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Das Leben ist bunt und vielfältig: manchmal traurig und erschreckend, manchmal amüsant und überraschend, aber manchmal auch einfach nur alltäglich. In den hier versammelten fünfzehn Kurzgeschichten und Essays erzählt die Autorin von diesem Leben. Ob ein tragisches Unglück plötzlich das Leben einer jungen Familie zerstört oder eine Jugenddummheit die Beziehung eines jungen Paares überschattet, ob ein kleines Mädchen in der Schule eine Prüfung durchsteht oder ob eine Krankenschwester ungewollt schuldig wird am Tod eines Menschen, immer ist es ein emphatischer Blick, mit dem die Autorin die Personen schildert, denen diese Ereignisse widerfahren.
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Seitenzahl: 145
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Zum Inhalt
Das Leben ist bunt und vielfältig: manchmal traurig und erschreckend, manchmal amüsant und überraschend, aber manchmal auch einfach nur alltäglich. In den hier versammelten fünfzehn Kurzgeschichten und Essays erzählt die Autorin von diesem Leben. Ob ein tragisches Unglück plötzlich das Leben einer jungen Familie zerstört oder eine Jugenddummheit die Beziehung eines jungen Paares überschattet, ob ein kleines Mädchen in der Schule eine Prüfung durchsteht oder ob eine Krankenschwester ungewollt schuldig wird am Tod eines Menschen, immer ist es ein emphatischer Blick , mit dem die Autorin die Personen schildert, denen das Ereignis widerfährt.
Zur Autorin
Margarete Bertschik wurde 1951 geboren, ist verheiratet und Mutter zweier erwachsener Söhne. Nach ihrer beruflichen Tätigkeit als Gymnasiallehrerin absolvierte sie 2014/2015 ein Studium zur Autorin und machte damit ihr langjähriges Hobby, das Schreiben von Kurzgeschichten, Erzählungen und Romanen zu ihrem zweiten Beruf.
2026 erschien ihr erster Kurzgeschichtenband mit dem Titel „Der Tod ist nicht fair – das Leben auch nicht“, dem nun der zweite Band folgt.
https://www.autorin-margarete-bertschik.de
An diesem Tag
Herr Olschewski tut Gutes
Die Schwester
Malte
Das Holzpferd
Die Schulfreunde
Schuldig
Das Lied
Der Pfarrer
Die Unsichtbare
Besuch aus Japan
Ein starker Abgang
So einfach
Zweigespräch
Frausein
An diesem Tag
wachte Carsten Millberg besonders gutgelaunt auf. Er blinzelte in das Sonnenlicht, das durch die Rillen der Rollläden drang und einen dieser geradezu kitschig schönen Spätsommertage verhieß. Genüsslich streckte Carsten alle Muskeln seines Körpers bis hin zu den Zehen und gähnte dabei ausgiebig. Insa lag abgewandt von ihm auf der Seite, sodass er nur ihren braunen Haarschopf sehen konnte. Sie gab friedliche kleine Schnarchgeräusche von sich, die Carsten zum Lächeln brachten. Insa bestritt zwar vehement, dass sie schnarchte, aber tatsächlich war sie diejenige von ihnen beiden, die Nacht für Nacht vor sich hin sägte. Gott sei Dank störte es ihn nicht; er konnte trotzdem schlafen wie ein Murmeltier.
Wie spät mochte es sein? Er warf einen Blick auf die Digitalanzeige des Weckers. Erst kurz nach sieben. Noch zu früh zum Aufstehen. Er verschränkte seine Arme hinter dem Kopf und genoss die morgendliche Stille.
