Die Mutter des Kommissars und das französische Mädchen - Margarete Bertschik - E-Book

Die Mutter des Kommissars und das französische Mädchen E-Book

Margarete Bertschik

4,9

Beschreibung

Die Kreisstadt Cloppenburg im Oldenburger Münsterland. Yvette Duchamp, das bildhübsche französische Au-Pair-Mädchen der gut betuchten Familie Cordes, wird brutal ermordet am Stadtrand aufgefunden. Die Polizei steht vor einem Rätsel, alle Ermittlungsansätze verlaufen ins Leere. Hat etwa Etienne Beaulieu, Yvettes Freund, der sich vor zwei Tagen auf den Weg nach Deutschland gemacht hat, etwas mit dem Verbrechen zu tun ...? Da geschieht ein zweiter Mord ... Hanna Morgenroth, die Mutter des Kommissars, leidenschaftliche Krimileserin und Hobbydetektivin, hat das tote Mädchen gut gekannt und fängt an, auf eigene Faust zu recherchieren. Ihr Weg führt sie nach Frankreich und in die Schweiz, wo sie einem wohlgehüteten, tödlichen Familiengeheimnis auf die Spur kommt ...

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Die Mutter des Kommissars und das französische Mädchen

MARGARETE BERTSCHIKImpressum

MARGARETE BERTSCHIK

DIE MUTTER DES KOMMISSARS

UND DAS FRANZÖSISCHE MÄDCHEN

KRIMINALROMAN

PROLOG

Sie konnte nicht schlafen. Wieder und wieder drehte sie sich von einer Seite auf die andere und starrte ins Halbdunkel. In dem großen Haus war es still, alle schliefen. Die Digitalanzeige ihrer Weckeruhr zeigte 4.48 Uhr. Durch den gemusterten Vorhang am Fenster ihrer kleinen Einzimmerwohnung im Obergeschoss der Villa drang diffuses Morgenlicht, grau und trostlos. Von draußen waren an diesem Junimorgen die ersten zaghaften Vogelstimmen zu hören. Sie grübelte.

Immer noch konnte sie es nicht fassen, was sie nun, nach monatelangem Suchen, erfahren hatte. Seit Jahrzehnten lastete das schreckliche Geheimnis auf dieser Familie. Wie war es nur möglich gewesen, so lange alles geheimzuhalten! Bis heute! Bis sie gekommen war mit ihrer Neugier und ihrem Ehrgeiz, endlich die Wahrheit ans Licht zu bringen.

Wieder warf sie einen Blick auf die Uhr: 4.55 Uhr. Es war so schwer, einen Entschluss zu fassen! Was immer sie auch unternehmen würde, es würde die Menschen, die sie liebte, unglücklich machen. Aber sie konnte unmöglich weiterleben wie bisher. Auch wenn die Wahrheit schmerzhaft sein würde für alle, die daran beteiligt waren. Nein, sie konnte nicht schweigen!

Doch sie musste sich irgendwie absichern.

Sie schlug die Bettdecke zurück und knipste das Licht an. Einen Moment lang schloss sie geblendet die Augen, dann ging sie barfuß die paar Schritte zu ihrem Schreibtisch. Sie würde die Dokumente in Sicherheit bringen. Aus der Schreibtischschublade nahm sie einen braunen Briefumschlag in DinA4-Größe, Schreibpapier und eine 1,45 €-Briefmarke. Sie holte die amtlich aussehenden Papiere hervor, die sie im untersten Fach ihres Schreibtisches hinter den Taschenbüchern versteckt hatte, und schob sie in den Umschlag. Dann setzte sie ein Schreiben auf mit den notwendigen Erklärungen und einem Hinweis auf das, was sie vorhatte. Zweimal las sie das Geschriebene durch und durchdachte alles noch einmal. Wie würde dieses Schreiben wohl auf seinen Adressaten wirken? Sicher würde er zutiefst beunruhigt sein. Aber im Moment konnte er ihr nicht helfen. Hiermit musste sie allein fertig werden.

Entschlossen klebte sie das Kuvert zu, versah es mit der entsprechenden Adresse und einer Briefmarke. Gleich morgen würde sie den Umschlag in einen Briefkasten stecken, dann würde er am Montag sein Ziel erreichen. Und am Sonntag, nach dem Abendessen, würde sie die Wahrheit offenbaren.

Sie rieb sich über das müde Gesicht und fuhr mit der Hand durch ihre roten Locken. Dann stand sie vom Schreibtisch auf, trat ans Fenster und zog den Vorhang beiseite. Lange blickte sie auf den parkähnlichen Garten hinunter, der das Haus umgab. Im Osten dämmerte rosa der Morgen, es würde bestimmt wieder ein schöner Tag werden.

Sie seufzte. Sie musste an den Mann denken, den sie liebte. Und dann war da ja auch noch dieses andere, über das sie sich eigentlich freuen müsste! Entschlossen straffte sie die Schultern. Darüber würde sie sich später den Kopf zerbrechen. Rasch ging sie zurück zum Bett und schlüpfte unter die noch warme Decke. Sie rieb ihre eiskalten Füße aneinander, damit sie warm wurden, und streckte ihre Glieder. Jetzt, nachdem sie einen Entschluss gefasst hatte, war ihr wohler. Jetzt würde sie schlafen können.

1

Eigentlich war es ein ganz gewöhnlicher Tag, der Tag, an dem man die Leiche fand.

Hanna Morgenroth wachte wie immer sehr früh auf, lauschte eine Weile dem fröhlichen Vogelgezwitscher vor ihrem Fenster und beobachtete das Morgenlicht, das immer deutlicher durch die Ritzen der Jalousie drang. Es sah nach Sonne aus. Gut. Sie dehnte und streckte ihren Körper unter der weichen Decke, um zu überprüfen, wie sich die Schmerzen im rechten Knie heute verhielten, stellte befriedigt fest, dass von der leidigen Arthrose im Moment nichts zu spüren war, schlug die Bettdecke zurück und schwang mit einem Elan, den man ihrem fünfundsechzigjährigen Körper kaum zugetraut hätte, ihre Beine aus dem Bett.

Das wird ein guter Tag heute, dachte sie, tappte barfuß zum Fenster und zog mit Schwung die Jalousien hoch. Der helle frühsommerliche Sonnenschein blendete ihre Augen für einen Moment und zwang sie zum Blinzeln. Ihre ohnehin gute Stimmung stieg noch um einige Grade an. Sie öffnete das Fenster und ließ die frische Morgenluft ins Zimmer. Ein Junitag, wie er im Buche steht, dachte sie zufrieden. Selten genug hier im Norden! Mal sehen, was er mir Schönes bringt.

