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Wer oder was bestimmt unsere Weltanschauung? Hanna Bervoets erzählt von den Abgründen des virtuellen Raums. „Ein fein komponierter, psychologisch scharfsinniger und subtiler Roman einer seelischen Entblößung.“ (Ian McEwan)
Mindestens 500 Beiträge pro Tag, maximal 7 Minuten Pause, beim Gang aufs Klo läuft die Stoppuhr – die Arbeitsbedingungen bei HEXA sind hart. Aber Kayleigh gefällt der neue Job, das Gehalt ist gut, und die schrecklich verstörenden Bilder, die sie für die Plattform prüfen muss, behandelt sie mit professioneller Distanz. Als sie sich in ihre Kollegin Sigrid verliebt, scheint ihr Glück vollkommen. Bis ihre Kollegen plötzlich zusammenbrechen oder Verschwörungstheorien anhängen, und Sigrid sich immer mehr distanziert. Ist Kayleigh dem Job als Einzige gewachsen? Oder merkt sie nur nicht, wie auch ihr moralischer Kompass sich auf gefährliche Weise zu verschieben beginnt?
"Dieser Beitrag wurde entfernt" ist ein faszinierender, aufwühlender Roman darüber, wer oder was bestimmt, wie wir die Welt sehen, in der wir heute leben.
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Seitenzahl: 132
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Mindestens 500 Beiträge pro Tag, maximal 7 Minuten Pause, beim Gang aufs Klo läuft die Stoppuhr — die Arbeitsbedingungen bei HEXA sind hart. Aber Kayleigh gefällt der neue Job, das Gehalt ist gut, und die schrecklich verstörenden Bilder, die sie für die Plattform prüfen muss, behandelt sie mit professioneller Distanz. Als sie sich in ihre Kollegin Sigrid verliebt, scheint ihr Glück vollkommen. Bis ihre Kollegen plötzlich zusammenbrechen oder Verschwörungstheorien anhängen, und Sigrid sich immer mehr distanziert. Ist Kayleigh dem Job als Einzige gewachsen? Oder merkt sie nur nicht, wie auch ihr moralischer Kompass sich auf gefährliche Weise zu verschieben beginnt?»Dieser Beitrag wurde entfernt« ist ein faszinierender, aufwühlender Roman darüber, wer oder was bestimmt, wie wir die Welt sehen, in der wir heute leben.
Hanna Bervoets
Dieser Beitrag wurde entfernt
Aus dem Niederländischen von Rainer Kersten
Hanser Berlin
»Und was hast du da so alles gesehen?«
Diese Frage höre ich immer noch absurd oft, auch wenn ich inzwischen seit über sechzehn Monaten nicht mehr bei Hexa arbeite. Die Leute versuchen es immer wieder, und wenn ihnen meine Antwort nicht gefällt — zu vage, nicht schockierend genug —, stellen sie ihre Frage einfach noch mal, leicht abgeändert: »Was ist das Schlimmste, was du damals gesehen hast?«, fragt Gregory, mein neuer Kollege im Museum. »Und wie muss ich mir das genau vorstellen?« kommt von Tante Meredith, die sich jahrelang nur zu Mamas Todestag blicken ließ, mich jetzt aber jeden ersten Sonntag im Monat kurz anruft, um zu fragen, wie es mir geht und, ach ja, was ich damals alles gesehen habe. »Oder beschreib einfach ein Video, ein Bild, einen Text, der dich dort wirklich verstört hat«, das ist Frau Doktor Ana: »Was hast du dabei gedacht, was hast du empfunden? Stell dir ein Video von dir selbst vor, wie du da sitzt und diese beunruhigenden Bilder siehst«, und dann hält sie mir einen Stab vor die Augen, in dem so ein kleines Licht wild hin und her schießt.
