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Hanna Morgenroth, pensionierte Lehrerin und leidenschaftliche Hobbydetektivin, erlebt auf der Beerdigung ihrer alten Nachbarin eine Sensation: auf dem Boden des ausgehobenen Grabes wird eine Leiche entdeckt. Die Polizei unter Leitung von Kriminalhauptkommissar Thomas Morgenroth ermittelt. Der Tote ist Ole Jansen, ein 21-jähriger Student aus Münster, der bei seiner Familie in Cloppenburg zu Besuch war. Schnell stellt sich heraus, dass Ole, der durch eine gezielte Stichverletzung starb, Rückstände verschiedener Medikamente im Blut hatte. War er verantwortlich für die Apothekeneinbrüche der letzten Wochen? Wurde Ole das Opfer von Drogendealern? Hanna, die den Toten als Schüler gekannt hat, stellt ihre eigenen Recherchen an. Als ein zweiter Mord geschieht, entdeckt sie überraschende Zusammenhänge ...
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Seitenzahl: 348
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Die Personen und die Handlung dieses Kriminalromans sind frei erfunden. Namensgleichheiten oder Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und sind nicht beabsichtigt.
Manche der genannten Orte, Straßen oder Plätze sind authentisch, andere jedoch nicht. Eine Zuordnung der Schauplätze zu tatsächlichen Örtlichkeiten ist daher nicht immer möglich.
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
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26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
41. Kapitel
42. Kapitel
43. Kapitel
44. Kapitel
45. Kapitel
46. Kapitel
47. Kapitel
48. Kapitel
49. Kapitel
50. Kapitel
51. Kapitel
52. Kapitel
53. Kapitel
Den ganzen Vormittag hatte es geregnet. Der Asphalt der Straße glänzte nass und überall standen große Pfützen. Jetzt war der Himmel grau und wolkenverhangen, die Luft war kalt, ein leichter Nordwestwind fuhr durch die Zweige der noch kahlen Akazien am Straßenrand. Von Frühling war an diesem Märztag wenig zu spüren, trotz der Narzissen, die ihre gelben Blütenköpfe schon mutig dem Himmel entgegenstreckten.
Hanna Morgenroth schlug den Kragen ihres schwarzen Mantels hoch, als sie aus dem Haus trat. Sie vergewisserte sich, dass sie ihren zusammenklappbaren Regenschirm in ihre Handtasche gesteckt hatte, verschloss die Haustür und ging auf ihren Kleinwagen zu, der in der Auffahrt stand. Sie liebte ihr kleines Auto und konnte sich nicht entschließen, es gegen ein modernes E-Auto einzutauschen, auch wenn der Toyota Aygo schon 14 Jahre alt und an manchen Stellen arg verrostet war. Dieses Jahr allerdings war wieder eine TÜV-Prüfung fällig, und es war durchaus fraglich, ob der Wagen sie noch einmal bestehen würde. Sie schloss den Aygo auf, setzte sich hinter das Steuer und ließ den Motor an.
Beim Losfahren warf Hanna einen langen Blick auf das Nachbarhaus, in dem die alte Frau Maschewski gewohnt hatte, zu deren Beerdigung sie unterwegs war. Wie oft hatte sie ein Schwätzchen mit der alten Frau gehalten, die jedes Mal in ihrer Gartenarbeit innehielt und an den Gartenzaun kam, wenn Hanna beim Walken bei ihr vorbeiging. Bis zuletzt war sie rüstig und fit gewesen, auch geistig, und Hanna hatte sich oft gewundert, wie gut sie Bescheid wusste über alles, was in der Stadt passierte. Aber dann hatte sie einen Schlaganfall erlitten, von dem sie sich nicht mehr erholte, und war kurze Zeit später im Krankenhaus gestorben. Nun ja, dachte Hanna, mit fast neunzig Jahren ist der Tod keine Überraschung mehr. Sie seufzte. Die Zeit schien immer schneller zu vergehen, je älter man wurde. Sie selbst ging ja auch schon strikt auf die Siebzig zu.
Nach kurzer Fahrt durch die um diese Zeit wenig befahrenen Straßen Cloppenburgs stellte Hanna ihr Auto auf dem kleinen Parkplatz am Seiteneingang des alten St. Andreas-Friedhofs in der Prozessionsstraße ab. Das gusseiserne, kunstvoll verzierte Tor zum Friedhof war geöffnet. Um zur Friedhofskapelle zu gelangen, musste Hanna durch etliche Reihen der Gräber gehen, die jetzt im Frühjahr noch winterlich kahl aussahen, wozu das nasskalte und teils frostige Wetter der letzten Tage beigetragen hatte. Nur gestern war es recht schön gewesen. Trotz der insgesamt unfreundlichen Witterung hatten einige der Angehörigen die wenigen Sonnenstunden genutzt, um das Grab ihrer Liebsten mit frischen Tulpen und Hornveilchen zu schmücken, deren bunte Blütenköpfe der Nässe trotzten. Nachdenklich schritt Hanna durch die Reihen und bewunderte die teilweise pompösen, teuren und aufwendigen Grabmäler.
„Hallo Hanna“, rief in diesem Moment eine lebhafte Stimme. Liesbeth Nording, Hannas Freundin und treues Mitglied ihres Kaffeekränzchen-Clubs, stand in einiger Entfernung und winkte ihr zu. „Ich komme“, antwortete Hanna und beschleunigte ihre Schritte. „Moin Lizzy“, begrüßte sie ihre Freundin, als sie bei ihr angekommen war. „Wie geht’s dir?“
Liesbeth hatte ihre üppige Figur in eine wadenlange wattierte schwarze Steppjacke gezwängt, die sie noch molliger erscheinen ließ, als sie ohnehin schon war. Ihre runden Wangen waren vom Wind gerötet, die weißen Löckchen wirkten zerzaust. Das nasskalte Wetter und eine Beerdigung, das war nichts für Liesbeth Nording, die leuchtende bunte Farben und feine Pastelltöne liebte, mit vielen Mustern und Verzierungen, und die Wärme des Sommers. Schlichtes Schwarz wirkte an ihr wie eine Verkleidung und man merkte ihr an, dass sie sich darin nicht wohlfühlte.
Arm in Arm gingen die beiden Freundinnen über die befestigten Wege Richtung Kapelle. Immer mehr Menschen, schwarz gekleidet und mit fröstelnd hochgezogenen Schultern, fanden sich am Eingang der Friedhofskapelle ein, man begrüßte sich und unterhielt sich im gedämpften Ton, wie es sich gehörte bei dem traurigen Anlass. Es war eine ansehnliche Anzahl von Trauernden, die der verstorbenen Frau Maschewski die letzte Ehre erwies. Die geräumige Friedhofskapelle mit den bunt verglasten Fenstern war gut gefüllt; die alte Frau hatte eine große Familie gehabt: zwei Söhne und eine Tochter, alle verheiratet und mit jeweils mehreren Kindern gesegnet, die ihrerseits schon Nachwuchs hatten. Dazu kamen viele Freunde und Bekannte aus der Nachbarschaft und der Stadt.
