Die Mutter des Kommissars und das schweigende Kind - Margarete Bertschik - E-Book

Die Mutter des Kommissars und das schweigende Kind E-Book

Margarete Bertschik

4,6

Beschreibung

Hanna Morgenroth, pensionierte Lehrerin und Hobbydetektivin mit lebhaften Interesse an allem, was um sie herum vorgeht, findet eines Abends an der Bushaltestelle vor ihrem Haus ein kleines Mädchen, mutterseelenallein, verfroren und verängstigt. Sie nimmt das etwa vierjährige Kind, das kein Wort spricht, in ihre Obhut. Zur gleichen Zeit wird nicht weit entfernt am Rande eines Gemüsefeldes ein Toter gefunden, ermordet ... Während Hannas Sohn, Kriminalhauptkommissar Thomas Morgenroth, im Umfeld des Toten ermittelt, ahnt Hanna, dass das unbekannte Kind etwas mit dem Mordopfer zu tun hat, und fängt ebenfalls an zu recherchieren, auf ihre ganz eigene Art ...

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Die Mutter des Kommissars und das schweigende Kind

TitelseiteImpressum

Margarete Bertschik

Die Mutter des Kommissars

und das schweigende

Kind

Prolog

Still sitzt es da, das kleine Mädchen, allein in der letzten Reihe der Nordwestbahn, den Blick unverwandt auf die vorbeifliegende Herbstlandschaft gerichtet. Wie alt mag es sein? Vielleicht vier oder fünf Jahre? Bildhübsch ist sie, die Kleine, mit ihrem herzförmigen Gesicht, den großen Augen und den braunen Locken. Das blümchenbedruckte weiße Kleid mit den Puffärmeln und dem weiten Rock, das sie trägt, scheint viel zu sommerlich zu sein für Oktober, ebenso die kurzen Söckchen und die leichten Sandalen. Ihre Beine reichen nicht bis auf den Boden, sie baumeln in der Luft. Die Hände hat die Kleine artig im Schoß gefaltet. Auffallend sind die leuchtend rot lackierten Nägel an den rundlichen Fingern. Am rechten Handgelenk und um den dünnen Hals trägt das Mädchen feine Silberkettchen mit zahlreichen roten Anhängern in Herzform.

Ihr Gesicht hat einen seltsam starren Ausdruck, ähnlich dem einer Puppe. Sie scheint das Anfahren und Halten der Bahn, das Öffnen und Schließen der Türen oder das ständige Kommen und Gehen der vielen Fahrgäste ebenso wenig wahrzunehmen wie die elektronischen Durchsagen.

Die anderen Fahrgäste nehmen keine Notiz von dem Kind und steigen meistens nach einigen Stationen wieder aus. Das Mädchen jedoch bleibt sitzen und fährt weiter.

Die Bahn durchquert Ort für Ort das Oldenburger Münsterland Richtung Osnabrück. Immer noch macht das Mädchen keine Anstalten auszusteigen oder auch nur, sich zu bewegen. Doch dann, kurz vor der Kreisstadt Cloppenburg, steht sie auf und geht zum Ausgang. Das Schaukeln der Bahn lässt ihren kleinen Körper hin und her schwanken. Instinktiv hält sie sich an den Haltegriffen der Sitze fest, bis der Zug zum Stillstand kommt. Dann öffnen sich die Türen mit dem charakteristischen Zischen und die Kleine steigt zusammen mit einigen anderen Fahrgästen aus. Einen Moment lang steht sie unschlüssig auf dem Bahnsteig, dann reiht sie sich in die Gruppe von Fahrgästen ein, die dem Ausgang zustreben. Vor dem Bahnhof schaut sie nach links und nach rechts; offenbar weiß sie nicht, wohin sie sich wenden soll. Viele der soeben ausgestiegenen Reisenden gehen auf die Hauptstraße zu, die in Richtung Stadtzentrum führt. Das Kind schließt sich ihnen an.

Inzwischen ist der Herbstabend fortgeschritten. Die Luft hat sich merklich abgekühlt. Der Feierabendverkehr lässt langsam nach, die Menschen streben ihrem Zuhause zu. Das Mädchen bewegt sich durch die Stadt, ohne auf andere Menschen oder auf ihre Umgebung zu achten. Sie läuft weiter die Straße hinunter. Bald ist sie nicht mehr zu sehen.

1

Hanna Morgenroth entschloss sich angesichts des milden Oktoberabends, noch eine ordentliche Strecke zu walken. Zwar machte sich die Arthrose in ihrem rechten Knie wieder unangenehm bemerkbar, wie eine lästige alte Bekannte, die immer dann auftaucht, wenn man glaubt, sie erst einmal vergessen zu können. Aber wie Hanna aus Erfahrung wusste, würde die stetige Bewegung des zügigen Gehens den Schmerz mildern und verhindern, dass das Gelenk noch mehr einrostete. Außerdem liebte Hanna es, durch den Wald zu wandern, wenn die Vögel wie jetzt ihr Abendlied sangen und das letzte Sonnenlicht das Herbstlaub noch einmal in seiner ganzen Farbenpracht aufleuchten ließ.

„Inga, ich geh noch ein kleines Stück“, rief sie ihrer Schwiegertochter zu, die in der Küche das Geschirr vom Abendbrottisch in die Spülmaschine räumte. „Bin in einer Stunde wieder da.“

„Ist gut.“

Ingas Stimme klang müde. Kein Wunder, dachte Hanna mitleidig, sicher ist es wieder ein anstrengender Tag gewesen für sie. Nicht einfach, den Job als Erzieherin und die Aufgaben als Mutter, Ehefrau und Hausfrau unter einen Hut zu bringen. Erst recht nicht, wenn man solch eine Perfektionistin war wie Inga, besonders wenn es um die Ernährung der Kinder ging. Seit sie sich entschlossen hatte, Vegetarierin zu werden, gab es ständig Auseinandersetzungen darüber, was gegessen werden sollte in der Familie. Hanna konnte gut verstehen, dass Thomas, Ingas Mann und Hannas einziger Sohn, öfter mal ein herzhaftes Steak oder ein saftiges Kotelett auf dem Teller sehen wollte, und erst recht, dass die Kinder manchmal Appetit auf Bratwürste oder Hähnchen hatten. Man hatte sich in der Familie mühsam darauf geeinigt, nicht öfter als zwei Mal in der Woche Fleisch zu essen. Aber wenigstens Pommes frites oder Nudeln sollte es häufiger geben, hatten die Kinder am Abendbrottisch gefordert, statt immer nur Gemüse und Salat. Ihr Vater hatte ihnen beigepflichtet und schon war der schönste Streit im Gange gewesen.