Sie beschloss, das Frühstück für die Familie zuzubereiten. Inga würde sicher angenehm überrascht sein, sich an einen fertig gedeckten Tisch setzen zu können, bevor sie die Zwillinge zur Schule und selbst zur Arbeit in den Kindergarten fahren musste. Von Thomas ganz zu schweigen. Hannas Sohn war ein rechter Morgenmuffel, der nicht zu genießen war, bevor er nicht seine erste Tasse Kaffee getrunken hatte.

Hanna zog ihren zerschlissenen alten Frotteebademantel an, den sie bis jetzt erfolgreich gegen alle Versuche Ingas, ihn der Altkleidersammlung zu übereignen, verteidigt hatte, schlüpfte in ihre Hausschuhe und ging in das kleine Bad, das zu ihrer Einliegerwohnung gehörte.

Sie war froh, hier oben im Haus ihr eigenes kleines Reich zu haben. Hier konnte sie ungestört ihre Kränzchenschwestern empfangen, konnte im Fernseher ihre Lieblingsserien verfolgen und die Musik hören, die sie liebte.

Während sie das warme Wasser in der Dusche über ihren Körper laufen ließ, überlegte Hanna, wie sie das schöne Wetter nutzen könnte. Auf jeden Fall würde sie nach dem Frühstück eine ordentliche Runde Nordic-Walking absolvieren, wegen der Bewegung, die ihren Gelenken gut tat. Am Ortsrand von Cloppenburg gab es ein kleines Waldstück, durch das lange Spazierwege führten. Jetzt um diese Jahreszeit war es dort geradezu idyllisch und Hanna liebte es, begleitet von Vogelgezwitscher und dem herrlichen Duft nach Holz, Erde und Moos, zügig durch den Wald zu marschieren. Anschließend müsste sie zum Supermarkt einkaufen, überlegte sie, nachmittags war ein Kaffeekränzchen mit Edith und Liesbeth geplant und danach würde sie für die ganze Familie ein leckeres Abendessen zubereiten.

Hanna lächelte sich im Spiegel zu, während sie ihre kurzen weißen Haare bürstete. Es war doch alles gut so, wie es war. Zügig kleidete sie sich an und ging leise die Treppe hinunter. Im Haus war es still, alle schliefen noch.

Gutgelaunt vor sich hinsummend deckte Hanna den Frühstückstisch in der gemütlichen Wohnküche, wo die Familie ihre gemeinsamen Mahlzeiten einnahm. Körnermüsli, Naturjoghurt und grünen Tee für Inga, die in ständiger Angst um ihre schlanke Linie lebte, obwohl sie kein Gramm zu viel auf den Rippen hatte, wie Hanna fand. Starken Kaffee, aufgebackene Brötchen mit Wurst und Käse für Thomas, der es gerne deftig mochte, sowie Kakao und Vollkornbrot, Honig, Quark mit Bananen- und Apfelscheiben für die Kinder.

„Moin, Oma!“

Die helle Stimme von Isabell, Hannas sechsjähriger Enkelin, riss sie aus ihren Gedanken. Isabell war der weibliche Teil des Zwillingspärchens, das aus ihr und ihrem Bruder Jannik bestand. Im Hello-Kitty-Schlafanzug und mit ihrem Lieblingsstofftier, einem vom vielen Kuscheln schon ziemlich ramponierten Schaf, stand Isabell in der Tür und rieb sich verschlafen die Augen.

„Moin, meine Süße“, antwortete Hanna und nahm die zarte Gestalt des Kindes in ihre Arme. Isabell drückte einen Kuss auf die Wange ihrer Großmutter und schmiegte sich zärtlich an sie.

„Na, gut geschlafen?“, fragte Hanna, als sie sie wieder auf den Boden niederließ. Das kleine Mädchen nickte und kletterte auf den für sie vorgesehenen Stuhl am Frühstückstisch. Gerührt betrachtete Hanna ihre Enkelin. Der reinste Engel, dachte sie beim Anblick der vom Schlaf zerzausten blonden Zöpfe, der runden Wangen und der klaren blauen Augen des Kindes.

„Sind die anderen noch nicht wach?“, fragte sie.

Isabell schüttelte den Kopf. Sie beäugte missmutig die Scheibe Vollkornbrot, die auf ihrem Teller lag, und zog einen Schmollmund.

„Ich mag das Brot nicht, Oma. Krieg ich einen Toast mit Nutella? Bitte, Oma!“

„Hm“, machte Hanna, „aber du weißt doch ...“

„Bitte, bitte, Oma!“

Isabell sah ihre Großmutter mit einem Hundeblick an, dem kein Mensch, schon gar nicht Hanna mit ihrem weichen Herzen, widerstehen konnte.

„Natürlich“, seufzte sie. Sie bestrich eine Scheibe des gerösteten Weißbrotes mit der Nougatcreme, die ihre Enkel so liebten, goss warmen Kakao in Isabells Becher und nahm selbst einen Schluck Kaffee. Schuldbewusst sah sie ihrer Schwiegertochter entgegen, die gerade zusammen mit Jannik die Küche betrat.

„Oh, Frühstück ist schon fertig!“, sagte Inga erfreut, um gleich tadelnd hinzuzufügen: „Du weißt doch, die Kinder sollen nicht so viel Nutella essen, Hanna! Honig ist viel gesünder.“

„Aber Nutella schmeckt besser!“, rief Jannik. Er lief zu seiner Großmutter und krabbelte auf ihren Schoß. „Darf ich auch einen Toast mit Nutella, Oma?“ Schmeichlerisch drückte er sein Gesicht an ihre Wange. „Bitte, Oma!“

Hanna hatte dem Charme des Jungen nichts entgegenzusetzen. Jannik war das männliche Pendant zu seiner Schwester und verstand es genauso gut wie sie, seine Großmutter um den Finger zu wickeln.

Seufzend bestrich Hanna eine weitere Scheibe Toast mit der süßen Creme, während sie Inga einen um Entschuldigung bittenden Blick zuwarf.

„Dafür mache ich ihnen heute ein besonders gesundes Pausenbrot für die Schule, okay?“, versuchte sie ihre Schwiegertochter zu besänftigen. „Mit Vollkornbrot, Butter und mageren Schinken, dazu einen Apfel und ein paar Radieschen.“

Inga musste schmunzeln. „Schon in Ordnung, Hanna. Ich weiß, du meinst es ja nur gut mit den Kindern.“

Erleichtert erwiderte Hanna ihr Lächeln. Inga war nun mal eine Perfektionistin. Sie versuchte, bei der Erziehung der Kinder immer alles richtig zu machen, so wie sie es als Erzieherin im Kindergarten gelernt hatte. Dabei vergaß sie, dass es manchmal durchaus in Ordnung sein konnte, alle Fünfe gerade sein zu lassen.

