Ich bin nicht Eva - Margarete Bertschik - E-Book

Ich bin nicht Eva E-Book

Margarete Bertschik

0,0

Beschreibung

2019: Ein junger Mann folgt den Spuren seiner Eltern, die er nie kennengelernt hat, und begibt sich in die Welt seiner frühen Kindheit ... 2005: In einem Kleinstadtkrankenhaus wacht eine äußerlich unverletzte junge Frau auf, ohne zu wissen, wie sie dorthin gelangt ist. Nicht nur das: Ihr fehlt jegliche Erinnerung an ihr früheres Leben. Sie weiß nur eines: Sie ist nicht Eva Eden, die Frau, die eines schweren Verbrechens beschuldigt wird, wie die Polizei behauptet. Doch wer ist sie wirklich? Kriminalkommissar Ralf Herbst und die Psychotherapeutin Dr. Carina Freymuth suchen nach den Hintergründen des Geschehens, während sich die junge Frau nach und nach an ihre Vergangenheit erinnert und schließlich die furchtbare Wahrheit erkennt ...

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 391

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Margarete Bertschik / Ich bin nicht Eva

Margarete Bertschik

ICH BIN NICHT EVA

Psychothriller

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar

Lektorat: Günter Kannen

Covergrafik: Shuravaya/Yunaco/Shutterstock.com

Copyright: Margarete Bertschik, 2020

Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

978-3-7497-9762-2 (Paperback)

978-3-7497-9763-9 (Hardcover)

978-3-7497-9764-6 (E-Book)

Zur Autorin

Margarete Bertschik, geboren 1951, studierte Kunst, Germanistik und Pädagogik, bevor sie nach Jahrzehnten als Lehrerin das Schreiben zu ihrem zweiten Beruf machte. Sie ist verheiratet und lebt mit ihrem Mann in Norddeutschland.

Weitere Informationen unter:

www.autorin-margarete-bertschik.de

Die Personen und die Handlung dieses Romans sind frei erfunden. Namensgleichheiten oder Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und sind nicht beabsichtigt.

Manche der genannten Orte, Straßen oder Plätze sind authentisch, andere jedoch nicht. Eine Zuordnung der Schauplätze zu tatsächlichen Örtlichkeiten ist daher nicht immer möglich.

MONTAG, 8. APRIL 2019

Der junge Mann auf dem Fensterplatz im Metronom von Hamburg nach Bremen schien tief in Gedanken versunken zu sein. Die am Fenster vorbeiziehende norddeutsche Frühlingslandschaft mit ihren braunen Ackerflächen, noch kahlen Baumreihen und feuchten Wiesen beachtete er nicht. Auch das Kichern und Tuscheln der beiden jungen Mädchen auf den Sitzen ihm schräg gegenüber, die ständig ihre langen blonden Haare schüttelten und ohne Grund lachend ihre weißen Zähne zeigten, schien er nicht zu bemerken.

Es war kein Wunder, dass der junge Mitreisende den Teenagern gefiel. Seine gleichmäßigen Gesichtszüge ließen unter der jugendlichen Weichheit schon das attraktive Männergesicht des späteren Erwachsenen erahnen. Unauffällig gekleidet mit einem grauen Kapuzensweatshirt, einer Bluejeans und einer leichten blauen Jacke, unterschied er sich kaum von anderen Jugendlichen.

Leon Eden, so hieß der junge Mann, nahm tatsächlich kaum wahr, was um ihn herum vorging. Seine Gedanken waren bei dem Inhalt des Briefes, den er bei sich trug, sorgfältig verstaut in seinem Rucksack. Von Zeit zu Zeit holte er ihn hervor und las ihn zum wiederholten Male. Es war ein altmodischer Brief, ein Unikum im Zeitalter der SMS-Nachrichten und E-Mails, handgeschrieben auf weißem Papier, zweifach gefaltet in einem länglichen Kuvert.

Leon hatte gerade seinen 18. Geburtstag gefeiert, als sein Onkel ihm den Brief nicht ohne eine gewisse Feierlichkeit überreichte. Der Inhalt des kurzen Schreibens hatte Leons wohlgeordnete, sorgenfreie Welt in den Grundfesten erschüttert; er war der Grund seiner Reise.

Eine uniformierte Schaffnerin betrat das Zugabteil und fragte die Passagiere nach ihren Fahrkarten. Leon kramte sein Ticket aus der Jackentasche und reichte es ihr.

„Umsteigen in Bremen in die Nordwestbahn Richtung Wilhelmshaven, Gleis 12 gleich gegenüber, dann in Oldenburg in die Nordwestbahn Richtung Osnabrück, Gleis 8, bis nach Schönfelde“, teilte die Beamtin ihm unaufgefordert mit, während sie seine Fahrkarte lochte. Dabei schenkte sie ihm ein freundliches Lächeln, das Leon jedoch nicht bemerkte. Genauso wenig wie er registrierte, dass die beiden Mädchen ihm ein fröhliches „Tschüss“ zuriefen, als sie in Bremen gemeinsam mit ihm den Zug verließen und ihrer Wege gingen.

In der Kreisstadt Schönfelde angekommen, blieb Leon unschlüssig auf dem Bahnsteig stehen. Er zog sein Smartphone aus der Hosentasche und rief seine Notizen auf das Display. Eine Liste von Namen und Adressen kam zum Vorschein. Mit Hilfe des Stadtplans, der an einer Informationswand in der Halle des altmodischen kleinen Bahnhofsgebäudes hing, stellte er fest, wo sein erstes Ziel zu finden war: Beethovenstraße Nr. 26. Zu weit, um zu Fuß zu gehen. Also musste er ein Taxi nehmen. Überhaupt würde es sinnvoll sein, die einzelnen Orte, die er in Schönfelde aufsuchen wollte, mit dem Taxi anzusteuern, da er sich an jedem nur kurze Zeit aufhalten wollte.

Leon hatte Glück: Vor dem Bahnhof wartete noch ein einziges Taxi; die restlichen waren bereits von den anderen Ankömmlingen in Anspruch genommen worden. Der dicke Taxifahrer nahm ihm den Rucksack ab und verstaute ihn schnaufend im Kofferraum.

„Wo soll’s denn hingehen, junger Mann?“, fragte er leutselig. Leon nannte die Straße und nahm im Fond des Wagens Platz, nicht auf dem Beifahrersitz; er wollte nicht in ein Gespräch verwickelt werden. Während der Fahrt betrachtete er die Häuserreihen und Anlagen, durch die der Weg führte. Eine nette Kleinstadt, fand er, aber völlig ohne nennenswerte Besonderheiten.

In der Beethovenstraße reihten sich adrette Einfamilienhäuser in traditioneller Satteldachbauweise aneinander. In voller Blüte stehende Forsythien, Narzissen und Stiefmütterchen schmückten die gepflegten Vorgärten. Vor der Nummer 26 hielt das Taxi. Der Fahrer stoppte das Taxameter und wartete darauf, dass Leon Anstalten machte auszusteigen.