Hanna zog ihre Sportjacke an und griff zu den Stöcken fürs Nordic Walking. Sie seufzte. Im Grunde gab sie Inga ja Recht, aber man musste auch manchmal von Prinzipien abweichen können, ohne gleich das Ganze in Frage zu stellen, war Hannas Meinung. Keine Regel ohne Ausnahme, wie man richtig sagte.

Aus dem Bad hörte sie die ungehaltene Stimme ihres Sohnes, der die Zwillinge aufs Zubettgehen vorbereitete, und empörte Proteste von den Kindern; anscheinend gab es schwerwiegende Meinungsverschiedenheiten, was die Gründlichkeit des abendlichen Zähneputzens betraf.

Hanna schmunzelte. Sie nahm sich vor, den beiden Siebenjährigen, wenn sie zurückgekommen war, eine Geschichte aus dem neuen Buch vorzulesen, das sie am Nachmittag gekauft hatte. „Einundzwanzig Gutenachtgeschichten“ lautete der bezeichnende Titel. Isabell und Jannik waren ganz versessen darauf, etwas vorgelesen zu bekommen, obwohl sie jetzt, zu Beginn des zweiten Schuljahres, schon recht gut selber lesen konnten.

Auf der Straße atmete Hanna ein paar Mal kräftig durch und absolvierte halbherzig das notwendige Maß an Aufwärmübungen. Dann streifte sie die Schlaufen der Walkingstöcke über ihre Hände und marschierte zügig los.

Ihr Weg führte sie durch die abendlich ruhigen Straßen der Siedlung, die am nördlichen Rand Cloppenburgs lag, hin zu dem angrenzenden Waldstück mit den hohen Eichen, Buchen und Ulmen, deren Laub schon die herbstlichen Farben annahm. Auf den ebenen Spazierwegen lagen wie ein bunter Teppich die Blätter, die bei jedem ihrer Schritte freundlich raschelten. Die kreuz und quer durch das Gelände führenden Wege boten knapp Platz für zwei Menschen und waren wunderbar geeignet zum Schlendern, Joggen und natürlich fürs Nordic Walking, Hannas täglichem Versuch, die Beweglichkeit ihrer Gelenke zu retten.

Als sie die Straße verließ, um in den Waldweg einzubiegen, sah sie auf der Bank in dem Bushäuschen, das an dieser Stelle aufgestellt worden war, ein kleines Mädchen in einem weißen Kleid sitzen. Offensichtlich wartete das Kind auf den Bus, der hier am Abend hielt, um die Fahrgäste, die in die umliegenden Dörfer wollten oder aus ihnen zurückkehrten, ein- und aussteigen zu lassen. Gerade war der 18.00-Uhr-Bus angekommen und die alte Frau Maschewski stieg aus.

„Moin, Frau Morgenroth!“, rief sie Hanna zu und winkte. Hanna verhielt ihren Schritt, um ein paar Worte mit der alten Frau zu wechseln, wusste sie doch, wie gerne Elfriede Maschewski ein Schwätzchen hielt.

„Na, wieder mal einen Besuch bei der Tochter gemacht, Frau Maschewski?“, fragte sie, wohl wissend, dass sie sich wahrscheinlich auf eine längere Unterhaltung über die Familienneuigkeiten der Maschewskischen Sippe einstellen musste. Die Greisin stellte ihre Einkaufstasche auf dem Bürgersteig ab, ein sicheres Zeichen für ein länger dauerndes Gespräch. Nach zehn Minuten, in denen Hanna alles Wissenswerte über die weiter fortschreitenden Rheumabeschwerden von Frau Maschewskis ältester Tochter erfahren hatte, über das schwache Herz ihres Schwiegersohns und über die Schwierigkeiten, die dem Sohn der beiden seine Abschlussprüfung als Steuerberater bereitete, verabschiedete Hanna sich von der alten Frau mit der nicht von der Hand zu weisenden Feststellung, die Sonne ginge bald unter und sie wolle noch ein Stückchen gehen, bevor es dunkel werde.

Als sie nach einer knappen Stunde wieder bei der Bushaltestelle ankam, leicht verschwitzt und angenehm müde, sah sie das kleine Mädchen in dem weißen Kleid noch immer auf der Bank in dem Bushäuschen sitzen. Inzwischen war die Sonne in einem leuchtenden Abendrot untergegangen und der Himmel wurde rasch dunkel. Merkwürdig, dachte Hanna, es fährt doch jetzt gar kein Bus mehr. Worauf wartet das Kind?

Sie betrat das Häuschen und setzte sich neben die Kleine, die regungslos vor sich hinsah und sie gar nicht zu bemerken schien. Die Herbstluft war deutlich abgekühlt; von der angenehmen Wärme des Tages war nichts mehr zu spüren. Hanna sah, wie das Mädchen fröstelnd die Schultern hochzog. Kein Wunder, dachte sie, bei dem dünnen Kleid und den fast nackten Armen und Beinen! Sie unterdrückte den Impuls, das Kind in die Arme zu nehmen, um es zu wärmen.

„Hallo, meine Kleine“, sagte sie stattdessen freundlich lächelnd. „Wartest du immer noch auf den Bus? Aber der letzte ist schon weg, es kommt jetzt keiner mehr.“

Keine Reaktion. Das Mädchen sah weiter geradeaus. Ihr Gesicht wirkte starr und maskenhaft. Ob sie sie nicht gehört hatte? Zunehmend beunruhigt musterte Hanna das kleine Mädchen. Warum reagierte das Kind nicht? Bemüht, möglichst wenig einschüchternd zu wirken, sprach Hanna weiter: „Du brauchst keine Angst zu haben, Kind, ich will dir nichts tun. Wo sind denn deine Eltern?“

Wieder keine Antwort. Hanna bemerkte, dass das Kind anfing zu zittern vor Kälte. Die Kleine konnte unmöglich länger hier sitzen bleiben, sie würde sich noch den Tod holen bei der Witterung. Ratlos sah Hanna sich um. Die Straße war leer, nur hin und wieder fuhr ein Auto vorbei. Inzwischen war es schon fast vollkommen dunkel geworden; nur die Straßenlaternen warfen ihr spärliches Licht auf die Straße.

