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In achtzehn spannenden, oft tragischen oder skurrilen Geschichten schildert die Autorin Ereignisse mitten aus dem Leben, und dies stets mit einem empathischen, ja liebevollen Blick auf ihre Figuren. Ihre originellen Erzählungen nehmen häufig den Charakter eines klassischen Krimis an, ohne dabei jedoch in das bekannte "Who has done it?"-Schema abzugleiten. In schicksalhaften Geschehnissen, die gelegentlich in extremen Handlungen wie Mord, Betrug oder anderen kriminellen Taten gipfeln, offenbaren sich Motive, die einen tiefen Einblick in die menschliche Seele gewähren. Da ist zum Beispiel die Frau, die mit dem Tod ihrer ermordeten Tochter nicht fertig wird, der Heiratsschwindler, der sich vor Gericht verantworten muss, aber da ist auch der trauernde Mann, der unerwartet Trost durch ein fremdes Kind erfährt, oder das junge Mädchen, das durch die Geburt seines eigenen Kindes überrascht wird. Margarete Bertschik versteht es, in immer neuen Variationen die Tragik, aber auch die unfreiwillige Komik des menschlichen Lebens vor den Augen des Lesers lebendig werden zu lassen.
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Seitenzahl: 285
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In achtzehn spannenden, oft tragischen oder skurrilen Geschichten schildert die Autorin Ereignisse mitten aus dem Leben, und dies stets mit einem empathischen, ja liebevollen Blick auf ihre Figuren. Ihre originellen Erzählungen nehmen häufig den Charakter eines klassischen Krimis an, ohne dabei jedoch in das bekannte „Who has done it?“-Schema abzugleiten.
Margarete Bertschik wurde 1951 geboren, ist verheiratet und Mutter zweier erwachsener Söhne. Nach ihrer jahrelangen beruflichen Tätigkeit als Gymnasiallehrerin absolvierte sie ein Studium zur Autorin und machte damit ihr langjähriges Hobby, das Schreiben von Kurzgeschichten, Erzählungen und Romanen, zu ihrem zweiten Beruf.
Margarete Bertschik lebt mit ihrem Mann in einer kleinen Stadt in Norddeutschland.
Bisher im BoD-Verlag Norderstedt erschienen:
'Zeit der Kornblumen', Roman, 220 Seiten,
ISBN 978-3-7347-9955-6
Für Michael
Die Tote im Park
Mein Bruder
Das Mädchen im Schrebergarten
Begegnung auf dem Deich
Ein Strauß Astern
Das Skelett im Watt
Kai und Liliane
Die Beichte
Julias Liebe
Das Paket
Der Überfall
Der Beobachter
Interview mit Jessica
Der Seidenschal
Die Taube
Luisas Reise
Die Anhalterin
Die Freundin
Immer wenn sie in eine andere Rolle schlüpfte, genoss sie das Ritual der Verwandlung wie eine Art erotisches Vorspiel. Es war wichtig, dabei eine ganz bestimmte Reihenfolge zu befolgen, von der sie nicht abweichen durfte, wollte sie nicht die Lust an ihrem Vorhaben verlieren. Es fing damit an, dass sie ihrer Stimmung nachspürte, um zu entscheiden, wer sie heute sein wollte. Dann breitete sie die dazu benötigten Kleidungsstücke und Accessoires sorgfältig auf ihrem Bett aus, begutachtete sie, tauschte vielleicht das eine oder andere gegen ein ähnliches aus und prüfte, ob alles vollständig und intakt war. Dann nahm sie eine heiße Dusche, wusch ihr Haar und traf alle erforderlichen Maßnahmen für die neue Identität, bevor sie die Kleidungsstücke anlegte und ein anderer Mensch wurde.
Hauptkommissar Johannes Weissgerber wandte sich ab. Er hatte in seiner dreißigjährigen Dienstzeit zwar schon etliche Todesopfer gesehen, aber immer noch konnte er den Anblick der geschundenen toten Körper nur schwer ertragen.
„Sie ist erschlagen worden“, sagte Dr. Burger. „Mit mehreren Schlägen auf den Kopf. Sie hat versucht, die Schläge abzuwehren, daher die Flecken auf ihren Unterarmen.“ Die Gerichtsmedizinerin richtete sich auf. „Die arme Frau hatte keine Chance. Wahrscheinlich waren es mehrere Täter, die auf sie eingeschlagen haben. Womöglich ist sie auch getreten worden. Genaueres kann ich erst sagen, wenn ich sie untersucht habe.“
„Kann man erkennen, was für eine Art von Waffe der oder die Täter benutzt haben, Frau Doktor?“
„Den berühmten stumpfen Gegenstand. Ich tippe auf einen kräftigen Knüppel oder so etwas wie einen Baseballschläger.“
Weissgerber ging um die Frauenleiche herum und betrachtete sie genauer. Offensichtlich eine Obdachlose. Mehrere Pullover und Jacken übereinander, trotz des Sommers, eine alte Trainingshose, darüber ein weiter karierter Rock. Keine Strümpfe, aber verschlissene knöchelhohe Tennisschuhe. Von dem linken hatte sich die Sohle ein Stück gelöst. An den Händen Wollhandschuhe ohne Finger. Schmutzige Fingernägel. Graue zerzauste Haare. Soweit es an dem blutigen Gesicht noch zu erkennen war, war die Frau von mittlerem Alter. In einer Plastiktüte vom Supermarkt einige leere Bierdosen und eine Flasche mit billigem Rotwein. Weitere Plastiktüten, prall gefüllt. Womit, würde man ihm später mitteilen.
„Seit wann liegt sie hier draußen, Frau Doktor?“
Die Gerichtsmedizinerin zog bei der Frage missbilligend die Augenbrauen hoch. Als ob der Kommissar nicht wüsste, dass die exakte Todeszeit erst nach einer genaueren Leichenschau festgelegt werden konnte!