Und jetzt also auch Sie, Herr Stitic. Fast jeden Tag sprechen Sie mir auf die Mailbox: »Könnten Sie mich bitte zurückrufen, Frau Kayleigh?« — Wissen Sie nicht, dass Kayleigh mein Vorname ist? Da sind Sie nicht draufgekommen, was? Meine Kontaktdaten haben Sie natürlich von meinen früheren Kollegen, und die kennen nur meinen Vornamen, darum fragen Sie jetzt: »Nun, Frau Kayleigh, was haben Sie damals alles gesehen?«
Die Leute tun so, als wäre das eine ganz alltägliche Frage, aber was heißt »alltäglich«, wenn man eine furchtbare Antwort erwartet? Dabei geht es den Leuten ja nie wirklich um mich, aber vielleicht ist das auch gar nicht so überraschend, vielleicht kommen Fragen nie aus echtem Interesse am Gegenüber, sondern vielmehr aus Neugier an einem anderen Leben, das wir hätten führen können (»Boah, Herr Stitic, ist das interessant, Zivilrecht?«), nur spüre ich bei diesem Gregory oder bei Tante Meredith und sogar bei Doktor Ana immer eine gewisse Sensationslust, die von keiner Antwort völlig befriedigt werden kann.
Ich habe gesehen, wie ein Mädchen sich live mit einem viel zu stumpfen Messer im eigenen Arm herumpulte, sie musste es richtig hineindrücken, damit ein bisschen Blut kam. Ich habe gesehen, wie ein Mann seinen Schäferhund getreten hat, so brutal, dass das Tier fiepend gegen den Kühlschrank knallte. Ich habe gesehen, wie Kinder sich anstachelten, eine ungesund große Menge Zimtpulver zu schlucken. Ich habe gelesen, wie Leute Hitler huldigten, bei Nachbarn, Kollegen und entfernten Bekannten, unverhohlen, sichtbar für alle, auch mögliche Partner und neue Arbeitgeber: »Hitler hätte seine Arbeit zu Ende bringen sollen«, lautete ein Kommentar unter einem Bild von einer Gruppe Migranten im Schlauchboot.
Durch die Bank wenig ergiebige Beispiele, finden Sie nicht auch? All diese Dinge standen schon in der Zeitung, beruhend auf Aussagen anderer ehemaliger Moderatoren, was übrigens nicht heißt, dass ich alldem nicht auch begegnet wäre: den Hitlergrüßen, den misshandelten Tieren — das Mädchen mit den Rasierklingen ist mittlerweile ein echter Klassiker. Es gibt Tausende von ihnen, stelle ich mir vor, in jeder Straße mindestens eins: Ein Haus, mitten in der Nacht brennt im Badezimmer das Licht, dort wohnt sie und sitzt allein auf dem harten, eisigen Fußboden. Aber das ist nicht, was die Leute hören wollen. Sie wollen, dass ich etwas Neues beschreibe, Dinge, die sie sich freiwillig nie ansehen würden, die ihr Vorstellungsvermögen übersteigen, und darum fragt Gregory: »Okay, aber was ist das Allerschlimmste, was du gesehen hast?«, und nicht: »Wie geht es dem Mädchen, hast du ihr irgendwie helfen können?« Nein, die Leute haben keinen blassen Schimmer, worum es bei meiner Arbeit damals wirklich ging, und das liegt auch an Ihnen, Herr Stitic: Nach all den Berichten über die Klage, die Sie mit meinen ehemaligen Kollegen angestrengt haben, denken die Leute, wir hätten willenlos an unseren Bildschirmen gesessen, keine Ahnung gehabt, was wir da machten und worauf wir uns eingelassen hatten, völlig unvorbereitet Tausenden schockierenden Bildern am Tag ausgesetzt, die die Drähte in unserem Gehirn zwangsläufig durchschmoren ließen. So war es aber nicht. Jedenfalls nicht ganz und nicht bei allen von uns.
Ich wusste, worauf ich mich einließ. Ich wusste, was ich da machte, und ich war ziemlich gut darin. Ich kann die Richtlinien von damals immer noch alle herunterbeten und wende sie auch im Alltag ab und zu an, das läuft automatisch, eine Berufskrankheit: Ich tue es bei Serien, Videoclips oder ganz einfach bei Dingen, die ich um mich herum wahrnehme, die Frau mit dem Elektromobil da draußen beispielsweise, die in der Einfahrt zum Parkplatz angefahren wird, dürfte das auf der Plattform stehen bleiben? Nicht, wenn Blut sichtbar ist. Dagegen schon, wenn die Situation eindeutig komisch ist. Nicht, wenn Sadismus im Spiel ist. Allerdings schon, wenn das Gezeigte einen aufklärerischen Wert hat — und bingo, den hat es: Die Einfahrt zum Museumsparkplatz ist in puncto Verkehrssicherheit nämlich eine absolute Katastrophe: »Da muss endlich mal was dran getan werden!«, wenn ich das drunterschriebe, wäre es erlaubt. Das sind die Dinge, über die ich so nachdenke, während ich vier neuen Besuchern ihre Eintrittskarten abreiße. Und nein, es ist nicht immer angenehm, dass die Richtlinien mir ständig durch den Kopf schwirren, aber wissen Sie: Irgendwie bin ich nach wie vor stolz, dass ich die Regeln so schnell und präzise anwenden konnte. — Bloß: Das ist nicht, was Sie von mir hören wollen, oder?
