Schuld sein - Margarete Bertschik - E-Book

Schuld sein E-Book

Margarete Bertschik

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Beschreibung

Eine Million Euro! Diese Summe verspricht Elisabeth Müller-Grieffenstein, eine wohlhabende Seniorin, den sechs Menschen, die sich als Reisebegleitung auf ihre Zeitungsannonce beworben haben. Für die vier Männer und zwei Frauen würde das Geld die Erfüllung ihrer Wunschträume bedeuten, wäre da nicht die seltsame Bedingung, die an die Auszahlung des Geldes am Ende der Reise geknüpft ist: das Eingeständnis, den Tod eines Menschen verschuldet zu haben. Zögernd und voller Misstrauen, aber verlockt durch das Geld treten die sehr unterschiedlichen Personen die geplante Reise an, die sie in sechs Großstädte Deutschlands führen wird. Jede dieser Städte ist für einen der Reisenden mit beunruhigenden Erinnerungen verbunden... Die spannende road novel schildert den Konflikt zwischen dem Wunsch nach materiellem Reichtum und der Furcht vor dem Eingeständnis persönlichen Versagens im sozialen Miteinander. Jenseits gängiger Klischees wirft der Roman einen kritischen Blick auf die heutige Gesellschaft in Deutschland.

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Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Zur Autorin

Margarete Bertschik, geboren 1951, studierte Kunst ,Germanistik und Pädagogik und war Gymnasiallehrerin, bevor sie 2014 nach einem Studium zur Autorin das Schreiben zu ihrem zweiten Beruf machte. Ohne sich auf ein bestimmtes Genre festzulegen, veröffentlichte sie bisher Kurzgeschichten, Regionalkrimis sowie Romane, die sich nicht in eindeutige Rubriken einordnen lassen. Sie ist verheiratet, Mutter zweier erwachsener Söhne und lebt im Oldenburger Münsterland.

Weitere Informationen unter

https://www.autorin-margarete-bertschik.de

„Unternehmungslustige, finanziell unabhängige Seniorin sucht freundliche Reisebegleitung für zweiwöchigen Trip durch Deutschland. Sämtliche Kosten werden übernommen. PKW-Führerschein erwünscht. Zuschriften unter Chiffre 335673“

Annonce in der Rubrik Kleinanzeigen einer Regionalzeitung im Nordwesten Deutschlands, erschienen am 20. Oktober 2023

Inhaltsverzeichnis

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

Braunschweig 2015

2023

4. Kapitel

Berlin 2007

2023

5. Kapitel

Dresden 1996

2023

6. Kapitel

Köln 2000

2023

7. Kapitel

Münster 2013

2023

8. Kapitel

9. Kapitel

Danksagung

1. Kapitel

Ungeduldig trommelte der Taxifahrer auf das Lenkrad seines Mercedes, während er beobachtete, wie der Regionalzug aus Wilhelmshaven in den Bahnhof der Kleinstadt einfuhr, auf dessen Parkplatz sein Wagen stand. Der Gegenzug aus Osnabrück war vor ein paar Minuten durchgefahren. Im Radio wiederholte der Nachrichtensprecher die aktuellen Meldungen, die er zu jeder vollen Stunde verkündete, unterbrochen von den Durchsagen der Zentrale, die jeweils mit einem nervigen Kratzgeräusch angekündigt wurden, wenn die Chefin in der Taxizentrale das Mikro einschaltete.

Der Fahrer betätigte den Scheibenwischer; es hatte angefangen zu nieseln an diesem grauen Novembertag, der langsam in die Abenddämmerung überging. Missmutig betrachtete er die weißen Briefumschläge, die zusammen mit einem großen braunen Umschlag, der anscheinend mehrere Unterlagen enthielt, auf dem Beifahrersitz lagen. Er sollte die Briefe an eine Gruppe von Fahrgästen aushändigen, die mit dem soeben eingefahrenen Zug ankommen würden, hatte die Chefin ihm aufgetragen. Merkwürdige Sache, dachte er. Aber was soll’s. Er tat, was man ihm sagte, alles Weitere ging ihn nichts an.

Ein älteres Ehepaar mit voluminösen Rollkoffern an der Hand und bepackt mit mehreren Taschen näherte sich dem Taxi. Eilig stieg der Fahrer aus, öffnete die hintere Wagentür und den Kofferraum und begrüßte die Ankömmlinge. Kein Grund, wegen seines seltsamen Auftrags eine Fuhre sausen zu lassen, dachte er. Die beiden Ankömmlinge sahen gebräunt und erholt aus, sicher kehrten sie von einem längeren Aufenthalt im sonnigen Süden zurück. Da war bestimmt ein großzügiges Trinkgeld drin.

„Na, schönen Urlaub gehabt?“, fragte er leutselig.

Die beiden Alten nickten und lächelten ihn an. „Oh ja, vier Wochen in der Karibik!“, sagte die Frau. „Es war herrlich!“

Was sich die Rentner heutzutage alles leisten konnten, dachte der Taxifahrer. Wie lange lag sein eigener Urlaub jetzt schon zurück? Vier Wochen Sonne, das wäre genau das Richtige jetzt. Raus aus all dem eintönigen Grau und dem ewigen Stress …

„Und hier dann gleich wieder unser norddeutsches Schietwetter, was?“, sagte er zu der Kundin.

„Das macht nichts, das sind wir von Deutschland ja gewöhnt“, antwortete die Frau. „Zur Abwechslung ist der Regen auch mal ganz schön, finde ich.“ Sie kletterte in den Fond des Taxis, in dem ihr Mann, der das Reden offenbar lieber seiner Frau überließ, schon Platz genommen hatte.

Der Fahrer hievte die beiden riesigen Gepäckstücke in den Kofferraum, stopfte die Taschen in den noch übrig gebliebenen Stauraum und schloss den Deckel. Dann öffnete er die Fahrertür, beugte sich ins Wageninnere und wandte sich an seine Fahrgäste: „Bitte entschuldigen Sie mich einen kleinen Moment, ich bin gleich wieder bei Ihnen“. Er nahm die Kuverts von dem Beifahrersitz, schloss die Tür und rannte durch den stärker werdenden Regen zum Bahnsteig.

Die meisten der gerade eingetroffenen Fahrgäste hatten sich inzwischen vom Bahnhofsgelände entfernt, waren in ihre geparkten Autos gestiegen oder hatten sich mit ihren Fahrrädern oder zu Fuß auf dem Heimweg gemacht. Nur einige Wenige hatten unter dem Vordach des altmodischen Bahnhofsgebäudes Schutz vor dem Regen gesucht, standen vereinzelt herum und warteten offensichtlich auf jemanden.

Der Taxifahrer warf einen Blick auf die Namen, die auf den Kuverts standen, dann näherte er sich den Wartenden und fragte mit erhobener Stimme: „Ist hier vielleicht ein Herr Förster? Oder eine Frau Scholz?“

Ein großer schlanker Mann in einer teuren Allwetterjacke wandte sich ihm zu, ebenso eine Frau, die die Kapuze ihrer roten Steppjacke über den Kopf gezogen hatte.

„Und dann suche ich noch eine Frau Opitz, einen Herrn Polte, Herrn Brecht und Herrn Scherer“, verkündete der Taxifahrer, während er die Briefumschläge durch seine Finger gleiten ließ, um die Namen lesen zu können.

Zögernd traten vier weitere Personen auf ihn zu.

