes. Obwohl auch Thomas schon von Berufs wegen mehr als genug mit den Schattenseiten des Lebens in Berührung kam. Als Kriminalhauptkommissar hatte er täglich mit Verbrechen aller Art zu tun.

Auf dem Weg zu ihrer Einliegerwohnung im Obergeschoss des Einfamilienhauses dachte Hanna über ihre Situation nach. Wie privilegiert sie doch war! Nach dem Tod ihres geliebten Matins vor sieben Jahren war ihr das Haus, das sie und ihr Mann so viele Jahrzehnte bewohnt hatten und in dem, Thomas, ihr einziger Sohn, aufgewachsen war, zu groß geworden für sie allein. Nach ihrer Pensionierung als Lehrerin hatte sich zudem eine unwillkommene Leere in ihrem Leben breit gemacht. Dabei war sie eigentlich nicht ein Mensch, der Schwierigkeiten hatte, seinen Alltag sinnvoll zu gestalten. Im Gegenteil: Ihre Vorliebe für das Lösen komplizierter Kriminalfälle, das sie zu ihrem Hobby auserkoren hatte, führte dazu, dass sie ständig einen Kriminalroman auf ihrem Nachttisch liegen hatte und keinen Vorabendkrimi oder Tatort im Fernsehen versäumte. Es bereitete ihr große Genugtuung, wenn sie nach der ersten Viertelstunde eines Krimis schon wusste, wer der Täter war. Sie konnte es zudem nicht lassen, sich in die realen Kriminalfälle einzumischen, die sich in ihrem Umfeld abspielten, sehr zu Leidwesen ihres Sohnes, dem sie mit ihrer Detektivspielerei in die Quere kam.

Sie war glücklich gewesen, als Thomas sich entschlossen hatte, mit seiner Familie in sein Elternhaus einzuziehen, nachdem er die Leitung der Kriminalpolizei in der örtlichen Polizeiinspektion übernommen hatte. Das Haus war stets mit Leben erfüllt, dafür sorgten schon Isabell und Jannik, die beiden Zwillinge. Inga war froh, dass Hanna sie bei der Hausarbeit und der Betreuung der Kinder entlastete, sodass sie ihrem Beruf als Erzieherin, dem sie ihre ganze Leidenschaft widmete, in Ruhe nachgehen konnte.

So gern Hanna Mitglied dieses Haushaltes war, so entschieden hatte sie darauf bestanden, sich im Obergeschoss des Hauses ihr eigenes Reich einzurichten mit Wohnzimmer, Küche, Bad und sogar einem kleinen Gästezimmer. So konnte sie, wann immer sie wollte, Besuch empfangen, zum Beispiel ihre Kränzchenschwestern Liesbeth und Edith, um sich beim allwöchentlichen Kaffeeklatsch über die Neuigkeiten in der Stadt auszutauschen.

Oben angekommen, betrat Hanna ihr Bad, um nach der schweißtreibenden Walkingtour zu duschen. Während sie sich das warme Wasser über den Körper laufen ließ, dachte sie über ihre Nichte Liliane nach. Gut, dass die junge Frau - für Hanna mit ihren 67 Jahren waren alle Menschen unter fünfzig jung – sich entschlossen hatte, eine Woche richtigen Urlaub zu machen auf Wangerooge. Die frische Nordseeluft und die Abgeschiedenheit auf der Insel würden ihr gewiss guttun. Und Svenja und Niklas waren bestimmt in der Lage, ein paar Tage allein zurechtkommen, schließlich waren sie ja keine Kinder mehr. Typisch, dass Liliane sich trotzdem Sorgen machte. Sie musste wohl noch lernen, dass man den Jugendlichen auch mal etwas zutrauen musste. Naja, es würde auf jeden Fall schön sein, die beiden wiederzusehen.

Hanna beendete ihre Dusche und kleidete sich fürs Abendessen an. Schnell fuhr sie sich durch ihr kurzes weißes Haar und lächelte ihrem Spiegelbild zu. Es geht mir gut, stellte sie fest, Gott sei Dank.

Am Abendbrottisch in der großen Wohnküche herrschte schon eine lebhafte Unterhaltung, als Hanna sich auf ihren Platz setzte. Isabell, die von Ballett oder anderem Mädchenkram, wie sie es verächtlich nannte, nichts wissen wollte und stattdessen ihrem Bruder im Fußballverein Konkurrenz machte, erzählte gerade mit ausdrucksstarker körpersprachlicher Untermalung, wie sie unter Umrundung zweier gegnerischer Verteidiger ganz allein ein Tor geschossen hatte. Jannik, der Ruhigere von den Geschwistern, nickte beifällig zu ihren Schilderungen. Hanna fuhr ihm durch seinen dichten Blondschopf. Er könnte mal wieder einen Friseurbesuch vertragen, dachte sie angelegentlich. Auch die Zöpfe seiner Schwester müssten dingend gestutzt werden. Inga erzählte von den Ostervorbereitungen in ihrer Kindergartengruppe, Thomas schaufelte gewohnt wortkarg mit Appetit den Kartoffel-Schinken-Auflauf in sich hinein, während er zuhörte, und die Kinder plapperten munter drauflos. Hanna blickte lächelnd in die Runde und genoss das familiäre Zusammensein.