„Ungefähr, wenigstens“, bat Weissgerber.
„Also, schätzungsweise seit acht bis zwölf Stunden. Wahrscheinlich ist es gestern Abend passiert. Hier im Park. Man hat sie unter die Büsche geschleift, wo der Hund der Spaziergängerin sie heute Morgen entdeckt hat.“
Dr. Anna Burger packte ihre Sachen zusammen und wandte sich zum Gehen. Ihr Gesicht sah müde aus. Sie schob ihre Brille zurecht und strich sich eine Strähne ihres kinnlangen grauen Haares aus dem Gesicht.
„Tja, da hat wohl mal wieder jemand seinen Hass auf die Menschheit an einer armen Obdachlosen ausgelassen. Ich hoffe, Sie finden die Täter, Herr Kommissar.“
Weissgerber hob die Hand zum Abschied und wandte sich an seinen Kollegen, Kommissar Carsten Raabe. Raabe hatte gerade erst die Polizeischule hinter sich; das hier war sein erster Mordfall.
„Die Tote hatte keine Papiere bei sich. Nur dieses kleine Portemonnaie mir drei Euro fünfzig. Wir wissen nicht, wer sie war.“ Raabe schüttelte bekümmert den Kopf, als er ergänzte: „Hoffentlich ist ihr Gesicht nicht zu sehr entstellt, damit wir noch ein Foto von ihr machen können. Wie sollen wir sonst herausbekommen, wer die arme Frau war?“
„Vielleicht bringen uns die Fingerabdrücke ein Stück weiter. Oder der DNA-Abgleich.“ Weissgerbers Stimme klang, als setzte er keine sehr große Hoffnungen auf diese Identifikationsmethoden. Wenn die Tote nicht kriminell war, würde sie auch nicht registriert sein. Aber wer weiß, dachte er.
„Die Passanten, die ich befragen konnte, haben nichts Auffälliges bemerkt“, meldete Raabe. „Nur die Frau Södersen hier. Sie hat die Leiche entdeckt, das heißt vielmehr, ihr Dackel. Das war gegen halb acht Uhr heute Morgen. Da war in dem Park noch nicht viel los, sagt Frau Södersen.“
Die Frau neben ihm war vielleicht sechzig, ziemlich füllig mit einem breiten Gesicht, lebhaften kleinen grauen Augen und einem Kopf voll weißgrauer Dauerwellen. Auf dem Arm hielt sie einen niedlichen Kurzhaardackel, dem man ansah, dass er lieber noch weiter herum geschnüffelt hätte.
„Ja, meine Polli hier hat die Frau entdeckt. Ich wollte erst gar nicht zu ihr gehen, weil ich dachte, sie schläft noch. Hier halten sich nämlich häufig Obdachlose auf. Und manchmal, wenn es nicht zu kalt ist nachts, schlafen sie hier einfach auf dem Rasen. Ich verstehe nicht, warum die nicht in ihrer Sozialwohnung bleiben. Jeder bekommt doch heutzutage eine Wohnung bezahlt, wenn er nichts verdient, oder? Die müssen doch nicht draußen schlafen.“
Sie schüttelte verständnislos den Kopf. Bevor sie sich jedoch weiter über die Gewohnheiten der Obdachlosen auslassen konnte, stoppte Weissgerber ihren Redefluss.
„Ja, gewiss, das ist wohl so. Doch jetzt etwas anderes. Wohnen Sie hier in der Nähe, Frau Södersen?“
„Ja, ich wohne in dem Häuserblock, gleich hier neben dem Park. Das heißt, mein Mann und ich wohnen dort. Aber mein Mann ist nicht mehr gut zu Fuß, deshalb gehe ich immer mit Polli Gassi.“ Sie hielt inne. „Aber warum wollen Sie das denn wissen, Herr Kommissar?“
Weissgerber ignorierte ihre Frage.
„Sicher muss der Hund auch abends Gassi gehen, oder? Haben Sie vielleicht gestern Abend, so gegen neun oder zehn Uhr, etwas Ungewöhnliches bemerkt, hier im Park? Vielleicht etwas gehört?“
„Gestern Abend? Hier im Park?“
Marie-Luise Södersen überlegte, während sie den Dackel, der auf ihrem Arm herumzappelte, krampfhaft festhielt.
„Also. Ja, ich bin mit Polli Gassi gegangen, das war so gegen halb neun, jedenfalls war die Tagesschau schon vorbei. Aber ich habe nichts bemerkt. Ja, richtig, eine Joggerin kam vorbei, und ein paar Jugendliche auf Skatern oder wie die Dinger heißen, waren auch da. Aber sonst...“ Sie zog bedauernd die runden Schultern hoch. „Manchmal treibt sich hier auch allerlei Gesindel herum, Drogensüchtige und so, aber die kommen meistens erst, wenn es dunkel ist.“
„Vielen Dank, Frau Södersen. Wenn wir noch Fragen haben sollten, melden wir uns bei Ihnen. Der Inspektor hat sich Ihre Adresse doch aufgeschrieben?“
„Ja, er hat sie in sein Dingsda, das Smartphone eingetippt.“
Frau Södersen war sichtlich enttäuscht darüber, dass sie schon entlassen war. Sie zog einen Schmollmund, ließ ihren Hund auf den Boden nieder, sagte „komm, Polli“ und ging davon.
Die beiden Beamten sahen ihr nachdenklich hinterher. Der junge Kommissar strich sich durch sein kurz geschnittenes flachsblondes Haar und verzog unzufrieden seinen Mund.
„Ich fürchte, es wird schwer sein, den oder die Mörder der armen Frau ausfindig zu machen. Wir haben weder die Tatwaffe noch sonstige verwertbare Spuren gefunden.“
Er klang niedergeschlagen. Zusammen mit Weissgerber sah er zu, wie die Kollegen die Leiche in den Zinksarg legten und abtransportierten. Das weiß-rote Absperrband wurde wieder aufgerollt, und kurze Zeit später erinnerte nichts mehr daran, dass auf dieser Wiese vor kurzem ein brutaler Mord geschehen war.