„Ich bin Carmen Opitz“, stellte sich eine Frau im modischen Kamelhaarmantel vor. Ihr stark geschminktes Gesicht unter der runden Kappe mit Tigermuster zeigte einen überraschten Ausdruck.

„Ich bin Melanie Scholz“, sagte die Frau in der roten Steppjacke.

Ein junger Mann mit dünnem blondem Bart und langen Haaren trat an den Fahrer heran. „Sören Scherer. Das bin ich.“

„Werner Polte“, meldete sich ein dicker Mann mit Schirmmütze.

„Johannes Brecht mein Name.“ Ein hochgewachsener graubärtiger Mann näherte sich der kleinen Gruppe, die sich um den Fahrer herum versammelt hatte.

Der Taxifahrer hielt die Kuverts hoch. „Ich habe hier jeweils einen Brief für Sie.“

Verwundert sahen die sechs Menschen ihn an. Offensichtlich hatten sie nicht erwartet, auf diese ungewöhnliche Art und Weise eine Nachricht zu erhalten. Zögernd nahmen sie die Briefe entgegen. Die vier Männer und zwei Frauen bildeten unwillkürlich einen Kreis. Sie drehten die Kuverts um, um zu sehen, ob ein Absender vermerkt war, noch unschlüssig, ob sie den Brief öffnen sollten oder nicht.

Der Taxifahrer trat von einem Bein auf das andere. Er dachte an seine beiden Fahrgäste, die sicher schon ungeduldig auf seine Rückkehr warteten.

„Und was ist hiermit?“, fragte er in die Runde und wedelte mit dem großen braunen Kuvert, das er immer noch in der Hand hielt. „Wem darf ich das hier geben?“

„Moment mal bitte!“

Der Mann in der Allwetterjacke, der den Brief mit dem Namen Antonius Förster entgegengenommen hatte, hob seine Stimme und sprach ihn direkt an. „Wie kommen Sie eigentlich zu diesen Briefen? Wer hat Sie geschickt?“

Sein herrischer Ton machte den Fahrer wütend. Hatte er es nötig, sich von diesem arroganten Yuppie-Typen anfahren zu lassen? Schließlich tat er nur seiner Chefin einen Gefallen.

„Nun mal ganz ruhig! Die Briefe wurden in der Zentrale abgegeben, keine Ahnung, von wem. Ich habe nur den Auftrag, sie Ihnen auszuhändigen, das ist alles. Kein Grund, sich aufzuregen! Vielleicht lesen Sie erst einmal, was drinsteht? Dann wissen Sie sicher gleich mehr.“

Der Mann warf ihm einen ärgerlichen Blick zu, dann riss er den Brief auf und entnahm ihm ein weißes Blatt Papier, auf dem wenige Zeilen Text standen. Er las:

Lieber Herr Förster!

Leider kann ich Sie nicht am Bahnhof in Empfang nehmen. Bitte kommen Sie zusammen mit den anderen Gästen ins Hotel Zum Alten Schützen, Marktplatz 1, hier am Ort. Auf dem Bahnhofsparkplatz steht ein Auto für Sie bereit. Der Taxifahrer wird Ihnen die Papiere und den Schlüssel dafür aushändigen.

Herzlichst

Ihre Elisabeth Müller-Grieffenstein

Inzwischen hatten auch die anderen ihre Kuverts geöffnet und die Botschaft gelesen. Offensichtlich hatten alle sechs die gleiche Nachricht erhalten, wie sie durch einen schnellen Vergleich feststellten. Verwirrt sahen sie sich gegenseitig an.

„Haben Sie sich auch auf diese Annonce gemeldet, wegen der Reisebegleitung?“, fragte Förster in die Runde.

„Ja“, antwortete Melanie Scholz. Die anderen nickten bestätigend.

„Ich wusste gar nicht, dass wir eine Reisegruppe bilden, Sie etwa?“, fragte Förster, der sich offenbar als Erster auf die neue Situation eingestellt hatte.

„Ich auch nicht“, sagte Werner Polte, der Mann mit der Schirmmütze. „Das ist ja eine ganz schöne Überraschung!“

„Ich dachte, ich sei die einzige Reisebegleiterin der alten Dame“, meldete sich Carmen Opitz zu Wort. „Eine Zumutung, diese Änderung!“

„Aber nicht doch, meine Liebe! Es ist doch lustig, eine ganze Gruppe zu sein“, meinte der wie ein Student aussehende junge Mann, Sören Scherer. Er lachte und ergänzte: „Ich liebe Überraschungen! Wer weiß, was die nette alte Dame noch für uns bereithält.“

„Vielleicht ist sie krank und kann deshalb nicht hier sein.“ Melanie Scholz hatte die Kapuze ihrer roten Steppjacke zurückgeschoben, sodass ihr rundes Gesicht zum Vorschein kam. Der Regen hatte inzwischen nachgelassen.

„Wirklich merkwürdig. Ich bin auch davon ausgegangen, dass es eine Reise zu zweit sein würde“, meinte der hochgewachsene Ältere im blauen Stoffmantel.

„Was ist nun hiermit?“ Der Taxifahrer hielt den braunen Umschlag in die Höhe. „Ich hab‘ nicht ewig Zeit.“

„Das müssen wohl die Autopapiere sein“, meinte Förster. Er griff danach, öffnete den Umschlag und blickte hinein. „Ja. Hier sind die Schlüssel.“

„Na dann, schönen Tag noch!“, sagte der Fahrer und ging eilig in Richtung Parkplatz davon. Unschlüssig standen die sechs Personen da und sahen ihm nach. Wieder ergriff der Mann namens Förster die Initiative. „Ich schlage vor, wir schauen uns das Auto einmal an, einverstanden? Der Parkplatz ist anscheinend dahinten.“ Er wartete die Zustimmung der anderen nicht ab, fasste den Griff seines Samsonite-Koffers und schlug die Richtung ein, in die der Taxifahrer verschwunden war.

Sören Scherer schulterte mit Schwung seine Reisetasche und folgte ihm. „Da bin ich ja mal gespannt, was da auf uns zukommt“, sagte er fröhlich grinsend zu Werner Polte, der sich ihm missmutig anschloss.

„Wahrscheinlich wird nichts aus der Reise“, mutmaßte der korpulente Mann. „Ganz schön komisch, finde ich. Uns nichts davon zu sagen, dass es eine ganze Gruppe ist.“

Melanie Scholz hatte sich neben Carmen Opitz eingereiht und warf schüchterne Seitenblicke auf die Frau, die ihren eleganten Designer-Reisekoffer, auf den sie das dazu passende Beauty-Case gestellt hatte, neben sich herschob. Seufzend zog sie ihren eigenen Rollkoffer, den sie billig im Supermarkt extra für diese Reise gekauft hatte, hinter sich her.

Johannes Brecht, der ältere Mann mit dem grauen Vollbart, folgte der kleinen Gruppe schweigend. Er hatte sein Handy aus der Manteltasche geholt und las die Nachrichten auf dem Display.

Auf dem Parkplatz standen nur wenige Autos. Antonius Förster hatte die Kfz-Papiere aus dem Umschlag herausgenommen und las die Fahrzeugbeschreibung. „Es ist ein Mercedes V-Klasse, ein Viano.“ Suchend sah er sich um. „Dort steht er“, sagte er und wies auf einen hellgrauen VAN, der groß genug war, um sechs Erwachsene bequem zu transportieren.