„Sag mal, du musst doch frieren in dem dünnen Kleid. Komm, ich gebe dir meine Jacke, dann wird dir wärmer.“ Hanna zog ihre Sportjacke aus und legte sie dem Kind um die Schultern. Zum ersten Mal gewahrte sie so etwas wie eine Reaktion: Das Mädchen warf ihr einen kurzen Blick zu und zog die Jacke fester um sich. Langsam fing Hanna an, sich ernsthafte Sorgen um das Kind zu machen. Was um Gottes willen hatte die Kleine hier ganz allein am Abend verloren? Offensichtlich saß sie ja schon über eine Stunde hier auf der Bank. Wo waren die Eltern? Wo kam die Kleine her? Warum war sie so hübsch zurechtgemacht, in dem weißen Kleid mit den Blümchen, dem Haarreif und dem Halskettchen? Und warum antwortete sie nicht auf Hannas Fragen? Da stimmte doch etwas nicht! Nein, ganz und gar nicht!

„Willst du mir nicht sagen, wie du heißt?“, versuchte sie abermals, dem Kind ein Wort zu entlocken. Zum ersten Mal traf sie ein direkter Blick aus den großen Augen und sie erschrak vor dem Ausdruck grenzenloser Traurigkeit darin. Sie versuchte, dem Blick standzuhalten und lächelte dem Kind zu. Oh Gott, was hatte man der Kleinen angetan! Hannas Herz krampfte sich vor Mitleid zusammen. Was sollte sie nur tun?

Wieder sah sie sich um. In den Fenstern der Einfamilienhäuser flammten nach und nach immer mehr Lichter auf, die anheimelnd und tröstlich wirkten. Die hohen Bäume am Straßenrand standen schwarz vor dem sich vertiefenden Dunkel des Himmels, der im Westen die letzten violetten Streifen verlor. Hanna stand auf und streckte dem Kind auffordernd die Hand entgegen.

„Komm, wir gehen jetzt nach Hause. Du kannst ruhig mit mir gehen, ich tue dir nichts, mein Kind. Hier kannst du nicht bleiben. Sieh nur, es ist ja schon ganz dunkel geworden.“

Ein langer Blick aus den Kinderaugen traf Hanna: misstrauisch, prüfend. Sie lächelte so vertrauenerweckend, wie es ihr möglich war, und nickte aufmunternd. Immer noch hielt sie dem Mädchen ihre Hand hin. Zögernd rückte die Kleine auf der Bank nach vorne, im Begriff aufzustehen. Dabei rutschte ihr die Sportjacke von den schmalen Schultern und fiel auf den Boden. Eilig und mit dem Ausdruck größten Schuldbewusstseins griff sie danach, hob die Jacke auf und hielt sie Hanna mit niedergeschlagenen Augen hin.

„Schon gut, das macht doch nichts, halb so schlimm“, sagte Hanna begütigend. Sie nahm die Jacke und wickelte das Mädchen darin ein. Dann reichte sie ihr wieder die Hand, die die Kleine zögernd ergriff, während sie zu Hanna aufschaute.

Diesmal meinte Hanna einen Anflug von Vertrauen im Blick des Kindes zu entdecken. Sie fasste die eiskalte kleine Hand fest mit ihrer warmen, großen, und zusammen gingen sie die wenigen Meter zu ihrem Haus. Thomas wird wissen, was zu tun ist, dachte Hanna, schließlich ist er Polizist.

2

Als Thomas Morgenroth, Kriminalhauptkommissar und Leiter der 1. Fachkommission der Polizeiinspektion Cloppenburg, an dem Tatort eintraf, zu dem er am frühen Abend gerufen worden war, hatten seine Kollegen von der Bereitschaftspolizei das Gelände schon mit einem weiß-roten Plastikband abgesperrt. Gerade waren die Spezialisten vom Fachkommissariat 5, Kriminaltechnik und Spurensicherung, dabei, über der Leiche ein Plastikzelt zu errichten, das den Toten vor Witterungseinflüssen und vor den Blicken der Neugierigen schützen sollte. Dr. Helmut Kretschmer, der grauhaarige Gerichtsmediziner aus Oldenburg, kniete neben der Leiche und untersuchte sie. Während Thomas den weißen Schutzanzug anzog und die Plastikhüllen über seine Schuhe streifte, musterte er die Umgebung.

Sie befanden sich am Rande eines riesigen Gemüseackers, auf dem üppige Kohlrabipflanzen in Reih und Glied standen und darauf warteten, geerntet zu werden. Auf etwa einem Viertel des Feldes waren nur noch die Strünke übriggeblieben, von denen die Erntearbeiter die Knollen samt einiger graugrüner Blätter abgetrennt hatten. Eine schmale Asphaltstraße führte durch die weitläufigen Gemüse- und Getreidefelder; sie bot gerade mal einem Fahrzeug Platz und wurde begrenzt durch einen schmalen Streifen Gras und Wildkräuter. Auf der anderen Seite der Straße breitete sich ein weites Rapsfeld aus, dessen leuchtend gelbe Blüten dem herbstlichen Wetter trotzten. Etwas weiter die Straße hinunter standen hohe, dürre Maispflanzen, schon braun und vertrocknet, als ob man vergessen hätte, sie zu mähen. In einiger Entfernung drehten sich träge die gigantischen Flügel von vier Windrädern. Über allem dehnte sich ein klarer, graublauer Herbsthimmel, der im Westen anfing dunkler zu werden, während die letzten Strahlen der Sonne lange Schatten erzeugten.

Am Rande des Gemüsefeldes stand ein Lastwagen mit leeren Plastikkisten für den morgigen Erntetag bereit, daneben ein Toilettenwagen mit zwei Kabinen, zwischen denen in der Mitte ein kleines Handwaschbecken, ein Seifenspender, ein Spiegel und ein Behälter für Papierhandtücher montiert waren. Immerhin, dachte Thomas, für die elementaren Bedürfnisse der Erntehelfer, die hier den ganzen Tag im Freien arbeiten, ist gesorgt. Hinter der Absperrung sah er eine Frau stehen, die die Arbeit der Polizei beobachtete. Ein Polizist in Uniform stand mit gezücktem Schreibblock bei ihr; offenbar nahm er ihre Personalien auf.