Die Prozession, die sich im Anschluss an die Trauerfeier auf dem Weg zum Grab hinter dem Sarg herbewegte, bildete eine lange Schlange. Hanna und ihre Freundin reihten sich ein und folgten dem Pfarrer, der die Prozession, flankiert von zwei jugendlichen Messdienern, anführte. Schließlich bei der vorgesehenen Ruhestätte angelangt, versammelten sich die Trauernden auf den Wegen um das offene Grab herum. Die Sarg-träger hoben den mit üppigem Blumenschmuck versehenen Sarg vorsichtig von dem Rollwagen, stellten ihn neben dem Grab ab und machten sich bereit, ihn mittels zweier Seile in die tiefe Grube hinabzulassen.
Plötzlich zerriss ein schriller Schrei die fromme Stille, mit der die Trauergemeinde den Gebetsformeln des Pfarrers gelauscht hatte. Die Messdienerin, ein junges Mädchen von vielleicht vierzehn oder fünfzehn Jahren, starrte entsetzt in die Graböffnung und hielt sich die Hand vor den Mund, als wollte sie den Schrei, den sie ausgestoßen hatte, zurückhalten.
Die Trauernden sahen sich erschrocken an. Man zuckte ratlos die Schultern und fing an, flüsternde Mutmaßungen darüber anzustellen, was diesen Schrei verursacht haben könnte. Der Pfarrer beugte sich zu der Messdienerin hinab und flüsterte ihr etwas zu. Sie wies mit weit aufgerissenen Augen in das offene Grab. Die Sargträger und der Pfarrer traten näher an die Kante der Bodenöffnung heran und wichen entsetzt zurück. Die Unruhe unter den Umstehenden nahm zu. Jeder fragte sich, was passiert war. Hanna drängte sich nach vorne, konnte aber nichts sehen, weil die anderen es genauso machten wie sie und ihr den Weg und die Sicht versperrten. Schließlich sagte der Pfarrer mit seiner gewöhnlichen Alltags-stimme, nicht mit seiner Pastorenstimme, die er nur zum Vor-beten einsetzte. „Liebe Trauergemeinde. Ich muss die Beerdigung verschieben. In dem Grab liegt eine…“ Er machte eine dramatische Pause, wohl nicht, um die Spannung zu erhöhen, die war ohnehin kaum noch zu steigern, sondern weil er selbst um Fassung ringen musste. „ … eine Leiche“, vollendete er seinen Satz.
Aufgeregtes Getuschel folgte seinen Worten und heftiges Gedränge zum Grab hin entstand. Hanna gelang es nach einer Weile, sich durch die Menschentraube hindurchzuschlängeln, sodass sie an den Rand der Öffnung gelangte. Das Grab war tief ausgehoben. An den Rändern hatte man grüne Matten befestigt, die an den Seiten der Grube herunterhingen. Am Boden der Grube hatte der Dauerregen das Erdreich aufgeweicht und das Wasser hatte an manchen Stellen Pfützen gebildet. Aus einer dieser Pfützen, Hanna konnte es ganz deutlich sehen, ragte eine Hand hervor. Schmutzig und nass, aber man konnte jeden Finger erkennen: eine menschliche Hand! Kein Wunder, dass die junge Messdienerin zu Tode erschrocken war. Hanna lief es bei dem Anblick kalt den Rücken herunter. Dagegen war der schlimmste Thriller ein Kindermärchen, denn dies hier war Realität. Hanna wich betroffen von der Grube zurück und gesellte sich zu Liesbeth, die sich nicht traute, einen Blick in das Grab zu werfen.
„Liegt tatsächlich eine Leiche da unten, Hanna?“, fragte sie ihre Freundin mit zitternder Stimme. Hanna legte ihr beruhigend die Hand auf den Arm.
„Ja. Man kann allerdings nur eine Hand sehen.“
„Oh Gott, Hanna! Das ist ja gruselig!“
Der Pfarrer hatte sich inzwischen gefasst. „Bitte, gehen Sie nach Hause, meine Herrschaften!“, sagte er mit erhobener Stimme. „Die Beerdigung von Frau Maschewski muss zu einem anderen Zeitpunkt stattfinden, Sie sehen ja … Ich werde jetzt die Polizei verständigen. Bitte gehen Sie jetzt. Hier gibt es nichts weiter zu sehen.“
Er wies die Sargträger an, den Sarg wieder zurückzubringen in den Kühlraum und schob die beiden Messdiener vor sich her in Richtung Kapelle. Die Beerdigungsgäste, weit entfernt davon, der Anweisung des Pfarrers zu folgen, standen unschlüssig herum, nachdem alle einen ausgiebigen Blick in das Grab geworfen hatten, und stellten Mutmaßungen darüber an, was jetzt passieren würde. Viele hatten ihr Handy gezückt und telefonierten aufgeregt. Hanna war sicher, die Neuigkeit von der Leiche im Grab würde sich wie ein Lauffeuer in der Stadt verbreiten.
„Komm, lass uns gehen, Lizzy. Hier wird es gleich von Polizisten und Reportern wimmeln. Morgen können wir alles Wichtige in der Zeitung lesen.“
Trotz ihrer nicht unerheblichen Neugier zu erfahren, was es mit dem Leichenfund auf sich hatte, wollte Hanna nicht abwarten, bis die Polizei eintraf. Sie wusste, wie störend die Zuschauer bei den Ermittlungen an einem Tatort waren.
Hanna nahm Liesbeth am Arm und zog sie mit sich. Bereitwillig ging ihre Freundin mit ihr. Beim Eingang der Kapelle verabschiedeten sich die Frauen voneinander, nicht ohne sich gegenseitig an das bevorstehende Kaffeekränzchen erinnert zu haben, das diese Woche bei Hanna geplant war.
Auf dem Weg zu ihrem Auto machte Hanna sich Gedanken über den seltsamen Fund. Wer mochte die Leiche sein? Wer hatte sie hierhergebracht und warum? Was steckte dahinter? Müßig, sich darüber Gedanken zu machen, solange man noch nichts über die näheren Umstände wusste, sagte sie sich. Dennoch: Ihr kriminalistischer Spürsinn war geweckt.
Neben ihrem Aygo, den sie auf dem Parkplatz am Prozessionsweg abgestellt hatte, parkte ein hübsches Auto, das Hanna als einen VW ID zu erkennen glaubte. Flüchtig dachte sie daran, dass sie sich wohl auch bald ein solches modernes Elektroauto anschafften musste.
Ein junger Mann kam durch das Friedhofstor, stieg in den VW ein, startete und fuhr los.
Der Mann kam Hanna bekannt vor, aber ihr fiel nicht ein, woher. Sie sah dem Elektroauto hinterher. Hübsch und umweltfreundlich, aber sicher auch teuer, dachte sie seufzend.