„Warten Sie bitte einen Moment“, sagte Leon, „ich fahre gleich mit Ihnen weiter.“

Er stieg langsam aus und blieb auf dem Bürgersteig stehen. Das also war sein Elternhaus, das Haus, in dem er die ersten vier Jahre seines Lebens gewohnt hatte. Langsam ging er die Eingangsfront entlang und betrachtete das Gebäude. Das im klassischen Bauhaus-Stil gestaltete Wohnhaus war das einzige seiner Art in der Straße und stellte mit seinen geradlinigen geometrischen Formen, weißen Wänden und großen Glasfassaden eine Besonderheit dar. Die verschachtelte Bauweise der Stockwerke und das flache Dach erinnerten Leon an Schuhkartons, die gestapelt und rechtwinklig miteinander verbunden und überlappt worden waren. Klar und funktional waren auch die Linien des Gartens angelegt, der das Gebäude umgab, sodass er mit dem Haus eine wohldurchdachte, stimmige Einheit bildete. Ein architektonisches Meisterwerk, dachte Leon bewundernd. Vor der Garage entdeckte er ein pinkfarbenes Kinderfahrrad und in der Einfahrt lag ein Dreirad auf der Seite, von seinem kleinen Besitzer achtlos liegengelassen. Offenbar wurde das Haus von einer jungen Familie bewohnt. Leon suchte nach etwas, was ihm vertraut vorkam, nach Erinnerungen an die Zeit, als er hier gelebt hatte, vielleicht selbst auf einem kleinen Rad in der Einfahrt herumgefahren war, aber da war nichts. Als er hinter der Gardine des Küchenfensters eine Bewegung bemerkte, kehrte er schnell zum Taxi zurück; er wollte nicht, dass die Bewohner des Hauses auf ihn aufmerksam würden.

„Wohin jetzt?“, fragte der Taxifahrer, nachdem Leon wieder eingestiegen war.

„Zum Friedhof“, antwortete er. Er fühlte den neugierig fragenden Blick des Fahrers im Rückspiegel und drehte demonstrativ den Kopf zur Seite. Der Fahrer verstand, verzichtete darauf, ein Gespräch anzufangen und fuhr los.

In der Friedhofsgärtnerei kaufte Leon einen großen Strauß weißgelber Narzissen. Die Blumen im Arm schlenderte er suchend durch die Gräberreihen. Die beetförmigen Grabstellen waren jetzt, kurz vor Ostern, frisch bearbeitet und bepflanzt, die Grabsteine gesäubert und die Wege ausgebessert worden; der Friedhof ähnelte eher einem großen Garten als einer Begräbnisstätte, fand Leon.

Schließlich hatte er die Grabstelle gefunden, die er suchte. Es mutete ihn seltsam an, seinen eigenen Nachnamen auf dem Gedenkstein zu lesen. Eine Weile stand er nur still da und starrte auf die Inschriften, die mit goldenen Lettern in den weißen Marmor eingraviert worden waren. Auf seiner Stirn bildete sich zwischen den Augenbrauen eine ungewohnte Falte und sein Mund verzog sich schmerzlich, als er die Tränen, die ihm in die Augen stiegen, fortblinzelte. Schließlich bückte er sich und stellte den Strauß Narzissen in die grüne Plastikvase, die für Blumen bereitstand. Er sah sich nach Wasser um und entdeckte neben einem Behälter für Grünabfall eine altmodische Wasserpumpe am Ende des Hauptweges. Ohne Eile ging er dorthin, schöpfte Wasser in eine Gießkanne, die die Friedhofsverwaltung für diesen Zweck neben der Pumpe deponiert hatte, und versorgte die Blumen mit Wasser. Noch einmal stand er in Gedanken versunken am Rande des Grabes, dann drehte er sich um und verließ die Begräbnisstätte.

Das Taxi hatte er bei seiner Ankunft am Friedhof bezahlt und weggeschickt. Sein nächstes Ziel war laut der Karte von Schönfelde, die sein Smartphone ihm zeigte, nur zwei Straßen entfernt. Es war ein Kindergarten. Der Kindergarten, in dem seine Mutter gearbeitet hatte und den er, Leon, den Erzählungen seines Onkels zufolge als Drei- und Vierjähriger besucht hatte. Leon fragte sich, ob er sich an etwas erinnern würde, wenn er vor dem Gebäude stand und es vor Augen hatte. Obwohl, viel Hoffnung hatte er nicht. Wenn sein Elternhaus nichts in seinem Gedächtnis wachrufen konnte, dann der Kindergarten wohl auch nicht. Dennoch: Vielleicht fand er irgendwelche Hinweise, die ihm halfen, den seltsamen Traum, der ihn Zeit seines Lebens verfolgte, zu verstehen. Auch wegen dieses Traumes hatte er sich entschlossen, die Orte seiner Kindheit aufzusuchen. Es war immer derselbe Traum: Er befand sich im Freien. Er war klein, aber er trug einen vollständigen Anzug mit Weste, Jacke und Hose. Und da war Wasser, viel Wasser, und er wollte baden, denn ihm war schrecklich heiß. Aber er durfte den Anzug nicht ausziehen, obwohl er es unbedingt wollte. Dann kam ein Mann, ein riesengroßer Mann, oder waren es zwei? Der Mann sagte zu ihm: Ja, Leon, zieh dich aus. Aber es ging nicht, so sehr er sich auch bemühte und an der Jacke und der Hose zerrte. Das brachte ihn zur Verzweiflung und er fing an zu weinen. An dieser Stelle des Traumes wachte er regelmäßig auf, mit keuchendem Atem und klopfendem Herzen, und es dauerte lange, bis er wieder einschlafen konnte.

Das Kindergartengebäude lag still in der Nachmittagssonne; nirgends war ein Kind zu sehen. Natürlich, der Kindergarten hatte längst geschlossen. Leon ließ seinen Blick über die Turngeräte auf dem großen Spielplatz schweifen, über das freundliche, in überschaubare Teilbereiche unterteilte Haus, die mit Kinderbildern bunt geschmückten Fenster und über den großen sauberen Vorplatz. Keine Erinnerung, so sehr er sich auch bemühte. Nichts, was ihm bekannt vorkam oder ein Gefühl des Vertrautseins in ihm wachrief.

Er wandte sich ab. Hier gab es nichts, was ihm half, seine Vergangenheit zu verstehen.

2005

TEIL 1

1

Das Dunkel um mich herum ist friedlich; sanft umhüllt es mich, wie eine mütterliche Umarmung. Ich versinke darin, muss nichts mehr wissen.

Tief unten ist es warm und still. Wohltuend. Doch dann beginnt etwas an mir zu ziehen. Es zieht mich nach oben. Langsam. Immer weiter. Eigentlich will ich lieber dort unten bleiben, wo es dunkel ist und still. Ich mache mich schwer, aber ich steige nach oben, wie ein mit Gas gefüllter Luftballon. Ich kann nichts dagegen tun, so sehr ich mich auch sträube.

Es wird heller. Das Dunkel wird durchsichtiger, matter, blasser. Ich will das nicht! Ich will zurück ins Dunkle, ins Vergessen. Ich versuche mich zu wehren gegen die Helligkeit, aber ich habe keine Muskeln, weder Arme noch Beine, um mich ihr entgegenzustemmen. Vergeblich versuche ich, das Dunkel festzuhalten, meine Lider zu verschließen vor dem sie durchdringenden Licht. Jetzt ist die Helligkeit da, bedrängt mich, fordert mich auf, die Augen zu öffnen, wach zu werden.

Ich lausche. Es ist still. Nur ein leises, atmosphärisches Summen, wie von elektrischen Geräten. Versuchsweise strecke ich die Glieder. Das Laken um mich herum fühlt sich glatt und kühl an. Angenehm sauber. Aber fremd. Ich nehme einen Geruch wahr wie nach Reinigungsmitteln. Geradezu steril riecht es.

Antiseptisch.

Wo bin ich?

Zögernd öffne ich die Augen. Ein Krankenzimmer! Ich liege in einem hohen Krankenbett mit weißen Laken, über mir ein Metallgalgen, an dem ein Haltegriff zum Aufrichten befestigt ist. Neben dem Bett der in Krankenhäusern übliche hohe Nachttisch, an der seitlichen Wand ein Schrank, daneben ein Tischchen sowie zwei Kunststoffsessel für Besucher. Oben an der gegenüberliegenden Wand ist ein kleiner Flachbildschirm montiert. Das zweite Bett in dem Zimmer ist nicht belegt. Eine Tür, die wahrscheinlich ins Bad führt, an der anderen Wand. Durch das Fenster scheint die Sonne ins Zimmer. Es ist sehr hell. Ich blinzele.