Mit vom Duschen noch nassen Haaren kam Hannas Sohn, Kriminalhauptkommissar Thomas Morgenroth in die Küche. Er gab seiner Mutter einen flüchtigen Begrüßungskuss auf die Wange, strich den Zwillingen über die Haare und küsste seine Frau zart auf den Mund.

„Guten Morgen miteinander“, sagte er überraschend gutgelaunt. „Ist das nicht ein herrlicher Tag heute? Guckt euch nur einmal das Wetter an! Viel zu schön, um zur Arbeit zu gehen.“

Er setzte sich und griff nach einem der Brötchen, belegte es mit einer Scheibe Wurst und biss kräftig hinein. Hanna betrachtete ihren Sohn voller Stolz. Mit seinen dunklen Haaren und den braunen Augen glich er ganz und gar seinem verstorbenen Vater und als Polizist hielt er sich pflichtgemäß fit, was man seinem durchtrainierten Körper ansah. Zu Hannas Leidwesen trug er einen Dreitagebart, der ihn älter als seine neununddreißig Jahre aussehen ließ, und es war nicht zu übersehen, dass die Haare über seiner Stirn anfingen, sich zu lichten. Vom Äußeren her bildete er einen attraktiven Kontrast zu seiner zierlichen blonden Frau, die das schöne Blau ihrer Augen an die Kinder vererbt hatte.

Das Melodie des Schlagers „An der Nordseeküste, am plattdeutschen Strand“ erklang und Thomas Morgenroth griff zu seinem Handy, das er neben sich auf den Tisch gelegt hatte. Mit einem knappen „Ja“ meldete er sich. Während er in den Hörer lauschte, wurde sein Gesicht ernst. Hanna erschauerte plötzlich. Es musste etwas Schlimmes passiert sein.

Ihr Sohn war inzwischen aufgestanden und zum Telefonieren in den Flur gegangen, wo Hanna ihn ein paar knappe Fragen und Anweisungen in den Hörer sprechen hörte. „Ich komme direkt zum Tatort“, beendete Thomas das Gespräch.

„Ich muss sofort los“, sagte er, als er an den Frühstückstisch zurückkehrte. Mit einem Blick auf die Kinder deutete er den beiden Frauen an, dass er nicht vor den Kleinen über das Telefonat sprechen könne. Er trank hastig seine Kaffeetasse aus, steckte sich den Rest seines Brötchens in den Mund und verließ die Küche. Beunruhigt folgten Hanna und Inga ihm in den Flur.

„Was ist denn passiert?“ Hanna nahm angstvoll Ingas Arm.

„Man hat eine Tote gefunden, hier in Cloppenburg. Ermordet. Mehr weiß ich noch nicht.“

„Oh mein Gott!“, rief Hanna und sah Inga bestürzt an.

Mit professioneller Gelassenheit nahm Thomas Brieftasche und Autoschlüssel an sich, die griffbereit auf der Garderobe lagen, zog ein leichtes Jackett über und steckte seinen Polizeiausweis ein. Eilig verabschiedete er sich von den Kindern. An der Haustür wandte er sich an seine Frau und Hanna. „Macht euch keine Sorgen, es wird schon niemand sein, den wir kennen“, sagte er und zog die Haustür hinter sich zu. Leider hatte er Unrecht.

2

Der Tag, an dem man die Leiche fand, war ein Montag. Zwei Tage vorher, am Samstag, fing Etienne Beaulieu im fernen Frankreich ernsthaft an, sich Sorgen zu machen. Seit Mittwoch hatte er nichts mehr von Yvette gehört, und jetzt war Samstag! Ihre letzte SMS war am Mittwochabend gekommen:

KOMME BALD ZURÜCK; MELDE MICH SPÄTER; YVETTE.

Seitdem nichts mehr. Natürlich hatte er versucht, sie anzurufen, aber ihr Handy war seit dieser letzten Nachricht abgeschaltet und auf die Nachrichten, die er auf ihrer Mailbox hinterlassen hatte, antwortete sie nicht.

Etienne schleppte die Gemüsekisten mit den Gurken, Zucchini und Auberginen vor das Schaufenster des kleinen Ladens in derrue Colbertund ordnete sie auf dem Holzgestell am Rande des Bürgersteigs gefällig an.

„Vergiss das Obst nicht!“, rief sein Vater aus dem Innern des Hauses und kam gleich darauf mit einer Kiste Honigmelonen und Orangen aus der Ladentür. „Das Obst ordnest du am besten in der obersten Reihe an, damit es den Leuten Appetit macht.“

„Oui, papa“, seufzte Etienne, „ich mach das doch nicht zum ersten Mal.“

Während Jean-Paul Beaulieu, ein kleiner, drahtiger Mann mit einem großen Schnurrbart, wieder im Haus verschwand, betrachtete Etienne gedankenverloren die Gemüseauslagen, ohne sie wirklich wahrzunehmen.

Es war noch früh am Morgen, aber schon sehr warm in Châtellerault, der kleinen Stadt im Westen Frankreichs. Zwischen Tours und Poitiers auf halber Strecke von Paris nach Bordeaux gelegen, profitierte die Stadt von den durchreisenden Touristen, die es an die Atlantikküste mit den herrlichen Sandstränden zog. Der kleine Gemüseladen, den Etienne zusammen mit seinen Eltern bewirtschaftete, wurde jedoch vorwiegend von den Einheimischen aufgesucht, die ihren täglichen Bedarf an frischem Obst und Gemüse hier deckten.

Es hatte nie zur Diskussion gestanden, ob Etienne das Geschäft seiner Eltern weiterführen wollte oder nicht; seine einzige Schwester Françoise, die um einiges älter war als er, lebte mit ihrem Mann Gregoire und den zwei Töchtern in Tours, wo Gregoire einen Posten in der Stadtverwaltung innehatte. Also blieb der Laden selbstverständlich für Etienne übrig.

Etienne arbeitete gerne hier. Er verfügte über ein angeborenes kaufmännisches Talent und es machte ihm Spaß, freundlich auf die Kunden zuzugehen und sie so zu dem einen oder anderen Extrakauf zu veranlassen. Mit seinen fünfundzwanzig Jahren hatte er schon sehr genaue und durchaus realistische Vorstellungen von seiner Zukunft: In ein paar Jahren würde er Yvette Duchamp heiraten, schließlich liebte er sie, seit sie im Sandkasten zusammen gespielt hatten. Sie würden in der geräumigen Wohnung über dem Laden zusammen mit seinen Eltern wohnen, zwei oder drei Kinder bekommen und ein glückliches und zufriedenes Leben führen.