Als sie jetzt aus dem Badezimmer kam, hatte sie ihren schlanken, noch jugendlich straffen Körper auf das heutige Outfit vorbereitet: Beine und Achseln waren frisch rasiert, die Schamhaare auf ein sauberes Dreieck gestutzt, die langen blonden Haare (heute brauchte sie keine Perücke) frisch gewaschen und zu einer üppigen Lockenfrisur geföhnt. Das helle Make up ließ ihre schwarz umrandeten Augen mit den stark getuschten Wimpern und dem blauen Lidschatten besonders groß und ausdrucksvoll erscheinen. Den erdbeerroten Lippenstift hatte sie passend zu den sorgfältig manikürten und lackierten Fingernägeln gewählt.
Vollkommen nackt trat sie vor die ausgebreiteten Kleidungsstücke, und langsam, um die Zeremonie voll auszukosten, zog sie eines nach dem anderen an. Zuerst den Bügelbüstenhalter aus creme-farbener Seide, den dazu passenden Slip und das Unterkleid mit breiter Spitze am Dekolletee und Saum. Sie genoss das seidig glatte Gefühl des zarten Stoffes auf ihrer nackten Haut und den schimmernden Glanz der edlen Materials. Danach rollte sie die hauchdünnen Nylonstrümpfe vorsichtig auf, bevor sie sie über ihre Füße und Beine bis zu den Oberschenkel hochzog, wo der breite Spitzenbesatz endete. Vor dem großen Wandspiegel prüfte sie den Sitz der Strümpfe. Perfekt. Sodann schlüpfte sie in ein schlichtes cremefarbenes Top mit dünnen Trägern, das einen effektvollen farbigen Kontrast zu dem marineblauen Designerkostüm bildete, das sie heute tragen wollte. Die taillierte Jacke und der schmale Rock des leichten Sommerkostüms wiesen einen eleganten, sehr figurbetonten Schnitt auf. Sie drehte sich vor dem Spiegel hin und her: Es saß tadellos. Das Outfit wurde komplettiert durch sehr hohe, ebenfalls cremefarbene Pumps sowie durch einen Strohhut mit weicher, großer Krempe und schmalem Band, dessen blaue Farbe perfekt zur der des Kostüms passte.
Zuletzt tupfte sie einen Tropfen ihres kostbaren Chanel-Parfums hinter die Ohrläppchen, setzte den Hut auf und schob dem Bügel der Hermès-Handtasche elegant über den Unterarm. Die Verwandlung war komplett. Der große, bis auf den Boden reichende Spiegel warf in dem weichen Nachmittagslicht, das durch die Vorhänge fiel, ihre Gestalt zurück. Nach einem letzten prüfenden Blick lächelte sie ihrem Spiegelbild zu und verließ das Haus.
„Herr Weissgerber? ... Hier Dr. Burger, Herr Kommissar. Bitte kommen Sie doch kurz in die Gerichtsmedizin, ich habe hier etwas Interessantes für Sie. ... Ja, es geht um die Tote aus dem Stadtpark. .... Das sollten Sie sich selber anschauen. ... Ja, bis gleich.“
Dr. Anna Burger legte den Telefonhörer auf und wandte sich wieder der Frauenleiche zu, die auf dem metallenen Seziertisch lag. Verständnislos schüttelte die Pathologin den Kopf. Der Körper, den sie fachgerecht und sorgfältig obduziert hatte, war nicht der einer Obdachlosen. Es war der gesunde, gut gebaute Körper einer etwa fünfunddreißigjährigen Frau, sechzig Kilo schwer bei einer Größe von einmetersiebzig. Das Gebiss war vollständig und gut gepflegt, sah man von der Verletzung ab, die einer der harten Schläge gegen den Kopf dem rechten Gaumen zugefügt hatte. Das struppige graue Haar gehörte zu einer Perücke, darunter war langes, glattes blondes Haar zum Vorschein gekommen. Und das Merkwürdigste: Die Falten um den Augen, die schwarzen Ränder unter den Fingernägeln, sogar die Schmutzflecken im Gesicht und auf den Armen und Händen: Alles nur Theaterschminke! Die Frau war verkleidet gewesen! Dazu passte, dass in den drei Plastiktüten, die sie bei sich gehabt hatte, nur Zeitungspapier war.
Die Metalltür öffnete sich und Hauptkommissar Weissgerber und sein Assistent betraten die Pathologie.
„Guten Tag, Frau Doktor. Was gibt es denn so Interessantes? Eigentlich hatten wir gedacht, dass an diesem Fall alles ganz klar sei.“
Weissgerber gab der Pathologin die Hand, Raabe ebenso. Dr. Burger erwiderte die Begrüßung mit einem knappen Lächeln.
„Ich habe hier etwas wirklich Überraschendes, meine Herren. Sehen Sie selbst.“ Sie nahm einen Zipfel des grünen Tuches, das die Leiche bedeckte, und zog es zurück. Weissgerber und Raabe traten näher an den Seziertisch heran und starrten auf die Leiche.
„Das ist unsere Obdachlose? Die aus dem Park?“, fragte Raabe ungläubig. „Aber die war doch viel älter. Und grauhaarig.“
„Diese Frau war höchstens fünfunddreißig Jahre alt und kerngesund. Kein Leberschaden, kein irgendwie gearteter Hinweis auf Drogenmissbrauch, wahrscheinlich hat sie nicht einmal geraucht, wenn man die makellose Haut betrachtet. Abgesehen von den Hämatomen, die von Faustschlägen oder Fußtritten herrühren, und dem massiven Schädel-Hirn-Trauma, das durch zwei heftige Schläge auf den Kopf verursacht wurde, ist der Körper völlig intakt. Der eine Schlag ist seitlich geführt worden und hat das rechte Schläfenbein und einen Teil des Wangenknochens und des Gaumens zertrümmert. Der zweite Schlag erfolgte von hinten und hat die Schädeldecke beschädigt. Diese Verletzungen haben innerhalb weniger Minuten zum Tod dieser Frau geführt. Die Hämatome sind ihr kurz vor ihrem Tod beigebracht worden. Sie ist, kurz gesagt, zu Tode geprügelt worden.“
„Aber ... sie hat doch ganz anders ausgesehen, als wir sie fanden.“ Raabes Gesicht zeigte einen konsternierten Ausdruck, als er jetzt um den Metalltisch herumging und den Frauenkörper betrachtete, der trotz der Sezier- und Verletzungsspuren noch einen Rest seiner weiblicher Schönheit bewahrt hatte.