Werner Polte stellte seinen Koffer ab und umkreiste das Auto mit fachmännischem Blick. „Tolle Kiste!“, meinte er anerkennend. „Und ganz neu, wie es aussieht.“

„Also: Fahren wir jetzt ins Hotel?“, fragte Antonius Förster. „Oder will jemand nicht mit?“

Als sich keiner äußerte, fuhr er fort: „Gut. Wenn Sie nichts dagegen haben, fahre ich.“

Er öffnete mit einem Klick die Zentralverriegelung des Wagens und schob die seitliche Schiebetür beiseite. „Bitte einsteigen, die Herrschaften!“, forderte er seine Begleiter auf.

„Ich setze mich auf den Beifahrersitz, okay?“, kündigte Sören Scherer an. „Ich habe noch nie in einer solchen Kiste gesessen.“

Johannes Brecht half den beiden Frauen beim Einsteigen und verstaute dann zusammen mit Förster das gesamte Gepäck im Kofferraum des Wagens. Werner Polte war inzwischen ins Innere des Autos geklettert und ließ sich keuchend auf einen der Sitze fallen. Während Johannes Brecht sich auf den noch freien Platz setzte und die Seitentür schloss, nahm Antonius Förster hinter dem Steuer Platz und machte sich vertraut mit den Armaturen. „Immerhin, ein wirklich modernes Auto! Alles auf dem neuesten Stand der Technik!“, meinte er anerkennend.

„Cool“, urteilte Sören Scherer. „Ein Cockpit wie im Flugzeug“.

„Na, das wohl doch nicht“, korrigierte Förster den jungen Mann. „Aber nicht schlecht.“ Er startete den Wagen, der mit einem satten Brummen des Dieselmotors seine Fahrbereitschaft anzeigte. Antonius Förster programmierte die Hoteladresse in das Navigationsgerät ein.

„Alles bereit dahinten?“, fragte er. Werner Polte antwortete: „Alles klar“, und Förster fuhr los.

Die Fahrt führte durch die inzwischen beleuchteten Straßen der unscheinbaren Kleinstadt und dauerte keine zehn Minuten. Das Hotel Zum Alten Schützen lag zentral an einem größeren Platz und fiel durch seine sorgfältig renovierte Gründerzeitfassade auf, die einen freundlich-altmodischen Eindruck machte. Der nahezu leere Parkplatz, zu dem ein Hinweisschild führte, deutete darauf hin, dass, wie um diese Jahreszeit nicht anders zu erwarten, nur wenige Gäste das Hotel bewohnten.

„Da sind wir“, stellte Förster fest. Er stieg aus und öffnete die Schiebetür des Autos. „Alles aussteigen bitte!“

Im Foyer des Hotels empfing sie eine altmodische Wohnzimmeratmosphäre: gemusterte Polsterstühle und Sessel im altdeutschen Stil, ein Tresen aus dunklem Eichenholz, Jagdtrophäen und nachgedunkelte Ölgemälde an den Wänden, zahlreiche Lampen, die weiches Licht verbreiteten. Schwere Vorhänge verdeckten die Fenster, ein dunkelbrauner Teppichboden verschluckte jedes Schrittgeräusch.

„Oh mein Gott“, entfuhr es Carmen Opitz. „Wo sind wir denn hier gelandet?“

Sie nahm ihre Kappe ab und schüttelte ihr langes blondes Haar aus, das ihr in Wellen über die Schultern fiel. Werner Polte warf ihr einen bewundernden Blick zu.

„Ist doch saugeil“, meinte Sören Scherer. Er trat näher an eine Reihe unterschiedlich großer Rehbockschädel heran, die an der Wand befestigt waren. „So etwas hab‘ ich noch nie gesehen. Was es alles gibt …“

Antonius Förster war inzwischen an den Tresen herangetreten und betätigte die Klingel. Eine Frau mittleren Alters kam aus einem Nebenraum herbei und stellte sich diensteifrig hinter den Tresen. Mit einem freundlichen Lächeln wandte sie sich den Reisenden zu.

„Guten Abend, die Herrschaften. Ich nehme an, Sie gehören zur Reisegruppe von Frau Müller-Grieffenstein?“

„Ja, sieht ganz so aus“, antwortete Förster mit einem Blick auf seine Begleiter, die sich hinter ihm versammelt hatten.

„Herzlich willkommen!“ Die Rezeptionistin schlug ein dickes Anmeldebuch auf und drehte es um, sodass die Ankömmlinge es einsehen konnten. „Wenn Sie sich bitte hier eintragen möchten? Wir haben drei Doppelzimmer für Sie reserviert, natürlich mit je zwei Einzelbetten. Einzelzimmer haben wir leider nicht. Ich hoffe, es ist Ihnen recht so?“

„Doppelzimmer?“ Wieder drehte sich Förster zu seinen Begleitern um und sah sie fragend an. „Soll das heißen, wir müssen zu zweit in einem Zimmer wohnen?“

„Das kommt überhaupt nicht in Frage!“ Carmen Opitz packte entschlossen den Griff ihres Koffers. „Wann geht der nächste Zug? Ich fahre sofort wieder nach Hause.“

„Bitte warten Sie einen Moment. Ich soll Ihnen das hier geben von Frau Müller-Grieffenstein!“ Die Hotelangestellte holte ein Briefkuvert aus einem Fach und überreichte es Förster, den sie wohl als Sprecher der Gruppe ausgemacht hatte.

„Das artet ja zu einer regelrechten Schnitzeljagd aus“, meinte Förster. Er riss das Kuvert auf und entnahm ihm ein Blatt Papier. Die anderen versammelten sich um ihn, um zu hören, was in dem Brief stand.

„Liebe Gäste! Ich muss Sie noch einmal um ein wenig Geduld bitten. Die für Sie reservierten Zimmer stehen bereit, ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, sich zu zweit jeweils einen Raum zu teilen. Es ist vorläufig nur für eine Nacht. Richten Sie sich ein und machen Sie es sich gemütlich. Im Hotelrestaurant wartet anschließend ein leckeres Abendessen auf Sie. Alle Kosten sind bereits beglichen. Danach werde ich Sie mit den Modalitäten unserer Reise bekanntmachen. Herzlichst Ihre Elisabeth Müller-Grieffenstein“

Förster ließ den Brief sinken.

„Was sagt man dazu?“, sagte er. „Das wird ja immer mysteriöser.“

Konsterniertes Schweigen. Sören Scherer fasste sich schnell.

„Das ist ja ein Ding“, sagte er. „Ganz schön krass! Aber wenn wir schon mal hier sind, können wir ja auch eine Nacht bleiben, finde ich. Langsam werde ich neugierig, was die alte Dame mit uns vorhat.“ Er schulterte seine Reisetasche, grinste und fragte: „Wer hat Lust, sich mit mir ein Zimmer zu teilen? Ich verspreche auch, nicht zu schnarchen.“

„Wenn Sie nichts dagegen haben, schließe ich mich Ihnen an.“ Johannes Brecht, der Ältere im dunkelblauen Mantel nahm seinen Koffer auf und stellte sich neben Scherer. „Heute Abend kommen wir hier sowieso nicht mehr weg, wie es scheint. Also machen wir das Beste aus der Situation. Was meinen Sie?“ Seine Frage richtete sich an die Übrigen, die unschlüssig herumstanden.