Wenn da nur erst diese Sache mit Yvettes Vergangenheit geklärt wäre! Sie hatte ihm nie erzählen wollen, was sie seit dem Tod ihrer Eltern so sehr beschäftigte und nicht zur Ruhe kommen ließ. Wochenlang war sie umhergelaufen wie ein aufgescheuchtes Huhn. Und dann diese ominöse Reise in die Schweiz, von der sie völlig verändert zurückgekommen war. In sich gekehrt. Grüblerisch. So oft er sie auch gefragt hatte, was denn eigentlich los sei, immer war sie ihm ausgewichen. Und dann hatte sie sich plötzlich auf diese Au-Pair-Stelle im Norden Deutschlands beworben! Nebenbei wollte sie Germanistik studieren, an der Universität in der nahe gelegenen Großstadt, Oldenburg hieß sie, glaubte er. Genug Geld hatte sie ja, da sie als einziges Kind von ihren Eltern deren gutgehende Autowerkstatt geerbt und günstig verpachtet hatte. Also war sie nicht auf staatliche Förderung angewiesen und konnte tun, was sie wollte. Trotzdem: Komisch war er schon, dieser plötzliche Entschluss, hier alles stehen und liegen zu lassen und nach Deutschland zu gehen. So weit weg! Bedeutete er ihr so wenig? Bisher war Etienne davon überzeugt gewesen, dass Yvette ihn genauso liebte wie er sie und dass eine spätere Heirat auch für sie selbstverständlich war, obwohl sie nie davon gesprochen hatten. Schließlich waren sie schon mehr als ein Jahr ein Liebespaar. Etienne seufzte tief auf. Er vermisste sie so sehr! Und er machte sich Sorgen.

„Maman,ich werde übers Wochenende nach Deutschland fahren, Yvette besuchen“, sagte er zu seiner Mutter, die, angetan mit ihrer weißen Verkaufsschürze, aus der Ladentür trat und einen prüfenden Blick zum Himmel warf. „Es ist ja Wochenende, da kann ich doch den Renault haben, oder?“

Claudine Beaulieu sah ihren Sohn überrascht an. Sie war eine kleine, rundliche Person mit flinken schwarzen Augen in einem freundlichen Gesicht.

„Yvette besuchen? Warum denn das so plötzlich? Ist was passiert?“ Sie fing an, die blau-weiß gestreifte Markise herunterzukurbeln, die das Gemüse vor der Sonne schützen sollte.

„Ich weiß nicht. Sie meldet sich nicht mehr. Ihr Handy ist seit Tagen ausgeschaltet. Ich mache mir Sorgen.“

Claudine schüttelte missbilligend den Kopf. „Was für eine verrückte Idee von ihr, so weit wegzugehen! Als Kindermädchen! Und ausgerechnet nach Deutschland. Wo wir niemanden kennen!“

Etienne schüttelte ungeduldig den Kopf. „Kann ich das Auto nun haben? Ich muss unbedingt wissen, wie es Yvette geht.“

„Fragpapa.Am Montag brauchen wir es wie üblich für das Gemüse. Kannst du denn bis dahin wieder hier sein?“

„Ja, sicher. Ich fahre einfach die Nacht durch.“ Etienne hatte die letzten Kisten aufgestellt und rückte hier und da einen Kohlkopf oder eine Lauchstange zurecht, während seine Mutter die selbstgemalten Preisschilder anbrachte.

„Meinst du wirklich, das ist nötig, Junge? Vielleicht hat Yvette nur keine Zeit, dir dauernd zu schreiben. Oder sie hat es einfach vergessen. Wer weiß, was sie dort oben treibt.“

„Ach,maman, du weißt doch, Yvette ist nicht so.“

„Schon gut. War nicht so gemeint.“ Claudine reckte ihre kleine Gestalt und strich ihrem Sohn, der sie um mehr als Haupteslänge überragte, liebevoll über die Wange. „Wenn du meinst, fahr ruhig hin. Vielleicht ganz gut, wenn du mal nach dem Rechten siehst.“

„Ich sagpapaBescheid. Wenn er nichts dagegen hat, fahr ich gleich los. Könntest du mir bitte ein paar Baguettes und was zu trinken einpacken? Die Fahrt wird sicher zwölf Stunden dauern, ich hab’ im Internet nachgeschaut. Und tanken muss ich auch noch.“ Plötzlich hatte Etienne es eilig, aufzubrechen.

Die Reise dauerte viel länger, als er angenommen hatte. Der blaue Kleintransporter der Marke Renault Kangoo Rapid, mit dem er und sein Vater täglich das Gemüse vom Großmarkt holten, war zwar schon sieben Jahre alt, schaffte mit seinen sechsundachtzig PS jedoch im Schnitt noch gut und gerne hundertdreißig Stundenkilometer. Theoretisch, denn da Etienne sich scheute, für die Autobahn in Frankreich die hohe Gebühr zu bezahlen, musste er über die viel befahrenen Landstraßen von Ort zu Ort fahren, was ungemein viel Zeit kostete. Zudem geriet er am Samstagnachmittag in den üblichen Wochenendverkehr und wenn es kein Stau war, dann war es eine Baustelle, die ihn aufhielt.

Als er schließlich in Cloppenburg ankam, war es tiefe Nacht, und er fand es unmöglich, jetzt noch bei der Familie, bei der Yvette wohnte, zu klingeln. Also suchte er sich einen wenig frequentierten Parkplatz am Ortsrand, rollte die dafür vorgesehene Matratze auf der Ladefläche des Renaults aus und baute sich mit seinem Schlafsack und dem Kissen, das seine Mutter ihm aufgedrängt hatte, ein bequemes Lager zum Übernachten. In dem Picknickkorb, den Claudine ihm fürsorglich mit Essbarem vollgepackt und aus dem er sich unterwegs schon mehrfach bedient hatte, fand er noch ein halbes Baguette, belegt mit gekochtem Schinken, Tomaten- und Gurkenscheiben, und eine Flasche Rotwein. Der Milchkaffee in der Thermoskanne war sogar noch warm. Nachdem er sich satt gegessen und die Flasche halb geleert hatte, fühlte er sich angenehm müde. Er kuschelte sich in seinen Schlafsack und war binnen einer Minute eingeschlafen.