Wieso bin ich im Krankenhaus? Habe ich einen Unfall gehabt? Bin ich verletzt oder krank? Warum kann ich mich nicht daran erinnern, wie ich hierhergekommen bin?

Vorsichtig bewege ich die Beine und Arme und drehe meinen Körper hin und her. Alles fühlt sich normal an. Ich hebe die Bettdecke an: keine Verbände, nichts, was auf eine Verletzung hindeutet. Ich richte mich auf. Plötzlich durchfährt ein heftiger, stechender Schmerz meinen Schädel. Stöhnend lasse ich mich aufs Kissen zurücksinken. Behutsam betaste ich meinen Kopf. Kein Verband, keine Beule. Was kann die Ursache dieses unerträglichen Schmerzes sein? Bin ich gestürzt und mit dem Kopf aufgeprallt? Ich versuchte mich zu erinnern, aber da ist nur Leere. Und der Kopfschmerz, der jetzt dumpf und schwer wird und sich verstärkt, wenn ich versuche nachzudenken. Also nicht denken! Jedenfalls nicht jetzt. Vielleicht später. Ich atme tief ein und aus und warte darauf, dass das Dröhnen hinter meiner Stirn nachlässt. Sanft gleite ich wieder in das Dunkel zurück, dorthin, wo ich nichts mehr spüre.

***

Ich wache wieder auf, weil ich dringend auf die Toilette muss. Es ist immer noch hell im Zimmer, aber das Licht hat sich verändert. Ist es Nachmittag? Meine Blase drückt. Ich schlage die Bettdecke zurück und richte mich auf. Wieder durchzuckt mich der Schmerz in meinem Kopf, mir wird schwindelig. Ich setze mich auf die Bettkante und atme tief durch. Einmal, zweimal. Der Schwindel lässt nach. Vorsichtig stehe ich auf und tappe barfuß zu der Tür, hinter der ich das Bad vermute. Mein Schädel dröhnt bei jedem Schritt. Richtig, es ist das Badezimmer. Ich setzte mich auf die Toilettenschüssel, hebe das Krankenhausnachthemd, das ich anhabe, an und erleichtere mich. Beim Händewaschen fällt mein Blick in den Spiegel. Oh Gott, wie ich aussehe! Kreidebleich mit dicken schwarzen Ringen unter den Augen! Und dieser schale Geschmack im Mund! Wie nach einer durchzechten Nacht. Genau! Das ist es. Ich habe einen Kater. Einen ausgewachsenen, riesigen Kater. Hat man mich vielleicht volltrunken irgendwo aufgelesen und hierhergebracht, damit ich ausnüchtere? Ich kann mich nicht erinnern. Totaler Filmriss. Blackout.

Jedenfalls ist es wohl nichts Ernstes, versuche ich mich zu beruhigen. Sicher wird das Gedächtnis bald wiederkommen, wenn erst diese scheußlichen Kopfschmerzen nachlassen. Ich schaufele mir mit beiden Händen kaltes Wasser ins Gesicht und spüle mir den Mund aus. Dann trinke ich aus dem Zahnputzbecher zwei große Gläser Wasser. Das tut gut. Bestimmt werde ich bald wieder einen klaren Kopf haben.

Zurück im Zimmer inspiziere ich den Schrank. Irgendwo müssen die netten Leute, die mich hierhergebracht haben, ja meine Sachen untergebracht haben. Richtig, auf dem Kleiderbügel hängt ein schwarzes Kleid, in dem Regal liegen dazu passende Unterwäsche und eine Strumpfhose, unten im Schrank stehen schwarze Pumps. Komisch, das Kleid kenne ich nicht. Habe ich es mir vielleicht von einer Freundin ausgeliehen, zu einem besonderen Anlass? Ich nehme es aus dem Schrank und betrachte es. Es ist ausgesprochen schick, knielang, eng geschnitten, mit langen Ärmeln aus Spitze. Also ist es wohl eine etwas bessere Party gewesen, auf der ich so total versackt bin. Ich ziehe die Kleidungsstücke an. Sie passen wie angegossen. Jetzt noch die Handtasche und ich kann gehen. Ich sehe mich um, durchsuche noch einmal den Schrank, dann den Nachttisch. In der Schublade liegt ein Abendtäschchen, passend zum Kleid, schwarz, mit Strass bestickt und mit einer langen silbernen Gliederkette versehen. Ich nehme es und hänge es mir um.

Ich öffne die Tür zum Korridor. Der Krankenhausflur ist leer bis auf ein älteres Ehepaar, das gerade die Tür zum Zimmer nebenan öffnet. Die beiden beachten mich nicht. Ich höre leise Stimmen aus dem Schwesternzimmer. Am Ende des Flurs sehe ich ein Schild: ‚Ausgang‘. Ich gehe darauf zu. Linker Hand befinden sich die Fahrstühle. Ich betätige den Knopf und mit einem leisen Surren kündigt sich der Aufzug an. Ich betrete die überdimensionale, nun leere Kabine und drücke auf den Knopf mit der Bezeichnung ‚Ausgang‘. Im Erdgeschoss angekommen, folge ich den entsprechenden Schildern und stehe alsbald vor dem Haupttor des Krankenhauses. Ich hebe die Hand über die Augen, um nicht von der hellen Sonne geblendet zu werden.

Einen Augenblick stehe ich unschlüssig da. Was jetzt? Ich brauche ein Taxi, irgendwie muss ich ja nach Hause kommen. Ich sehe mich um. Nicht weit entfernt entdecke ich das Schild ‚Taxistand‘. Ich habe Glück: Mehrere Taxis warten dort auf Fahrgäste. Ich stöckele auf meinen hochhackigen Schuhen über das Pflaster und versuche, die neugierigen Blicke einiger Krankenhausbesucher zu ignorieren, die sich wohl über mein Outfit wundern.

„Wo soll‘s denn hingehen?“, fragt der dicke Fahrer, nachdem ich mich aufatmend auf die Rückbank fallen gelassen habe.

Nach Hause natürlich. Meine Adresse ist … Ich stutze. Das ist ja komisch! Die Adresse will mir nicht einfallen. Angestrengt denke ich nach. Die Schmerzen in meinem Kopf verstärken sich schlagartig. Nichts! Das kann doch nicht wahr sein! Ich weiß nicht mehr, wo ich wohne! Ich weiß es einfach nicht mehr. Habe keine Vorstellung von dem Haus oder der Wohnung, in der ich lebe. Wie ist so etwas möglich? Wie kann man seine eigene Adresse vergessen? Ich fühle, wie mein Herz anfängt wild zu klopfen. Meine Hände sind plötzlich eiskalt. Hinter meinen Schläfen hämmern die Kopfschmerzen. Unfähig, mich zu bewegen, sitze ich da und starre auf den Hinterkopf des Fahrers.

„Also, meine Dame? Wohin soll ich fahren?“, fragt der Taxifahrer ungeduldig. Ich fühle seinen misstrauischen Blick im Rückspiegel. Was soll ich sagen? Ich überlege krampfhaft. Irgendetwas muss ich sagen!

„Zum Bahnhof!“

„Alles klar“, antwortet der Mann, schaltet das Taxameter ein und fährt los. Bahnhof! Was will ich am Bahnhof? Warum um Gottes willen habe ich das gesagt? Völlig verwirrt sitze ich da. Erst einmal muss ich mich beruhigen. Immerhin ist der Fahrer jetzt mit dem Verkehr beschäftigt und ich muss nichts erklären. Ich reibe mir die Stirn. Was ist nur los mit mir? Habe ich solch einen Blackout, dass ich alles vergessen habe, sogar, wo ich wohne?