Sie stieg in ihren alten Toyota und fuhr los. Bei dem Gedanken daran, was Inga für Augen machen würde, wenn sie ihr die ungeheuerliche Friedhofsneuigkeit erzählte, schmunzelte sie. Ihre Schwiegertochter würde inzwischen vom Kindergarten, in dem sie arbeitete, zurücksein, zusammen mit Nico, Hannas jüngstem Enkel. Der Kleine, der bald seinen zweiten Geburtstag feiern würde, war der erklärte Liebling der gesamten Morgenroth-Familie. Braunäugig und dunkellockig, kam er ganz nach seinem Vater, Thomas Morgenroth, und stellte das genaue Gegenbild zu seinen beiden Geschwistern dar, den bald 10-jährigen Zwillingen Isabell und Jannik, die ihrer blonden und blauäugigen Mutter ähnelten.
Hanna freute sich auf den heutigen Abend zu Hause. Besonders gespannt war sie darauf, was ihr Sohn, der Leiter die Cloppenburger Polizeiinspektion, Kriminalhauptkommissar Thomas Morgenroth, zu berichten haben würde.
Thomas Morgenroth saß in seinem Büro im Polizeigebäude an der Bahnhofsstraße und war mit gerunzelter Stirn damit beschäftigt, zum wiederholten Male die Berichte über eine Einbruchsserie zu studieren, als ihn der Anruf des Leiters der Bereitschaftspolizei erreichte. Polizeiobermeister Holthus informierte ihn über den Leichenfund auf dem St. Andreas-Friedhof. Die Beamten hätten einen männlichen Toten in dem für eine ältere Verstorbene vorbereiteten Grab sichergestellt, berichtete der Polizeiobermeister mit deutlicher Aufregung in der Stimme. Der Tote sei offensichtlich einem Verbrechen zum Opfer gefallen. Man habe seine Leiche während der Beerdigungszeremonie entdeckt. Die Grabstelle sei weiträumig abgesperrt, die Schaulustigen zurückgedrängt und der Fundort gesichert worden. Die Beamten von der örtlichen Kriminaltechnik und der Gerichtsmedizin aus Oldenburg seien informiert worden und bereits vor Ort eingetroffen.
„Wir kommen sofort“, antwortete der Hauptkommissar, sprang auf, ergriff seine Jacke und eilte in das Nachbarbüro, in dem seine Mitarbeiter, Oberkommissar Jan Hendrik Klüver, Kommissarin Susanne Holtmann und Kommissar Jens Hartmann an ihren Schreibtischen saßen und mit Büroarbeiten beschäftigt waren.
„Wir haben einen Toten, Kollegen, kommt!“ Seine drei Mitarbeiter ergriffen eilig ihre Jacken und folgten ihrem Chef, der ihnen unterwegs mit knappen Worten mitteilte, was er von Holthus erfahren hatte.
Keine zehn Minuten später trafen die Kriminalbeamten am Haupteingang des Friedhofs ein. Mehrere silber-blaue Polizeiautos standen auf der Straße vor dem Kapelleneingang. Der Erkennungsdienst hatten das Haupttor zum Friedhofsgelände mit einem weiß-roten Plastikband abgesperrt; davor hatte sich eine ansehnliche Zahl von Schaulustigen angesammelt. Thomas gewahrte darunter etliche Menschen in schwarzer Kleidung: die Teilnehmer an der geplanten Beerdigung, nahm er an. Die arme Frau Maschewski, dachte er, nun musste seine alte Nachbarin noch eine Weile auf ihre letzte Ruhe warten. Ein Mitglied des Erkennungsdienstes drückte jedem der Ankömmlinge einen weißen Kunststoffanzug sowie Schonbezüge für ihre Schuhe in die Hand und die Kommissare verwandelten sich in kürzester Zeit in Einheitswesen von der Art, wie schon etliche auf dem Gelände herumliefen.
Als die Kriminalbeamten sich der Grabstelle näherten, über die inzwischen gegen etwaig einsetzenden Regen ein weißes
Zelt errichtet worden war, gesellte sich Polizeiobermeister Richard Holthus zu ihnen. Holthus war ebenfalls in einen Schutzanzug gehüllt, der ihn aussehen ließ wie ein überdimensionales weißes Tele-Tabbi. Schnaufend versuchte der dicke Polizist mit den Kommissaren Schritt zu halten, während er einen Überblick über die Lage gab.
„Die Leute von der Kriminaltechnik sind dabei, den Friedhof und die nähere Umgebung nach möglichen Hinweisen abzusuchen“, erklärte er. „Irgendwie muss der Tote ja hierhergelangt sein und dabei hat der Mörder vielleicht Spuren hinterlassen.“
„Gut“, sagte Thomas. „Wer hat die Leiche denn entdeckt?“, fragte er.
„Kann ich nicht genau sagen. Am besten fragt ihr den Pfarrer. Es soll ja mitten in der Zeremonie gewesen sein. Meine Leute haben die Leiche nicht bewegt, nur die Erde, unter der sie lag, so gut es ging, entfernt. Dr. Kretschmer ist gerade dabei, sie zu untersuchen.“
„Weiß man, wer der Tote ist?“, fragte Jan Hendrik Klüver. „Hatte er Papiere bei sich?“
Richard Holthus schüttelte bedauernd den großen Kopf mit der Glatze und dem buschigen grauen Haarkranz, den die Kapuze des Schutzanzuges nur halb bedeckte. „Leider nicht“, antwortete er. „Seine Taschen waren leer. Kein Ausweis, kein Handy, keine Brieftasche.“
Inzwischen war die kleine Gruppe bei der Grabstelle angekommen. Dr. Helmut Kretschmer, der weißhaarige Gerichtsmediziner, stand in der Grube und untersuchte die Leiche. Nur sein Kopf ragte aus dem offenen Grab heraus, was gespenstisch aussah, wie Thomas fand. Erst als die Kriminalbeamten an den Rand der Graböffnung herantraten, konnten sie den Toten sehen. Der notdürftig von der nassen Erde befreite Körper war bekleidet mit einer Jacke, einer schwarzen Jeans und Sneakers, soviel konnten sie erkennen.
„Moin, Dr. Kretschmer“, begrüßte Thomas den Gerichtsmediziner. „Das ist ja eine schöne Bescherung hier.“
Der alte Kriminologe – Dr. Kretschmer stand kurz vor der Pensionierung – hob den Kopf, richtete sich auf und stemmte die Hände in die Hüften.
„Ja, das kann man wohl sagen, Herr Morgenroth. Der arme Junge hier ist erstochen worden.“ Er öffnete die verschmutzte Jacke des Toten, zog den blutdurchtränkten Pullover und das darunter liegende T-Shirt hoch und zeigte auf die Wunde. „Hier, mitten ins Herz. Deshalb ist auch nur relativ wenig Blut in der Kleidung zu sehen. Das Herz hat sofort aufgehört zu pumpen.“
Die Beamten traten so nah wie möglich an die Grube heran, um das Gesicht des Toten betrachten zu können. Es war ein junges Gesicht, stellte Thomas fest. Er schätzte den Mann auf höchstens 20 oder 21 Jahre. Lange, verschmutzte nasse Haare, ein dürftiger zotteliger blonder Bart, ein schlanke Gestalt.