„Sie hat Theaterschminke benutzt, um alt und verbraucht auszusehen. Und eine graue Perücke. Keine Ahnung warum. Die Klamotten, die sie trug, sind in der Kriminaltechnik zur Untersuchung; wahrscheinlich wird man feststellen, dass es gebrauchte Sachen vom Flohmarkt oder aus der Altkleidersammlung sind. Und schauen Sie hier.“ Die Pathologin leerte eine der Plastiktüten auf den Boden aus, „Lauter Zeitungsschnipsel. Sie hat nur den Anschein erwecken wollen, sie sei eine Obdachlose.“
Weissgerber und sein Assistent sahen sich an. Das Gesicht des Älteren spiegelte dieselbe Ratlosigkeit wie das seines blonden Partners.
„Warum um Himmels Willen verkleidet sich eine hübsche junge Frau als Obdachlose und treibt sich am späten Abend im Stadtpark herum?“ Kommissar Carsten Raabe sprach aus, was alle dachten.
„Tja“, antwortete Anna Burger lakonisch, „das ist hier die Frage. Und wer diese Frau in Wirklichkeit war. Und natürlich, wer sie so brutal ermordet hat. Ran an die Arbeit, meine Herren!“
Weissgerber und Raabe saßen sich am Schreibtisch gegenüber. „Was hat die kriminaltechnische Untersuchung der Gegenstände ergeben, die die Frau bei sich trug?“, fragte Weissgerber.
„Es waren nur die Fingerabdrücke der Toten auf dem Portemonnaie und den Flaschen und Dosen. Sie sind nicht registriert. Die Frau hat nicht aus den Dosen getrunken, auch nicht aus der Rotweinflasche; auch sonst niemand, denn es konnte keine Fremd-DNA festgestellt werden. Es gibt keine Vermisstenanzeige, die auf die Person passt.“ Raabe zuckte resigniert mit den Schultern. „Wir haben nichts.“
Weissgerber biss sich nachdenklich auf die Unterlippe.
„Also müssen wir schauen, was der Tatort hergibt, solange wir nichts über die Tote wissen. Wie Frau Södersen gesagt hat, treiben sich nachts in dem Park allerlei Jugendliche und Drogenabhängige herum. Wir müssen also die einschlägig vorbestraften Kriminellen aus der Rocker- und Drogenszene ermitteln. Also werden wir alle Anwohner des Parks befragen, wer sich abends dort herumtreibt. Und wir müssen die Identität der Frau feststellen. Ich hoffe, dass jemand die Frau auf dem Foto, das Dr. Burger von dem Gesicht der Toten gemacht hat, wiedererkennt.“ Der Kommissar nahm sein Jackett von der Lehne seines Bürosessels und stand auf. Raabe folgte ihm.
Nun kam der zweite, der eigentlich wichtige Teil der Verwandlung: Die Reaktion der Menschen auf ihre momentane Identität. Sie fuhr mit ihrem Auto in die City, stellte den Wagen in einem der großen Parkhäuser ab und ging in die Fußgängerzone. Wie erwartet, zog sie sofort die Blicke der Passanten auf sich. Sie straffte die Schultern, hob ihr Kinn und gab ihrem Gang einen nicht zu übertriebenen, aber betont weiblichen Ausdruck. Sie musste zugeben, dass sie die unverhohlen bewundernden Blicke der Männer genoss! Ebenso die teils neidischen, teils verächtlichen Blicke der Frauen!
Langsam schlenderte sie durch die belebte Einkaufsmeile. Für diese Identität wählte sie meistens ein Wochenende, wenn möglichst viele Leute unterwegs waren. An einem Tag wie heute, an dem die Sonne von einem heiteren Sommerhimmel schien, konnte sie sich der Aufmerksamkeit der vielen Menschen sicher sein.
Nach einer Weile setzte sie sich in ein Straßencafé, nahm ihren Hut ab und legte ihn auf den leeren Stuhl an ihrem Tisch. Sie bestellte ein Mineralwasser, schlug die langen, schlanken Beine übereinander und ließ ihren Schuh locker auf der Zehenspitze baumeln. Unauffällig musterte sie die Menschen um sich herum. Die gestressten jungen Eltern am Nebentisch mit den zwei quengeligen, ungeduldig nach ihrem Eis verlangenden Kindern beachteten sie kaum. Das ältere Ehepaar, das stumm und gleichgültig nebeneinander saß, während der Mann seinen Blick nicht von ihren Beinen lösen konnte, war da schon interessanter, ebenso die Gruppe von Jugendlichen, die mit Zigaretten im Mund auf den Stufen des nahen Springbrunnens herum lümmelten, immer wieder verstohlen zu ihr herüber schauten und grinsten; sicher machten sie anzügliche Bemerkungen über sie. Der einzelne Mann im Business-Anzug zwei Tische weiter, der jetzt sein Handy, auf dem er die ganze Zeit herumgetippt hatte, wegsteckte, nahm sie unverhohlen in Augenschein. Als sie seinem Blick begegnete, nickte er ihr mit einem schmalen Lächeln zu. Sie wusste, jetzt brauchte es nur ein winziges Entgegenkommen ihrerseits und sie hätte einen Liebhaber für eine Nacht. Demonstrativ wandte sie ihren Kopf zur Seite und setzte eine hochmütige Miene auf. Wie leicht es doch war, die Menschen zu manipulieren!