Thomas wandte den Kopf, als er das Geräusch eines Motorrades näherkommen hörte: Kriminaloberkommissar Jan Hendrik Klüver auf seiner Honda traf ein, mit seiner Kollegin Susanne Holtmann auf dem Sozius. Seit die beiden vor einigen Wochen ein Paar geworden waren, waren sie schier unzertrennlich. Beide in schwarzes Leder gehüllt, mit identischen Helmen, auf denen ein roter Blitz die Blicke auf sich zog, erinnerten sie aufdringlich an die Partnerlook-Mode der siebziger Jahre. Normalerweise hätte Thomas sich eine spöttische Bemerkung über dieses Outfit nicht verkneifen können, aber angesichts des Toten war ihm nicht danach.

„Moin, ihr beiden. Ihr hattet doch hoffentlich nichts anderes vor an diesem schönen Sonntagabend, oder?“

„Natürlich nicht“, feixte Jan Hendrik, während er sich durch seine vom Helm zusammengedrückten strohblonden Haare strich. „Wir hätten uns sicher nur gelangweilt ohne das hier.“

Susanne Holtmann, frischgebackene Kommissarin und erst seit einem halben Jahr Mitglied der Polizeiinspektion Cloppenburg, war schon dabei, den Schutzanzug überzustreifen. „Wir sind natürlich so schnell gekommen, wie wir konnten, Chef“, sagte sie mit ernstem Gesicht. „Ein Tötungsdelikt hier in unserer Stadt gibt es ja nicht alle Tage.“

„Stimmt. Dann wollen wir uns mal ansehen, was wir hier haben.“

Nachdem auch Jan Hendrik den obligatorischen Schutzanzug über seine Motorradkluft gezogen hatte, näherten die Kommissare sich dem Plastikzelt.

„Moin, Doktor!“, begrüßte Thomas den Mediziner. „Können Sie schon was sagen?“

Der alte Gerichtsmediziner - Dr. Kretschmer stand kurz vor der Pensionierung und hatte schon viele Leichen gesehen - sah nur kurz von seiner Arbeit auf und nickte den Beamten zu.

„Eine Riesenschweinerei ist das hier!“

Ganz gegen seine sonst ausgesprochen ruhige Art zeigte der Mediziner deutliche Anzeichen von Empörung. Gerade hatte er den Reißverschluss der Jacke des Toten geöffnet, dann mit einer Schere das T-Shirt aufgeschnitten und die Brust entblößt.

„Er ist überfahren worden, mindestens zweimal. Seht nur hier: Man sieht deutlich die Abdrücke der Reifen. Der Brustkorb ist eingedrückt worden; wahrscheinlich sind die inneren Organe völlig zerquetscht.“

Er zeigte auf die Beine des Toten. Die Hosenbeine der Jeans hatte er ebenfalls der Länge nach aufgeschnitten, um sich einen ersten Eindruck von den Verletzungen machen zu können.

„Beide Oberschenkel sind gebrochen, außerdem weist der ganze Körper zahlreiche Hämatome und Hautabschürfungen auf. Aber das ist noch nicht alles.“

Er drehte mit seinen behandschuhten Händen den Kopf des Mannes vorsichtig zur Seite.

„Hier, am Hinterkopf, ist eine Platzwunde, die von einem heftigen Schlag mit einem stumpfen Gegenstand herrührt, seht ihr? Dieser Schlag ist aber wahrscheinlich nicht tödlich gewesen.“

Aufmerksam besah er sich die Arme und Hände des Toten.

„An den Fingerknöcheln sind ebenfalls Abschürfungen, was darauf hindeutet, dass der Mann sich geprügelt hat kurz vor seinem Tod. Wenn wir Glück haben, finden wir Fremd-DNA in den Wunden.“

Mühsam erhob der Mediziner sich aus der knienden Stellung. Nachdenklich stützte er die Hände in die Hüften, während er auf die Leiche herabsah.

„Es sieht ganz danach aus, dass der Mann in einen Kampf verwickelt war. Offenbar ist es einem seiner Gegner gelungen, ihm einen kräftigen Schlag auf den Kopf zu versetzen, der ihn bewusstlos werden ließ. Dann hat man ihn hierher gebracht und mit einem schweren Wagen überfahren. Anscheinend wollte man einen Unfall vortäuschen.“ Er schüttelte den Kopf. „Dilettantisch, das Ganze!“

Hauptkommissar Wilhelm Stör, der Leiter des kriminaltechnischen Untersuchungsteams, trat an Thomas heran und reichte ihm einige Gegenstände in einer Plastiktüte. „Das hatte er bei sich: Brieftasche mit Ausweis, dazu eine Bankkarte, einige Papiere, etwas Geld. Ein Schlüsselbund mit zwei Schlüsseln, ein Paket Papiertaschentücher. Sonst nichts.“ Thomas drehte die Tüte hin und her. „Kein Handy?“, fragte er.

Stör, ein hagerer Mann um die fünfzig, wortkarg und überaus penibel, wenn es darum ging, die Spuren an einem Tatort zu sichern, schüttelte den Kopf. Er zeigte auf die Leiche. „Seine Kleidung werden wir später untersuchen; vielleicht finden sich Spuren von den Angreifern. Die Reifenabdrücke hier sind schon gesichert. Es sieht nach einem SUV oder einem Transporter aus. Es gibt auch einige Schuhabdrücke. Die Kollegen sind gerade dabei, sie zu erfassen.“

Er wandte sich wieder seinen Mitarbeitern zu, von denen einige damit beschäftigt waren, wegen der fortschreitenden Dämmerung Scheinwerfer aufzustellen, um die nähere Umgebung des Leichenfundortes auszuleuchten. Thomas blätterte in den Papieren des Toten.

„Dimitru Ducinca, 40 Jahre alt, aus Bukarest, Rumänien. Hat eine Arbeitsgenehmigung als Erntehelfer.“

Jan Hendrik und Susanne sahen sich das Foto in dem Ausweis des Toten aufmerksam an und verglichen es mit seinem Gesicht. Susanne schüttelte bedauernd den Kopf. „Der arme Mann!“, murmelte sie.

Jan Hendrik deutete mit dem Kinn auf den Erntewagen, an dessen Seite in großen Lettern „Fa. Stowasser, Gemüsebau“ zu lesen stand. „Wahrscheinlich war er bei Stowasser angestellt“, mutmaßte er, „der beschäftigt ja vor allem Rumänen und Polen auf seinen Gemüsefeldern. Das könnte auch erklären, warum man ihn hier überfahren hat. Womöglich hat sich die Auseinandersetzung in der Nähe abgespielt.“

Thomas ging neben der Leiche in die Hocke und betrachtete sie von nahem. „Können Sie sagen, wie lange er hier schon liegt, Doktor?“, wandte er sich an den Gerichtsmediziner, der damit beschäftigt war, seine Utensilien zusammenzupacken.