„Thomas, erinnerst du dich an deine Cousine Liliane?“, fragte sie ihren Sohn nun.

„Natürlich. Wir haben sie und die beiden Kinder – wie heißen sie noch mal? – Svenja und Niklas? – doch erst letztens beim Cityfest gesehen. Wann war das? Im Oktober letztes Jahr? Mein Gott, schon so lange her. Wieso? Ist was mit ihr?“

„Nein, es geht ihr soweit gut. Sie möchte nur ein paar Tage verreisen in den Osterferien und hat mich gefragt, ob ich ein Auge auf Svenja und Niklas haben könnte. Es ist ja nicht weit bis zu ihrer Wohnung, ich kann gut kurz mal ´rüberfahren zu ihr. Es geht ihr dabei wohl in erster Linie um Svenja.“

„Ach so. Warum nicht?“ Thomas widmete sich wieder seinem Essen.

„Dürfen wir mit, Oma?“, fragte Isabell, und Jannik echote „Ja, dürfen wir mit?“ Hanna nickte ihren Enkeln zu. „Natürlich nehme ich euch mal mit. Wir machen uns dann einen schönen Tag zusammen mit Svenja und Niklas, was?“

Inga, die dem Gespräch bisher zugehört hatte, ohne sich daran zu beteiligen, fragte: „Wie ist Liliane Thedieck eigentlich genau mit uns verwandt, Hanna?“

„Sie ist die Tochter des Bruders meines Mannes, Inga. Also ist sie Thomas‘ und damit auch deine Cousine. Du hast ihre Eltern nicht kennengelernt; sie sind schon lange tot. Aber vielleicht erinnerst du dich noch an ihren Mann? Liliane hat sich von ihm - ich glaube, das ist schon acht oder neun Jahre her - scheiden lassen. Er hat kurze Zeit später seine Geliebte geheiratet.“

Hanna konnte nicht vermeiden, dass ihre Miene verriet, was sie von dem Verhalten des Ex-Mannes von Liliane hielt. Sie wechselte einen vielsagenden Blick mit ihrer Schwiegertochter. „Tja, so spielt das Leben manchmal. Jedenfalls hat sich Liliane tapfer gehalten und die Kinder allein großgezogen. Die sind inzwischen schon fast erwachsen, aber Liliane glaubt, sie nicht sich selbst überlassen zu können. Sie denkt dabei wohl vor allem an Svenja, die fünfzehn oder sechzehn sein muss. Vielleicht hat sie auch Angst vor ausschweifenden Teenagerpartys in ihrer Wohnung. Deshalb möchte sie, dass ich gelegentlich nach dem Rechten sehe. Tue ich natürlich gern. So komme ich mal aus dem Haus.“

Inga nickte. „Verstehe ich vollkommen.“

Eine kleine Pause entstand. Alle widmeten sich ihrem Essen. Hanna betrachtete mit mütterlichem Stolz ihren Sohn. Trotz seiner vierzig Jahre wirkte er recht jugendlich mit seinem Dreitagebart und seinen vollen dunklen Haaren, womit er einen attraktiven Gegensatz zu der zarten Blondheit seiner Frau bildete. Im Moment sah er ein wenig gestresst aus, fand Hanna.

Sie wandte sich ihm zu. „Was gibt es Neues bei dir, Thomas? Hast du nicht einen spannenden Kriminalfall, bei dem ich dir zur Hand gehen kann?“, fragte sie schmunzelnd, wohl wissend, dass sie ihn damit provozierte.