„Oh mein Gott“, rief plötzlich Jens Hartmann. „Das ist Ole! Ole Jansen!“
Der junge Kriminalbeamte stand fassungslos da, die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, und starrte auf den Toten.
„Was, du kennst den Toten?“, fragte Susanne Holtmann. „Das darf doch nicht wahr sein!“
„Bist du sicher, Jens? Man kann das Gesicht ja gar nicht richtig erkennen“, wandte Thomas ein.
„Natürlich bin ich sicher. Oles Eltern wohnen gar nicht weit entfernt von meinen Eltern, hier in der Nähe, in der Blumenstraße. Ich werde doch wohl unseren Nachbarsjungen erkennen. Meine Schwester hat ihm damals Nachhilfeunterricht gegeben.“
„Gut, damit hätten wir seine Identität schon einmal geklärt“, resümierte Thomas in seiner pragmatischen Art. „Jens, du und ich, wir werden dann wohl die Eltern verständigen müssen.“
„Was? Warum denn ich?“, wehrte der junge Kriminalbeamte erschrocken ab. „Ich kann das nicht.“
„Irgendwann ist es immer das erste Mal, Jens. Es gehört nun einmal zu unserem Job, Todesnachrichten zu überbringen, auch wenn es Gott sei Dank nur selten vorkommt.“
Kommissarin Susanne Holtmann, blond, schlank und sportlich, ging in die Hocke und betrachtete das Gesicht des Toten näher. Mein Gott, der arme Kerl, dachte sie mitleidig. „Wie lange liegt er schon hier in der Grube, Herr Doktor?“, fragte sie. „Können Sie das vielleicht schon sagen?“
„Es muss in der letzten Nacht geschehen sein. Er ist erstochen und dann hierher transportiert worden. Es war um die Null Grad in der Nacht und es hat gegen Morgen angefangen zu regnen, deshalb kann ich vorläufig den Todeszeitpunkt nur ungefähr eingrenzen. Also etwa zwischen 22:00 Uhr und 02:00 Uhr heute Nacht, denke ich. Alles Nähere später, nach der Obduktion.“ Er streckte Thomas die Hand entgegen. „Jetzt werde ich erst einmal dieses Grube verlassen. Helfen Sie mir bitte?“ Thomas ergriff seine Hand und zog ihn nach oben, während der Mediziner mühsam an dem Rand des Grabes hochkletterte. Stöhnend oben angekommen, winkte er Holthus zu sich heran, der die ganze Zeit abwartend dagestanden hatte. „Ihre Leute können den Leichnam nun heraufholen und hier auf eine Decke legen, damit ich den Körper entkleiden und näher begutachten kann.“ Der Polizeimeister nickte und winkte zwei Leute vom Erkennungsdienst heran.
„Danke, Doktor!“, sagte Thomas abschließend. Wann können wir denn mit Ihrem Bericht rechnen?“
„Nur nicht drängeln. Das braucht seine Zeit, wie Sie wissen“, erklärte Kretschmer unwillig.
Die Leiche würde nach dieser ersten Untersuchung am Fundort in das Institut für Rechtsmedizin nach Oldenburg gebracht werden, wie Thomas wusste. Dort würde Dr. Kretschmer zusammen mit einem Kollegen die Obduktion vornehmen, wie es Vorschrift war bei einem offensichtlichen Kriminalfall wie diesem.
„Gut“, sagte er, „einstweilen vielen Dank, Doktor Kretschmer.“
Er wandte sich seinen Kollegen zu. „Also: Jan Hendrik, du und Susanne, ihr befragt den Pfarrer und die Friedhofsbediensteten nach dem genauen Hergang des Geschehens bei der Beerdigung. Jens und ich benachrichtigen die Angehörigen. Die Eltern müssen ihren Sohn identifizieren, damit Jens‘ Aussage bestätigt wird.“
Zu Richard Holthus, der inzwischen die Bergung der Leiche beaufsichtigte, sagte er: „Würdest du bitte mit deinen Leuten die Anlieger des Friedhofs befragen, ob jemand etwas Ungewöhnliches in der vergangenen Nacht bemerkt hat, in der Zeit um Mitternacht herum. Irgendwie muss der Mörder die Leiche hierhertransportiert haben, wahrscheinlich mit einem Auto. Vielleicht hat jemand etwas beobachtet.“
„Alles klar, Chef!“, sagte Holthus. „Der Bericht kommt so schnell wie möglich.“ Er machte sich auf den Weg.
„Muss ich wirklich mit, Chef?“, fragte Jens Hartmann, während er neben Thomas Morgenroth zum Auto zurückging. „Ich kenne die Leute doch. Die werden bestimmt zusammenbrechen, wenn sie erfahren, dass Ole tot ist. Was soll ich dann machen?“
„Gerade dass sie dich kennen, kann unter Umständen hilfreich sein. Man weiß allerdings nie, wie jemand auf eine solche Nachricht reagiert. Wichtig ist, ruhig und sachlich zu bleiben und Haltung zu bewahren. Du wirst es schon schaffen, Jens. Ich werde das Reden übernehmen, du brauchst nur dabei zu sein.“
Jan Hendrik Klüver und Susanne Holtmann waren seit fast zwei Jahren miteinander verheiratet und immer noch verliebt ineinander, was sie allerdings während ihrer gemeinsamen Arbeit gut zu verbergen wussten, denn ihr Chef sah es nicht gerne, wenn sie während der Dienstzeit „herumturtelten“, wie er es nannte. Sie machten sich auf dem Weg zur Kapelle, wo auf Anweisung von Polizeiobermeister Holthus der Pfarrer und die übrigen Beteiligten auf sie warteten.
Der Pfarrer, ein hochgewachsener, schlanker Mann mit einem hageren Gesicht, das von einer dunkel gefassten Brille mit starken Gläsern dominiert wurde, hatte sein Priestergewand abgelegt und durch einen schwarzen Pullover und einen schmalen weißen runden Kragen ersetzt. Die beiden Jugendlichen sahen ohne ihr Messdienergewand erstaunlich normal aus. Beide schauten den Kriminalbeamten gespannt entgegen, auch die sechs Sargträger standen erwartungsvoll von den Stühlen auf.