Mein Blick fällt auf das Täschchen, das ich umhängen habe. Ob darin vielleicht mein Portemonnaie ist? Ich öffne den Metallverschluss und sehe hinein. Richtig! Neben einer Puderdose, einem Lippenstift und einem Kamm enthält das Täschchen mein Portemonnaie. Es ist doch meins, oder? Plötzlich werde ich unsicher. Erinnere ich mich etwa nicht einmal mehr daran, wie mein Portemonnaie aussieht? Ich betrachte es genauer. Es ist eigentlich eine Brieftasche, mit mehreren Fächern für Geldscheine und Karten. Mit zitternden Händen öffne ich es. Im Kleingeldfach finde ich mehrere Münzen, in dem Geldfac einige Zehn- und Zwanzigeuroscheine, einen Fünfziger. In den kleinen Fächern eine Kreditkarte, die Karte eines Friseurs, mehrere Fotos von Kindern, die ich nicht kenne. Ein Personalausweis. Er lautet auf den Namen Eva Eden. Aber ich bin nicht Eva Eden! Wieso habe ich die Sachen von Eva Eden bei mir? Ich heiße … Plötzlich wird mir übel. Mit aller Kraft unterdrücke ich den Brechreiz. Krampfhaft schlucke ich, immer wieder, bis das Würgen in meiner Kehle nachlässt. Es ist doch nicht möglich, dass ich nicht mehr weiß, wie ich heiße! Starr sitze ich im Fond des Taxis und versuche mich zu erinnern, wie mein Name lautet. Nichts! Nur Leere. Ein großes schwarzes Loch. Ich kann mich nicht daran erinnern, wie ich heiße, wo ich wohne, wer ich bin!

Fassungslos starre ich auf den Ausweis in meiner Hand. Das Foto zeigt ein Gesicht, das ich nicht kenne. Es hat nicht einmal Ähnlichkeit mit mir. Höchstens ein wenig vielleicht. Die halblangen dunkelblonden glatten Haare, die Gesichtsform in etwa. Aber das bin ich nicht! Ich bin nicht Eva Eden!

„Da sind wir“, sagt der dicke Taxifahrer.

Ich schrecke hoch. Tatsächlich, das Auto hält vor dem Eingang des Bahnhofs.

„Das macht 18,60 Euro.“

Ich nehme mit zitternden Händen einen Zwanziger aus dem Portemonnaie, das noch immer geöffnet auf meinem Schoß liegt, und reiche ihn zu dem Fahrer nach vorne. „Stimmt so.“

„Besten Dank, meine Dame!“

Ich steige aus, schließe die Tür des Taxis und sehe zu, wie es wegfährt. Menschen gehen an mir vorbei, ohne mich zu beachten. Die Spätnachmittagssonne tut meinen Augen weh. Unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, gehe ich auf die Bahnhofstür zu. In meinem Kopf hämmert es. Ich brauche unbedingt etwas gegen diese wahnsinnigen Kopfschmerzen. Das ist ja nicht auszuhalten! Vielleicht gibt es in der Bahnhofshalle eine Drogerie, in der ich Schmerztabletten kaufen kann.

Wenig später stehe ich vor der Drogerietür, ein Tablettenröhrchen in der Hand, und sehe mich nach einer Möglichkeit um, an etwas Wasser zu kommen, um die Tabletten einzunehmen. „Die sind sehr stark“, hat die Drogistin gewarnt, „nehmen Sie immer nur eine davon.“ Ich entdecke ein WC- Schild und gehe so schnell, wie es meine Stöckelschuhe zulassen, darauf zu. Als Nächstes muss ich mir andere Schuhe besorgen, fährt es mir durch den Kopf, und normale Sachen zum Anziehen. Im Toilettenvorraum zeigt eine junge Mutter ihrem vielleicht vierjährigem Sohn, wie man den Seifenspender betätigt, und blockiert das Waschbecken. Ungeduldig warte ich darauf, dass die beiden den Raum verlassen. Ich schüttele zwei Tabletten aus dem Röhrchen, stecke eine davon in den Mund und schöpfe mit der hohlen Hand Wasser, um sie hinunterzuschlucken. Dann nehme ich die zweite Tablette auf die gleiche Weise ein und, nach kurzer Überlegung, noch eine dritte. Aufatmend werfe ich einen Blick in den Spiegel. Mein Gott, wie ich aussehe! Hohlwangig, blass, richtig krank!

Ich schließe mich in eine der Kabinen ein, setze mich auf den Toilettendeckel und warte darauf, dass die Wirkung der Tabletten einsetzt. Ich fühle, wie das Medikament langsam anfängt zu wirken. Das stechende Schmerzgefühl ist einem dumpfen Dröhnen gewichen, das nach und nach schwächer wird. Ich warte, bis ich sicher bin, dass ich allein bin. Mit wackeligen Knien stehe ich auf, öffne die Tür zum Toilettenvorraum und gehe zum Waschbecken. Noch immer sieht mein Gesicht zum Fürchten aus, ist aber nicht mehr ganz so leichenblass wie vorher. Ich wasche mir die Hände und befeuchte meine Schläfen mit kaltem Wasser. Mit dem winzigen Kamm aus dem Täschchen glätte ich meine Haare. Dann lege ich Puder auf, damit meine Haut nicht mehr so krank aussieht, und einen Hauch Lippenstift. Ich blicke prüfend an mir hinunter. Das Kleid sieht zerknittert und mitgenommen aus. Ich brauche unbedingt etwas anderes zum Anziehen. Ich erinnerte mich, in der Bahnhofshalle einen kleinen Jeansladen gesehen zu haben; dort kann ich sicher das Nötigste kaufen. Habe ich überhaupt genügend Geld dafür? Ich öffne das Portemonnaie und zähle das Geld, das nach Abzug der Taxikosten und der 9,90 Euro für die Tabletten noch übrig ist: Fünfundsechzig Euro in Scheinen und sechs Euro und siebzig Cent in Münzen. Damit werde ich nicht weit kommen. Aber da ist ja auch noch die Kreditkarte, die auf den Namen Eva Eden lautet. Vielleicht kann ich sie benutzen. Ich studiere die Unterschrift. Eine rundliche Handschrift. Die kann ich sicher leicht nachmachen.

Es ist, als ob der Entschluss, etwas Bestimmtes tun, mir neue Kraft gegeben hätte. Ich fühle mich besser, ja geradezu unternehmungslustig. Ich verlasse den Toilettenraum und gehe auf die Boutique zu. Was brauche ich? Eine Sommerjeans, ein oder zwei T-Shirts, Unterwäsche, eine leichte Jacke. Da es in dem Laden keine Schuhe gibt, kaufe ich ein paar Flip-Flops. Ich wähle entsprechende Kleidungsstücke aus und gehe mit klopfendem Herzen zur Kasse. Die Verkäuferin, eine stark geschminkte Blondine mit unnatürlich langen Wimpern, zieht ohne zu zögern die Kreditkarte durch den Scanner, wartet, bis die Rechnung gedruckt wird und reicht mir den Bon zur Unterschrift über den Tresen. Ich unterschreibe mit Eva Eden, möglichst genau so wie auf der Kreditkarte, und warte mit fliegendem Puls auf die Reaktion der Verkäuferin. Es klappt! Erleichtert atme ich auf.

„Kann ich die Sachen vielleicht gleich anziehen?“, frage ich. „Ich hatte noch keine Gelegenheit, mich nach der Party umzuziehen“, füge ich erklärend hinzu, als ich den skeptischen Blick der Frau sehe.