„Um Gottes willen, Mama, bloß nicht!“ Er hob abwehrend die Hände. Er schüttelte den Kopf. „Nur langweiligen Kleinkram, ein paar Einbrüche, Diebstähle und sowas. Nichts, was dich interessieren könnte.“

„Schade. Aber du musst zugeben, dass ich dir bei der Sache mit dem französischen Au Pair-Mädchen wirklich geholfen habe, oder etwa nicht?“, konterte Hanna. „Und auch das Rätsel um das Kind, das nicht sprechen wollte, habe ich aufgeklärt. Kannst du nicht leugnen.“

Ihr Sohn tupfte sich mit der Serviette den Mund ab und stand auf. „Stimmt, muss ich zugeben. Aber du weißt, ich kann es nicht ausstehen, wenn du dich in meine Kriminalfälle einmischst. Wir haben es mit Verbrechern zu tun, und das ist manchmal richtig gefährlich. Das hast du ja selbst erfahren, weißt du noch?“

„Schon gut, mein Junge“, gab Hanna klein bei. „Du hast ja Recht.“

Die Mahlzeit war beendet und die Zwillinge verschwanden johlend in ihrem Zimmer, um zu spielen. Hanna stand auf und half Inga beim Aufräumen der Küche. Aufmerksam musterte sie ihre hübsche Schwiegertochter, die mit müden Bewegungen das Geschirr abräumte. Aus dem blonden Haar, das Inga wie auch die strahlend blauen Augen ihren Kindern vererbt hatte, hatten sich ein paar Strähnen aus der Spange, die es aus der glatten Stirn hielt, gelöst. Inga sah erschöpft aus. „Lass‘ nur, Inga, ich mache den Rest“, sagte Hanna und schob ihre Schwiegertochter ins Wohnzimmer, wo Thomas es sich schon auf dem Sofa gemütlich gemacht hatte. Später, wenn die Kinder schliefen, würde sie sich mit einem Glas Wein zu den beiden gesellen.

3

Am Fähranleger in Harlesiel wimmelte es von Menschen. Das ungewöhnlich warme Frühlingswetter lockte die Ausflügler ins Freie und ans Meer, sodass der Zug, der bis zum Anleger fuhr, aus allen Nähten platzte. Auch die Wartehalle, wo Liliane sich ihre Fahrkarte gekauft hatte, war gefüllt mit Urlaubern. Da sie eine Weile warten musste, bis die Fähre abfuhr, kaufte sie sich einen Kaffee. Vorsichtig balancierte sie den Pappbecher mit dem duftenden Getränk ins Freie, um die Sonne zu genießen. Geduldig reihte sie sich in die Schlange ein, die sich an dem Anleger gebildet hatte. Ihren Koffer schubste sie vor sich her, ihre große Tasche hatte sie geschultert. Sie wandte ihr Gesicht der Sonne zu und genoss die Wärme auf ihrer Haut. Sie schloss die Augen, lauschte dem Kreischen der Möwen und meinte, die salzige Seeluft schmecken zu können. Die Luft roch nach Meer und Fisch und Liliane fing an, sich zu entspannen. In kleinen Schlucken trank sie den heißen Kaffee.

Sie zuckte heftig zusammen, als das Handy in ihrer Jackentasche klingelte. Hektisch versuchte sie, mit der linken Hand an das Telefon heranzukommen, während sie mit der Rechten den Becher mit dem Kaffee festhielt.

„Hallo?“

„Hi, Mama!“, hörte sie Niklas‘ Stimme. „Nur eine kurze Frage: Ich möchte meine T-Shirts waschen. Welches Programm muss ich dafür nehmen?“

„Also wirklich, das ist doch nicht so schwierig. Du musst das Feinwaschmittel einfüllen, die Temperatur auf 30° einstellen und den ON-Knopf drücken. Alles klar?“

„Das Feinwaschmittel ist das, was neben der Waschmaschine steht, oder? Und kann ich die weißen zusammen mit den bunten Shirts waschen?“

Liliane stieß einen tiefen Seufzer aus und verdrehte die Augen. Die Frau, die neben ihr in der Schlange stand, warf ihr einen verständnisvollen Blick zu.

„Natürlich nicht. Nur die bunten zusammen waschen, die weißen extra. Nun denk doch selbst mal nach, Niklas. Sonst frag‘ Svenja oder Tante Hanna, wenn sie morgen kommt. Also: Kommst du klar?“

„Alles klar, Mama, nur keine Aufregung. Erhol‘ dich gut. Tschüss.“ Schon hatte er aufgelegt.

Die Schlange rückte vor, weil die Fähre inzwischen angelegt hatte, und Liliane steckte ihr Handy wieder in die Tasche. Als sie ihren Koffer weiterrollen wollte, rutschte ihr der Träger ihrer Handtasche von der Schulter und sie verschüttete den heißen Kaffee auf den Jackenärmel ihres Vordermannes.

„Oh Gott, entschuldigen Sie! Das war keine Absicht.“ Der Tourist drehte sich um und versuchte, die heiße Flüssigkeit von seinem Ärmel abzuschütteln.

„Hoffentlich habe ich Sie nicht verbrannt? Oh mein Gott! Es tut mir so leid!“ Hektisch versuchte Liliane, mit einem Papiertaschentuch den Fleck abzutupfen.