Dr. Kretschmer schürzte nachdenklich die Lippen.

„Noch nicht lange. Der einsetzenden Totenstarre nach seit schätzungsweise drei bis fünf Stunden. Irgendwann am Nachmittag muss es passiert sein. Am helllichten Tag.“ Er schaute sich um. „Hier steht weit und breit kein Haus und die Straße wird kaum befahren. Gut möglich, dass hier unbemerkt ein Mord geschieht.“

„Dass es ein Unfall war, schließen Sie also definitiv aus, Doktor?“

„Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass jemand mit seinem Wagen zweimal versehentlich einen Körper überrollt, Herr Kommissar?“ Er schüttelte entschieden den Kopf. „Nein, nein, da wollte jemand auf Nummer sicher gehen.“ Mit ruckartigen Bewegungen zerrte er die Plastikhandschuhe von den Fingern. „Alles Weitere nach der Obduktion.“

„Moment noch, Doktor! Wer hat den Toten eigentlich gefunden?“

Dr. Kretschmer deutete mit dem Kinn in Richtung Absperrung, wo sich der uniformierte Polizist mit einer fülligen Frau mittleren Alters unterhielt. „Die Frau da. Sie kam mit dem Fahrrad vorbei und hat den Toten hier liegen sehen.“ Der Gerichtsmediziner wandte sich zum Gehen. „Sie können die Leiche jetzt wegbringen lassen, Herr Morgenroth. Die weiteren Einzelheiten finden Sie in meinem Bericht. Tschüss!“

Die Kommissare traten hinter die Absperrung zurück und entledigten sich ihrer Schutzanzüge. Uwe Höltinghaus, Polizeikommissar der Inspektion Cloppenburg, sah ihnen entgegen, bereit, unter Zuhilfenahme seines Notizblocks Bericht zu erstatten. Sein junges Gesicht hatte sich vor Eifer und Aufregung gerötet. Thomas kannte den Streifenpolizisten vom Sehen und redete ihn mit Namen an.

„Moin, Herr Höltinghaus. Sie haben den Anruf entgegengenommen und uns gerufen, nicht wahr?“ Er stellte seine Kollegen einander vor. „Was können Sie uns sagen?“

„Das hier ist Frau Lydia Stellmacher. Sie wohnt auf dem Hof dort drüben.“ Uwe Höltinghaus wies mit dem Stift in die Richtung, wo man weit entfernt zwischen den Baumwipfeln die roten Dächer eines bäuerlichen Anwesens erkennen konnte. „Sie hat den Toten gefunden.“

Die Frau neben ihm nickte eifrig zu seinen Worten.

„Ja, Herr Kommissar, so war das. Ich kam mit dem Fahrrad aus der Stadt und wollte nach Hause. Heute ist ja der große Antikmarkt in der Münsterlandhalle, außerdem ist verkaufsoffener Sonntag. Aber das wissen Sie sicher, oder?“ Sie blickte zu den Polizisten hinüber, die dabei waren, die Leiche in einen grauen Sarg zu legen und abzutransportieren. In ihrem rundlichen Gesicht spiegelte sich ihre Betroffenheit angesichts des schrecklichen Fundes wider. „Und da habe ich ihn liegen sehen.“ Sie konnte ihren Blick nicht von dem nüchternen Behältnis mit dem Mordopfer lösen.

Thomas räusperte sich, um die Aufmerksamkeit der Frau wieder auf sich zu lenken. „Sie haben ihn also gesehen. Und dann?“

„Na ja, ich bin vom Rad abgestiegen und bin näher zu ihm hingegangen. Zuerst habe ich gedacht, er wäre vielleicht betrunken oder verletzt. Hätte ja sein können, dass er Hilfe gebraucht hätte. Aber dann habe ich gesehen, dass er ganz unnatürlich verrenkt dalag. Und dass er blutete. Am Kopf.“

„Haben Sie ihn angefasst? Vielleicht um zu sehen, ob er noch lebte?“

„Um Gottes willen, nein! Ich habe sofort gewusst, dass er tot war. So starr und bewegungslos, wie er dalag!“ Sie erschauerte bei der Erinnerung an den Anblick des Toten.

„Gut. Sie haben also nichts angefasst. Und Sie haben auch nichts liegen sehen in der Nähe des Toten? Irgendwelche Gegenstände?“

Die Frau überlegte einen Moment. Dann schüttelte sie den Kopf. „Nein, da war nichts.“

„Und dann?“

„Ich habe mein Handy genommen und 110 angerufen. Gott sei Dank hatte ich mein Handy dabei, wissen Sie. Eigentlich brauche ich es gar nicht, es ruft ja doch niemand an, wenn ich unterwegs bin.“

Lydia Stellmacher merkte, dass sie abschweifte. Sie stopfte ihre Hände tief in die Taschen ihres Anoraks und versuchte, sich zu konzentrieren. „Jedenfalls, die Polizei kam dann ja auch sehr schnell. Mit Sirene und Blaulicht. Und dem Krankenwagen. Obwohl der gar nicht mehr nötig war“, fügte sie hinzu. Unsicher blickte sie wieder zu den Polizisten, die jetzt das Behältnis mit dem Toten abtransportierten. „Aber das habe ich doch vorhin Herrn Höltinghaus schon erzählt. Er hat sich alles aufgeschrieben.“

Thomas ignorierte ihren Einwand. „Haben Sie, als Sie in die Stadt fuhren heute Nachmittag - wann war das etwa?“

Die Frau hob nachdenklich die Hand an den Mund, während sie überlegte. „Das muss etwa gegen halb drei gewesen sein.