„Guten Tag“, grüßte Susanne höflich. „Danke, dass Sie gewartet haben.“ Sie zückte ihren Ausweis und zeigte ihn vor. „Mein Name ist Susanne Holtmann. Ich bin von der Cloppenburger Kriminalpolizei.“ Sie wies auf Jan Hendrik, der ebenfalls seinen Ausweis vorwies. „Das ist mein Kollege, Kommissar Klüver. Wir haben nur ein paar Fragen an Sie.“
„Guten Tag“, beantwortete der Geistliche ihren Gruß. „Es ist ja wirklich ein außergewöhnlicher Anlass, weswegen wir hier warten sollten. Selbstverständlich stehen wir Ihnen zur Verfügung.“
„Wie sind Ihre Namen, bitte“, fragte Susanne.
„Mein Name ist Niemann, ich bin der Pfarrer der katholischen St. Andreas-Kirchengemeinde. Das hier sind meine Messdiener, Janina Altmeyer und Piet Westlage, die mir heute bei der Trauerfeier assistiert haben. Und das sind die Nachbarn und Freunde der Verstorbenen, die als Sargträger fungierten.“ Bei den letzten Worten wies er auf die Männer, die in ihren schwarzen Anzügen, den weißen Hemden mit den schwarzen Krawatten unschwer als Beerdigungshelfer zu erkennen waren. „Ihre Namen werden Sie Ihnen wohl selbst sagen.“ Die Männer stellten sich der Reihe nach vor und Jan Hendrik notierte sich ihre Namen in seinem Notebook.
„Ist einem von Ihnen heute etwas Außergewöhnliches aufgefallen, ich meine natürlich außer der Entdeckung des Toten? Vielleicht während der Trauerfeier? Hat sich jemand merkwürdig benommen? Oder war jemand da, der irgendwie sonst auffiel?“
Alle schüttelten den Kopf. „Alles war ganz normal, der übliche Ablauf einer Bestattung“, sagte Niemann.
„Bitte schildern Sie uns genau, was nach der Feier auf dem Friedhof passierte.“ Sie richtete ihre Frage an alle Anwesenden. Der Pfarrer vergewisserte sich mit einem Blick in die Gesichter der Männer, dass keiner etwas sagen wollte, also ergriff er wieder das Wort.
„Also, es war alles ganz normal, wie bei jeder anderen Beerdigung. Nach der Trauerfeier hier in der Kapelle wurde der Sarg auf den Rollwagen gestellt und von den Sargbegleitern zum Grab geschoben. Die Trauergemeinde folgte ihm, die Messdiener und ich gingen voran. Als ich am Grab die Gebete sprach, schrie Janina plötzlich laut auf und zeigte in die Graböffnung, wo eine menschliche Hand aus dem Erdreich herausragte. Wirklich ein furchtbarer Anblick, das können Sie mir glauben.“
Er nahm die Brille ab und fing an, sie mit einem Taschentuch zu putzen. Seine Augen blinzelten kurzsichtig.
„War es so?“, fragte Susanne das Mädchen.
Janina nickte. „Ich habe mich furchtbar erschrocken.“
„Das verstehe ich vollkommen, Janina. Ich hätte wahrscheinlich auch geschrien.“ Die Kommissarin tätschelte mitfühlend den Arm des Mädchens.
„Ich habe die Leute darüber informiert, dass in der Grube eine Leiche liege und dass deshalb die Bestattung von Frau Maschewski verschoben werden müsse. Dann habe ich die Polizei verständigt“, fuhr der Geistliche fort. „Der Sarg mit der Verstorbenen ist in den Kühlraum zurückgebracht worden.“
„Ist Ihnen im Verhalten der Leute irgendetwas aufgefallen? Hat sich jemand auffällig benommen, nachdem die Leiche entdeckt worden war?“, fragte Susanne.
Niemann blickte die Anwesenden fragend an. Alle schüttelten den Kopf. „Nun ja“, sagte er, als niemand sonst antwortete, „die Leute drängten sich nach vorne, weil alle einen Blick in die Graböffnung werfen wollten. Ich habe sie mehrmals aufgefordert, nach Hause zu gehen. Aber die meisten sind wohl geblieben, um zu sehen, was weiter geschehen würde. Die Polizisten, die dann kamen, haben sie hinter die Absperrung zurückgedrängt, was wohl nicht ganz einfach gewesen ist.“
Die Kommissarin wechselte einen Blick mit ihrem Kollegen. „Das heißt, etwaige Fußspuren von dem Täter können wir vergessen“, sagte sie leise zu ihm.
„Etwas anderes. Ist der Friedhof eigentlich frei zugänglich, auch nachts?“, fragte Jan Hendrik. Er hatte sein Notebook weggesteckt und konzentrierte sich auf die Befragung.
„Ja, das Gelände steht Besuchern jederzeit offen“, antwortete der Pfarrer.
„Wer ist denn für die Vorbereitung der Grabstelle zuständig, wenn eine Bestattung ansteht?“
„Die Friedhofsgärtner. Sie sorgen für das Ausheben der Grube und die Randbefestigung. Die Vorbereitung der Kapelle für die Trauerfeier obliegt dem Küster.“
„Wann ist das Grab ausgehoben worden?“
„Ich nehme an, gestern Nachmittag. Oder gegen Abend.“
„Die Beerdigung war um 14:00 Uhr angesetzt. Ist es üblich, dass das Grab so lange vorher ausgehoben wird?“
„Das ist abhängig von der Witterung. Wenn der Boden gefroren ist, dauert es länger und man braucht einen kleinen Bagger. Dazu wäre heute Vormittag wahrscheinlich die Zeit zu knapp gewesen. Aber Genaueres dazu können Ihnen die Gärtner sagen. Am besten, Sie fragen bei der zentralen Friedhofsverwaltung nach. Sie hat ihr Büro nicht weit von hier in der Sevelter Straße.“
„Gut, das werden wir tun. Jedenfalls war das offene Grab in der Nacht jedem zugänglich, ist das richtig?“
„Ja, das ist wohl so“, bestätigte Niemann.
„Gut. Wer hat denn von der anstehenden Beerdigung gewusst?“
„Natürlich jeder, der die Todesanzeige von Frau Maschewski gelesen hat. Also mindestens alle, die heute bei der Beisetzung dabei waren. Das ist aber normal.“
„Und wer kann von der nachts offenen Grube gewusst haben?“
Der Pfarrer zuckte die Schultern und sah fragend die Sarg-träger an, die dem Gespräch wortlos zuhörten, ebenso wie die beiden Jugendlichen. Etwas derart Spannendes haben die beiden wohl noch nie erlebt, dachte Susanne beim Anblick ihrer Gesichter und unterdrückte ein Lächeln.
„Ich denke, jeder, der gestern den Friedhof besucht hat, kann das offene Grab gesehen haben“, mutmaßte der Pfarrer. „Es liegt ja gut sichtbar an einem der Hauptwege. Und gestern war ein schöner sonniger Tag, da waren bestimmt schon viele Angehörige dabei, die ersten Frühlingsarbeiten vorzunehmen.“
„Hm“, machte Susanne. Fragend sah sie Jan Hendrik an. „Ich glaube, das war’s fürs Erste. Oder hast du noch Fragen?“
„Nur eine: Wo finden wir denn Ihre Friedhofsgärtner jetzt?“
Niemann sah auf die Uhr: „Es ist gleich 16:00 Uhr. Normalerweise wären sie jetzt dabei, das Grab zu schließen und die Kränze darauf abzulegen. Am besten wenden Sie sich an die Friedhofsverwaltung, wie gesagt.“
„Die Kommissare wandten sich zum Gehen. „Vielen Dank für Ihre Kooperation“, sagte Susanne.