Motorgeräusche, Bremsenquietschen und die Stimmen von Menschen weckten ihn. Er schaute in dem Licht, das durch die Frontscheibe in den Laderaum drang, auf seine Armbanduhr. 10.30 Uhr! Er hatte mehr als acht Stunden geschlafen! Vorsichtig öffnete er die Hintertür und schaute hinaus. Sein Renault war umzingelt von parkenden Autos. Er stand mitten auf dem Parkplatz vor einem riesigen Supermarkt. Der hatte zwar geschlossen, aber gegenüber auf der anderen Seite der Straße gab es eine Tankstelle mit einem Backshop, der geöffnet hatte, damit die Leute ihre Sonntagsbrötchen kaufen konnten. Ein frischespetit-painoder ein Croissant wäre jetzt nicht schlecht, dachte Etienne. Im Dämmerlicht des Autoinneren suchte er sich ein sauberes Shirt aus dem Rucksack, den er für die Reise gepackt hatte, und zog frische Socken und seine Jeans an. Dann schlüpfte er in die ausgelatschten Turnschuhe und kramte seinen Kulturbeutel hervor. Die Tankstelle verfügte bestimmt über Waschräume oder wenigsten über einen Toilettenraum mit Spiegel und Waschbecken, wo er sich frisch machen konnte, nahm er an.

Tatsächlich gab es einen sogar recht geräumigen Waschraum im hinteren Teil des Backshops. Etienne benutzte die Toilette und wusch sich schnell Gesicht und Hände in einem der Handwaschbecken. Leider musste er feststellen, dass der Stecker seines Elektrorasierers nicht in die Steckdose neben dem Spiegel passte: Die Löcher hatten eine ganz andere Form als zu Hause. Nun, dachte er, dann muss es eben so gehen. Er kämmte seine schwarzen Haare und lächelte seinem Spiegelbild zu. Yvette würde sich bestimmt nicht an seinen Bartstoppeln stören. Nachdem er sich die Zähne geputzt hatte, fühlte er sich frisch und fit und fing an, sich auf das baldige Wiedersehen mit seiner Freundin zu freuen. Zuvor jedoch musste er unbedingt etwas essen; sein Magen fing schon an, ungeduldig zu knurren.

In dem Backshop kaufte er sich zwei Croissants und einen Café-latte-to-go und trug beides zurück zu seinem Auto. Entspannt setzte er sich hinter das Steuer und frühstückte. Nebenbei tippte er Yvettes Adresse in sein Navi ein. Als er die Croissants gegessen hatte, wischte er sich die Hände mit der Serviette ab, in die sie eingewickelt gewesen waren, trank den Rest seines Kaffees und fuhr los. Das Navigationsgerät führte ihn quer durch die Stadt, deren Namen er kaum aussprechen konnte: Cloppenburg. Ein hübsches, sauberes Städtchen, etwa so groß wie Châtellerault, schätzte er. Die Straße, in die das Navi ihn schließlich schickte, lag am Rand des Ortes und machte einen geradezu vornehmen Eindruck. Die Fahrt endete vor einem villenartigen Wohnhaus, das in einem gepflegten Garten stand. Etienne kam sich mit seinem Transporter ziemlich fehl am Platz vor, als er in der Einfahrt hielt. Hier also lebte die Familie Cordes, bei der Yvette arbeitete. Etienne war beeindruckt.

Er klingelte. Die Haustür wurde von einem Kind geöffnet, einem Mädchen von vielleicht zwölf Jahren. Das musste Alice sein, von der Yvette geschrieben hatte. Die Älteste der drei Kinder, für die sie zuständig war. Plötzlich fiel Etienne ein, dass er kaum ein Wort Deutsch sprach.

„Hallo“, war alles, was er herausbrachte.

Das Mädchen sah ihn neugierig an.

„Guten Tag“, sagte sie höflich.

„Bonjour“, erwiderte er ihren Gruß. Er wusste nicht, wie er sein Anliegen deutlich machen sollte. Hilflos lächelte er das Mädchen an. „Yvette? Ich ...“, er wies auf sich selbst, „Etienne.“

Das Mädchen verstand sehr schnell.

„Ah, Sie wollen Yvette besuchen. Das tut mir leid, Yvette hat heute frei. Sie ist mit Freunden unterwegs.“

Etienne deutete den bedauernden Gesichtsausdruck des Mädchen und ihr Kopfschütteln richtig. Yvette war anscheinend nicht da. Seine Enttäuschung war grenzenlos; damit hatte er nicht gerechnet.

Alice sah ihn mitleidig an.

„Où .. . Wo ... Yvette?“, fragte er.

Alice hob die Schultern. „Keine Ahnung“, sagte sie.

„Wann ... zurück?“

„Abends“, sagte Alice. Sie sah, dass Etienne sie nicht verstand, und malte eine Eins und eine Acht für 18.00 Uhr auf ihren Handrücken.

Etienne überlegte. Die Geste des Mädchens hatte ihn auf eine Idee gebracht. Er bedeutete ihr, dass er etwas aufschreiben wollte, eine Nachricht für Yvette. Sie verstand sofort, lief ins Haus und kam mit einem Stück Papier und einem Kugelschreiber zurück. Etienne setzte sich auf die Stufen des Eingangs und schrieb, dass er hier sei und Yvette ihn so bald wie möglich anrufen solle. Dann gab er Alice den Brief, sagte:„Merci beaucoup“,hob zum Abschied die Hand und stieg wieder in seinen Renault.

Nun musste er sehen, wie er die nächsten Stunden bis zum Abend totschlagen konnte. Er beschloss, sich die kleine Stadt näher anzusehen und ein bisschen in der Gegend herum zu fahren.

3

Die junge Frau sah aus, als habe sie sich zum Ausruhen an den Fuß der alten Eiche niedergelegt. Erst beim näheren Hinsehen fiel Thomas Morgenroth auf, dass ihr weißer Pullover und die dünne Jeans nass waren und an ihrem Körper klebten. Auch die rostroten Locken, die das blasse Gesicht in wilden Büscheln umstanden, waren feucht. Es hatte in der Nacht geregnet, der Boden unter der Leiche war jedoch trocken. Offenbar lag die Tote schon mehrere Stunden hier, unweit der Straße, die das Siedlungsgebiet am Stadtrand von einem Waldstück abgrenzte. Die Leute von der Spurensicherung waren dabei, über dem Fundort ein weißes Plastikzelt zu errichten, um ihn vor Witterungseinflüssen zu bewahren und um die Tote vor den Blicken der Passanten zu schützen. Thomas trat neben seine Kollegin, Kommissarin SusanneHoltmann, und gemeinsam beobachteten sie den Gerichtsmediziner, Dr. Helmut Kretschmer. Wie die Kommissare angetan mit einem weißen Schutzanzug, kniete er neben der Leiche und untersuchte sie.

„Können Sie schon etwas sagen, Doktor?“, fragte Susanne.