„Aber das ist doch halb so schlimm. Nur keine Aufregung“, sagte der Geschädigte. Seine Stimme klang überraschend gelassen, sogar ein wenig amüsiert. Liliane hob den Blick und begegnete einem Paar ruhiger graublauer Augen, die sie freundlich ansahen. Der Mann, dem diese Augen gehörten, war groß und schlank, etwa fünfzig, hatte ein angenehmes, gutgeschnittenes Gesicht und strahlte eine wohlwollende Geduld aus.

„Doch, doch, es war meine Schuld“, beteuerte Liliane. „Ich bezahle natürlich die Reinigung. Sie wollen auch nach Wangerooge? Dort können wir die Jacke reinigen lassen. Oder bleiben Sie nur für einen Tag? Dann müssen Sie mir die Rechnung schicken, ich schreibe Ihnen die Adresse auf ...“ Hektisch fing Liliane an, in ihrer Handtasche nach einem Stift und Papier zu suchen.

„Das ist nicht nötig. Mein Sohn und ich bleiben ein paar Tage auf Wangerooge. Wie wollen die gute Seeluft genießen.“

Er hatte Liliane den inzwischen leeren Kaffeebecher abgenommen, nahm ihren Ellenbogen und zog sie mit sich, da die Reisenden auf die Fähre gingen. Ein extrem schlanker junger Mann gesellte sich zu ihnen. „Das ist mein Sohn Tim. Übrigens, mein Name ist Eric Wilkens. Wir kommen aus Hamburg.“

Liliane nahm die Hand, die Wilkens ihr reichte und nickte Tim zu. „Ich heiße Liliane“, sagte sie, „Liliane Thedieck. Ich komme aus Cloppenburg. Danke, dass Sie so nachsichtig sind mit meiner Ungeschicklichkeit.“

Sie versuchte ein Lächeln und als Eric Wilkens es erwiderte, wurde sie sich plötzlich ihres Aussehens bewusst. Verdammt, warum hatte sie nicht besser darauf geachtet, was sie anzog, fuhr es ihr durch den Kopf. Die Jeans, die sie trug, waren alt, das hellblaue T-Shirt labbrig und die Windjacke eher zweckmäßig als modisch. Wenigstens die Haare hätte sie sich etwas zurechtmachen können, anstatt sie mit einem simplen Gummiband zu einem Pferdeschwanz zusammenzubinden. Auf Make-up hatte sie ganz verzichtet in der Annahme, dass das Aussehen keine Rolle spielte, wenn man nur frische Meeresluft tanken wollte. Verlegen zupfte sie an ihrer Jacke herum, hängte ihre Tasche von einer Schulter auf die andere und rollte ihren Koffer nervös vor und zurück.

Zusammen mit den Wilkens betrat sie die Fähre und ergatterte einen Platz am Fenster. Der auffallend blasse Junge, der aussah wie das jugendliche Abbild seines Vaters, setzte sich ihnen gegenüber und blickte still und in sich gekehrt auf das graue Nordseewasser hinaus. Langsam entspannte Liliane sich und sie fing an, die Fahrt zu genießen.

Die Überfahrt zur Insel gestaltete sich für Lilianes Empfinden ausgesprochen kurzweilig. Man tauschte sich aus über Herkunft und Beruf, Familie und Hobbys, und als Liliane zusammen mit den Wilkens die Fähre verließ, hatte sie das Gefühl, Vater und Sohn schon recht gut zu kennen. Auf der Insel schaute sie sich vergeblich nach einem Taxi um, das sie zu ihrer Pension bringen sollte. Wilkens lächelte. Offensichtlich kannte er sich aus. „Da werden Sie kein Glück haben“, erklärte er. „Auf Wangerooge gibt es keine Autos.“

Konsterniert setzte Liliane ihren Koffer ab. „Und wie komme ich jetzt zu meiner Pension?“, fragte sie mehr sich selbst als ihren Mitreisenden.

„Wir nehmen die Inselbahn“, antwortete Wilkens. „Sehen Sie, dort kommt sie schon. Wohin müssen Sie denn?“

„Ich wohne in der Pension ‚Haus Strandburg‘ in der Friedrich-August-Straße“, antwortete Liliane, nachdem sie ihre Hotelbestätigung aus ihrer Tasche hervorgekramt hatte. Wilkens lachte laut auf.

„Wenn das kein Zufall ist! Da wohnen wir auch, Tim und ich. Wie schön!“ Er half ihr, den Koffer in die kleine Bahn zu hieven und zusammen fuhren sie im Schneckentempo über die Insel zu dem gemütlichen Gästehaus, das für die nächsten Tage ihr gemeinsames Zuhause sein sollte.

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