„Also gut“, sagte Förster. „Dann werden wir beide wohl eine Zimmergemeinschaft bilden müssen, Herr …?“ Er richtete sich an den dicken Mann, der inzwischen seine Schirmmütze abgenommen hatte. „Entschuldigen Sie, ich habe Ihren Namen nicht mitgekriegt.“

„Polte. Werner Polte heiße ich. Und Sie heißen Förster, richtig?“

„Ja. Antonius Förster. Gut, dann nehmen wir also ein gemeinsames Zimmer, Herr Polte. Ich denke, wir werden uns schon verstehen.“

Er wandte sich den beiden Frauen zu, die unschlüssig dastanden.

„Wie steht es mit Ihnen, meine Damen? Was gedenken Sie zu tun?“

Carmen Opitz und Melanie Schubert sahen sich an. „Da es ja kaum eine Möglichkeit gibt, heute Abend noch von hier wegzukommen, bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen“, meinte Carmen Opitz schließlich. Melanie Scholz zuckte die Schultern. „Mir macht es nichts aus, mit Ihnen ein Doppelzimmer zu teilen. Wenn es Ihnen auch recht ist …?“

„Gut. Dann geben Sie uns bitte die Schlüssel“, sagte Förster zu der Frau hinter dem Tresen, die schweigend dem Gespräch gefolgt war.

„Sehr gerne! Den Speisesaal finden Sie dort rechts, durch die Doppeltür, der Fahrstuhl ist rechts. Ihre Zimmer liegen im 1. Stock. Wenn Sie sich bitte vorher noch in das Gästebuch eintragen wollen ...?“

„Ein richtiggehendes Gästebuch, wie süß!“, spottete Sören Scherer. „Dass es das in unseren Computerzeiten überhaupt noch gibt! Und alles handschriftlich ausgefüllt. Wie geil ist das denn!“

„Das Abendessen gibt es ab 19.00 Uhr. Für Sie ist ein Tisch für sechs Personen vorbereitet“, teilte die Rezeptionistin mit. „Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt!“ Sie händigte die Schlüssel aus, die Förster, Scherer und Carmen Opitz entgegennahmen, und die unfreiwilligen Paare machten sich auf den Weg zu ihren Zimmern.

Carmen Opitz hievte ihren schweren Koffer mit einer ruckartigen Bewegung auf das Bett am Fenster, das sie, ohne ihre Mitbewohnerin zu fragen, als das ihre bestimmt hatte. Eine Zumutung, dachte sie, eine unfassbare Zumutung, mit einer wildfremden Frau in einem Zimmer schlafen zu müssen! Noch dazu mit dieser plumpen Person in ihrer unmöglichen Steppjacke, in der sie aussieht wie eine überreife Tomate! Erbost riss Carmen den Reißverschluss ihres Koffers auf und schlug den Deckel zurück. Erst einmal würde sie sich jetzt umziehen, diese Stiefel waren die Hölle! Sie musste sich unbedingt abgewöhnen, Schuhe immer eine Nummer zu klein zu kaufen, in der Hoffnung, dass ihre Füße dadurch zierlicher wirkten. Und die Acht-Zentimeter-Absätze waren auch nicht gerade eine Wohltat für die Füße, aber daran hatte sie sich schon lange gewöhnt. Seufzend ließ sie sich auf den Rand des Bettes fallen, streifte die eleganten Stiefeletten ab und zog ein paar flache Ballerinas aus dem Schuhbeutel. Was sollte sie anziehen zum Abendessen? Gott sei Dank gab es bald etwas zu essen; sie hatte seit ihrer Abfahrt am Morgen nicht Anständiges mehr gegessen. Und diese lange stressige Bahnfahrt! Sie musste sich unbedingt frischmachen. Was sollte sie anziehen? Sie nahm einige Kleidungsstücke aus dem Koffer und breitete sie auf dem Bett aus. Nichts Elegantes, damit würde sie den anderen nur Stoff zum Gaffen bieten. Dieser vierschrötige Typ mit der Schirmmütze hatte sie vorhin schon angeglotzt, als hätte er noch nie eine Frau gesehen. Also etwas Schlichtes, Einfaches. Hose und Pullover vielleicht? Der lindgrüne Kaschmirpulli, der ihre Figur so gut zur Geltung brachte, dazu die lange gerade geschnittene Stoffhose im gleichen, etwas dunkleren Farbton? Ihre langen Beine sahen darin geradezu endlos aus, selbst wenn sie flache Schuhe trug. Carmen legte die beiden Kleidungsstücke bereit. Nervös fuhr sie sich mit den Händen durch ihr offenes Haar. Sie musste ihre Haare neu frisieren! Sollte sie sie vielleicht hochstecken? Dadurch käme ihr Nacken besonders gut zur Geltung, wie sie wusste.

Carmen wandte sich an ihre Zimmergenossin, die ebenfalls dabei war, sich einzurichten. „Ich geh dann mal ins Bad, in Ordnung?“, fragte sie. Es war weniger eine Frage als eine Ankündigung. Sie nahm ihr Beauty Case, die ausgewählten Kleidungsstücke und ging in Richtung Bad, ohne auf eine Antwort zu warten.

„Schon okay“, murmelte Melanie Scholz pro forma, während sie ihrer Bettnachbarin hinterhersah. Was für eine tolle Figur die Frau hat, dachte sie. Dabei war sie doch auch nicht mehr jung. Sicher schon Mitte oder Ende vierzig. Wenn sie, Melanie, doch auch nur so aussehen würde! Dann könnte sie auch alles tragen. Missmutig betrachtete sie den Inhalt ihres Koffers. Selbst die teuersten Klamotten sahen an ihr immer aus wie ein Kartoffelsack. Wenn sie es doch nur schaffen würde, zehn oder besser fünfzehn Kilo abzunehmen! Aber bei dem Stress im Krankenhaus hatte sie einfach nicht die Kraft dazu. Außerdem: Für wen sollte sie denn gut aussehen? Es achtete ja doch keiner darauf. Sie musste nur funktionieren, Tag für Tag, immer dasselbe. Gott, wie froh sie war, jetzt für vierzehn Tage dieser Tretmühle den Rücken kehren zu können! Hartmut musste eben mal allein zurechtkommen. Der Kleine war bei der Oma ja ganz gut aufgehoben. Und die Patienten? Mein Gott, mal nicht dieses ständige Gejammer und Klagen anhören müssen! Obwohl, man durfte es ihnen ja nicht verdenken, den Armen! Sie hatten oft Schmerzen oder waren unglücklich, weil sie nicht wussten, wo oder wer sie waren. Alzheimer oder allgemeine Demenz. Bemitleidenswert. Man durfte eben nicht nur an sich selber denken.

Sie seufzte tief auf, während sie ihr Nachthemd und die Badutensilien aus dem Koffer nahm und aufs Bett legte. Jedenfalls war es wunderbar, mal ein paar Tage ohne all das zu verbringen, noch dazu, weil alles kostenlos war. Sonst hätte sie sich die Reise auch nicht leisten können. Aber schon komisch, dass es nun plötzlich eine ganze Reisegesellschaft war und nicht eine einzelne Person, die sie auf dieser Fahrt begleiten sollte. Was wohl heute Abend auf sie zukommen würde? Sie war wirklich gespannt. Auch ein wenig beunruhigt. Hoffentlich war es nichts, was sie zwingen würde, nach Hause zurückzufahren. Na, erst mal abwarten. Sie warf einen Blick auf die Badezimmertür, hinter der sie die Dusche rauschen hörte. Wie lange diese Modetussi wohl noch brauchte? Flüchtig musterte sie sich in dem Spiegel, der über dem Tisch mit den Hotelprospekten hing. Ob sie sich zum Abendessen umziehen sollte? Unwillig zog sie ihren Pullover zurecht, während sie sich bemühte, den Bauch einzuziehen. Sie hatte ja erst heute Morgen frische Sachen angezogen, also würde sie so bleiben, wie sie war. Schließlich mussten die Sachen für zwei Wochen reichen. Sie klappte den Koffer zu und schob ihn in eine Nische zwischen Schrank und Bett, damit er nicht im Weg herumstand. Wieder warf sie einen Blick in den Spiegel. Sie musste unbedingt abnehmen. Und sich die Haare kämmen. Wie lange wollte die Frau denn noch im Bad bleiben?