Keine Ihrer Mails habe ich bisher beantwortet. Ich habe Sie auch nie zurückgerufen und dachte, das sei Antwort genug: Ich will nicht mit Ihnen reden. Ich will mich meinen ehemaligen Kollegen nicht anschließen, ich bin kein »Opfer« in eurem Prozess. Sie aber lassen nicht locker mit Ihren Anrufen, und heute Morgen bekam ich Ihren zweiten Brief (elegante Handschrift haben Sie, Herr Stitic).
Denken Sie nicht, ich würde Sie nicht verstehen. Sie sind Anwalt, es ist Ihre Aufgabe, nicht so schnell lockerzulassen, und Ihr Überzeugungsmanöver ist ziemlich geschickt: Ich merke, dass Sie mit jeder Sprachnachricht einen etwas freundschaftlicheren Ton anschlagen. Sie wissen, dass ich die Nachrichten abhöre, dass Ihre Stimme für mich etwas Vertrautes bekommt, und darum siezen Sie mich nicht mehr, sondern sagen »du« und stellen mir neuerdings ein »hübsches Sümmchen« in Aussicht — ehrlich gesagt, finde ich es ziemlich gruselig, dass Sie wissen, wie gut ich solch ein »hübsches Sümmchen« gebrauchen könnte; meine früheren Kollegen haben Ihnen sicherlich von meinen Schulden erzählt, und ich frage mich, ob das mit dem allgemeinen Schutz der Privatsphäre zu vereinbaren ist, aber okay, damit kennen Sie sich bestimmt besser aus als ich.
Noch zwei Jahre im Museum, dann habe ich alles abgestottert. Vorausgesetzt natürlich, ich arbeite auch an den besser bezahlten Feiertagen, ich hoffe also, dass ich zu Ostern und am zweiten Weihnachtstag eingeteilt werde, denn nein: Ich schließe mich Ihrer Klage nicht an, auch wenn ich sehr gut verstehe, warum meine ehemaligen Kolleginnen und Kollegen das getan haben.
Ich habe gelesen, dass Robert momentan nur noch mit seinem Elektroschocker ins Bett geht, aus Angst, Terroristen könnten ihn nachts holen (die Namen in dem Zeitungsartikel waren verändert, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass »Timothy« Robert ist). Dass »Nataly« keine lauten Geräusche erträgt, kein grelles Licht oder jähe Bewegungen am Rand ihres Blickfelds (darunter haben diverse Angestellte bei Hexa gelitten, wer Nataly ist, kann ich darum nicht sagen). Ich weiß, dass viele meiner früheren Kollegen zusammenzucken, sobald sich im Supermarkt jemand hinter sie stellt, dass sie den ganzen Tag lang im Bett liegen und dann bis zum Morgengrauen unruhig durch die Wohnung geistern; viel zu müde, einen neuen Job anzufangen, sehen sie Tag und Nacht Dinge, über die auch ich nicht gern rede, Dinge, die auch mir nicht fremd sind, leider. Wie viele meiner ehemaligen Kollegen habe ich von mir aus bei Hexa gekündigt, darum nochmals: Ich kann wirklich bestens verstehen, warum Sie jetzt mir auf die Pelle rücken.
Um aber zu verstehen, warum ich auf Ihre Bitte nicht eingehe, müssen Sie erst etwas über mich wissen, Herr Stitic. Die Bilder, die mich nachts wach halten, sind nicht die abscheulichen Fotos blutender Jugendlicher und nackter Kinder, nicht die Videos von Messerstechereien oder Enthauptungen. Die Bilder, die mir den Schlaf rauben, sind Bilder von Sigrid, meiner damaligen Lieblingskollegin. Sigrid, an die Wand gepresst, stocksteif und nach Luft schnappend — das sind die Bilder, die ich gern vergessen möchte.