„Nichts zu danken“, erwiderte der Pfarrer. „Ich hoffe, Sie finden den Mörder bald.“
Beim Hinausgehen nahm Jan Hendrik unauffällig Susannes Hand und drückte sie. „Ich glaube, das hat nicht viel gebracht, oder?“, meinte er. „Die Gärtner werden uns wohl auch nicht viel mehr erzählen können.“
„Mal sehen, was die Kriminaltechnik herausfindest. Und was die Obduktion ergibt. Wir stehen ja erst ganz am Anfang.“ Als sie die Kapelle verließen, sahen sie, wie die uniformierten Polizisten den grauen Kunststoffsarg mit dem Toten in den bereitstehenden Leichenwagen verluden.
Der arme Junge, dachte Susanne. So jung, und schon war sein Leben zu Ende. Sie seufzte tief auf. Dann lächelte sie ihrem Mann zu. „Also auf zur zentralen Friedhofsverwaltung“, sagte sie betont munter. Sie wusste, sie durfte solche Emotionen nicht an sich heranlassen.
Die Blumenstraße zweigte direkt vom Prozessionsweg ab und führte in eine Siedlung, deren Straßennamen allesamt nach Blumen benannt worden waren. Die Cloppenburger kannten diesen Bereich der Stadt als Blumenviertel. Links und rechts der Straße reihten sich Wohngebäude unterschiedlichster Größe, Bauart und Alter ohne erkennbare Ordnung aneinander, oft mit kleinen Vorgärten versehen. Bescheidene Giebelhäuser aus den 50er Jahren standen neben modernen Mehrfamilienbauten und Wohnhäusern im Stil der achtziger Jahre
Schön ist etwas anderes, dachte Thomas Morgenroth, als er mit Jens Hartmann das Polizeiauto durch die ruhige Straße steuerte.
„Hier ist es“, sagte Jens und wies auf ein adrettes Einfamilienhaus mit weiß getünchtem Mauerwerk, grauem Satteldach und einem mit Gardinen verhängten großen Blumenfenster. Ein niedriges Mäuerchen grenzte den ordentlichen und mit großen runden Buchsbaum- und Rhododendronbüschen bepflanzten Vorgarten von der Straße ab. Typisch 60er Jahre, dachte Thomas.
Auf sein Klingeln öffnete ein junges Mädchen mit langen glatten Haaren die Haustür und schaute sie fragend an. Das musste die sechzehnjährige Schwester von Ole Jansen sein, dachte Thomas. Er hatte sich bei Jens Hartmann nach den Familienverhältnissen der Mordopfers erkundigt.
„Hallo Lina“, sagte Jens.
„Hallo Jens“, antwortete das Mädchen erstaunt. „Was machst du denn hier?“ Ihr Blick ging fragend zu Thomas, der abwartend hinter seinen jungen Kollegen getreten war.
„Ich bin dienstlich hier, Lina. Du weißt ja, ich bin bei der Kriminalpolizei. Das hier ist mein Vorgesetzter, Kriminalhauptkommissar Morgenroth. Dürfen wir hereinkommen?“
Lina schaute verwundert von einem zum anderen.
„Ja. Natürlich. Aber meine Eltern sind nicht zu Hause, nur meine Oma.“ Sie trat einen Schritt beiseite, um den Eingang freizugeben.
In diesem Augenblick fuhr eine Frau auf einem Fahrrad in die Auffahrt des Hauses.
„Ah, da kommt meine Mutter“, rief das Mädchen erleichtert. Die Beamten wandten sich der Frau zu, die inzwischen ihr Fahrrad abgestellt hatte. Sie setzte ihren Helm ab, nahm ihre Handtasche vom Gepäckträger und kam auf die Wartenden zu.
„Mama, gut, dass du kommst. Das ist die Polizei“, erklärte das Mädchen ihrer Mutter.
Melanie Jansen war eine kräftig gebaute Frau Ende vierzig mit kurzen braunen Haaren und einer unauffälligen Brille. Sie war Altenpflegerin und arbeitete im Pius-Seniorenheim, wie Thomas von Jens wusste.
Lächelnd reichte die Frau den Besuchern die Hand.
„Jens, nett, dich mal wiederzusehen. Wen hast du denn da mitgebracht? Und sogar ganz offiziell im Polizeiauto?“
„Leider sind wir dienstlich hier, Frau Jansen. Das ist mein Chef, Kommissar Morgenroth.“
Das Lächeln auf dem Gesicht der Frau erlosch. Mit ernstem Gesicht musterte sie den Kriminalbeamten. „Dann ist es wohl besser, wir gehen ins Haus“, sagte sie.
Im Wohnzimmer saß eine alte Frau in einem Sessel vor dem Fernseher, auf dem eine Nachmittagssoap lief. Thomas nahm an, dass es die Großmutter war, die mit der Familie Jansen zusammenlebte. Melanie Jansen ging zu ihr und tippte ihr auf die Schulter.
„Oma, wir haben Besuch. Ich stelle den Fernseher mal kurz aus, in Ordnung?“ Sie nahm die Fernbedienung und betätigte den Aus-Knopf.
„Bitte nehmen Sie Platz“, sagte sie höflich zu den Beamten. In ihrer Stimme war ein leichtes Zittern zu hören. Die Kommissare blieben stehen. Es erschien ihnen unangemessen, sich zu setzen angesichts der Nachricht, die sie zu überbringen hatten.
Der Hauptkommissar fand es an der Zeit, die Gesprächsführung zu übernehmen.
„Frau Jansen, wir haben leider eine schlechte Nachricht für Sie“, sagte er.
Die Frau sah ihn mit wachsender Beunruhigung an. Jens musste schlucken. Thomas räusperte sich kurz.
„Es tut mir leid, Ihnen sagen zu müssen, dass man einen Toten aufgefunden hat, von dem wir annehmen, dass er Ihr Sohn Ole ist, Frau Jansen.“
Mehrere Sekunden lang zeigte keines der drei Familienmitglieder eine Reaktion. Es war, als ob ihre Gehirne sich weigerten, die Botschaft aufzunehmen.
Melanie Jansen schüttelte schließlich energisch den Kopf, während die Großmutter und Lina den Kommissar entsetzt und ungläubig anstarrten. „Was? Das kann nicht sein! Ole ist doch hier, hier im Haus. Er kann es nicht sein!“ Sie sah ihre Tochter an. „Geh und hol Ole, Lina! Er ist doch sicher in seinem Zimmer und hört Musik, wie immer.“
Lina starrte sie nur an und rührte sich nicht.