Im Zimmer nebenan zog Johannes Brecht seinen Stoffmantel aus und hängte ihn sorgfältig auf einen Bügel in den Schrank. Sodann ging er ins Bad, benutzte die Toilette und prüfte kurz sein Aussehen im Spiegel, während er sich die Hände gründlich mit Seife wusch. Zurück im Zimmer, nahm er die Hotelprospekte zur Hand, setzte sich in den kleinen Sessel, der in der Ecke des engen Raumes stand, und fing an zu lesen.

„Sie reden wohl nicht viel, was?“, meinte Sören Scherer. Der junge Mann wühlte in seiner Reisetasche herum und beförderte schließlich einen zerknautschten Kulturbeutel zutage. „Das Zimmer ist ja echt abgefahren“, sagte er. „Hab‘ nicht gedacht, dass es so etwas heutzutage noch gibt. Echt old school, das Hotel hier. Bin gespannt, ob die hier ein funktionierendes W-Lan haben. Sollte mich nicht wundern, wenn es hier nicht einmal einen Internetanschluss gibt.“ Er hatte die Fernbedienung des kleinen, an der Wand montierten Flachbildfernsehers zur Hand genommen und zappte durch die Programme. „Na, immerhin funktioniert die Glotze“, kommentierte er seine Tätigkeit.

Als auf seine Bemerkungen keinerlei Reaktion seitens seines Zimmergenossen erfolgte, stellte Scherer den Ton des Fernsehers ab und wandte sich Brecht direkt zu. „Wie war Ihr Name noch gleich?“, fragte er. „Brecht? Wie Bertolt Brecht? Hab‘ ich das vorhin richtig mitgekriegt?“ Er musterte den Mann im Sessel mit unverhohlener Neugier.

Brecht hatte inzwischen sein Handy aus seiner Jackentasche gezogen und scrollte durch die Seiten. Geistesabwesend nickte er. „Ja, das ist richtig. Ich heiße Johannes Brecht.“ Er legte höflich sein Telefon zur Seite und sah Sören an. „Und Sie sind Herr Scherer, wenn ich mich recht erinnere, richtig?“

„Richtig“, antwortete Scherer. „Und? Was halten Sie von dem Ganzen hier, Herr Brecht? Ist doch witzig, diese Art der Kommunikation mit unserer Gastgeberin, finden Sie nicht? Ich hatte bisher gedacht, ich begleite die alte Dame auf ihrem kleinen Trip, unterhalte sie ein wenig und genieße ansonsten einen kostenlosen Urlaub. Stattdessen finde ich mich zusammen mit fünf anderen ahnungslosen Opfern in diesem gottverlassenen Kaff wieder in einem Hotel, in dem Hirschgeweihe an der Wand hängen. Krass, nicht?“

„Rehbockgeweihe“, korrigierte Brecht.

„Was?“

„Sie sagten Hirschgeweihe. Er sind aber Rehbockgeweihe, die im Foyer hängen. Hirschgeweihe sind viel größer.“

Scherer brauchte einen Moment, um Brechts Einwand einzuordnen.

„Ist doch ganz egal, was für Geweihe das sind.“ Irritiert wandte sich der junge Mann wieder seiner Reisetasche zu. Jacke, Schal und Mütze hatte er achtlos aufs Bett geworfen, nun fing er an, einige andere Kleidungsstücke aus der Tasche hervorzukramen. „Was halten Sie denn nun von dieser komischen Sache hier?“, wiederholte er seine Frage.

„Hm, abwarten“, war alles, was er als Antwort von Brecht erhielt, der sich wieder in sein Handy vertieft hatte.

„Also wirklich, gesprächig sind Sie ja nicht gerade“, konstatierte Scherer leicht verärgert. Er schüttelte verständnislos den Kopf und ging ins Bad. Das kann ja lustig werden mit diesem Griesgram, dachte er, während er das Gummiband von seinen Haaren löste und sie ausschüttelte. Er holte eine Bürste aus seinem Kulturbeutel und fuhr sich ein paarmal durch die Haare, bevor er sie straff nach hinten kämmte und im Nacken zusammenband. Dann schüttete er sich mit hohlen Händen kaltes Wasser ins Gesicht und trocknete sich flüchtig ab. Bin gespannt, was das hier noch wird, dachte er. Egal, Hauptsache, ich brauche nichts zu bezahlen in den nächsten zwei Wochen. Er grinste sein Spiegelbild an. Eigentlich richtig spannend, das Ganze.

Antonius Förster schloss die Tür des Zimmers auf, das er sich mit Werner Polte teilen sollte, und rollte seinen Samsonite vor sich her in den für seinen Geschmack geradezu primitiven Raum. Polte folgte ihm zögernd. Beide sahen sich einen Augenblick prüfend in dem Zimmer um. Was für eine Scheiße, dachte Förster. Wenn er sich nur nicht auf diese idiotische Sache eingelassen hätte! Was auch immer er erwartet hatte, ganz sicher nicht, dass er sich mit einem dicken Proleten dieses indiskutable Zimmer teilen musste.

„Ich nehme dies hier, wenn es Ihnen recht ist“, teilte er seinem Mitbewohner mit und legte seinen Aktenkoffer auf das Bett. Er öffnete die Tür zum Bad und warf einen Blick hinein. Unterster Standard natürlich, wie nicht anders zu erwarten. Ohne seine teure Allwetterjacke abzulegen, warf er sich mit einer aggressiven Bewegung in den einzigen Sessel im Raum, nahm die Fernbedienung zur Hand und schaltete den Fernseher ein. Die Nachrichten liefen. Nahost und Ukraine, wieder einmal. Ungeduldig zappte er durch die Programme. Bei einer Quizshow blieb er hängen.

„Eigentlich ganz nett hier, nicht?“, meinte Werner Polte, der in aller Ruhe seine Jacke auszog und sie zusammen mit seiner Schirmmütze an den Garderobenhaken neben der Tür hängte. Er dachte an das angekündigte Abendessen und freute sich darauf. Die alte Dame, diese Müller-Grieffenstein würde sich bestimmt nicht lumpen lassen, schon als Entschädigung für die merkwürdigen neuen Umstände der Reise. Sicher war sie stinkreich und gewohnt, Menschen herumzudirigieren. Nun gut, sollte sie! Solange es für ihn kostenlos war, war es in Ordnung. Jedenfalls würde er sich diesen Urlaub nicht durch diesen arroganten Schnösel in seinen teuren Klamotten verderben lassen. Wie er schon dasaß und auf der Fernbedienung herumtippte, als gehörte das Zimmer ihm ganz allein. Bloß nicht aufregen, sagte Polte sich. Für eine Nacht würde er es schon mit dem Mann aushalten. Er öffnete seinen Koffer, nahm seinen Schlafanzug heraus und legte ihn sorgfältig gefaltet auf das Kopfkissen seines Bettes.