Auf den Tag heute freute sich die ganze Familie schon lange. Carsten hatte den Kindern versprochen, mit ihnen den Freizeitpark zu besuchen. Zwar rissen die Kosten für die Tageskarten und die unvermeidlichen Bratwürste mit Pommes Frites ein ganz schönes Loch in ihre Haushaltskasse - schließlich waren sie fünf Personen -, aber die Überstunden, die er im Moment machen konnte, brachten gutes Zusatzgeld. Gott sei Dank war die Auftragslage in der kleinen Malerfirma, in der er arbeitete, zurzeit wirklich gut. Sein Chef hatte zufrieden verkündet, dass sie für das nächste halbe Jahr ausgebucht wären. Und die neue Auszubildende, die kleine Mia, brachte seit Kurzem zusätzliche Lichtblicke in den Arbeitsalltag mit ihrem blonden Pferdeschwanz und dem rosa T-Shirt unter der weißen Malerlatzhose. Tim, der Geselle, wurde immer ganz unruhig, wenn Mia auf der Leiter stand und die Tapeten klebte. Carsten grinste in sich hinein bei dem Gedanken an Tims schmachtende Blicke.
Ihm wurde langweilig im Bett. Er beschloss, aufzustehen und das Frühstück vorzubereiten.
An diesem Tag
wurde Insa Millberg von dem leisen Geschirrgeklapper in den Küche geweckt. Carsten macht Frühstück, nett, dachte sie. Sie dehnte ihre Glieder unter der schlafwarmen Decke. Es war schön gewesen gestern Abend! Sie hatten gemeinsam das 'Quiz des Menschen' im Fernsehen geschaut und dabei ein paar Gläser Wein geleert. Eigentlich trank Carsten lieber Bier, aber hin und wieder leistete er ihr auch bei einer Flasche Rotwein Gesellschaft. Meistens dann, wenn er Lust hatte mit ihr zu schlafen. Was er dann auch getan hatte. Es war wirklich schön gewesen. Er konnte so liebevoll und zärtlich sein, ihr Carsten. Jetzt waren sie schon so lange verheiratet und immer noch machte es ihnen Spaß, miteinander zu schlafen. Zwar nicht mehr so oft wie früher, aber oft genug. Und immer war es schön.
Insa hörte eine helle Kinderstimme aus der Küche. Aha, Tinchen war wach. Gleich würde sie ins Schlafzimmer kommen, schauen, ob sie schon aufgewacht war und dann in ihr Bett kriechen und sich an sie kuscheln, ihre Kleine. Die beiden Großen schliefen sicher noch; sie waren morgens kaum wachzukriegen. Heute, am Samstag, durften sie ruhig etwas länger schlafen als an den Schultagen.
An diesem Tag
verlief das Frühstück bei der Familie Millberg in ausgelassener Stimmung. Julian, der Zehnjährige, bedeckte sein Brötchen zentimeterdick mit Nutella, ohne sich darum zu kümmern, dass seine Lippen beim Abbeißen vollständig mit der braunen Creme verschmiert wurden. Lea, seine große Schwester, klopfte den Takt der Rap-Musik, die sie in ihren Kopfhörern hörte, mit der linken Hand auf den Tisch, während sie mit der rechten ihr Bananenmüsli löffelweise verschlang. Sie hatte gerade eine Zwei in Englisch geschrieben und voller Stolz zu Hause abgeliefert. Der Ausflug heute erschien ihr als die angemessene Belohnung dafür.
An diesem Tag
beschloss Tinchen Millberg, ihre pinkfarbenen Leggings, die Söckchen mit den Marienkäfern, das gelborange Kleid und den rosafarbenen Taftrock anzuziehen. Außerdem wollte sie die goldene Pappkrone von ihrem Geburtstag aufsetzen. Als ihre Mutter entsetzt ausrief: „Wie siehst du denn aus?“, brach sie in Tränen aus und weigerte sich mitzukommen, wenn sie nicht so angezogen bleiben durfte, wie sie war. Ihre Mutter kapitulierte.