Mit diesem Brief möchte ich Ihnen denn auch etwas vorschlagen. Sehen Sie es als eine Art Deal, einen Vergleich: Ich erzähle Ihnen von meinen Monaten bei Hexa, von meiner Tätigkeit dort, den Richtlinien, den berüchtigten, erbärmlichen Arbeitsbedingungen, kurzum: von Dingen, die Sie zweifellos interessieren.
Und dann erkläre ich Ihnen, warum ich bei Hexa aufgehört habe. Ich habe es noch nie jemandem erzählt, aber ich werde ehrlich sein, offen und ehrlich — versprochen! Danach werden Sie einsehen, warum ich mich Ihrer Klage nicht anschließen möchte, mehr noch, Herr Stitic: Danach werden Sie mich wahrscheinlich nicht mal mehr vertreten wollen.
Als Gegenleistung erwarte ich von Ihnen, dass Sie den Mund halten und mich endgültig in Ruhe lassen. Keine Mails, keine Anrufe, auch keine persönlichen Stippvisiten. Wenn meine ehemaligen Kollegen fragen, sagen Sie einfach, ich sei umgezogen, ins Ausland, lassen Sie sich was einfallen, das können Sie bestimmt prima.
Damit Sie mich nicht falsch verstehen: Dieses Schreiben ist keine offizielle Aussage. Den Namen der Beklagten werde ich nirgends nennen, Sie wissen, dass ich Vertragsbruch beginge, wenn ich das täte; ich habe mich informiert, ich kenne meine rechtliche Position, darum nochmals: Ich beschuldige nichts und niemanden. Ich erzähle Ihnen nur, zum ersten und letzten Mal, meine Geschichte.
Die Oktobergruppe bestand aus neunzehn Personen. Bevor es richtig losging, mussten wir ein obligatorisches einwöchiges Training absolvieren, von dem mir vor allem Alice in Erinnerung geblieben ist, eine blonde Frau auf Krücken, ungefähr dreißig Jahre älter als die meisten von uns. Während einer Zigarettenpause erzählte sie mir, dass sie zuvor als Sozialpädagogin gearbeitet hatte. Was macht die hier, war mein erster Gedanke. (Später erzählte mir Sigrid, dass sie genau das über mich gedacht hatte: Was macht die hier, diese Kayleigh? Ich war ihr sofort aufgefallen, sagte sie, sie fand mich interessant, mit meinen kurzen Haaren und dem zerknitterten NOFX-T-Shirt, ich hätte ausgesehen, als sei mir komplett egal, was andere von mir dachten, und das fand sie ausgesprochen sexy.) Wenn ich in jener Woche an meinem Bildschirm vorbeispähte, schaute ich allerdings zu Alice, die stets höchst konzentriert schien, die Krücken griffbereit an ihren Tisch gelehnt. In den Pausen stand ich meistens bei ihr, sie hätte meine Mutter sein können, und ich fühlte mich auf seltsame, nicht unbedingt erotische Weise zu ihr hingezogen. Alice sprach wenig und ließ sich schwer einschätzen, aber als ich sie an Tag drei sagen hörte, sie finde Kaugummi eklig — »so ein Stück Rotz im Mund hin und her schieben, uugh!« —, schluckte ich mein Stimorol sofort hinunter.