„Ich geh dann mal kurz ins Bad, wenn’s recht ist“, verkündete er, absichtlich die Redewendung seines Zimmergenossen wiederholend, nahm sein Waschzeug und verließ den Raum.

Seine Ironie verpuffte jedoch an Försters Geistesabwesenheit, der nur „Jaja, schon in Ordnung“, murmelte, ohne sich umzudrehen. Er hatte sich inzwischen ans Fenster gestellt und es geöffnet. Er sah hinaus in die Dunkelheit. Das Wetter ist auch beschissen, dachte er. Es hatte wieder angefangen zu regnen.

Im Speisesaal war nur ein einziger der großen runden Tische für Gäste vorbereitet: sechs vollständige Gedecke, sorgfältig ausgerichtet auf der makellosen weißen Tischdecke. Die gepolsterten Stühle mit hohen Lehnen entsprachen wie die gesamte Einrichtung dem altdeutschen Stil des Hauses. Das warme, gedämpfte Licht zahlreicher Wandleuchten verbreitete eine angenehme Atmosphäre, im Hintergrund erklang leise Tischmusik, aus der nahen Küche drangen appetitanregende Essensdüfte.

Als die beiden Frauen eintrafen, warteten die vier Männer bereits auf sie. Carmen Opitz betrat den Raum wie eine Bühne: schlank und groß, die blonden Haare in einem üppigen Pferdeschwanz gebunden, der bei jedem ihrer geübten Mannequin-Schritte wippte, in dem schönen Gesicht ein strahlendes Lächeln, das ihre makellosen Zähne zeigte, kam sie selbstbewusst auf die Männer zu. Neben ihr wirkte Melanie Scholz unscheinbar und plump, obwohl ihr rundes Gesicht mit den braunen Augen, jetzt umrahmt von lockigen dunklen Haaren, durchaus als hübsch bezeichnet werden konnte. Nachdem man sich gegenseitig begrüßt hatte, suchten sich die sechs unfreiwilligen Reisegefährten einen Platz an dem gedeckten Tisch, wobei die jeweiligen Zimmergenossen unwillentlich nebeneinander zu sitzen kamen, als gehörten sie schon irgendwie zusammen.

Die Frau, die sie an der Rezeption in Empfang genommen hatte, kam an den Tisch, in der Hand einige Getränkekarten.

„Guten Abend, die Herrschaften. Ich begrüße Sie nochmals sehr herzlich in unserem Hotel. Ich hoffe, Sie sind zufrieden mit Ihren Zimmern?“

Johannes Brecht blickte kurz in die Runde, um sich zu vergewissern, dass niemand sonst antworten wollte, dann sagte er höflich: „Ja, es ist alles so weit in Ordnung.“

„Sie werden sich vielleicht wundern“, fuhr die Frau fort, „dass Sie die einzigen Gäste sind hier im Hotel. Es ist nämlich so: Eigentlich haben wir diese Woche geschlossen, weil im November nie viel los ist, aber auf Bitten von Frau Müller-Grieffenstein haben mein Mann und ich heute den Betrieb wieder aufgenommen. Mein Mann ist Koch und er hat für Sie heute Abend unser Festtagsmenü vorbereitet. Es gibt vier Gänge: eine Hühnersuppe mit Eierstich und Klößchen als Vorspeise, gebratene Putenbrust in Curry-Sahnesauce mit Reis als Zwischengang, Schweine- und Rinderbraten mit Petersilienkartoffeln und verschiedenen Gemüsesorten als Hauptgericht und zum Abschluss Rote Grütze mit Vanillesauce oder Herrencreme. Falls jemand vegetarisch oder vegan essen möchte, hält mein Mann eine reichhaltige Gemüse- und Salatplatte bereit. Die Getränke wählen Sie bitte anhand unserer Getränkekarte.“ Sie reichte jedem der Gäste eine der kleinen Karten.

„Ja“, meldete sich Carmen Opitz zu Wort, „ich esse vegetarisch.“

„In Ordnung. Haben Sie einen besonderen Wunsch, was die Auswahl betrifft, oder soll mein Mann Ihnen parallel zu den Gängen etwas zusammenstellen?“

„Letzteres wäre nett, danke!“

Antonius Förster räusperte sich. „Frau Müller-Grieffenstein hat Ihnen also unsere Bewirtung in Auftrag gegeben. Kennen Sie die Dame persönlich? Können Sie uns vielleicht Näheres über sie sagen, Frau …?“

„Mein Name ist Marianne Weinert. Mein Mann und ich führen dieses Hotel“, stellte sich die Frau vor. „Nein, wir kennen Frau Müller-Grieffenstein nicht persönlich. Sie hat uns den Auftrag per Internet zukommen lassen und die Rechnung im Voraus bezahlt. Sie lässt Ihnen viele Grüße bestellen und hat uns beauftragt, Sie nach dem Essen zu einem Informationstreffen per Video zu bitten.“

„Aha“, meinte Förster. Er wechselte erstaunte Blicke mit seinen Tischgenossen. „Per Video? Sie wird also nicht persönlich erscheinen?“

„Nein. Wir haben im Clubzimmer alles dafür vorbereitet. Aber sie hat uns ausdrücklich gebeten, Ihnen vorher das Abendessen zu servieren. Was darf ich Ihnen denn zu trinken bringen?“

Nachdem alle ihre Wünsche geäußert hatten, eilte die Hotelbesitzerin in die Küche und erschien kurz darauf mit einer großen Terrine, die sie in die Mitte des Tisches stellte. „Ich wünsche guten Appetit, die Herrschaften!“, sagte sie und verschwand wieder in der Küche.

Einen Augenblick herrschte konsterniertes Schweigen am Tisch. Keiner machte Anstalten, mit dem Essen anzufangen. Es war Werner Polte, der schließlich die Stille beendete.

„Also dann: Guten Appetit!“ Er stand auf, hob den Deckel von der Suppenterrine, der ein verlockender Duft entstieg, ergriff die Kelle und fragte: „Wem darf ich denn etwas von dieser herrlichen Suppe aufgeben?“

Während des Essens – alle sprachen der schmackhaft zubereiteten Hausmannskost mit gutem Appetit zu – drehte sich das Gespräch um die merkwürdige Situation, in der die Sechs sich befanden. Während Antonius Förster und Carmen Opitz vor allem ihrem Unmut über die unerwartete Änderung der ursprünglichen Planung Ausdruck gaben, fand Sören Scherer die Situation eher belustigend und spannend, wie er mehrmals wiederholte. Johannes Brecht und Melanie Scholz blieben zurückhaltend in ihren Äußerungen, während Werner Polte sich vornehmlich dem Essen widmete. Schließlich, nachdem sich alle an der hausgemachten Roten Grütze und der Herrencreme gütlich getan hatten, kam Frau Weinert zu ihnen und bat sie, ihr ins Clubzimmer zu folgen.

Der Raum, der mit einer Bar und mehreren Sitzgruppen ausgestattet war, wies einen großen Kamin auf, in dem ein lebhaftes Feuer loderte. Auf einem erhöhten Tisch standen ein Beamer und ein Laptop, an einer freien Wand etwas erhöht, war eine Leinwand montiert.