An diesem Tag
warf Ralf Larssen, der Besitzer des Wing Coasters „Flug der Ungeheuer“ im Vergnügungspark, einen zufriedenen Blick zum Himmel. Es war ein perfekter Tag: Schönes Wetter, Samstag, Monatsanfang. Tags zuvor waren die Gehälter und Löhne ausgezahlt worden; das bedeutete, die Familien verfügten über frisches Geld. Es würde voll werden heute, das wusste er. Gott sei Dank! Denn das neue Fahrgeschäft hatte Millionen gekostet, die sich noch längst nicht amortisiert hatten. Die Achterbahn musste ununterbrochen laufen, um eine ausreichende Summe einzuspielen. Ein einziger verregneter Tag, und schon machte er Verluste. Aber heute würde die Kasse klingeln, das war sicher.
An diesem Tag
standen Insa, Lea und Tinchen Millberg unten an der Kasse des Wing Coasters „Flug der Ungeheuer“ und sahen bewundernd zu Vater und Bruder auf, die sich in einen der Sitze festschnallten. Die Sitze waren an den schwarzgold lackierten Flügeln der 'Ungeheuer' montiert, die aussahen wie eine Mischung aus Drachen und Fledermäusen, und wirkten beunruhigend leicht und fragil. Insa und Lea trauten sich nicht mitzufahren und Tinchen war noch zu klein für das halsbrecherische Abenteuer in dem achterbahnähnlichen Ungetüm.
An diesem Tag
löste sich aus einem Grund, der später genauestens untersucht werden würde, eine Schraube an einer der fünfteiligen Sitzkonstruktionen, die dieses Mal mit nur zwei Jugendlichen besetzt war. Die Konstruktion riss aus der Verankerung und flog in einem hohen Bogen meterweit durch die Luft, bevor sie auf den Platz vor dem Fahrgeschäft auf den Boden prallte und dabei Insa, Lea und Tinchen Millberg erschlug.
An diesem Tag
meldete die ARD in der 20:00-Uhr-Tagesschau, dass ein furchtbares Unglück in einem Vergnügungspark drei Tote und zwei Schwerverletzte gefordert habe. Eine halbe Familie, die 38jährige Mutter und die zwölf und fünf Jahre alten Töchter seien dabei ums Leben gekommen; Vater und Bruder hätten hilflos mitansehen müssen, wie das Unglück geschah. Zwei Jugendliche im Alter von sechzehn und siebzehn Jahren seien mit schweren Verletzungen in ein Krankenhaus eingeliefert worden. Die Ursache der Unfalls sei noch ungeklärt; man vermute einen Materialfehler in der Konstruktion des Fahrgeschäftes.
Herr Olschewski war ein zufriedener Mann. Für seine siebenundsechzig Jahre erfreute er sich einer soliden Gesundheit, wozu seine Leidenschaft für ausgedehnte Wanderungen durch die schönen Landschaften Deutschlands ihren Teil beitrug, ebenso wie seine gesunde Lebensweise mit wenig Alkohol und mäßigem Essen. Zigaretten oder sonstige Drogen hatte Herr Olschewski in seinem ganzen Leben nicht angerührt. Zu diesem erfreulichen Zustand trug zudem sein ausgeglichenes, geradezu optimistisches Wesen bei, das es ihm unmöglich machte, sich lange über was auch immer zu ärgern oder zu grämen.
Seit seiner Pensionierung verfügte Herr Olschewski zudem über viel freie Zeit, die er mit Reisen in alle Welt verbrachte. Als ehemaliger Geografie - und Geschichtslehrer interessierten ihn dabei besonders die außergewöhnlichen Gegenden des Erdballs, etwa der Grand Canyon oder die Taiga oder die Sahara. Aber wohin er auch reiste: Überall gab es neben ihm noch viele weitere Touristen, sodass er sich auf seinen einsamen Wanderungen in der Heimat von den vielen Menschen erholen musste.