„Nur Geduld, junge Frau“, erwiderte der grauhaarige Mediziner in seiner bekannt ruhigen Art. Er drehte den steifen Körper auf die Seite und besah sich den Rücken. Hier und da drückte er auf die dunkelroten Flecken, die sich an den Schulterblättern der Toten zeigten, als er den Pulli noch oben schob. Dann inspizierte er den Kopf der Toten, um eventuelle Verletzungen des Schädels zu entdecken, betrachtete ihre Arme, inspizierte Hände und Fingernägel, dann die Beine, indem er mit einer scharfen Schere die Hose der Länge nach aufschnitt, und zuletzt die Füße, die in leichten Sommersandalen steckten. Anschließend stand er auf und streckte seinen Rücken.

„Was ich nach der ersten Inaugenscheinnahme sagen kann, ist Folgendes: Sie liegt seit mehreren Stunden hier, das zeigen die Totenflecken am Rücken. Wie es aussieht, ist sie nach ihrem Tod bewegt worden. Wahrscheinlich ist sie transportiert und hier abgelegt worden und zwar, bevor es in der Nacht anfing zu regnen. Der Wetterdienst kann Ihnen sicher genaue Auskunft darüber geben, wann das war. Der Tod muss etwa vor acht bis zehn Stunden eingetreten sein. Das schließe ich daraus, dass die Temperaturen heute Nacht bei etwa fünfzehn, sechzehn Grad gelegen haben dürften und der rigor mortis, das heißt, die Totenstarre noch nicht vollständig eingetreten ist.“

Er wies auf den Hals der Toten. „Sie wurde erwürgt, mit bloßen Händen. Man sieht deutlich die Male der Daumen an ihrem Hals. Sehen Sie, hier und hier. Der Mörder hat dabei große Kraft aufgewendet, der Kehlkopf scheint, soweit ich sehe, eingedrückt worden zu sein.“

Der alte Gerichtsmediziner seufzte und schüttelte voller Bedauern den Kopf.

„So ein junges Ding! Traurig!“ Er sammelte seine Sachen zusammen und wandte sich zum Gehen.

„Gibt es Hinweise auf Drogenmissbrauch oder ein Sexualdelikt, Doktor?“

„Soweit ich das bis jetzt beurteilen kann: Nein. Der Körper scheint unversehrt zu sein, bis auf die Würgemale am Hals natürlich. Alles Weitere sage ich Ihnen, wenn ich sie auf dem Tisch gehabt habe. Schönen Tag noch, Kollegen!“

„Ebenfalls! Erstmal vielen Dank, Doktor!“

Das aufdringlich laute Brummen eines Motorrades lenkte die Aufmerksamkeit der Kommissare in Richtung Straße.

„Sieh an, Kollege Klüver hat es auch noch hierher geschafft“, sagte Susanne spitz. Beide blickten dem jungen Mann entgegen, der nun mit dem Motorradhelm unter dem Arm durchs Unterholz stapfte und auf sie zukam: Oberkommissar Jan Hendrik Klüver.

„Entschuldigung, ging nicht eher“, sagte Jan Hendrik, „die Kiste wollte wieder mal nicht anspringen.“ Er setzte sein charmantestes Lächeln auf und zuckte bedauernd mit den Schultern.

Thomas nickte verständnisvoll. Es war zwar nicht das erste Mal, dass sein Kollege Schwierigkeiten mit seinem Motorrad hatte, aber Thomas konnte die Leidenschaft Jan Hendriks für die schnittige Honda gut verstehen, hatte er doch früher selbst eine solche Maschine gefahren. Dieses unvergessliche Gefühl von Freiheit, die vibrierende Kraft des Motors unter einem, die man unmittelbar spürte ... Er seufzte unmerklich.

„Was haben wir denn hier?“, fragte Jan Hendrik mit einem Blick auf die Tote. Er strich sich mit den Fingern durch seine vom Motorradhelm zusammengedrückten hellblonden Haare und trat nahe an die Tote heran.

„Eine Leiche, wie du siehst“, antwortete Susanne schnippisch. Ihr hübsches schmales Gesicht verzog sich zu einer unwilligen Grimasse. „Du hast Dr. Kretschmer gerade verpasst.“ Mit einer ärgerlichen Bewegung strich sie sich eine Strähne ihres Haares hinters Ohr.

Jan Hendrik hob pikiert die Augenbrauen über ihren unfreundlichen Ton. „War nicht meine Schuld, entschuldige bitte! Die paar Minuten!“

Susanne wich seinem Blick hartnäckig aus, verschränkte die Arme vor der Brust und starrte in die Luft. Jan Hendrik schüttelte betroffen den Kopf und wandte sich ab. Thomas blickte verwundert von einem zum anderen. Seit Tagen waren die beiden wie Hund und Katze zueinander. Irgendetwas muss vorgefallen sein zwischen ihnen, dachte er. Aber jetzt war nicht die Zeit und der Ort, sich mit den persönlichen Animositäten seiner Mitarbeiter zu befassen.

„Was kannst du uns über die Tote sagen, Susanne?“, fragte er die junge Kommissarin in ruhigem Ton, bemüht, die gereizte Atmosphäre zu entspannen und zu einer professionellen Sachlichkeit zurückzukehren.

„Nicht viel. Sie hatte keine Handtasche bei sich, keinen Ausweis, kein Handy. Wir müssen bei Null anfangen.“ Susanne, nun voll auf ihre Arbeit konzentriert, nagte an der Unterlippe, während sie nachdenklich um die Leiche herumging. „Ich schätze, sie ist um die zwanzig. Die Fingernägel sind sauber und unlackiert, ebenso die Zehennägel. Sie macht einen gepflegten Eindruck. Die Kleidung ist nichts Besonderes, Jeans und Pulli. Normal eben.“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust und schüttelte leicht den Kopf. „Was kann sie getan haben, dass jemand sie so brutal umbrachte? Da muss viel Wut dahintergesteckt haben. Oder Verzweiflung.“

Thomas nickte zustimmend. „Übernehmt ihr es bitte, alles in die Wege zu leiten, um ihre Identität festzustellen: Melderegister, Polizeiakten, Fingerabdruckkartei, ihr wisst schon. Und gebt ein Foto an die Presse. Wir müssen herausfinden, wer das Mädchen war.“

Susanne nickte, hob zum Abschied die Hand und machte sich auf den Weg. „Ach, und die Befragung der Leute, die hier in der Nähe wohnen: Organisierst du das, Jan Hendrik?“ Der Kommissar nickte und folgte Susanne in einigem Abstand.