„Machen Sie es sich gemütlich“, forderte die Hausherrin ihre Gäste auf. „Darf ich Ihnen etwas zu trinken bringen? Wie Sie wissen, ist alles, was Sie konsumieren, bereits bezahlt. Sie können sich auch selbst an der Bar bedienen, wenn Sie es wünschen.“

Nachdem alle einen Platz gefunden und ein alkoholisches Getränk vor sich stehen hatten, kam der Hausherr und betätigte den Laptop, sodass auf der Leinwand ein Bild erschien.

Herzlich willkommen, stand dort zu lesen.

Auf dem Schirm erschien das Bild einer alten Frau. Ihr faltenreiches, intelligentes Gesicht sah ein wenig blass aus; sie schien nicht bei allzu guter Gesundheit zu sein. Der Blick aus den hellen Augen war jedoch klar und offen. Sie wirkte sehr gepflegt: Ihre grauweißen Haare ließen die hohe Stirn frei und lagen in weichen Wellen um den schmalen Kopf, dezente Lidstriche betonten die Augen, die von hohen Augenbrauen überwölbt wurden, und auf den Lippen war rosafarbener Lippenstift zu erkennen. Am Kragen ihrer hochgeschlossenen weißen Bluse war eine kostbare Brosche mit einer Elfenbeingemme befestig. Elisabeth Müller-Grieffenstein bot das überzeugende Bild einer gutsituierten und kultivierten Dame.

Das einnehmende Lächeln, mit dem sie in die Aufnahmekamera blickte, ließ ihr Gesicht sympathisch wirken. Vor ihr auf dem Tisch, an dem sie saß, lagen einige Blätter, offenbar Notizen, die ihr als Gedächtnisstütze dienten.

Bevor sie anfing zu sprechen, setzte sie eine elegante Brille auf, deren schmale Fassung dieselbe grauweiße Farbe wie ihr Haar aufwies. Sie sprach mit klarer, weicher Stimme, akzentuiert, in korrektem Hochdeutsch.

„Guten Abend! Ich freue mich, Sie alle hier und jetzt begrüßen zu dürfen. Erlauben Sie mir, Sie miteinander bekannt zu machen, falls Sie das nicht schon selbst getan haben. Ich gehe dabei der Einfachheit halber dem Alter nach vor, fange also mit Ihnen an, Herr Professor Johannes Brecht. Sie sind 65 Jahre alt, seit kurzem emeritierter Literaturprofessor, sind geschieden, leben allein und haben keine Kinder. Ich begrüße Sie, Herr Professor, und danke Ihnen, dass Sie sich für diese Reise Zeit genommen haben.“

Das Gesicht der alten Dame zeigte ein herzliches Lächeln, als sie von ihren Notizen aufblickte und direkt in die Kamera sah.

„Sodann freue ich mich, Sie, Herr Werner Polte, begrüßen zu können. Sie waren lange Jahre als Bauarbeiter tätig, bis ein Rückenleiden Sie zwang, mit Ihren 59 Jahren in den vorzeitigen Ruhestand zu treten. Sie sind Witwer, haben drei Kinder, die mit ihren Familien leider weit entfernt von Ihnen wohnen, sodass Sie sie nur selten sehen. Es ist schön, Sie in dieser Reisegruppe zu haben. Seien Sie willkommen!“

Wieder das herzliche Lächeln.

„Der Nächste oder besser, die Nächste in der Reihe ist Frau Carmen Opitz. Bei einer Dame nenne ich das Alter natürlich nicht, nur so viel: Seit mehr als zwanzig Jahren stehen Sie, liebe Frau Opitz, schon auf der Bühne, als Sängerin oder als Model. Als studierte Designerin sind Sie in der Welt der Mode zu Hause. Sie sind geschieden, haben keine Kinder und leben allein. Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie Ihre kostbare Urlaubszeit für diese Reise opfern.“

Carmen nahm die Begrüßung mit einem Nicken entgegen.

„Lieber Herr Förster, auch Ihnen ein herzliches Willkommen. Sie sind 45 Jahre alt, selbstständiger Informatiker und IT-Projektmanager, Single, und nutzen eine berufliche Auszeit für diese Reise. Vielen Dank dafür!“

Wieder ein freundliches Lächeln der alten Dame.

„Und nun zu der zweiten jungen Dame in unserem Kreis: Willkommen, Melanie Scholz!“ Die Genannte sah aus, als wollte sie aufstehen wie ein Schulmädchen, das vom Lehrer aufgerufen wird, besann sich aber rechtzeitig und ließ sich verlegen tiefer in ihren Sessel sinken. „Sie sind Krankenschwester und Altenpflegerin, verheiratet und Mutter eines vierjährigen Sohnes. Danke, dass Sie für diese Reise Ihre gesamten Überstunden opfern wollen.“

Elisabeth Müller-Grieffenstein sah auf ihre Notizen, bevor sie fortfuhr.

„Und last but not least begrüße ich Sie, lieber Sören Scherer. Sie sind mit Ihren 27 Jahren der Jüngste in dieser Gruppe. Noch haben Sie ihren beruflichen Standort nicht gefunden, Sie studieren noch. Wie Herr Förster sind auch Sie Single. Es freut mich, dass Sie Ihre Studien für diese zwei Wochen unterbrochen haben. Danke!“

Die alte Dame hob ihre Augen von den Unterlagen, auf die sie hin und wieder geschaut hatte, nahm mit ihrer Greisenhand, an der ein großer Brillantring prangte, die Brille ab und blickte offen in die Kamera, sodass die Zuschauer sich persönlich angesprochen fühlten.

„Meine lieben Gäste“, fuhr sie in freier Rede fort, „leider hat mir mein Arzt kurzfristig verboten, an dieser Reise teilzunehmen; er meinte, mein Herz würde solcherart Aufregung nicht überstehen. Also werde ich Sie auf meine Weise begleiten.“

Sie machte eine Pause und nahm einen Schluck aus dem Wasserglas, das vor ihr stand. Die sechs Zuhörer saßen in gespannter Aufmerksamkeit da, niemand sagte ein Wort.

„Ich möchte Ihnen ein Angebot machen. Ein etwas ungewöhnliches Angebot, das gebe ich zu, aber wohl auch ein verlockendes Angebot.“

Man sah, wie eine Person, von der man nur die Arme und Hände erkennen konnte, einen flachen Lederkoffer auf den Tisch stellte und den Deckel öffnete.

„Ich schenke Ihnen eine Million Euro, wenn Sie die Reise, die ich für Sie geplant habe, bis zum Ende durchführen.“ Sie lächelte beruhigend. „Keine Angst, es ist eine ganz gewöhnliche Reise, die Sie für jeweils zwei Tage in angenehme Hotels in sechs schöne Städte Deutschlands führen wird. Wie Sie die Aufenthalte in diesen Städten gestalten, überlasse ich ganz Ihnen.“

Sie drehte den Koffer um und man sah, dass er gefüllt war mit sauber banderolierten Bündeln von 50- und 100-Euroscheinen. Ein kollektiver Seufzer ging durch die wie gebannt dasitzenden Zuschauer. Spielerisch fuhr Frau Müller-Grieffenstein über die Geldscheine, nahm eines der Bündel in die Hand und fächerte die Scheine auf. Lächelnd schaute sie in die Kamera.

„Dieser Koffer gehört Ihnen, liebe Gäste. Allerdings ist sein Besitz an zwei einfache Bedingungen geknüpft.“

„Jetzt kommt’s!“, entfuhr es Antonius Förster.