Nicht, dass Herr Olschewski etwas gegen Menschen hatte, im Gegenteil: Er konnte ein durchaus amüsanter und eloquenter Gesellschafter sein. Er war gern Lehrer gewesen, hatte die Kinder und Jugendlichen gemocht und nach besten Wissen gefördert und erzogen, auch wenn er sich in den letzten Jahren durchaus im Klaren darüber war, dass er in den Augen seiner Schüler einer hoffnungslos altmodischen Generation angehörte, die man nicht mehr ganz ernst nehmen konnte. Zugegebenermaßen hatte Herr Olschewski sich mit der neuen Technologie, die überall in den Schulalltag eingezogen war, nicht so recht anfreunden können. Deshalb war es ihm ganz recht gewesen, als er den Schuldienst reduzieren musste, um seine alte Mutter, die zwar geistig immer noch fit war, aber körperlich stark abbaute, zu pflegen. Dieser Kindespflicht war Herr Olschewski liebevoll und gewissenhaft nachgekommen, bis seine Mutter schließlich, zweiundneunzigjährig, vor drei Jahren gestorben war.
Nun lebte Herr Olschewski allein in dem bescheidenen, aber seiner Ansicht nach durchaus komfortablen Häuschen, das er zeitlebens bewohnt und nun von seiner Mutter geerbt hatte. Nicht, dass es im Leben Herrn Olschewskis nicht auch die eine oder andere Liebesbeziehung gegeben hätte, aber es war nie zu einer Heirat gekommen. Die Gründe dafür lagen zum Teil an der engen Beziehung zu seiner Mutter - sein Vater war früh verstorben, Geschwister hatte er leider nicht - aber der tiefere Grund lag in der Tatsache, dass sein Gefühl für die jeweilige Frau nicht ausgereicht hatte für eine lebenslange Bindung. So war er schließlich allein geblieben und durchaus zufrieden damit.
Er liebte es, den Blumengarten zu pflegen, etwas Gemüse und einige Gewürzkräuter anzubauen und seine selbst gekochten Mahlzeiten mit den Erträgen aus dem Garten zu bereichern. Finanzielle Sorgen hatte Herr Olschewski nicht, im Gegenteil, das Häuschen war längst abbezahlt, ebenso der drei Jahre alte Toyota, der in der Garage stand, und seine Pension als Oberstudienrat i. R. war üppig. So üppig, dass Herr Olschewski jeden Monat Geld übrig behielt, das sich mit der Zeit auf seinem Girokonto anhäufte.
Deshalb beschloss Herr Olschewski, mit seinem Geld etwas Gutes zu tun. Da er keine Verwandten besaß, die er beschenken konnte, spendete er ansehnliche Beträge an Hilfsorganisationen aller Art: Greenpeace, Ärzte ohne Grenzen, Deutsches Rotes Kreuz, an den Tierschutzverein und viele andere gemeinnützige Vereinigungen. Er übernahm die Patenschaft für drei Kinder in der dritten Welt, indem er monatliche Beträge an die entsprechende Organisation überwies, und freute sich über die Briefe dieser Kinder, die ihn aus Nepal, Nigeria und Brasilien erreichten. Wenn an der Haustür gesammelt wurde, etwa für die freiwillige Feuerwehr oder von den Sternsingern für diverse gute Zwecke, zeigte sich Herr Olschewski immer überaus großzügig.
Doch dann geschah es, das Fortuna unverhofft ihr Füllhorn über Herrn Olschewski ausgoss und er in Verlegenheit geriet.
Er gewann im Lotto! Jahrzehntelang hatte er jede Woche einen Lottoschein ausgefüllt, immer mit den gleichen Zahlen: den Geburtsdaten seiner Mutter und seinen eigenen, ohne sich große Hoffnungen auf einen Gewinn zu machen. Manchmal hatte er drei oder sogar vier Richtige gehabt und kleinere Geldbeträge gewonnen. Diesmal aber hatte er sechs Richtige mit Zusatzzahl!
2 300 430, 32 € hatte er gewonnen! In Worten Zweimillionendreihunderttausendvierhunderunddreißig Euro und zweiunddreißig Cent. Er konnte es nicht fassen!