Thomas sah sich um. Die Leute von der Spurensicherung hatten sich auf dem Gelände verteilt und suchten den Untergrund akribisch nach verwertbaren Gegenständen oder irgendwie gearteten Hinweisen ab. Hinter dem weiß-roten Absperrband hatten sich schon einige Schaulustige versammelt.

„Wer hat die Leiche überhaupt gefunden, Susanne?“, rief er seiner Kollegin hinterher.

„Die beiden Jungs dort drüben, bei dem Kollegen“, antwortete sie und wies in die entsprechende Richtung.

„Okay. Ich werde mal mit ihnen reden.“

Der Kommissar bahnte sich durch das Unterholz einen Weg zum Rand des Waldes und trat zu den Kindern, die bei Polizeiobermeister Holthus standen und immer noch sehr aufgeregt zu sein schienen. Thomas kannte Holthus; der korpulente Leiter des Polizeireviers in Cloppenburg war jedem Einwohner des Städtchens wohlbekannt. Man schätze ihn wegen seiner leutseligen, freundlichen Art, mit der er seit Jahrzehnten seinen Dienst versah.

„Moin, Richard“, sprach Thomas ihn an. „Das ist ja eine schlimme Sache hier, was?“

„Das kann man wohl sagen“, pflichtete der Polizeiobermeister ihm bei. „So etwas haben wir nicht alle Tage.“

„Und das sind die beiden Helden, die die Leiche entdeckt haben, was?“ Thomas musterte die Jungen. „Wie heißt ihr denn?“

Der Ältere der beiden, ein kräftig gebauter Junge von etwa zwölf Jahren mit einem sommersprossigen Lausbubengesicht, wechselte einen Blick mit seinem Freund und sagte dann:

„Ich bin Jakob Lürssen und das ist Leon Sander. Wir wohnen hier in der Siedlung.“

„Gut. Eure Adresse hat sich Herr Holthus hier sicher schon notiert, oder?“

Alle drei nickten.

„Was habt ihr denn so früh hier gemacht, ihr beiden?“

„Wir haben uns an der Haltestelle da vorne getroffen und auf den Schulbus gewartet, wie immer“, antwortete Jakob.

Der Kommissar sah in die Richtung, in die der Junge wies.

„Aber von dort aus konntet ihr das Mädchen doch gar nicht sehen. Es steht viel zu viel Gebüsch davor.“

„Also, das war so. Ich hatte vergessen, dass wir für den Kunstunterricht ein Landschaftsfoto mitbringen sollten für einen Linoldruck. Deshalb wollte ich noch schnell ein Foto hier im Wald machen, mit meinem Handy. Und da hab ich sie gesehen.“

„Aha, so war das also. Und als du sie gesehen hast: Was hast du da gemacht?“

„Zuerst hab ich gedacht, sie schläft. Das fand ich komisch. Aber dann hab ich gesehen, dass sie sich gar nicht bewegte. Und dass sie ganz nass war. Dann hab ich Leon gerufen, und wir haben sie von nahem angeschaut. Da haben wir gemerkt, dass sie tot war.“

Leon, der bisher noch nichts gesagt hatte, nickte eifrig. „Und dann haben wir 110 gewählt und die Polizei gerufen“, ergänzte er.

„Das war genau richtig, Jungs, das habt ihr gut gemacht. Ihr habt die Frau doch hoffentlich nicht angefasst? Oder irgendetwas, was sie bei sich hatte?“

Entsetzt sahen die Jungen ihn an. „Nein, ganz bestimmt nicht!“

„Habt ihr irgendwo eine Handtasche liegen sehen? Oder sonst etwas, was dem Mädchen gehört haben könnte?“

Kopfschütteln. Dann fiel Leon etwas ein.

„An der Bushaltestelle steht ein pinkes Fahrrad. Das könnte ihr gehören. Sonst steht da nie ein Fahrrad.“

„Gut, dass du uns das sagst, Leon. Das ist ein ganz wichtiger Hinweis. Danke!“

Leon errötete vor Freude über das Lob. Jakob dachte schon weiter. „Wie kommen wir denn jetzt zur Schule? Wir haben den Bus ja verpasst.“

„Ich denke, Polizeiobermeister Holthus wird euch zur Schule bringen. Oder wollt ihr lieber nach Hause gehen? Es geschieht ja nicht alle Tage, dass man eine Leiche findet. Später wird noch einmal jemand mit euch sprechen und fragen, wie es euch geht. Okay?“

„Nee, wir gehen lieber zur Schule.“

Der Kommissar sah den beiden nach, wie sie eifrig miteinander flüsternd neben dem Polizisten hergingen und in das Polizeiauto stiegen. Sicher freuten sie sich schon darauf, ihren Schulkameraden die sensationelle Botschaft verkünden zu dürfen. Er musste schmunzeln. Die haben den Schock sehr schnell überwunden, dachte er.

Plötzlich hörte er jemanden seinen Namen rufen. Er sah sich um. Am Rande der Absperrung stand seine Mutter und winkte ihm aufgeregt zu.

4

Der Kriminalfall ging Hanna nicht aus dem Kopf, als sie nach dem Frühstück die Küche aufräumte. Inga war mit den Kindern unterwegs zur Schule und es war wieder still im Haus. Hanna machte sich Gedanken. Ein Mord! Hier in ihrem kleinen Städtchen, in dem selten etwas Aufregenderes geschah als eine Prügelei unter Betrunkenen oder Einbrücke in Wohnhäuser oder Schulen! Beunruhigend!

Na gut, vor ein paar Monaten hatte es gebrannt. Das alte Haus der Familie Groteknecht war bis auf die Grundmauern abgebrannt. Eine Gasexplosion, wie sich herausstellte. Grund war eine defekte Gasleitung gewesen. Gott sei Dank hatten sich das Ehepaar Groteknecht und die drei Kinder rechtzeitig retten können, mit nur leichten Rauchvergiftungen.

Okay, wenn sie genauer darüber nachdachte, war es nicht nur die Sorge um die Sicherheit der Bewohner, die sie beunruhigte, auch nicht nur das Mitgefühl mit dem Opfer. Hanna musste sich eingestehen: Sie fand es aufregend! Und unglaublich spannend! Wer weiß, dachte sie, welches verhängnisvolle Schicksal sich hinter dieser Gewalttat verbirgt! Ein Verbrechen aus Leidenschaft vielleicht? Oder ein Racheakt? Vielleicht war es aber auch ein kaltblütig geplanter Mord, um jemanden zum Schweigen zu bringen? Auf jeden Fall war es ein Rätsel, das es zu lösen galt. Wie sie Thomas, den Kriminalhauptkommissar, um diese Aufgabe beneidete!

Wie dem auch sei. Jetzt wollte sie erst einmal ins Freie und den sonnigen Tag genießen.