Die Verkäuferin lächelt wissend. „Aber selbstverständlich! Dort hinten ist die Kabine.“ Sie deutet mit der Hand ins Ladeninnere und reicht mir die Tüte mit den Kleidungsstücken.

Nachdem ich mich umgezogen habe, fühle ich mich besser. Immer wieder versuche ich mich an meinen Namen zu erinnern, ohne Erfolg. Ich bin mir nur sicher, dass er nicht Eva Eden lautet. Aber wie könnte ich heißen? Mein Blick fällt auf ein Werbeplakat mit Kim Kardashian. Kim! Das ist mein Name! Ich bin mir plötzlich ganz sicher. Kim Krüger. Das klingt gut. Ich heiße Kim Krüger, sage ich zu mir selbst. Mehrere Male wiederhole ich halblaut: Kim Krüger. Als ob der Name mir neues Selbstvertrauen gegeben hätte, schlendere ich durch die Bahnhofshalle. Das dumpfe Gefühl in meinem Kopf ist kaum mehr zu spüren, im Gegenteil, ich fühle mich gut. Ich sehe mich um. Wenn ich schon mal im Bahnhof bin, kann ich auch den nächsten Zug nehmen. Mal sehen, wohin er mich bringen wird.

2

Im nahezu vollbesetzten Zug nach Bremen finde ich erst nach langem Suchen einen Sitzplatz. Ich habe mir am Fahrkartenschalter mit der Kreditkarte ein Ticket für den nächsten Zug gekauft, und das ist der Zug nach Bremen gewesen. Gut, habe ich gedacht, Bremen klingt verlockend. Nun sitze ich hier, zwischen all den Menschen, und schaue durch das Abteilfenster auf die vorbeifliegende norddeutsche Landschaft. Es ist früh am Abend und die Getreidefelder, Maisflächen und Wälder leuchten in einem wunderbar milden Sommerlicht.

An dem Kiosk auf dem Bahnsteig habe ich mir eine Flasche Wasser gekauft, und als die Kopfschmerzen wieder zunehmen, schlucke ich noch einmal zwei Tabletten. Die mindern nicht nur das Kopfweh, sondern haben zudem eine entspannende Wirkung, stelle ich fest. Ich finde das, was mir passiert war, gar nicht mehr so schlimm. Ich bin Kim Krüger. Die Tatsache, keine Erinnerung mehr an das Leben zu haben, das ich geführt habe, bevor ich in das Krankenhaus eingeliefert worden bin, hat nichts Erschreckendes mehr für mich, im Gegenteil: Ich finde es geradezu aufregend, alles auf mich zukommen lassen zu können, nur im Augenblick zu leben und mir über nichts Gedanken machen zu müssen.

Bremen also! Ich versuche mich zu erinnern, ob ich schon einmal in der Hansestadt an der Weser gewesen bin, aber es fällt mir nichts dazu ein. Dennoch habe ich eine Vorstellung von der Stadt. Ich habe das alte Rathaus vor Augen, den Dom, den Roland, die Bremer Stadtmusikanten: Bilder, die alle Welt kennt.

Als ich am Hauptbahnhof aussteige, schaue ich mich in der weitläufigen, langgestreckten Halle um. Ich versuchte mich zu orientieren in dem Durcheinander von Geschäften, Restaurants und den Unmengen von Menschen. Die verschiedensten Gerüche und Düfte steigen mir in die Nase. Ein riesiges McDonald-Schild zieht meine Aufmerksamkeit auf sich und plötzlich wird mir bewusst, dass ich gewaltigen Hunger habe. Ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal etwas gegessen habe. Wie auf Kommando fängt mein Magen an zu knurren. Ich betrete den Schnellimbiss, stelle mich vor die Theke und studiere die riesige bunte Anzeigetafel. Das Wasser läuft mir im Mund zusammen beim Anblick der vielen lecker aussehenden Cheeseburger, Chicken Nuggets und Salate. Ich entscheide mich für einen Big Mac mit Pommes frites und einen gemischten Salat, dazu bestelle ich mir eine große Cola. Als alles fein säuberlich verpackt auf meinem Tablett liegt, bezahle ich und trage die Speisen voller Vorfreude an einen Tisch. Ich setze mich und fange an zu essen. Es kommt mir vor, als hätte ich schon seit ewigen Zeiten nicht mehr so gut gegessen. Meine Katerstimmung und die Kopfschmerzen sind wie weggeblasen; ich fühle mich wohl wie lange nicht mehr.

Nachdem ich das letzte Salatblatt mit dem köstlichen Dressing gegessen habe und in dem überdimensionalen Cola-Becher nur noch ein kleiner Rest Eis übriggeblieben ist, lehne ich mich auf dem gepolsterten Sitz zurück und betrachte das muntere Treiben um mich herum. Inzwischen ist es dämmrig geworden draußen, aber das Innere des Bahnhofs erstrahlt im Licht der Schaufenster, der Leuchtreklametafeln und der Lampen. Ich genieße die Atmosphäre, ich will den Augenblick auskosten, einfach alles in mich aufnehmen.

Das angenehm satte Gefühl im Magen lässt mich schläfrig werden. Ich gähne. Ich muss mir überlegen, wo ich die Nacht verbringen kann. Irgendwo muss ich schließlich schlafen. Vielleicht finde ich in Bahnhofsnähe ein preiswertes Hotel oder eine Pension. Das bedeutet: Ich brauchte Geld. Ich nehme mein Portemonnaie aus der Plastiktüte, in der die Boutique-Verkäuferin meine Sachen verstaut hat, und zähle meine Barschaft. Noch ganze 49,20 Euro besitze ich! Davon kann ich kein Hotel bezahlen. Ob ich noch einmal riskieren kann, die Kreditkarte zu benutzen? Ich sehe mich um. Nicht weit entfernt entdecke ich einen kleinen Bankraum mit einem Gerät für Kontoauszüge und einem Geldautomaten. Statt mit der Kreditkarte zu bezahlen, könnte ich doch versuchen, aus dem Automaten Geld zu holen. Ich betrete den Bankraum. Ein ausländisch aussehender Mann ist gerade dabei, eine größere Menge Geldscheine aus einem der Automaten zu nehmen. Nachdem er sein Geld eingesteckt hat und gegangen ist, stelle ich mich vor das Gerät und führe die Kreditkarte, die auf den Namen Eva Eden lautet, in den dafür vorgesehenen Schlitz ein. Im Display erscheint die Aufforderung, die PIN-Nummer einzugeben. Daran habe ich nicht gedacht. Natürlich, ich muss die PIN kennen, um Geld abheben zu können. Eine Zahl kommt mir in den Sinn: 8449. Wieso denke ich jetzt an diese Zahl? Soll ich es einfach auf gut Glück mit dieser Nummer versuchen? Ich tippe die Ziffern ein. Siehe da, es funktioniert! Ich kann es nicht fassen. Woher habe ich die Nummer für das Konto gewusst? Das ist ja geradezu unheimlich. Der Automat fragt mich nach der Summe, die ich abheben will. Ich spüre, wie sich die Kopfschmerzen wieder ankündigten. Bloß das nicht! Ich suche in der Plastiktüte nach dem Tablettenröhrchen und der halbvollen Wasserflasche. Hastig schüttele ich eine der runden Tabletten aus dem Röhrchen, werfe sie in den Mund und spüle sie mit einem großen Schluck Wasser hinunter. Zufall! Das mit der Zahl kann doch Zufall gewesen sein. Ich habe einfach Glück gehabt. Langsam beruhigt sich mein pochendes Herz wieder.