„Gut. Haben Sie hier einen großen Wagen gesehen, einen Transporter oder einen Geländewagen, als Sie in die Stadt fuhren? Oder überhaupt irgendwann heute? Vielleicht von Ihrem Haus aus?“

Lydia Stellmacher schüttelte den Kopf. „Nee, mir ist kein Auto aufgefallen. Heute ist ja Sonntag, da ist hier nichts los.“

„Gut“, sagte Thomas. „Nur ein Frage noch, Frau Stellmacher: Kennen Sie den Toten?“

Wieder schüttelte die Frau den Kopf, um einiges energischer als vorher. „Nee, nie gesehen. Das ist keiner von hier. Kann sein, dass er zu den Saisonarbeitern gehört, die hier auf den Gemüsefeldern arbeiten.“ Neugierig sah sie den Kommissar an. „Weiß man denn schon, wie es passiert ist? Es war doch sicher ein Unfall, oder? Mit Fahrerflucht?“

Der Kommissar stellte fest, dass die Frau ihren Schock recht schnell überwunden zu haben schien.

„Das können wir jetzt noch nicht sagen. Vielen Dank erst einmal für Ihre Hilfe, Frau Stellmacher. Wenn wir noch weitere Fragen haben, melden wir uns bei Ihnen.“

Nachdenklich sah Thomas zu, wie Uwe Höltinghaus die Frau fürsorglich beim Arm nahm und zu ihrem Fahrrad führte. Als der junge Beamte zurückkam, sagte er zu ihm: „Herr Höltinghaus, Sie fahren bitte zu den Bauernhäusern in der Gegend und finden heraus, ob irgendjemand im Laufe des Nachmittags ein großen Wagen, einen SUV oder Transporter, bemerkt hat, der hier entlanggefahren ist.“ Uwe nickte und machte sich auf den Weg.

Thomas warf einen Blick auf die Kollegen der Spurensicherung, die in immer größerem Radius um den Leichenfundort herum den Boden absuchten. Inzwischen war die Sonne im Westen mit einem spektakulären Abendrot untergegangen, so dass die Scheinwerfer in der zunehmenden Dunkelheit die Umgebung auf gespenstische Art erhellten. Wenn die Täter hier irgendeinen Hinweis auf ihre Anwesenheit hinterlassen haben, und sei er noch so klein: Wilhelm Stör und seine Leute werden ihn finden, dachte der Kommissar.

Er trat zu seinen beiden Kollegen. „Jan Hendrik, du fährst ins Büro und recherchierst alles über die Saisonarbeiter hier im Kreis. Jens kann dir dabei helfen.“

Wenn es irgendetwas im Netz über die Firma Stowasser gab, was für die Ermittlung interessant war: Jens Hartmann, der Computernerd vom FK 5, würde es mit Sicherheit finden.

„Susanne, wir beide fahren zu der Unterkunft der Saisonarbeiter und schauen, was die Arbeiter dort zu dem Tod ihres Kollegen zu sagen haben.“

3

Inga saß auf dem Sofa im Wohnzimmer vor dem Fernseher, auf dem gerade die Nachrichten liefen, und arbeitete an dem Wochenplan für die Kindergartengruppe namens „Sonnenschein“, für die sie zuständig war. Vor ihr auf dem Tisch lagen bunte Kartons, farbige Stifte, Schere und Klebstoff sowie Papier und verschiedene Bastelmaterialien, aus denen sie kleine Figuren und Bilder zusammenklebte. Thema der Woche war das bevorstehende Erntedankfest, also entstanden unter ihren geschickten Händen Äpfel, Kürbisse, Kornähren, Kohlköpfe und was sonst noch zur herbstlichen Ernte gehörte.

Sie blickte von ihrer Arbeit auf, als Hanna mit dem Kind an der Hand ins Wohnzimmer trat.

„Wen haben wir denn da?“, fragte sie überrascht, als sie die kleine Besucherin sah. Sie stellte den Ton des Fernsehers leiser, stand auf und kam auf die beiden zu. Das Kind starrte die ihm fremde blonde Frau mit großen Augen an und versuchte, sich hinter Hannas Rücken zu verstecken. Beruhigend legte Hanna den Arm um die Schultern des Kindes und drückte es leicht an sich.

„Keine Angst, Kleines, das ist Inga. Sie tut dir nichts.“ An ihre Schwiegertochter gerichtet, erklärte sie: „Du wirst es nicht glauben, Inga, die Kleine saß mutterseelenallein an der Bushaltestelle, schon seit fast zwei Stunden. Es fährt aber gar kein Bus mehr von dort ab. Ich habe versucht, mit ihr zu sprechen, wo ihre Eltern sind und so, aber sie sagt kein Wort. Und sie ist völlig verängstigt, schau nur.“

Inga blickte fassungslos von der einen zur anderen. „Und da hast du sie einfach mitgenommen?“

„Was sollte ich denn machen? Sie einfach dort sitzen lassen, allein und verfroren, wie sie war?“

Inga schüttelte den Kopf. „Wir müssen sofort die Polizei rufen, was denn sonst?“, erklärte sie pragmatisch. „Womöglich machst du dich sonst noch der Kindesentführung schuldig!“

„Natürlich, daran habe ich auch gedacht. Aber können wir damit nicht warten, bis Thomas hier ist? Er ist doch sozusagen die Polizei. Wo ist er überhaupt?“

„Thomas ist zu einem Fall gerufen worden. Ganz in der Nähe ist ein Toter gefunden worden, hat er gesagt. Bis er zurückkommt, das kann dauern.“ Unschlüssig stand Inga da und sah zu, wie Hanna vor dem Mädchen in die Hocke ging und ihr die Sportjacke auszog.

„Vorerst bleibt die Kleine hier“, beschloss Hanna. „Sie muss sich erst einmal aufwärmen. Sicher ist sie todmüde. Wer weiß, wie lange sie schon herumläuft. Und Hunger hat sie bestimmt auch. Sieh nur, wie sie zittert. Das arme Kind!“

Besorgt beugte sich Inga zu dem Kind hinunter, aber das Mädchen wich scheu vor ihr zurück. „Sie hat tatsächlich Angst vor mir“, konstatierte die junge Frau. „Natürlich. Ich bin schließlich eine völlig Fremde für sie.“ Sie überlegte kurz und strich sich dabei mit einer für sie typischen Handbewegung eine Haarsträhne hinters Ohr. Ihre Erfahrung als Erzieherin im Kindergarten ließ sie praktisch denken.

„Ich mache ihr erst einmal etwas zu essen. Du kannst ihr inzwischen etwas anderes anziehen. Etwas Wärmeres. Ich suche gleich mal ein paar Sachen von Isabell heraus, die ihr in etwa passen müssten.“ Interessiert registrierte sie, wie sich das Mädchen an Hannas Hand klammerte. „Anscheinend hat die Kleine schon etwas Zutrauen zu dir gefasst, Hanna. Das ist ein gutes Zeichen. Vielleicht kannst du ihr ja doch ein paar Worte entlocken.“ Sie machte sich auf den Weg in die Küche.