Sie zog ihre Joggingsachen an, nahm die Stöcke fürs Walken, steckte ihre Papiere, etwas Geld und den Hausschlüssel ein und verließ das Haus. Im Vorgarten blieb sie stehen und atmete ein paar Mal tief ein und aus. Herrlich, diese frische Luft nach dem Regen heute Nacht! Sie wandte sich nach rechts Richtung Stadtrand und ging mit zügigen Schritten den Bürgersteig entlang. Es herrschte vormittägliche Stille zwischen den schmucken Einfamilienhäusern: Die Erwachsenen gingen ihrer Arbeit nach, die Kinder waren in der Schule, nur ein paar Senioren oder Hausfrauen traf man um diese Zeit zu Hause. an.

„Moin, Frau Morgenroth!“, rief ihr die alte Frau Maschewski, die trotz ihrer Jahre - sie musste weit über achtzig sein, schätzte Hanna - schon fleißig Unkraut jätete in den Staudenbeeten vor ihrem Haus, was Hanna sofort ein schlechtes Gewissen verursachte, wenn sie an ihren Gemüsegarten dachte, der auch längst wieder in Ordnung gebracht werden musste. „Schönes Wetter heute, was?“

„Moin, Frau Maschewski“, antwortete Hanna, ohne jedoch ihren Schritt zu verlangsamen. „Ja, wirklich schön. Das muss man ausnutzen“, ergänzte sie. „Schönen Tag noch!“ Schon war sie vorbei am Gartenzaun der alten Frau, die ihr enttäuscht hinterher blickte. Hanna hatte heute keine Lust, sich zu einem kleinen Schwätzchen aufhalten lassen, wie sie es sonst gerne tat, dazu war sie zu unruhig.

Sie setzte ihren Weg zügig fort. Die Straße mündete am Rande des Wohngebietes in einem befestigten Spazierweg, der in ein längliches Waldstück führte: Hannas bevorzugtes Walkgelände.

Immer noch war sie mit ihren Gedanken ganz bei dem Mord, der in ihrem sonst so friedlichen Örtchen geschehen war. Wer mochte das Opfer wohl sein und unter welchen Umständen war es zu der Untat gekommen? Sie beschleunigte ihre Schritte, um sich durch die körperliche Anstrengung von ihrer Grübelei abzulenken, ohne großen Erfolg.

Nach einer halben Stunde hatte sie das Wäldchen durchquert und näherte sich der Straße am anderen Ende. Überrascht verhielt sie den Schritt. Schon von weitem sah sie das auffällige rot-weiße Absperrband der Polizei. Das musste die Stelle sein, an der die Leiche gefunden worden war!

Aufgeregt näherte sie sich der Absperrung und spähte durch das Unterholz dorthin, wo die Männer in ihren weißen Schutzanzügen bei der Arbeit waren. Gerade waren zwei Leute dabei, den Körper einer Frau in den Zinksarg zu legen. Hanna erstarrte. Diese roten Haare! Sie schaute genauer hin. Tatsächlich! Konnte das wahr sein? Sie musste näher heran. Wie war es nur möglich, über die Absperrung zu gelangen? Sie sah sich um. Auf der anderen Seite entdeckte sie ihren Sohn, der wie alle am Tatort einen Schutzanzug trug. Er unterhielt sich mit dem Polizisten Richard Holthus und zwei Jungen.

„Thomas!“, rief sie, und noch einmal: „Thomas!“

Sie sah, wie er den Kopf in ihre Richtung wandte, und winkte heftig. Er sagte etwas zu den Jungen, dann kam er mit langen Schritten auf sie zu.

„Mama!“, sagte er, als er bei ihr angekommen war. „Was machst du denn hier?“

„Thomas, ich glaube, ich kenne die Tote! Kann ich sie mal von nahem sehen? Ich bin nicht ganz sicher.“

„Du kennst sie? Das wäre gut, denn wir wissen bisher nicht, wer sie ist.“ Thomas hob das Absperrband hoch und bedeutete seiner Mutter, darunter hindurch zu schlüpfen. „Komm mit, du kannst sie dir ansehen.“ Er reichte ihr ein weißes Bündel. „Aber du musst das hier überziehen, wegen der Spuren.“

Hanna schlüpfte schnell in den weiten weißen Schutzanzug und streifte die Plastikhüllen über ihre Schuhe.

Gerade wollten die Polizisten den Sarg schließen, als der Kommissar sie bat, den Deckel noch einmal anzuheben. Hanna starrte in das weiße Gesicht des Mädchens. Erschüttert schlug sie die Hand vor den Mund.

„Oh Gott, sie ist es! Das ist Yvette. Yvette Duchamp. Das französische Au-Pair-Mädchen, das bei Cordes arbeitet. Die nette kleine Yvette! Wer kann ihr das angetan haben?“

Thomas nahm sie am Ellenbogen und führte sie von der Leiche weg.

„Das musst du mir genauer erklären, Mama. Was ist das für ein französisches Mädchen?“

„Bauunternehmer Cordes ist dir doch ein Begriff, oder? Diese junge Frau arbeitet seit ungefähr einem Vierteljahr bei der Familie Cordes. Sie ist für die drei Kinder da. Wohnt mit in der Villa. Die kennst du doch sicher, das schöne große Haus an der Theodor-Storm-Straße?“

Thomas nickte. „Und woher kennst du diese Yvette?“

„Du weißt doch, ich gebe Alice, der Tochter, Nachhilfeunterricht. Sie geht aufs Gymnasium und kommt in den Naturwissenschaften nicht so gut mit. Ich unterrichte sie einmal in der Woche in Chemie und Biologie.“

„Ach so, hatte ich vergessen. Gut, Mama, das hilft uns ein ganzes Stück weiter. Jetzt wissen wir, wer die Tote ist. Nun müssen wir nur noch ihren Mörder finden.“

„Wie ist sie denn ... , ich meine, auf welche Art ... ?“

„Sie ist erwürgt worden. Ganz brutal mit bloßen Händen. Und dann hat der Mörder sie wahrscheinlich hierhergebracht und dort hinten unter dem Baum abgelegt. Gestern Nacht muss das gewesen sein.“

„Wie schrecklich! Das arme Ding!“

„Da fällt mir etwas ein, Mama. Dort an der Bushaltestelle steht ein Fahrrad. Kannst du es dir mal ansehen? Vielleicht weißt du ja zufällig, ob Yvette ein solches Fahrrad besaß.“

Er führte seine Mutter durch den Wald zur Straße, wo an der Seitenwand des Bushaltehäuschens ein pinkfarbenes Damenfahrrad angelehnt stand.