Ein Finanzberater seiner Bank kam und erläuterte ihm einen ganzen Nachmittag lang, welche Möglichkeiten es gab, das Geld sicher und gewinnbringend anzulegen. Es lief darauf hinaus, dass Herr Olschewski nun jeden Monat zusätzlich zu seiner Pension noch mehrere hundert Euro Gewinn aus den Anlagegeschäften erzielte, ohne das Kapital angreifen zu müssen. Er war reich!
Herr Olschewski erwog, in ein größeres Haus zu ziehen, eine Villa etwa, mit Swimmingpool und großem Park drumherum. Aber schnell nahm er Abstand von dieser Idee, denn er fühlte sich wohl und heimisch in seinem kleinen Häuschen. Warum sollte er das ändern? Auch überlegte er, sich ein größeres Auto zu kaufen. Immerhin, der Toyota war schon ein paar Jahre alt, aber er war gerade erst durch den TÜV gekommen, und Herr Olschewski mochte sein Auto. Es war bequem und handlich und er hatte sich daran gewöhnt. Sollte er vielleicht eine große, monatelange Weltreise unternehmen? Herr Olschewski wusste aus Erfahrung, dass er nach vierzehn Tagen anfing, sich auf zu Hause zu freuen.
Nein, er hatte keine Verwendung für das Geld. Aber andere Menschen schon, dachte Herr Olschewski. Er fing an, die lokale Tageszeitung daraufhin zu durchforsten, wo in seiner Stadt Geld gebraucht wurde. Etwa für den neuen Kindergarten oder die dringend benötigte Kinderkrippe. Für die Jugendbibliothek, den Spielplatz in dem neuen Wohngebiet, für die Pflege des alten Soldatenfriedhofs oder die Sanierung der Bänke im Stadtpark. Er kaufte sich wattierte DinA-5-Umschläge und füllte sie mit großen Geldscheinen. Er tippte auf seinem Computer eine Mitteilung, wofür die Spende verwendet werden sollte, unterzeichnete mit „Ein Freund“ und verschickte sie ohne Absender an die entsprechenden Verantwortlichen. In der örtlichen Presse las er anschließend aufgeregte Artikel über den anonymen Wohltäter, der die Stadt mit seinen Spenden beglückte, und schmunzelte darüber. Auf diese Weise wurde er im Laufe der Monate einige zehntausend Euro los, was aber seinen Reichtum kaum schmälerte.
Eine neue Möglichkeit fiel ihm ein. Bei seinem letzten Einkaufsbummel in der nahe gelegenen Großstadt hatte er Menschen gesehen, die am Straßenrand saßen und bettelten. Unglückliche Individuen, die am Leben gescheitert waren, ohne Arbeit und obdachlos, oft alkoholkrank oder drogenabhängig. Diesen Menschen wollte er nun helfen. Er bestückte diesmal zehn schlichte weiße Briefumschläge mit je zehntausend Euro und klebte sie zu. Am darauffolgenden Samstag fuhr er in die Stadt und bummelte durch die Fußgängerzone. Bald fand er geeignete Kandidaten für seine Spenden: ein Straßenmusikant, der auf seiner Gitarre mehr schlecht als recht Evergreens klimperte, zwei tätowierte, mit etlichen Piercings versehene Jugendliche, die die Welt um sich herum kaum wahrzunehmen schienen in ihrem offensichtlichen Drogenrausch, ein Straßenmaler, der ein dem Original nur wenig ähnelndes, überdimensionales Bild der Mona Lisa auf das Pflaster malte, ein bärtiger Alter mit Hut, dessen struppiger Hund mit aufmerksamen Augen die Hand, die den weißen Umschlag auf den Pappbecher legte, misstrauisch beäugte.