Hanna lächelte die Kleine an.

„Wir machen uns jetzt erst einmal ein bisschen frisch, was meinst du?“, sagte sie und zog das Mädchen mit sich ins Badezimmer. Widerstandslos ließ sich das Kind Gesicht und Hände waschen und den warmen Schlafanzug anziehen, den Inga in der Zwischenzeit bereitgelegt hatte. Die Plüschpantoffeln mit dem lustigen Hasengesicht und den langen Ohren, die Isabell längst zu klein geworden waren, entlockten dem Mädchen ein erstes winziges Lächeln, das aber sofort wieder verschwand. Als Inga ihr am Küchentisch einen Becher mit warmem Kakao und ein Schinkenbrot hinschob, griff sie heißhungrig zu. Offensichtlich hatte sie lange nichts mehr gegessen. Die beiden Frauen sahen gerührt zu, wie das Kind noch eine zweite Scheibe Brot, diesmal mit Käse, verspeiste.

„Warum nur spricht sie nicht?“, fragte Hanna besorgt. „Ob sie vielleicht taub ist?“

„Das können wir leicht feststellen“, meinte Inga.

Sie stand auf, stellte sich so hin, dass das Kind ihr den Rücken zukehrte, und klatschte einmal kräftig in die Hände. Erschrocken wandte sich die Kleine um und sah sie an. Inga lächelte ihr beruhigend zu. „Also, hören kann sie. Vielleicht versteht sie nur unsere Sprache nicht?“

„Das könnte natürlich sein“, bestätigte Hanna. „Mal sehen: Do you speak english?“, fragte sie. Keine Reaktion. „Parles-tu français?“, versuchte sie es auf Französisch. Wieder ohne Erfolg. „Hablas espanõl?“, gab Inga nun ihre spärlichen Spanischkenntnisse vom letzten Urlaub zum Besten. Sie erntete nur einen verständnislosen Blick aus den großen Augen des Kindes.

„Das bringt nichts, Hanna“, resümierte Inga schließlich. „Womöglich kommt sie aus einem der östlichen Länder oder sonst woher. Dafür reichen unsere Sprachkenntnisse nicht.“

„Ich glaube sowieso nicht, dass es an der Sprache liegt“, meinte Hanna, „ich denke, es hat andere Ursachen, dass sie nicht spricht. Wer weiß, was sie erlebt hat, die arme Kleine. Oder wovor sie weggelaufen ist. Wahrscheinlich ist sie traumatisiert.“

Das Mädchen hatte sich inzwischen satt gegessen und gähnte ausgiebig.

„Du bist müde, meine Kleine, nicht wahr?“, stellte Hanna fest. „Am besten bringen wir dich jetzt ins Bett. Da kannst du dich erst einmal in Ruhe ausschlafen. Morgen sehen wir weiter.“

Sie stand auf und streckte dem Kind die Arme entgegen. Bereitwillig ließ sich das Mädchen hochnehmen und tragen. Gut, dachte Hanna, offenbar hat sie keine Angst mehr vor mir.

„Ich bringe sie oben in mein kleines Gästezimmer“, sagte sie zu Inga, „dort hat sie ihre Ruhe.“

Während sie das Kind die Treppe hinauf in ihre Dachgeschosswohnung trug, redete sie beruhigend auf es ein. „Ich werde dich Mona nennen, solange ich nicht weiß, wie du heißt, in Ordnung? Ich finde, du siehst aus wie eine Mona, mit deinen braunen Locken. Mona ist ein schöner Name, oder?“

„Sie ist sofort eingeschlafen, kaum, dass ich sie hingelegt hatte. Sie muss total erschöpft gewesen sein“, berichtete Hanna, als sie kurze Zeit später ins Wohnzimmer zurückkam. „Ich werde jetzt in der Polizeistation anrufen und fragen, was nun zu tun ist. Auf Thomas zu warten hat ja wohl keinen Sinn. Was meinst du?“

Inga hatte sich mit einem Glas Rotwein aufs Sofa vor den Fernseher gesetzt und schenkte nun ein zweites Glas für ihre Schwiegermutter ein. „Das ist sicher das Beste, Hanna. Wahrscheinlich haben sich die besorgten Eltern schon längst dort gemeldet. Sie werden ihr Kind bestimmt schon schmerzlich vermissen.“

Hanna nahm den Telefonhörer von der Ladestation im Flur und setzte sich zu Inga aufs Sofa.

„Polizeiinspektion Cloppenburg, Holthus am Apparat“, meldete sich die tiefe Stimme des Dienststellenleiters. Hanna kannte Polizeihauptmeister Richard Holthus recht gut, wie jeder in der 35 000-Seelen Stadt. Der korpulente Beamte wurde wegen der gemütlichen, aber zuverlässigen Art, mit der er seinen Dienst versah, bei der Bevölkerung sehr geschätzt.

„Moin, Herr Holthus. Hier ist Hanna Morgenroth.“

„Ah, Frau Morgenroth! Wenn Sie Ihren Sohn sprechen wollen: Der ist noch unterwegs am Tatort. Es gab nämlich einen merkwürdigen Todesfall ...“

„Nein, nein, deswegen ruf ich nicht an. Da gibt es etwas anderes, was ich melden möchte. Ich habe ein Kind gefunden, mutterseelenallein, und jetzt möchte ich wissen, ob jemand ein Kind als vermisst gemeldet hat.“

„Gefunden? Sie haben ein Kind gefunden?“

„Ja. Ein kleines Mädchen. Vielleicht vier oder fünf Jahre alt. Sie saß stundenlang an der Bushaltestelle ganz in der Nähe von hier, obwohl gar kein Bus mehr fährt um diese Zeit. Völlig verängstigt und verfroren war sie.“

„Haben Sie sie denn nicht gefragt, wie sie heißt und was sie dort macht?“

„Das ist ja das Merkwürdige. Sie spricht kein Wort.“

Verblüfftes Schweigen am anderen Ende der Leitung.