„Erstens: Keiner von Ihnen darf die Reise vorzeitig abbrechen. Zweitens: Diejenige Person unter Ihnen, die in der Vergangenheit schuldig geworden ist am Tod eines Menschen, bekennt sich offen zu ihrer Tat.“

Elisabeth Müller-Grieffenstein klappte den Geldkoffer zu und die Person im Hintergrund nahm ihn vom Tisch.

„Überlegen Sie es sich, meine Herrschaften. Bis morgen Früh haben Sie Zeit dazu. Unnötig zu sagen, dass sämtliche Kosten der Reise von mir übernommen werden. Ich habe eine Kreditkarte in diesem Hotel hinterlegt, mit der Sie die anfallenden Kosten für Benzin und sonstiges während der Fahrt in angemessenem Rahmen begleichen können.“

Sie machte eine wirkungsvolle Pause, bevor sie fortfuhr.

„Falls Sie sich entschließen, die Reise anzutreten, wird Ihnen das Ehepaar Weinert morgen nach dem Frühstück die notwendigen Unterlagen aushändigen. Falls nicht, danke ich Ihnen für Ihr Kommen und wünsche Ihnen alles Gute.“

Das Bild verschwand, die Videoaufnahme war zu Ende.

Schockiertes Schweigen breitete sich aus.

Ein paar Sekunden lang herrschte völlige Stille. Das Knistern des Feuers im Kamin war plötzlich überlaut zu hören. Die Spannung in der Luft schien regelrecht greifbar zu sein.

Schließlich unterbrach Antonius Förster die allgemeine Sprachlosigkeit.

„Das war ein schlechter Scherz, oder?“ Er sprang auf und fing an, hin und her zu laufen. „Das darf doch alles nicht wahr sein! Unglaublich!“

„Was meint sie denn mit Schuld?“, fragte die Krankenschwester hilflos. „Wieso sollte einer von uns schuldig sein?“

„Ein Million, ich fasse es nicht!“, stöhnte Sören Scherer. „Die Frau ist so reich, dass sie eine Million verschenkt!“

„Mein Gott, das sind für jeden von uns hundertsechsundsechzigtausend Euro!“, bemerkte Werner Polte. Offenbar hatte er die Million im Kopf schnell durch sechs geteilt. „Was man mit dem Geld alles machen könnte!“ Er hob sein Bierglas und trank es in einem Zug leer.

„Ich glaube nicht, dass es ein Scherz war“, griff Johannes Brecht die Bemerkung Försters auf. „Das war ganz sicher ernst gemeint. Die Million sah echt aus.“ Auch er stand auf und stellte sich mit dem Cognacglas in der Hand vor den Kamin.

Carmen Opitz, die bisher unbewegt sitzen geblieben war, richtete sich auf. „Ist Ihnen eigentlich klar, was die alte Frau gesagt hat? Dass wir einen Mörder unter uns haben!“

Förster und Brecht setzten sich wieder auf ihre Plätze und rückten ihre Sessel so zurecht, dass sie mit den anderen einen Kreis bildeten. „Wir müssen in Ruhe darüber reden“, meinte Brecht. „Wir müssen uns als Erstes darüber klar werden, ob wir die Aussage dieser Frau Müller-Grieffenstein ernst nehmen wollen oder nicht. Wenn nicht, erübrigt sich jede weitere Diskussion.“

„Der Professor hat recht“, pflichtete der Student ihm bei. „Wenn wir das Angebot nicht ernst nehmen, können wir gleich wieder nach Hause fahren.“

„Ich denke, es ist ganz bestimmt kein Scherz“, sagte Carmen Opitz. „Sonst hätte die Frau nicht so weitreichende Vorbereitungen getroffen. Allein, dass wir jetzt alle hier sind, die Kosten für das Hotel, das Essen... Das hat sie doch nicht zum Spaß gemacht.“

„Das ist richtig. All diese Vorbereitungen, die Anzeige, die Briefe und das alles … Ja, ich glaube auch, dass sie es ernst meint“, ergänzte Melanie Scholz.

Förster und Polte nickten ebenfalls.

„Das Geld ist ein Lockmittel“, sagte Brecht. „Wenn ich das richtig sehe, können wir alle das Geld ganz gut gebrauchen, oder?“

„Aber was hat es mit der Schuld auf sich? Woher will die Frau denn wissen, ob einer von uns irgendeine Schuld auf sich geladen hat? Und wenn ja, wer von uns?“ Carmen Opitz wirkte äußerst beunruhigt. Sie stellte ihr Sektglas ab und verschränkte die Arme vor dem Oberkörper.

„Ja, das ist richtig unheimlich“, stimmte Melanie Scholz ihr zu. „Wir kennen die Frau doch gar nicht. Oder hat einer von Ihnen sie schon mal persönlich gesehen?“ Sie hatte bei all der Aufregung ihre Schüchternheit ganz vergessen.

Alle schüttelten den Kopf. „Ich habe nur per E-Mail mit ihr gesprochen“, sagte der IT-Manager. „Dabei hat sie mich ziemlich ausgefragt, wie mir jetzt klar wird.“

„Mich auch“, bestätigte Scherer. „Sie sagte, sie möchte über jemanden, der so eng mit ihr zusammen ist während der Reise, gern möglichst viel wissen. Mir schien das ganz verständlich. Ich weiß gar nicht mehr, was ich alles ausgeplaudert habe. Aber ganz bestimmt nicht, dass ich jemanden umgebracht habe!“ Er lachte laut auf. „Es ist verrückt, das Ganze!“

„Verrückt, das stimmt. Ich kann es aber leider gar nicht witzig finden“, sagte Förster ungehalten. „Ganz offensichtlich hat die alte Dame einen ausgewachsenen Spleen! Lockt uns hierher und macht uns ein Angebot, das an unmögliche Bedingungen geknüpft ist. Ich jedenfalls bin mir keiner Schuld bewusst, das kann ich Ihnen versichern!“

„Ich auch nicht“, versicherte der Rentner. „Ich habe noch nie einer Fliege was zuleide getan!“ Er stand auf und holte sich von der Bar, auf der die verschiedensten Getränke bereitstanden, eine weitere Flasche Bier. „Möchte noch jemand was zu trinken?“ fragte er höflich.

„Ja, wenn Sie mir bitte auch eine Flasche Bier mitbringen würden?“, antwortete Scherer.

„Mir auch bitte“, schloss sich Förster an. Dann fuhr er fort: „Und was soll das überhaupt heißen: ‚der sich schuldig gemacht hat am Tod eines Menschen‘? Das kann ja viel bedeuten. Vom tödlichen Unfall bis zum vorsätzlichen Mord. Alles Mögliche! Und wieso spielt sich diese Frau überhaupt als Richterin auf?“ Sein Gesicht hatte sich vor Ärger gerötet, seine Hand zitterte leicht, als er die Flasche Bier, die Polte ihm reichte, entgegennahm und sein Glas füllte.

„Nur die Ruhe“, versuchte der Professor die Wogen zu glätten. „Wir brauchen das Angebot ja nicht anzunehmen. Es steht uns frei, sofort nach Hause zu fahren. Es ist uns ja kein Schaden entstanden bisher.“

„Ja, das stimmt“, bestätigte Scherer. „Allein das Essen heute Abend war die Fahrt hierher schon mal wert.“ Seine flapsige Bemerkung löste die Spannung ein wenig.