An diesen Teil der Polizeiarbeit werde ich mich nur schwer gewöhnen können, dachte Carsten Raabe. Seufzend strich er sich den Schweiß von der Stirn und fuhr sich mit den Fingern durch sein Haar. Er holte tief Luft und lockerte die Schultern. Das war jetzt die fünfzehnte Wohnungstür, an der er klingelte. Bisher hatte niemand etwas gesehen oder gehört. Entweder hatten alle ferngesehen oder Musik gehört oder waren anderweitig beschäftigt gewesen. Entmutigend!
Er hörte schlurfende Schritte, die sich langsam der Eingangstür näherten. Dann sah er ein Auge, das durch den Türspion spähte. Er hielt seinen Polizeiausweis hoch.
„Ich bin Kommissar Raabe von der Mordkommission. Ich habe nur ein paar Fragen. Bitte öffnen Sie die Tür.“
Er hörte, wie die Türkette zurückgelegt und der Schlüssel im Schloss gedreht wurde, dann öffnete sich die Tür und ein alter Mann sah ihm neugierig entgegen.
„Mordkommission? Was ist denn passiert?“
„Darf ich 'reinkommen? Dann spricht es sich besser, Herr Drüding.“ Den Namen hatte Raabe auf dem Türschild gelesen, und er wusste aus seinem noch gar nicht so lange zurück liegenden Seminar über Gesprächsführung, dass es hilfreich war, die Menschen wenn möglich mit ihrem Namen anzusprechen; sie fühlten sich dann als Individuum ernst genommen und waren eher bereit, sich mitzuteilen.
Der alte Mann bedeutete ihm mit einer Handbewegung, näher zu treten, und ging ihm voraus in das kleine, altmodisch eingerichtete Wohnzimmer, dessen Fenster zum Stadtpark ausgerichtet war. Neben dem Fenster stand ein gemütlich aussehender Lehnstuhl, was in Raabe die Hoffnung weckte, Herr Drüding könnte, in diesem Lehnstuhl sitzend, im Park etwas beobachtet haben.
„Gestern Abend ist im Park hier gegenüber eine Frau ermordet worden. Wir fragen uns, ob Sie vielleicht zufällig etwas Besonderes beobachtet haben, Herr Drüding?“
„Wollen Sie sich nicht erst einmal setzen, Herr Kommissar? Sicher sind Sie doch schon eine ganze Weile unterwegs auf der Suche nach möglichen Zeugen. Darf ich Ihnen vielleicht etwas anbieten? Ein Glas Wasser oder eine Tasse Tee? Alkohol dürfen Sie ja bestimmt nicht trinken im Dienst, oder?“
Raabe sah den alten Mann erstaunt an. So viel Freundlichkeit hatte er nach dem anfänglichen Misstrauen nicht erwartet. Er musterte den Alten unauffällig. Zwischen den unzähligen Runzeln und Falten in dem hageren Gesicht blitzten hellwache blaue Augen, und die magere, gebückte Gestalt bewegte sich mit erstaunlicher Agilität, als der alte Mann nun, ohne die Antwort Raabes abzuwarten, ein Glas und eine Flasche Mineralwasser vor den Inspektor hinstellte.
„Danke, das ist sehr nett. Für eine Tasse Tee fehlt mir die Zeit, aber ein Glas Wasser nehme ich gerne. Es ist doch sehr warm heute draußen.“ Er nahm höflich einen Schluck.
„Darf ich fragen, wie lange Sie schon bei der Polizei sind, Herr Raabe? Sie sehen noch so jung aus, man könnte meinen, dass sie noch zur Schule gehen.“
Drüding begleitete seine Frage mit einem Lächeln, das sein altes Gesicht in noch mehr Falten legte.
Raabe räusperte sich verlegen und trank einen Schluck Wasser. Er fing an sich zu fragen, wer hier eigentlich das Gespräch führte. „Tja, lange bin ich noch nicht dabei“, gab er widerwillig zu, „dies ist mein erster Mordfall.“
„Und nun sind Sie auf der Suche nach Zeugen, die Ihnen bei der Aufklärung helfen können.“
„Ja, so ist es. Der Mord ist gestern Abend, wahrscheinlich zwischen zehn und elf Uhr passiert. Es wurde gerade dunkel. Haben Sie zufällig etwas gesehen?“
„Lassen Sie mich überlegen. Ich habe gestern ferngesehen, den Krimi im Ersten, dann die Tagesthemen. Dann habe ich den Fernseher ausgemacht und mich hier ans Fenster gesetzt. Einen Balkon hat diese Wohnung ja leider nicht. Ich habe das Fenster geöffnet, um die Vögel singen zu hören. Wenn es dämmert, singen sie um diese Jahreszeit immer besonders schön. Ja, und da habe ich tatsächlich im Park laute Stimmen gehört. Und Lachen. Das waren diese Halbstarken, die dort häufig ihre Saufgelage abhalten. Diese glatzköpfigen Rowdys, die sich hier öfter herumtreiben. Von meinem Fenster aus kann man durch die Baumwipfel ganz gut sehen, wer dort sein Unwesen treibt. Und morgens findet man dann die leeren Bierflaschen und die Zigarettenstummel auf dem Rasen.“
Raabe horchte auf. „Sie sagen, es waren Jugendliche, die sich hier öfter aufhalten. Kennen Sie vielleicht die Namen?“
„Nein, nein, die Namen kenne ich nicht. Aber ich kenne die Jungs vom Sehen her.“
„Würden Sie sie wiedererkennen, wenn ich sie Ihnen auf Fotos zeige? Oder in einer Gegenüberstellung?“
„O ja, sicher. Meine Augen sind noch sehr gut. Die, die ich gestern gesehen habe, würde ich sofort wiedererkennen. Schon an ihren Glatzen und den Tätowierungen. Ich habe sie ja auch schon öfter von Nahem gesehen. Außerdem habe ich ein Fernglas. Weil ich gerne die Vögel beobachte im Stadtpark natürlich“, fügte er verschmitzt hinzu.