Dann fragte Holthus: „Wo ist das Mädchen jetzt?“

„Ich habe sie mit nach Hause genommen, ihr was zu essen gegeben und ins Bett gesteckt. Sie war todmüde, das arme Ding.“

„Sie hätten natürlich sofort zu uns kommen müssen, Frau Morgenroth!“

„Ja, ich weiß. Aber ich dachte, Thomas wäre zu Hause, und er ist ja schließlich Polizist ...“

„Okay. Ich sehe jetzt erst einmal nach, ob ein Kind in dem Alter als vermisst gemeldet worden ist. Warten Sie bitte einen Augenblick, Frau Morgenroth.“

Hanna hörte, wie Holthus etwas in den Computer tippte. Nach kurzer Zeit meldete sich der Beamte wieder.

„Hören Sie? Uns liegt keine Vermisstenmeldung vor. Bis jetzt jedenfalls. Vielleicht haben die Eltern noch gar nicht bemerkt, dass das Kind von zu Hause verschwunden ist. Wahrscheinlich ist die Kleine alleine losgelaufen und hat sich verirrt. So was kommt vor. Wir müssen noch etwas abwarten.“

„Und was machen wir nun mit dem Kind?“

Kurzes Schweigen. Holthus überlegte.

„Im Moment ist die Kleine ja bei Ihnen gut aufgehoben, Frau Morgenroth. Das Beste wird sein, wir lassen sie schlafen. Ich nehme Ihre Meldung auf und wenn die Eltern sich bei uns melden, sage ich Ihnen Bescheid. Geben Sie mir bitte noch eine genaue Beschreibung des Kindes: Alter, Aussehen, Kleidung, eventuelle Besonderheiten ...“

„Das klingt sehr vernünftig, Herr Holthus. Also: Sie ist ungefähr vier oder fünf Jahre alt, hat lockiges, braunes Haar, grüne Augen, ein niedliches Gesicht. Sie hatte ein weißes Sommerkleid an mit roten Blümchen darauf, weiße Söckchen und braune Sandalen. Um den Hals und am Handgelenk trug sie je ein Silberkettchen mit herzförmigen Anhängern dran.“ Hanna hielt kurz inne und überlegte. „Ach ja. Was ich ein bisschen merkwürdig finde: Ihre Fingernägel sind knallrot lackiert. Ungewöhnlich bei einem solch kleinen Mädchen. Aber sonst ... Mir ist nichts weiter aufgefallen. Nur, dass sie sehr verängstigt wirkt. Und eben, dass sie kein Wort sagt.“

„Habe ich notiert. Kommen Sie gleich morgen Früh aufs Polizeirevier mit dem Kind. Wenn sich bis dahin die Eltern nicht gemeldet haben, verständigen wir das Jugendamt. Das wird sich dann weiter um die Kleine kümmern. Neun Uhr?“

„Wir werden pünktlich sein, Herr Holthus. Vielen Dank erst einmal. Tschüss!“ Hanna legte auf.

Inga sah sie fragend an. „Morgen gehe ich mit der Kleinen zur Polizei“, erklärte Hanna. Sie nahm ihr Weinglas und betrachtete geistesabwesend die satte rote Farbe des Getränks.

„Das arme Kind“, sagte Inga. „Was ist da nur passiert? Und was wird nun aus ihm werden?“

Nachdenklich trank Hanna einen Schluck Wein. „Ja, das arme Kind.“ Sie seufzte. „Ich denke, morgen wissen wir mehr.“

Die Tür ging auf und Isabell stand da in ihrem rosafarbenen Hello-Kitty-Schlafanzug, die blonden Zöpfchen zerzaust, mit ihrem Lämmchen-Stofftier im Arm, und rieb sich die Augen. Offensichtlich hatte sie schon geschlafen. „Oma, du hast noch gar keine Gutenachtgeschichte vorgelesen“, sagte sie vorwurfsvoll.

„Ich komme“, antwortete ihre Großmutter, sprang auf und nahm ihre Enkelin auf den Arm. „Ich habe ein ganz tolles neues Buch ...“

4

Die Wohnanlage, in der die zumeist ausländischen Saisonarbeiter der Firma Stowasser-Gemüsebau untergebracht waren, wurde von den Marketingleuten der Firma gerne als „Hotel“ bezeichnet, und tatsächlich glich der moderne Bau eher einer schlichten, aber zweckmäßigen Hotelanlage als einer behelfsmäßigen Arbeiterunterkunft. Als Thomas und Susanne ihren Dienstwagen auf dem weitläufigen, baumbestandenen Parkplatz abstellten, meinte der Kommissar nach einem anerkennenden Blick auf die gepflegte Umgebung des Gebäudes, wo im Licht der rundum aufgestellten Laternen in den Grünanlagen sogar ein kleiner See glitzerte: „Das hier hat nichts mehr zu tun mit den vor Jahren noch üblichen Unterkünften, die zu Recht als menschenunwürdig angeprangert worden sind. Alles, was recht ist: Da hat sich Gott sei Dank einiges getan.“

Die Beamten gingen auf das langgestreckte Gebäude zu, in dem viele Fenster erleuchtet waren, und öffneten die Tür zu einem geräumigen Aufenthaltsraum. Es herrschte reges Treiben. Den arbeitsfreien Sonntag nutzten offenbar viele der Bewohner, ihre wöchentlichen Besorgungen oder Verrichtungen wie Wäschewaschen, Saubermachen, Aufräumen und Ähnliches zu erledigen. Durch eine geöffnete Tür konnte Thomas in die Küche sehen, in der einige Bewohner dabei waren zu kochen, andere saßen an den Tischen, lasen oder spielten Karten. Der Fernseher lief ohne Ton; kaum einer achtete auf das, was auf dem Bildschirm zu sehen war. Stimmengewirr erfüllte den Raum in Sprachen, die Thomas nicht verstand.

Als die Beamten den Raum betraten, hielten die Männer und Frauen in ihrer Tätigkeit inne und sahen ihnen neugierig entgegen. Thomas zückte seinen Ausweis und hielt ihn hoch, Susanne tat es ihm gleich.

„Meine Herrschaften, darf ich einen Augenblick um Ihre Aufmerksamkeit bitten?“, fragte Thomas mit erhobener Stimme. Sogleich trat Stille ein und alle Augen wandten sich ihm zu.

„Mein Name ist Kriminalhauptkommissar Thomas Morgenroth, das hier ist meine Kollegin, Kommissarin Susanne Holtmann.“

Überraschtes Gemurmel folgte seiner Vorstellung.

„Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Herr Dimitru Ducinca heute Nachmittag tot aufgefunden worden ist.“