Also, wieviel Geld soll ich abheben? Hundert Euro? Nein, zu wenig. Ich muss mir ja noch ein paar Sachen kaufen, Zahnbürste und so. Fünfhundert. Ich werde fünfhundert Euro abheben. Damit komme ich erst einmal aus. Ich tippe die entsprechenden Ziffern ein und der Automat spuckt das Geld widerstandslos aus. Ich verstaue die Scheine sorgfältig in meinem Portemonnaie, nehme die Plastiktasche mit meinen Sachen und verlasse den Schalterraum.

Was nun? Soll ich gleich auf die Suche gehen nach einem Hotel? Mein Blick fällt auf den einladend offenstehenden Eingang eines Beauty-Shops. Das wäre jetzt genau das Richtige! Bei einer Haarwäsche relaxen und sich verwöhnen lassen! Schon befinde ich mich in dem nach Parfüm und Shampoo duftenden Hair-Styling-Salon auf einem bequemen gepolsterten Sessel mit hochgeklappter Fußstütze. Die schicke Friseurin mit der kunstvoll drapierten Hochfrisur bittet mich, den Kopf zurückzulegen auf das nackengerechte Becken, damit sie die Haare waschen kann. Ich schließe die Augen und genieße die sanfte Kopfmassage und das warme Wasser. Als ich kurze Zeit später mit einem Handtusch um den Kopf auf dem Frisiersessel sitze und mein Gesicht betrachte, bekomme ich Lust, mich zu verändern. Das blasse, schmale Gesicht passt nicht zu Kim Krüger und zu meinem neuen Leben!

„Was soll’s denn sein?“, fragt die Haarkünstlerin, während sie mit den Händen prüfend durch meine nassen Haarsträhnen fährt.

„Etwas Neues“, antworte ich, „etwas völlig anderes als bisher. Was schlagen Sie vor?“

„Vielleicht eine deutliche Aufhellung, in Richtung Honigblond vielleicht? Das würde gut zu Ihrem hellen Teint passen. Und vielleicht Wellen oder sogar Locken? Das glatte Haar ist für Ihr Gesicht viel zu streng, wie ich finde.“

„Genau! Bitte machen Sie es so!“

Als ich nach anderthalb Stunden - ich habe mir außerdem noch ein dezentes Make-up machen lassen - das Hair-Styling-Studio verlasse, fühle ich mich wie ein neuer Mensch. Als Nächstes brauche ich noch ein paar Kleidungsstücke, vor allem ein Paar gute Sandalen und eine große Tasche, damit ich nicht länger mit der Plastiktüte herumlaufen muss. Nachdem ich mich in einem Modeshop mit einem Grundbestand an Kleidung versorgt habe, kaufe ich einen modischen Rucksack, in dem ich all meine Sachen unterbringen kann, und eine hübsche kleine Handtasche. In einem Sanitärhaus erstehe ich einige Kosmetikartikel sowie Zahnbürste und Zahnpasta. Jetzt habe ich alles, was ich brauche, und ich kann mich auf die Suche nach einem preiswerten Hotel zum Übernachten machen.

***

Ich verlasse die Bahnhofshalle. Die Sonne ist dabei unterzugehen; der große Bahnhofsvorplatz wird von einem spektakulären Abendrot beleuchtet, das Licht der Straßenlaternen wirkt blass dagegen. Die Straßenbahn rattert gerade vorbei, Autos und Busse fahren über die breiten Straßen, viele Menschen sind unterwegs. Ich wende mich nach links und gehe die belebte Straße entlang. Nach etwa zehn Minuten gewahre ich in der rechts abgehenden Nebenstraße ein Schild ‚Novum Hotel‘. Ohne lange zu überlegen, gehe ich auf das altmodische, dreistöckige Gebäude zu. Über eine Freitreppe gelange ich in ein Hotelfoyer, das freundlich und warm wirkt. Die Empfangsdame hinter dem Rezeptionspult begrüßt mich mit einem höflichen „Guten Abend! Was kann ich für Sie tun?“

„Ich brauche ein Einzelzimmer für heute Nacht“, sage ich.

„Da haben Sie Glück, es ist gerade noch eins frei“, sagt die Rezeptionistin. „Bitte tragen Sie sich ein. Wie möchten Sie bezahlen?“

„Ich bezahle bar“, antworte ich und fange an, das Anmeldeformular auszufüllen. Name: Kim Krüger. Adresse: … Ich überlege krampfhaft. Was soll ich als Adresse angeben? Hamburg, schreibe ich, Alsterstr. 24.

„Aha, aus Hamburg sind Sie? Schöne Stadt“, meint die junge Dame hinter dem Pult leutselig. „Wollen Sie das Frühstück ebenfalls buchen?“

Frühstück? Keine schlechte Idee. „Ja“, antworte ich.

Die Angestellte macht sich eine Notiz in ihrem Computer.

„Hier ist Ihre Schlüsselkarte, Frau Krüger. Dann wünsche ich Ihnen einen schönen Aufenthalt in Bremen“, sagt sie abschließend. „Der Fahrstuhl ist dort rechts, Ihr Zimmer befindet sich im zweiten Stock.“

Das Zimmer ist nicht sehr groß, aber gemütlich. Das Bett weiß bezogen, Teppichboden und Vorhänge weinrot, der kleine Sessel passend orange-rot-gelb gestreift. Das Bad winzig, aber okay. Es gibt sogar einen kleinen Flachbildfernseher, fest an der Wand montiert. Ich werfe den Rucksack auf den Sessel und lasse mich aufatmend auf das Bett fallen. Jetzt noch eine Dusche und dann ins Bett, schlafen. Ich habe das Gefühl, bis in alle Ewigkeit schlafen zu können. Ich schütte den Inhalt des Rucksacks aufs Bett und sortiere die gekauften Kleidungsstücke in den kleinen Schrank ein. Das schwarze Cocktailkleid hänge ich sorgfältig auf einen Bügel; es ist in dem Rucksack arg zerknautscht worden. Dann ziehe ich mich aus, gehe ins Bad und drehe das Wasser voll auf. Ich seife mich von Kopf bis Fuß mit dem Stück Seife ein, das ich gekauft habe, und lasse das warme Wasser minutenlang über meinen Körper laufen. Wie gut das tut! Nachdem ich mich abgetrocknet habe, stelle ich fest, dass ich vergessen habe, mir ein Nachthemd zu kaufen. Ich nehme eines der neu erworbenen T-Shirts und ziehe es stattdessen an, ebenso einen der neuen Slips. Ausgiebig putze ich mir die Zähne, dann lege ich mich ins Bett. Was für ein seltsamer Tag, denke sich. Es dauerte keine zwei Minuten, da bin ich eingeschlafen.

Die Sonne steht hoch, als ich am nächsten Morgen aufwache. Ich recke und strecke mich unter der Decke und gähne ausgiebig. Einen Sekundenbruchteil brauche ich, um mich zu orientieren, dann fällt mir alles wieder ein. Ich fahre hoch. Ich bin … Kim Krüger! Natürlich! Kim Krüger aus Hamburg.

Und ich bin auf irgendeiner Party versackt und habe mein Gedächtnis verloren. Man hat mich ins Krankenhaus in Schönfelde gebracht. Dann bin ich nach Bremen gefahren und in dieses Hotel gegangen. Ich fühle, dass mein Kopf wieder anfängt wehzutun. Ich darf nicht nachdenken, davon bekomme ich Kopfschmerzen. Vorsichtshalber werde ich gleich wieder eine Tablette nehmen. Ich schwinge die Beine aus dem Bett, gehe ins Bad und schaue in den Spiegel. Wie sehen meine Haare aus! Völlig zerzauste blonde Locken! Daran werde ich mich erst noch gewöhnen müssen.