„Nun geh schon!“, schrie ihre Mutter. Als das Mädchen immer noch nicht reagierte, sprang sie auf, rannte in den Flur und rief: „Ole, komm herunter!“ Keine Antwort. Man hörte, wie sie die Treppe hinaufstürmte und eine Tür aufriss. Kurze Zeit später kam sie zurück. „Er ist nicht da“, sagte sie ungläubig.
Jens ging ihr entgegen. „Frau Jansen, es tut mir so leid, aber ich habe Ole genau erkannt. Er ist der Tote.“
Frau Jansen ergriff den jungen Kommissar bei den Oberarmen, sah ihm in die Augen und schüttelte ihn leicht. „Das kann nicht sein, Jens! Du musst dich geirrt haben. Du hast ihn doch lange nicht gesehen. Er hat sich verändert. Er sieht jetzt ganz anders aus als früher, mit langen Haaren und Bart. Sicher hast du dich geirrt, das ist doch möglich, oder nicht?“ Den Blick aus den angstvollen Augen der Frau konnte Jens kaum ertragen. Vorsichtig machte er sich aus ihrem Griff frei.
Oles Mutter ließ kraftlos die Arme hängen. Sie schaute ihre Tochter an. „Weißt du, wo Ole ist?“
Das junge Mädchen antwortete nicht. Sie hatte sich inzwischen zu ihrer Großmutter gesetzt und hielt sie umfangen. Krampfhaftes Schluchzen erschütterte ihren Körper. Die alte Frau, äußerlich gefasst, strich ihr unablässig über den Rücken.
Thomas sagte im ruhigen, sachlichen Ton: „Frau Jansen, um jeden Irrtum auszuschließen, muss einer von Ihnen, Sie oder Ihr Mann, den Toten identifizieren.“
„Was?“ Melanie Jansen sammelte sich. „Richtig, ich muss meinen Mann anrufen. Er ist noch bei der Arbeit.“
Sie kramte hektisch in den Taschen ihrer Regenjacke nach ihrem Handy, tippte eine Nummer ein und lauschte in den Hörer.
„Thorsten, du musst sofort kommen, es ist etwas passiert … Das erklär ich dir, wenn du hier bist … Die Polizei ist hier. Es ist etwas mit Ole …“ Sie lauschte kurz, dann drückte sie die Aus-Taste.
„Er ist in zehn Minuten hier, hat er gesagt.“ Geistesabwesend öffnete sie den Reisverschluss ihrer Regenjacke, zog sie aus und hängte sie über die Lehne eines Stuhls. „Was ist denn überhaupt passiert? Gab es einen Unfall?“
Anscheinend hatte sie sich ein wenig gefangen, wie Thomas erleichtert feststellte.
„Nein“, sagte er. „Wir haben auf dem St. Andreas-Friedhof eine Leiche entdeckt, die dort abgelegt wurde. Wir wissen noch nichts Genaues darüber. Der Tote hatte keine Papiere bei sich, aber Kommissar Hartmann hat ihn als Ihren Sohn erkannt. Das reicht jedoch nicht, deshalb muss ein Angehöriger seine Identität bestätigen.“
Oles Mutter faltete die Hände. „Oh mein Gott, lass es nicht Ole sein!“, stöhnte sie.
„Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen, während wir auf Ihren Mann warten, Frau Jansen?“ Der Kommissar versuchte, durch ein Gespräch von dem emotionalen Schock abzulenken, den die Angehörigen verarbeiten mussten. Außerdem brauchte er jede Information über das Opfer, die er bekommen konnte.
„Was für Fragen denn?“
„Wann haben Sie Ihren Sohn zuletzt gesehen?“
Melanie Jansen runzelte die Stirn. Sie war zu ihrer Tochter gegangen, die immer noch bei ihrer Großmutter saß und ihre Hand hielt. Mechanisch tätschelte sie Linas Schulter.
„Gestern Abend. Er sagte, er wollte mit Freunden abhängen, glaube ich. Oder, Lina? Hat Ole dir gesagt, wo er hinwollte?“
Lina sah mit tränennassen Augen und zusammengepressten Lippen zu ihrer Mutter auf. Sie schüttelte den Kopf. „Keine Ahnung“, brachte sie schließlich mühsam heraus, bevor sie wieder in Tränen ausbrach. Ihre Großmutter umarmte sie tröstend.
„Ihr Sohn hat studiert, nicht wahr? In Münster, ist das richtig?“
Melanie Jansen nickte. „Ja. Er war nur zu Besuch hier. Wegen der Geburtstagsfeier eines Kumpels, hat er gesagt.“
„Hatte er ein Auto?“
„Nein, er fährt immer mit dem Zug nach Münster. Wir haben ihm ein E-Bike gekauft, das er jedes Mal mitnimmt nach Münster, weil er es dort braucht. Und wenn er hier ist.“
„Wo hat er gewohnt in Münster? Können Sie mir die Adresse geben?“
„Er wohnt in einem Studentenwohnheim, mit anderen Studenten zusammen. Warten Sie, ich muss seine Adresse eben raussuchen.“ Hektisch fing Melanie Jansen an, auf ihrem Handy herumzutippen. „Ah, hier hab‘ ich sie.“ Sie zeigte ihr Handy vor und Jens übertrug die Adresse in sein Notebook.
„Ist sein Fahrrad denn jetzt hier? Vielleicht in der Garage?“
„Ich weiß nicht. Lina, könntest du bitte mal nachsehen, ob Oles Fahrrad da ist?“
Oles Schwester stand auf, langsam, als würde ihr jede Bewegung wehtun, und verließ das Zimmer. Als sie kurze Zeit später zurückkam, sagte sie: „Oles Fahrrad ist nicht da.“
„Also ist Ole gestern mit dem Fahrrad weggefahren. Wir werden natürlich danach suchen“, sagte Jan Hendrik.
Die Kommissare hatten sich inzwischen doch auf das breite Sofa gesetzt, während Melanie Jansen nervös im Raum hin und herging. Die Großmutter hatte noch kein Wort gesagt. Thomas fragte sich, ob sie dem Geschehen überhaupt folgen konnte.
In dem Moment hörten sie, wie jemand die Haustür auf-schloss. Melanie Jansen lief ihrem Mann entgegen und stürzte sich in seine Arme. Mit ihrer Beherrschung war es mit einem Mal vorbei, laut weinend klammerte sie sich an ihren Mann.
Thorsten Jansen war ein kräftiger, untersetzter Mann mit Glatze. Sein gutmütiges Gesicht zeigte völliges Unverständnis. Er hielt seine schluchzende Frau im Arm und sah die Beamten, die sich von ihren Plätzen erhoben hatten, besorgt an. „Was ist denn hier los?“, fragte er. „Was ist mit Ole?“
Der Hauptkommissar stellte sich und seinen Kollegen vor und wiederholte, was er gesagt hatte. Jansen nahm die Nachricht erstaunlich beherrscht auf.