Raabe erwiderte sein Lächeln. Man sah dem alten Mann an, dass es ihm ein Vergnügen sein würde, der Polizei in dieser wichtigen Angelegenheit behilflich sein zu können.
„Dann ist es wohl das Beste, wenn Sie mich jetzt gleich zum Polizeipräsidium begleiten und sich unsere Verbrecherkartei ansehen. Wäre das möglich, Herr Drüding?“
„Aber selbstverständlich, Herr Kommissar. Ich muss nur noch meine Schuhe anziehen, dann komme ich mit.“ Schon war er aufgestanden und in Richtung des angrenzendes Zimmers, wohl sein Schlafzimmer, geeilt, um sich zum Ausgehen bereit zu machen. Raabe grinste über den Feuereifer des Alten. Sicher gibt es in seinem Rentnerdasein nicht viel Abwechslung, dachte er. Egal, Hauptsache, er war ein guter Zeuge.
Sie trank ihr Wasser aus, zahlte und stand auf. Wieder bummelte sie von Schaufenster zu Schaufenster, immer im vollen Bewusstsein der Augen, die ihr folgten. Als sie an einer teuren Boutique vorbei kam, trat sie kurz entschlossen ein. Im Inneren herrschte eine gedämpfte Atmosphäre; nur wenige Kundinnen waren anwesend. Eine sehr gepflegte und modisch gestylte Verkäuferin kam auf sie zu. Typisch: Der kurze, ihre Kaufkraft abschätzende Blick vom Kopf bis zu den Schuhen, dann das professionelle, überaus freundliche Lächeln. Sie würde es ein wenig strapazieren, dieses Lächeln.
„Darf ich Ihnen behilflich sein, gnädige Frau?“ So viel Beflissenheit! Mal sehen. Mit gelangweilt hochgezogenen Brauen sah sie die Frau an.
„Ich bin auf der Suche nach einem Sommerkleid. Ich weiß aber noch nicht so recht, was mir gefällt. Vielleicht können Sie mir etwas zeigen?“
„Aber selbstverständlich! Wir haben gerade die neusten Modelle hereinbekommen. Welche Größe tragen Sie?“
Nachdem sie sich zwölf Kleider hatte zeigen lassen, zwei davon anprobiert und alternativ zu den Kleidern fünf Blusen und Röcke in Augenschein genommen hatte, verließ sie die Boutique, ohne etwas gekauft zu haben.
Hauptkommissar Weissgerber telefonierte, als Raabe mit seinem Zeugen das Büro betrat. Ohne den Hörer abzusetzten, bedeutete er seinem Kollegen zu warten; es sei etwas Wichtiges.
„Ja, am besten kommen Sie sofort hierher, Frau Wittenberg. Vielleicht ist es ja nur eine oberflächliche Ähnlichkeit, aber Gewissheit haben wir erst, wenn Sie sich die Leiche angesehen haben. ... Ja, melden Sie sich bitte in meinem Büro. Haben Sie sich den Namen notiert? ... Hauptkommissar Weissgerber. ... Noch etwas, Frau Wittenberg: Haben Sie einen Zweitschlüssel zu der Wohnung ihrer Schwester? ... Ja? Bringen Sie ihn bitte mit, für alle Fälle. ... Gut. Bis dann.“ Er legte den Hörer auf.
„Die Schwester unserer Toten, wahrscheinlich. Sie glaubt, sie auf dem Foto erkannt zu haben. Ist sich aber nicht ganz sicher. Sie kann ihre Schwester aber telefonisch nicht erreichen und hat nun Angst, es könnte die Tote vom Park sein. Sie kommt her.“
Er deutete auf den alten Mann, den Raabe mitgebracht hatte. „Und du bringst uns hoffentlich einen Zeugen?“
„Ja. Herr Drüding hier hat womöglich die oder den Täter gesehen, auf jeden Fall aber Jugendliche, die sich gestern Abend im Park um die fragliche Zeit herumgetrieben haben. Ich werde ihm jetzt die Fotos derjenigen zeigen, die bei uns bekannt sind. Vielleicht erkennt er ja den einen oder anderen wieder.“
Carsten Raabe war froh, einen Zeugen gefunden zu haben, mit dem die Ermittlungsarbeit weiter gehen konnte. Er hasste es, wenn die Arbeit ins Stocken geriet und man nichts mehr tun konnte, als die Akte unverrichteter Dinge zu schließen. Außerdem brannte er darauf, dem Rätsel der verkleideten Obdachlosen auf die Spur zu kommen.
Er bat Drüding, auf dem Bürostuhl vor dem Polizeicomputer Platz zu nehmen, und ließ die Kartei mit den polizeibekannten Vorbestraften durchlaufen, vor allem denjenigen, die sich der Ruhestörung, Körperverletzung, Sachbeschädigung oder ähnlicher Delikte schuldig gemacht hatten. Mit einem Mausklick konnte Drüding sich von Gesicht zu Gesicht durchzappen. Gewissenhaft betrachtete er jedes Bild ein paar Sekunden lang. Es dauerte nicht lange, da hatte er den ersten jugendlichen Straftäter herausgepickt:
Timo Brandt, sechzehn Jahre, Schulabbrecher, ohne Lehrstelle, aufgegriffen wegen Sachbeschädigung, Diebstahls und Beleidigung. Er hatte eine junge Frau von ihrem Fahrrad gerissen, welches dabei beschädigt worden war, hatte ihr die Handtasche und das Handy gestohlen, sie als Fotze und Miststück beschimpft und war davon gelaufen. Das Opfer aber, sportlich und wehrhaft, hatte laut um Hilfe geschrien und ihn zusammen mit einem Passanten verfolgt und gestellt. Der Richter hatte ihn zu Jugendarrest verurteilt und zu einem mehrwöchigen Antiaggressionstraining.