Es dauerte nicht lange, da war Herr Olschewski seine Briefumschläge los. Den letzten drückte er einer Frau mit olivfarbener Haut und langem schwarzen Haar, das mit zahlreichen grauen Fäden durchsetzt war, in die offen dargehaltene Hand. In ein großes Tuch gehüllt, kauerte die Bettlerin neben einem Stoffbündel auf einer Decke, die Augen niedergeschlagen. Eine Ausländerin offenbar. Als sie den Briefumschlag bemerkte, schaute sie kurz auf, und Herr Olschewski fing einen Blick aus ihren schwarzen, unendlich traurigen Augen auf. Schnell ging er weiter.
Als er nach Hause fuhr, überlegte er, was diese Menschen jetzt mit dem Geld wohl anfangen würden. Er machte sich keine Illusionen darüber. Sicher würde ein Teil des Geldes in Alkohol oder Drogen umgesetzt werden, aber vielleicht würde es dem einen oder anderen helfen, aus seiner prekären Situation herauszufinden. Das jedenfalls hoffte Herr Olschewski. Besonders der Frau mit den traurigen Augen wünschte er, dass die Zehntausend sie in den Stand setzen würden, sich aus ihrer Notlage zu befreien. So konnte sie sich etwa mit dem Geld in ein Hotel einmieten für einige Zeit, von dort aus in Ruhe eine Wohnung suchen und sich beim Arbeitsamt um eine Stelle bemühen, stellte Herr Olschewski sich vor. Wenn sie illegal hier war, würde sie vielleicht eine Fahrkarte nach Hause kaufen und mit dem übrigen Geld dort eine Existenz aufbauen. So hoffte er.
Herr Olschewski beschloss, die Spendenaktion zu wiederholen.
Vierzehn Tage später machte er sich also wieder auf den Weg in die Stadt, mit weiteren gleichermaßen bestückten zehn Kuverts in der Tasche. Diesmal begann er mit der Verteilung am Bahnhof, wo es keinen Mangel an Kandidaten für seine Spenden gab. Als er schließlich mit nur noch einem Umschlag durch die Fußgängerzone ging, sah er zu seinem Erstaunen an dem gleichen Platz wie beim letzten Mal die Frau mit den traurigen Augen sitzen. Damit hatte er nicht gerechnet. Wieso musste sie immer noch hier sitzen und betteln? Was hatte sie mit dem Geld angefangen? Neugierig näherte er sich der Frau und blieb vor ihr stehen. Sie schaute nicht zu ihm hoch, sondern hielt nur ihre leere Hand ausgestreckt. Er beugte sich zu ihr hinunter, nahm das Kuvert aus der Tasche und zeigte es ihr.
„Guten Tag“, grüßte er höflich. „Entschuldigen Sie, aber ich bin derjenige, der Ihnen vor zwei Wochen solch einen Umschlag gegeben hat. Erinnern Sie sich?“
Die Frau zog ihre Hand erschrocken zurück und sah ihn scheu an. In ihren schwarzen Augen stand Unverständnis. Ängstlich blickte sie um sich und machte Anstalten aufzustehen.
„Keine Angst“, versuchte Herr Olschewski sie zu beruhigen, „ich tue Ihnen nichts.“ Er lächelte sie freundlich an und ging neben ihr in die Hocke, ohne sich um die erstaunten Blicke der vorbeieilenden Passanten zu kümmern. Misstrauisch rückte sie von ihm ab.
„Ich nichts getan, bitte! Nicht verhaften!“, stammelte sie. Offensichtlich verstand sie kaum Deutsch und glaubte, er wäre von der Polizei.
„Nein, nein, ich bin nicht die Polizei. Keine Angst! Ich habe Ihnen solch einen Umschlag gegeben, schauen Sie!“ Er zeigte ihr den Briefumschlag mit dem Geld. Ein Zeichen des Erkennens zeigte sich in ihren Augen.
Sie schien ihn zu verstehen. Auf ihrem dunklen Gesicht erschien ein zaghaftes Lächeln. Sie wies mit einer schüchternen Geste auf ihn. „Du ... mir geben Geld?“