„Dann ist es also noch gar nicht sicher, dass es wirklich Ole ist?“
Auch er klammert sich an den letzten Strohhalm, dachte Jens Hartmann mitleidig.
„Deshalb möchten wir Sie bitten, uns jetzt nach Oldenburg ins gerichtsmedizinische Institut zu begleiten, um den Toten zu identifizieren. Es genügt, wenn einer von Ihnen mitkommt“, erklärte Thomas.
Er erkannte, dass weitere Fragen zu der Person im Moment nicht sinnvoll waren; dazu waren die Angehörigen viel zu aufgewühlt. Später würde man das Zimmer durchsuchen und die Dinge, die Ole Jansen gehörten, genau in Augenschein nehmen. Vielleicht ergaben sich Hinweise auf seinen Mörder. Thorsten Jansen nickte. „Dann bringen wir es wohl am besten gleich hinter uns. Du brauchst nicht mitzukommen, Melly“, sagte er zu seiner Frau, die sich inzwischen etwas beruhigt hatte.
„Doch, ich komme mit“, bestimmte sie. Sie wandte sich an ihre Tochter. „Lina, du bleibst hier bei Oma. Wenn Sophia nach Hause kommt, sagst du ihr Bescheid, ja? Schaffst du das?“ Das Mädchen nickte. Sophia war die ältere der beiden Schwestern des Mordopfers, wie Thomas von Jens wusste.
Auf dem Weg zum Auto dachte Jens Hartmann:
Das war die schlimmste halbe Stunde, die ich bisher im Dienst erlebt habe.
Inga, Hannas Schwiegertochter, war wider Erwarten noch nicht von der Arbeit zurück, als Hanna zu Hause ankam. Auch die Zwillinge verspäteten sich. Eigentlich sollten sie vom Fußballtraining direkt nach Hause fahren, aber oft trödelten sie. Na ja, dachte Hanna, sie werden sicher jeden Augenblick eintrudeln.
Sie stieg die Treppe hinauf zu ihrer Einliegerwohnung, um sich umzukleiden. Froh, die Trauerkleidung ausziehen zu können, dachte sie über den grausigen Fund auf dem Friedhof nach. Wer konnte die getötete Person sein? Bis jetzt wusste sie ja nicht einmal, ob es sich bei der Leiche um eine Frau oder einen Mann handelte. Jedenfalls hatte der Mörder - Hanna war sich sicher, dass es um einen Mord ging, denn sonst hätte man die Leiche nicht verschwinden lassen wollen - eine wirklich gute Idee gehabt, das Opfer ein für alle Mal loszuwerden, denn unter dem Sarg der armen Frau Maschewski wäre sie für die nächsten 20, 30 Jahre absolut sicher gewesen. Wenn es nicht so heftig geregnet hätte am Morgen. Dadurch war die dünne Schicht Erde, die den Körper bedeckte, aufgelöst und teilweise weggespült worden, sodass die Hand zum Vorschein kam. Wirklich Pech für den Täter! Er hätte ein dickere Schicht Erde über die Leiche anhäufen müssen, aber sicher hatte er in der Nacht nicht die Zeit und die Nerven dazu gehabt. Überhaupt: Es musste doch stockdunkel gewesen sein mitten in der Nacht. Oder hatte der Mond genügend Licht gegeben? Sie würde später in ihrem Kalender nach-schauen, in welcher Phase der Mond gewesen war. Jedenfalls war es sternenklar gewesen, vielleicht hatte es sogar ein wenig gefroren. Was für eine gruselige Vorstellung: Da transportiert jemand im Schutze der Dunkelheit einen toten Körper über den Friedhof, legt ihn in die offene Grube und schaufelt Erde darüber. Hatte der Täter eine Schaufel oder einen Spaten mitgebracht? Und eine Lampe? Es musste ein kräftiger Mann gewesen sein, denn eine Frau hätte einen Menschen, der ja immerhin mindestens 60 oder 70 Kilo wiegt, nicht über eine größere Strecke tragen können. Oder hatte er die Person erst am Grab getötet? Unwahrscheinlich, aber möglich. Wer weiß, warum Täter und Opfer sich auf dem Friedhof oder in dessen Nähe getroffen hatten. Und warum das Opfer sterben musste. Ganz schön mysteriös, das Ganze!
Hanna zog sich eine bequeme Hose und einen Pulli an, wusch sich in ihrem Badezimmer die Hände und strich sich mit der Bürste durch ihre kurzen weißen Haare. Sie schaute auf die Uhr: Kurz vor 17:30 Uhr, Zeit genug, um für die Familie ein warmes Abendessen zuzubereiten. Auf dem Weg ins Erdgeschoss hörte sie, wie die Zwillinge nach Hause kamen.
„Hallo Oma“, gegrüßten die beiden ihre Großmutter.
„Na, wie war das Training?“, fragte Hanna.
„Gut“, lautete die einsilbige Antwort der Kinder, die schon an ihr vorbei auf dem Weg in ihre Zimmer waren.
„Vergesst nicht zu duschen und dann sind die Hausaufgaben dran, das wisst ihr ja, okay?“, rief sie ihnen hinterher.
„Okay, Oma“, antwortete Isabell. Wie immer war sie diejenige, die die Kommunikation übernahm, wenn diese auch oft nur fragmentarisch ausfiel.
Das Mädchen war die Lebhaftere und Gesprächigere von den Geschwistern. Ihr Bruder dagegen war ruhiger, sprach wenig, ging dafür aber bei allem, was er tat, gründlich und systematisch vor. Darin ähnelte er seinem Vater. Beim Fußballspiel, das beide Kinder mit der gleichen Leidenschaft liebten, war er der Torwart und Isabell die Torjägerin. Jannik erledigte seine Schulaufgaben langsam, gewissenhaft und ordentlich, was ihm gute bis befriedigende Noten in allen Fächern einbrachte, während Isabell in den sprachlichen Fächern glänzte, sich mit Mathematik und den Naturwissenschaften aber schwertat, sehr zum Leidwesen ihrer Großmutter, die Biologie und Chemie unterrichtet hatte.
Hanna betrat die gemütliche große Küche, die das Zentrum des Familienlebens darstellte, denn hier fanden die gemeinsamen Mahlzeiten morgens und abends statt. Sie würde Frikadellen mit selbstgemachten Stampfkartoffeln und einen grünen Salat vorbereiten, das mochten alle. Natürlich würde Inga die Stirn runzeln, weil Fleisch dabei war, aber heute war einer der zwei Tage in der Woche, an denen es eine Fleischmahlzeit geben durfte, darauf hatte sich die Familie nach vielen diesbezüglichen Diskussionen geeinigt.
Das Kartoffelwasser fing gerade an zu kochen, als Hanna ihre Schwiegertochter heimkommen hörte. Inga kam mit dem