Im Arrest hatte er die Bekanntschaft von Tobias Bergmann gemacht, den zweiten der jungen Männer, die Drüding in der Kartei wiedererkannte. Bergmann war achtzehn und schon eine Nummer härter als Timo Brandt. Als Jugendlicher hatte er sich bereits ein schönes Vorstrafenregister erarbeitet: Handtaschendiebstähle, Abziehen von teuren Jacken und Schuhen von Schulkindern, diverse Schlägereien, dazu erste Versuche mit Drogenhandel, ganz abgesehen von seinem übermäßigen Zigaretten- und Bierkonsum. Er hatte sich den Kopf rasiert und mit allerlei Mustern tätowiert, unter anderem mit einer Schlange, die im Nacken aus dem Kragen seines olivfarbenen Hemdes herauskroch und sich auf seinem Schädel ringelte.
Sein Militäroutfit konkurrierte mit dem seines Kumpels Ole Winkler, der, um einiges älter, der Anführer der kleinen Gruppe war. Winkler hatte schon eine mehrmonatige Haftstrafe hinter sich, war als noch nicht Einundzwanzigjähriger aber bisher glimpflich davongekommen. Drüding erkannte in ihm einen der Männer, die am Tatabend gegen 22.30 Uhr im Stadtpark herumkrakeelt hatten.
„Diese drei kommen als Täter in Frage“, sagte Raabe eifrig, als er die entsprechenden Akten vor Weissgerber auf den Schreibtisch legte. „Sie waren zur fraglichen Zeit am Tatort. Wir können sie zumindest als mutmaßliche Zeugen vorladen und befragen. Womöglich finden wir Faserspuren oder Blut an ihrer Kleidung. Einer von ihnen muss ja die Tote ins Gebüsch geschleift haben.“
Voller Tatendurst fuhr der junge Kommissar fort:
„Eventuell ist sogar die Tatwaffe noch in ihrem Besitz. Wenn es ein Baseballschläger war, und alles deutet darauf hin, sagt Frau Dr. Bauer, dann hat der Täter ihn vielleicht nicht entsorgt, sondern nur gereinigt. So ein Schläger ist immerhin nicht ganz billig.“
„Gute Arbeit, Raabe!“ Weissgerber überflog die Akten. „Also: Holen Sie die Burschen her. Mal sehen, was sie sagen. Und besorgen Sie einen Durchsuchungsbeschluss für die Wohnungen der drei.“
Er erhob sich. „Ich gehe inzwischen mit Frau Wittenberg in die Gerichtsmedizin. Wenn sie die Tote als ihre Schwester identifiziert, fahre ich mit ihr zur Wohnung der Toten. Vielleicht finden wir dort die Lösung für das Rätsel der Verkleidung.“
Dasselbe Ritual wiederholte sie in einem exklusiven Schuhgeschäft, beim Juwelier und, als Krönung dieses Tages, in der größten Bank der Stadt, in der sie sich nach lukrativen Geldanlagemöglichkeiten erkundigte und den Angestellten veranlasste, ihr diverse Angebote auszurechnen, was eine gute Stunde in Anspruch genommen hatte.
Es war ein überaus ergiebiger Nachmittag, dachte sie, als sie, wieder zu Hause, in ihrem gemütlichen Hausanzug mit einer Tasse Tee und zwei Scheiben Knäckebrot vor ihrem Computer saß. Am nächsten Samstag würde sie als Straßenmusikantin mit Gitarre und Stirnband gehen. Oder vielleicht als obdachlose Alkoholikerin. Sie lächelte zufrieden. Es ging voran mit ihrer Arbeit.
Es dauerte lange, bis Caroline Wittenberg sich wieder gefasst hatte. Immer wieder schüttelte heftiges Schluchzen ihre schmalen Schultern. Weissgerber reichte ihr nun schon das dritte Papiertaschentuch, das sie blind entgegennahm, um sich die nicht versiegen wollenden Tränen abzuwischen. Schließlich schnäuzte sie sich, holte tief Luft und versuchte sich zu beruhigen.
Weissgerber legte ihr sanft den Arm um die Schultern und führte sie aus dem Obduktionssaal heraus, wo Dr. Burger den Leichnam der Toten wieder mit dem grünen Tuch zudeckte.
Auf die Frage, ob dies ihre Schwester Manuela wäre, hatte Caroline nur genickt. Sie hatte das stille Gesicht mit der hässlichen Wunde an der rechten Seite entsetzt angestarrt und war dann in Tränen ausgebrochen. Immer noch ihre Schultern umfassend, fragte Weissgerber sie, ob sie sich in der Lage fühlte, mit ihm zur Wohnung ihrer Schwester zu fahren, um dort nach einer Erklärung für die merkwürdige Aufmachung Manuelas zu suchen.
„Was für ein Mensch war ihre Schwester“, fragte Weissgerber. Er wusste, dass es für viele Angehörige, die gerade eine Todesnachricht erhalten hatten, eine Erleichterung darstellte, über den Verstorbenen reden zu können. Caroline stellte hier keine Ausnahme dar. Außerdem konnte jede Information über das Opfer hilfreich sein bei der Aufklärung des Verbrechens.
„Ach, sie war solch ein netter Mensch, die Manuela. Alle mochten sie, die Kinder in der Schule haben sie geliebt. Und dann die Sache mit ihrem Freund. Er ist mit seinem Motorrad tödlich verunglückt, müssen Sie wissen. Die arme Manuela! Wenn ich nur öfter bei ihr angerufen hätte! Aber ich habe immer so viel zu tun mit den Kindern, wissen Sie, und dann arbeite ich halbtags in einem Versicherungsbüro, da habe ich nur wenig Zeit.“ Sie kämpfte wieder mit den Tränen. „Wie konnte nur so etwas passieren? Einfach erschlagen! Meine kleine Schwester!“
Wieder unterbrach heftiges Schluchzen ihre Worte. Weissgerber tätschelte beruhigend ihre Hand.