Ich dusche kurz, putze mir die Zähne und gebe meinem immer noch blassen Gesicht mit Puder, Mascara und Lippenstift etwas Farbe. Ein Blick aus dem Fenster zeigt mir, dass es ein hochsommerlich warmer Tag werden wird, also ziehe ich den kurzen Jeansrock und die gelbe Baumwollbluse an, die ich gestern gekauft habe, trete in die hochhackigen Sandalen und mache mich auf zum Frühstücksraum. Beim Anblick des reichhaltigen Büffets läuft mir das Wasser im Mund zusammen. Ich bestelle Kaffee bei der freundlichen Serviererin, fülle meinen Teller mit Brötchen, Marmelade und Schinken und suche mir einen Fensterplatz an einem der weiß gedeckten Tische. Mit Genuss frühstücke ich. Die wenigen Gäste im Frühstücksraum unterhalten sich leise. Ich sehe aus dem Fenster und versuche, nicht nachzudenken, sondern nur auf den Geschmack dessen zu achten, was ich gerade esse.

Ich zucke zusammen, als jemand mich an der Schulter berührt. Neben meinem Tisch stehen zwei uniformierte Polizisten, ein Mann und eine Frau. Die Frau fragt: „Sind Sie Eva Eden?“

Ich will aufspringen, aber die Hand des Beamten drückt mich wieder nach unten. „Nein!“, rufe ich, „ich bin nicht Eva Eden. Ich heiße Kim Krüger!“

„Darf ich?“ Die Polizistin hat meine neue Handtasche genommen, die ich auf den leeren Stuhl neben mir gelegt habe, öffnet sie und entnimmt ihr das Portemonnaie. Der Ausweis! In dem Portemonnaie ist noch immer der Ausweis von Eva Eden. Und die Kreditkarte.

Die Polizistin nimmt den Ausweis heraus, studiert ihn kurz und hält ihn ihrem Kollegen hin. Der inspiziert ihn ebenfalls und sagt dann zu mir: „Wollen Sie leugnen, dass Sie die Person auf diesem Foto sind?“

„Ja, das will ich! Ich bin das nicht! Das muss eine Verwechslung sein.“

Die beiden Beamten tauschen einen Blick.

„Frau Eden, Sie sind festgenommen. Kommen Sie bitte mit.“

3

Es ist schon komisch! Ich erinnere mich an jede Minute, seit ich im Schönfelder Krankenhaus aufgewacht bin. Nur an das, was vorher war, erinnere ich mich nicht. Retrograde Amnesie nennen die Ärzte das. Tritt oft nach einem traumatischen Ereignis auf, sagt Doktor Freymuth. Auch an ein traumatisches Ereignis erinnere ich mich nicht. An mein ganzes früheres Leben nicht. Aber an meinen Namen: Kim Krüger. Jedenfalls heiße ich nicht Eva Eden, wie sie immer wieder behaupten.

Ich weiß auch, wo ich mich befinde: in der geschlossenen Abteilung der Forensischen Psychiatrie des Klinikums Bremen Ost, Station 15A. Es ist nun schon drei Tage her, seit die beiden Polizeibeamten mich vom Frühstückstisch des Novum-Hotels weggeholt haben mit der Behauptung, ich sei Eva Eden und werde gesucht wegen einer schweren Straftat. Ich habe getobt und geschrien, ich sei nicht diese Eva Eden, aber sie haben mir nicht geglaubt und mich mit Gewalt hierhergebracht.

Seitdem bin ich hier. Frau Doktor Freymuth versucht, mich zum Sprechen zu bewegen, aber ich mag nicht sprechen. Es ist, als ob in meinem Innern sich erst wieder genügend Stoff ansammeln müsste, über den es sich zu sprechen lohnte. Aber da ist nichts. Alles leer. Nicht, dass es mir viel ausmachte, dass da nichts ist. Die Leere hat etwas Ruhiges, Gleichbleibendes. Nichts, wovor ich Angst haben muss. Obwohl: Manchmal beunruhigt es mich schon, nichts über mein Leben zu wissen. Aber wenn ich versuche darüber nachzudenken, fangen diese entsetzlichen Kopfschmerzen wieder an. Doktor Freymuth sagt, ich müsse Geduld haben, mein Gehirn müsse sich erst von dem Trauma erholen. Wenn es an der Zeit sei, werde die Erinnerung schon wiederkehren, ohne diese merkwürdigen Schmerzen.

***

Doktor Freymuth ist gerade hereingekommen. Ich mag sie. Sie ist für mich der Inbegriff einer selbstbewussten, emanzipierten Frau. Wie selbstsicher sie daherkommt, in ihrem weißen Outfit: Schuhe, Hose, T-Shirt und Kittel, alles weiß. Sauber, geradezu rein wirkt sie. Wie frisch gewaschene Bettwäsche. Dazu die tadellos manikürten, aber unlackierten Fingernägel, die strenge Frisur und die randlose Brille. Ich schätze sie auf Mitte vierzig. Vielleicht ein wenig älter, aber sie hat kaum Falten. Ich mag auch ihren Duft. Sie riecht nach guter Seife und einem dezenten Parfum. Frisch, eher herb als blumig.

„Wie geht es Ihnen heute, Kim?“

Sie nennt mich bei meinem richtigen Namen: Kim. Wahrscheinlich, weil ich nicht reagiert habe, als sie mich am Anfang immer wieder Frau Eden nannte. Ich habe sie nur verständnislos angesehen Dann habe ich meinen Namen dick und groß auf ein Blatt Papier geschrieben. Seitdem nennen mich alle hier Kim.

Ich nicke und lächle sie an. Sie lächelt zurück. Ein professionelles Lächeln, das nur einen geringen Widerschein in ihren Augen erzeugt. Trotzdem ist das Lächeln ehrlich gemeint, soweit kenne ich Frau Doktor schon. Sie meint es gut mit mir. Ich sehe es an ihrem Blick. Graue Augen hat sie, graumeliert, wie Rauchglas. Manchmal, bei einem bestimmten Lichteinfall, werden sie ganz hell und durchsichtig. Ich versuche mir vorzustellen, was hinter diesen Augen vor sich geht, in Frau Doktors klugem Gehirn, wenn sie mich ansieht mit diesem besonderen Blick. Aufmerksam und forschend, als könnte sie in mich hineinsehen. Manchmal wird er allzu forschend, dieser Blick, dann ist er mir unangenehm. Dann möchte ich, dass sie aufhört mich anzusehen.

Aber heute nicht.

„Wie war das Mittagessen?“, fragt sie. „Hat es Ihnen geschmeckt?“

Ich nicke wieder. Ich könnte sagen, ja, es war ganz vorzüglich, aber diese Aussage ist nicht so wichtig, dass ich die Worte aussprechen möchte. Nicken genügt. Das Essen hier ist wirklich ausgezeichnet. Zum Frühstück gibt es immer frische Brötchen, zum Mittagessen etwas Warmes, meistens Fleisch mit Gemüse oder Nudeln, so wie heute, da gab es Makkaroni mit Gulasch, und zum Abendessen zwei Scheiben Brot mit Aufschnitt. Manchmal gibt es sogar Kuchen nachmittags, immer dann, wenn Sonntag ist, glaube ich.

„Ich sehe, Sie haben nichts geschrieben, Kim. Wollen Sie mir sagen, warum nicht?“

Ich schüttele den Kopf und presse die Lippen aufeinander. Es ist mir unangenehm, wenn sie mich so etwas fragt. Ich werde dann ärgerlich. Und bekomme Kopfschmerzen. Nein, ich habe nichts aufgeschrieben. Die Blätter und der Kugelschreiber liegen immer noch so auf dem Tisch, wie sie sie hingelegt hat. Ich will nichts aufschreiben. Was denn auch? Mein Kopf hat keine Gedanken. Nichts, was ich aufschreiben könnte. Gar nichts! Sie soll mich gefälligst in Ruhe lassen mit so etwas!