Mit den anderen in unserer Gruppe redete ich wenig. Ich war nicht hier, um Freundschaften zu schließen, sagte ich mir, denn war das nicht der Grund, warum es in meinem früheren Job so schiefgelaufen war? Durch meine, sagen wir, »Kontaktfreudigkeit« dort war jetzt meine Kreditkarte gesperrt. Dass ich mich bei Hexa bewarb, lag hauptsächlich am versprochenen Gehalt: zwanzig Prozent mehr pro Stunde als bei dem Callcenter, wo ich bisher gearbeitet hatte. Ansonsten verriet das Stellenangebot wenig, außer der Lohnhöhe enthielt es nur eine sehr allgemeine Tätigkeitsbeschreibung: Hexa suche »Mitarbeiter (m/w/d) im Qualitätsmanagement«, ich musste erst nachschlagen, was das bedeutet, aber für zwanzig Prozent mehr Lohn hätte ich auch Mülltonnen geleert. Während des ebenfalls wenig tiefschürfenden Bewerbungsgesprächs erfuhr ich, dass Hexa ein Subunternehmen sei und ich »Content« für ein großes und einflussreiches Technologieunternehmen »evaluieren« solle, dessen Namen ich, sagte man mir schon vor Unterzeichnung des Arbeitsvertrags, unter keinen Umständen nennen dürfe. Schnell entdeckte ich, dass die Internetplattform, Ihre Beklagte, Herr Stitic, all unsere Regeln, Arbeitszeiten und Richtlinien bestimmte. Alle Einträge, Fotos und Videos, die wir beurteilen sollten, waren von Benutzern und Bots dieser Plattform oder eines ihrer Tochterunternehmen als »anstößig« gemeldet worden. Wir, die bemerkenswert brave Oktobergruppe, gaben uns am ersten Tag des Trainings noch äußerste Mühe, diesen eigentlichen Arbeitgeber nicht zu nennen, bis wir merkten, dass unser Ausbildungsduo, ein junger Typ und eine junge Frau, die, wie sie erzählten, ebenfalls als Moderatoren angefangen hatten — was, beabsichtigt oder nicht, den Eindruck erweckte, solch ein Aufstieg sei auch für uns möglich, eine Aussicht, die vermutlich dafür sorgte, dass einige von uns länger bei Hexa blieben, als gut für sie war —, dass diese beiden also den Namen der Plattform ganz selbstverständlich gebrauchten: Die Plattform findet dies, die Plattform erlaubt das, und so lernten wir schnell, dass unser Schweigegelübde vor allem der Außenwelt gegenüber galt. Hier, im Bürogebäude, wo Hexa seine Geschäftsräume hatte, gut versteckt in einem Gewerbegebiet mit eigener Bushaltestelle, waren wir unter uns, Mitglieder einer geheimen Verbindung. Dieses Training war unsere Taufe, ein Aufnahmeritual, um sicherzustellen, dass wir tatsächlich geeignet waren, Mitstreiter dieser geheimen Bruderschaft zu werden. So war damals jedenfalls mein Eindruck.
Am ersten Tag bekamen wir zwei Reader: einen mit den Nutzungsbedingungen der Plattform und einen mit Richtlinien für Moderatoren. Dass diese Richtlinien sich alle paar Tage änderten und der Stapel Papier, den wir bekommen hatten, eigentlich schon wieder veraltet war, wussten wir damals noch nicht. Wir durften die Reader nicht mit nach Hause nehmen, also lernten wir vor Ort in der Praxis. Am ersten Tag erschienen auf unseren Bildschirmen nur Texte, später auch Fotos; Filme und Livevideos bekamen wir ab Tag drei zu sehen. Immer lautete die Frage: Darf der vorliegende Beitrag auf der Plattform stehen bleiben? Und wenn nein, warum nicht? Letztere war dabei die schwierigere Frage. Ein Text wie »alle Moslems sind Terroristen« war nach den Standards der Plattform verboten, denn Muslime sind eine GG, eine »geschützte Gruppe«, wie Frauen, Lesben und Schwule und, ob Sie’s glauben oder nicht, Herr Stitic, Heterosexuelle. »Alle Terroristen sind Moslems« ist dagegen erlaubt, denn Terroristen sind keine GG, und »Moslem« ist außerdem keine Beleidigung. Ein Video von jemandem, der seine Katze aus dem Fenster wirft, ist nur dann erlaubt, wenn es nicht aus grausamen Motiven geschieht, ein Foto von jemandem, der seine Katze aus dem Fenster wirft, ist immer erlaubt. Die Aufnahme eines küssenden Pärchens im Bett dagegen nur, solange wir keine Geschlechtsteile oder weiblichen Brustwarzen sehen, männliche Brustwarzen sind nie ein Problem. Ein von Hand gezeichneter Penis in einer Vagina ist richtlinienkonform, eine mit einem Malprogramm gezeichnete Vulva dagegen nicht. Ein nacktes Kind darf nur dann abgebildet werden, wenn das Foto einen Nachrichtenwert besitzt, außer bei Abbildungen aus einem KZ