„Sie brauchen sich keine Vorwürfe zu machen. Niemand konnte so etwas ahnen. Und was den oder die Täter betrifft: Wir verfolgen eine Spur, die durchaus vielversprechend ist.“
Sie waren inzwischen bei der entsprechenden Hausnummer angekommen, und Caroline öffnete mit ihrem Schlüssel die Wohnungstür. Das geräumige Wohnzimmer, dessen große Fenster auf den Balkon hinaussahen, war mit hellen modernen Möbeln eingerichtet. Eine Tür führte in die praktische kleine Küche, eine weitere ins Schlafzimmer. Das hübsche Bad war vom Flur aus zu erreichen. Überall herrschte eine ausgesprochen weibliche Atmosphäre. Der Arbeitsplatz, der einen Teil des Wohnzimmers einnahm, bestand aus einem Schreibtisch, einem bequemen Schreibtischsessel und einem Nebentisch mit Laptop und Laserdrucker. Der gesamte Bereich war übersät mit Büchern und Heften, die von der beruflichen Tätigkeit Manuelas zeugten. An der Wand hinter dem Schreibtisch klebten etliche Kinderzeichnungen, offenbar Geschenke der Schulkinder, die Manuela unterrichtet hatte. In einem hohen Bücherregal stapelten sich Fachliteratur, Sachbücher und Romane.
Weissgerber ging langsam durch die Räume und versuchte zu verstehen, was für ein Mensch in diesem Ambiente gelebt hatte. Die Wohnung war aufgeräumt, aber nicht steril. Die Sofakissen waren zerknautscht, eine Fernsehzeitung lag aufgeschlagen auf dem Couchtisch, eine Fotografie in einem schönen Silberrahmen zeigte die lachenden Gesichter von Manuela und ihrer Schwester, ein weiteres die Familie Wittenberg, ein drittes, mit einem schwarzen Trauerband, einen jungen Mann. Das muss der Freund sein, von dem Caroline Wittenberg erzählt hat, dachte Weissgerber, der, der sich totgefahren hat. Eine traurige Geschichte.
Er ging ins Schlafzimmer und öffnete den Kleiderschrank, der die gesamte Längswand des Raumes einnahm. Überrascht hielt er inne.
„Frau Wittenberg, bitte kommen Sie einmal her. Haben Sie hiervon gewusst?“
Caroline stellte sich neben den Kommissar, und gemeinsam betrachteten sie den Inhalt des überdimensionalen Schrankes. Wohl ein Dutzend verschiedene Outfits hingen da auf den Bügeln. Eine schwarze Nonnentracht mit weißschwarzer steifer Haube hing neben einem langen geblümten Sommerrock und einer weißer Baumwollbluse, ein edles Designerkostüm mit engem Rock neben einem knappem Bustier aus roter Seide, einem schwarzen Minirock und Netzstrümpfen. Eine khakifarbene Militärhose und ein olivfarbenes Achselhemd, eine nietenbeschlagene Lederjacke und eine ebensolche Hose, ein dunkelblauer Business-Anzug mit einer weißen Seidenbluse. Sogar eine Burka hing auf einem Bügel. Im oberen Ablagefach fanden sich, fachgerecht auf Styroporfrisierköpfe gestülpt, drei Perücken: eine rote Lockenperücke, eine weitere mit langem weißblonden Haaren, eine Perücke mit kurzen braunen Haaren. Dazu ein breitkrempiger Sommerstrohhut, ein dunkelblaues Käppchen, wie es Flugbegleiterinnen trugen, verschiedene Mützen und Schals. Auf dem Boden des Schrankes waren die entsprechenden Schuhe zu finden: extrem hohe Pumps, ein Paar weißer Lacklederstiefel, die bis zum Oberschenkel reichten, flache, einfache Ledersandalen, Turnschuhe, grobe Militärstiefel, ausgetretene, altmodische Halbschuhe.
Weissgerber zog eine große Schublade auf. Hier fanden sich die zu den verschiedenen Verkleidungen passenden Accessoires und Unterwäscheartikel: edle Spitzenbüstenhalter und Höschen, grobe Baumwollunterhosen, ebensolche Hemden, Modeschmuck, Halsketten, Armbänder und Ringe, denen man nicht ansah, ob sie echt oder falsch waren, Halstücher, Gürtel aus Leder, manche mit Nieten und Metallringen beschlagen, Handtaschen und Beutel der verschiedensten Art. Außerdem ein umfangreiches Schminkset mit zig verschiedenen Make up-Farben, Bürsten und Kämme, Haarnadeln und Spangen, Puderdosen und Pinseln, Lippenstiften, Mascarabürstchen und Kajalstiften. In einem kleinen Etui lagen grüne, blaue und braune Kontaktlinsen.
In einer weiteren Schublade fand Weissgerber zwei schwarze Aktenordner, DinA4-groß. Der Kommissar, der sich vor dem Betreten der Wohnung Latexhandschuhe angezogen hatte, nahm den ersten davon vorsichtig in die Hand. Caroline schaute ihm über die Schulter, als er ihn aufschlug. Säuberlich in Klarsichtfolien verpackt, sahen sie akkurat ausgeführte farbige Zeichnungen, die professionellen Modezeichnungen glichen. Jede Seite zeigte eine Frauengestalt mit einer vollständigen Ausstattung, die ihr eine ganz bestimmte Rolle zuwies: die Nonne, die Prostituierte, die Punkerin, die Geschäftsfrau, die Diva, die Hausfrau. Auch die Figur der Obdachlosen wurde dargestellt, komplett mit der grauen Perücke, den alten Pullovern und dem weiten Rock.
Verblüfft sahen der Kommissar und Caroline sich an.