Ich drehe ihr den Rücken zu und verschränke die Arme. Sie soll weggehen, ich will allein sein. Ich höre, wie sie seufzt und aufsteht.

„Kann ich Ihnen sonst etwas bringen, Kim? Vielleicht ein paar Bücher oder Zeitschriften?“

Ich schüttele heftig den Kopf, ohne mich umzudrehen. Sie geht aus dem Raum und schließt die Tür hinter sich. Ich höre, wie sie den Schlüssel herumdreht.

Ich bin wieder allein. Gut. Ohne eigentlichen Grund fühle ich mich erschöpft.

***

Ich bin dabei wach zu werden, halb schlafe ich noch. Ich habe geträumt. Es war ein schöner Traum; ich spüre noch ein Lächeln auf meinen Lippen. Ich möchte ihn festhalten, den Traum, aber er entgleitet mir immer mehr. Nur das Gefühl klingt noch in mir nach, das Gefühl, unendlich glücklich zu sein. Geborgen und geliebt. In Sicherheit. Wie in den Armen eines Menschen, dem man rückhaltlos vertrauen kann.

Ich schlage die Augen auf. Der Morgen dämmert; graues Licht stiehlt sich durch die Rauten des Fenstergitters. Das Lächeln haftet immer noch auf meinen Lippen. Ich fühle mich gut. Im Bad betrachte ich mein Gesicht im Spiegel. Es ist schmaler geworden in den letzten Tagen, aber ich finde, es steht mir. Ich habe Lust, mich hübsch zu machen. Vielleicht probiere ich einmal eine neue Frisur? Unter der Dusche trällere ich ein Lied. Ein Kinderlied. Den Text habe ich vergessen, aber die Melodie will mir nicht mehr aus dem Kopf gehen. Ich bürste mein Haar, bis es golden glänzt. Ob ich es einmal hochstecke? Oder einen Pferdeschwanz mache? Schließlich flechte ich es zu einem seitlichen Zopf. Die Locken halten das Geflecht von allein fest. Dann ziehe ich meine Augenbrauen nach und tusche die Wimpern. Ich lege etwas Puder auf und betone die Lippen mit einem rosafarbenen Lippenstift. Anschließend betrachte ich mein Werk. Bin ich eigentlich hübsch? Mein Gesicht jetzt mit der Schminke sieht aus wie das einer Puppe. Irgendwie ohne Ausdruck. Plötzlich wirkt es auf mich wie eine aufgemalte Maske. Unheimlich! Das bin nicht ich! Mir wird ganz kalt, ich fange an zu zittern. Ich bemerke, dass ich immer noch nur mit einem Handtuch um den Körper vor dem Spiegel stehe. Schnell nehme ich einen Waschlappen, mache ihn unter dem Wasserhahn nass und wasche mir das Gesicht. Immer wieder reibe ich es ab, bis es ganz rot ist. Dann trockne ich es. Das Handtuch fühlt sich rau an. Ich vermeide es, in den Spiegel zu schauen.

Nachdem ich mich angezogen habe, setze ich mich auf meinen Platz am Fenster. Es kann nicht mehr lange dauern, bis Enno mit dem Frühstück kommt. Was er wohl heute zu erzählen hat?

***

Die Tage vergehen schnell. Sie sind immer gleich, aber ich langweile mich nicht. Ich sitze oft am Fenster und schaue nach draußen. Mein Zimmer befindet sich im ersten Stock und wenn ich in meinem Sessel sitze und durch das rautenförmige Gitter hinaussehe, kann ich die Wipfel der Bäume sehen und den Himmel. Heute ist er blau, wunderbar blau, mit einigen weißen Wolken, die ganz langsam vorbeiziehen. Sie verändern dabei ständig ihre Form; manchmal lösen sie sich unmerklich auf, werden kleiner und kleiner, zerfasern an den Rändern, zerfließen und sind plötzlich verschwunden. Aber dann kommen neue Wolken, mit immer neuen Formen. Ich erkenne manchmal Figuren in ihnen: Tiere oder Dinge. Einmal habe ich ganz deutlich einen Elefanten erkannt, an seinem langen Rüssel, einmal einen Drachen, der dann aber zu einem Dinosaurier wurde und schließlich aussah wie ein Schwein. Ein dickes, rundes Schwein.

Es macht mir Spaß, hinauszusehen und den Himmel zu beobachten. An trüben Tagen faszinieren mich die Farben. Es ist ganz unglaublich, wie viele verschiedene Grautöne es gibt, wenn man genau hinschaut. Sie variieren vom dunkelsten Schwarzgrau über ein getöntes Grau mit Beimischungen von Blau, Gelb und Violett bis zu den zartesten Grauweißtönen. Besonders schön sieht es aus, wenn der Morgen dämmert, so wie jetzt. Es geht mir gut, wenn ich so dasitze und aus dem Fenster schaue. Es ist dann ganz ruhig und friedlich in mir. Keine Gedanken. Keine Erinnerungen. Alles ruhig und leer. Das ist gut.

Enno ist hereingekommen. Enno Scholz ist sein vollständiger Name, aber ich darf ihn Enno nennen, hat er gesagt. Er ist Krankenpfleger und für mich zuständig. Ich freue mich jedes Mal auf sein Kommen. Er ist immer so gut gelaunt.

„Na, wieder mal am Fenster, Kim? Was gibt es denn da draußen zu sehen?“

Er stellt das Tablett mit dem Frühstück auf den Tisch, kommt zu mir und folgt meinem Blick. „Ich sehe nur den Himmel da draußen“, sagt er. „Wäre mir zu langweilig.“

Ich lächle ihm zu. Enno ist immer freundlich zu mir. Ich mag seine offene Art, auch wenn mir seine Gesprächigkeit manchmal auf die Nerven geht.

„Werder Bremen hat wieder nur unentschieden gespielt, haben Sie schon gehört? Und das gegen den Letzten in der Tabelle. Eine Katastrophe!“ Enno schüttelt empört seinen großen Kopf mit dem wilden roten Haarschopf, der immer aussieht, als sei er gerade aus dem Bett gestiegen. Ständig regt er sich auf über das Versagen seines Vereins. Ich kenne seine Leidenschaft für den Fußball, besonders für Werder Bremen. Er versäumt es nie, mich über die Bundesligaspiele und besonders natürlich über das Abschneiden seines Vereins auf dem Laufenden zu halten.

„Sie müssen unbedingt mal mitkommen ins Stadion, wenn Sie hier raus sind, Kim! Ich nehme Sie gerne mit. Wär‘ das nichts?“

Ich nicke, während ich mich an den Tisch setze, um mein Frühstück zu essen. Enno geht herum und räumt das Zimmer auf.

„Sie haben ja immer noch nichts aufgeschrieben, sehe ich. Das sollten Sie aber. Oder besser noch, Sie fangen endlich an zu sprechen. Auf die Dauer ist es ganz schön anstrengend, immer nur allein reden zu müssen, wissen Sie?“

Ich nicke ihm mit vollem Mund zu und versuche dabei ein möglichst bedauerndes Gesicht zu machen. Der liebe Enno! Er weiß ja nicht, wie leer es in mir aussieht. Da gibt es nichts, was sich aufzuschreiben lohnte.

Enno zuckt mit den Schultern. „Na, Sie werden schon wissen, wann es Zeit ist, den Mund aufzumachen. Lassen Sie sich nur Zeit.“