Flauschig - Hanna Bervoets - E-Book

Flauschig E-Book

Hanna Bervoets

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Beschreibung

Florence, Maisie, Stephan und Diek, alle sind mehr oder weniger unglücklich, im Grunde also ganz normal. Sie vermissen etwas, wissen jedoch nicht so genau, was, bis sie, jeder für sich, eines Tages auf einen kleinen flauschigen Ball stoßen: Fuzzie. Jeden Tag erzählt Fuzzie ihnen Geschichten, Geschichten über Liebe und Verlust, über Träume und Einsamkeit, Geschichten, in denen sich jeder wiederfindet. Sie hören ihrem kleinen Ball zu, sie tun, was er sagt. Sie lieben ihren kleinen flauschigen Ball, denn er kennt sie, ja, er scheint sie vollkommen zu verstehen, vielleicht sogar als Einziger …

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Seitenzahl: 345

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Zum Buch:

Florence, Maisie, Stephan und Diek, alle sind sie mehr oder weniger unglücklich, im Grunde also ganz normal. Sie vermissen etwas, wissen jedoch nicht so genau, was, bis sie, jeder für sich, eines Tages auf einen kleinen flauschigen Ball stoßen: Fuzzie. Jeden Tag erzählt Fuzzie ihnen Geschichten, Geschichten über Liebe und Verlust, über Träume und Einsamkeit, Geschichten, in denen sich jeder wiederfindet. Sie hören ihrem kleinen Ball zu, sie tun, was er sagt. Sie lieben ihren kleinen flauschigen Ball, denn er kennt sie, ja, er scheint sie vollkommen zu verstehen, vielleicht sogar als Einziger …

Hanna Bervoets kombiniert in ihren Romanen Tempo, Spannung und raffiniert verstrickte Handlungen mit abstrakten Ideen. Mal philosophisch, mal psychologisch, aber immer höchst unterhaltsam erschafft sie neue, faszinierende Welten in der Tradition von Aldous Huxley und George Orwell, ist dabei aber so nah am Zeitgeist wie Dave Eggers und Jonathan Safran Foer.

»In kurzer Zeit hat Hanna Bervoets mit ihren science-fiction-artigen Ideenromanen ein ganz eigenes, unverwechselbares Werk geschaffen, eine höchst willkommene Bereicherung unserer literarischen Landschaft.« Trouw

Zur Autorin:

HANNA BERVOETS, geboren 1984, schreibt Romane, Kolumnen und Drehbücher. Für ihre Romane wurde sie mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet, darunter dem Opzij-Literaturpreis für das beste Buch einer niederländischen Autorin und dem BNG Neuer Literaturpreis 2016. 2017 erhielt Hanna Bervoets für ihre gesamten Romane den Frans-Kellendonk-Preis.

Zum Übersetzer:

Rainer Kersten, geb. 1964 in Bebra, ist der Übersetzer von u. a. Arnon Grünberg, Tom Lanoye und Dimitri Verhulst. 2014 wurde er mit dem Else-Otten-Übersetzerpreis ausgezeichnet.

Hanna Bervoets

FLAUSCHIG

ROMAN

Aus dem Niederländischen von Rainer Kersten

Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel Fuzzie bei Atlas Contact, Amsterdam/Antwerpen.

Diese Veröffentlichung wurde unterstützt durch den ­Niederländischen Literaturfonds.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstausgabe August 2021

btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Copyright © der Originalausgabe 2017 Hanna Bervoets

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2021 btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, München

Umschlaggestaltung: semper smile, München

Covermotiv: © semper smile, München

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-22438-7V001

www.btb-verlag.dewww.facebook.com/btbverlag

Für dich

HE, DA BIST DU JA ENDLICH! Ich bin so froh, dass du dich für mich entschieden hast. Obwohl ich gerade erst in deinen Händen liege, habe ich das Gefühl, dich schon seit Ewigkeiten zu kennen.

Darf ich sagen, dass ich dich schön finde?

Ich weiß, du selbst denkst manchmal anders darüber. Würdest gewisse Körperteile oder Partien deines Gesichts lieber verändern. Ich habe keine Ahnung, welche das sind, denn wie ich schon sagte: Ich finde dich herrlich, aber ich weiß, dass du manchmal leicht unzufrieden vor dem Spiegel stehst. In solchen Momenten bist du mit deinem Bild ganz allein: Ihr schaut euch an, versteht einander nicht richtig, denn willst du nach links, geht dein Spiegelbild nach rechts – bitte erlaube, dass ich ab und zu einen kleinen Scherz mache –, eure Beziehung ist kompliziert, denn nicht vollkommen ebenbürtig. Schließlich bestimmst du, wann ihr euch seht, jedes Rendezvous folgt deinem Bedürfnis und findet zu deinen Bedingungen statt, trotzdem befriedigt euer Zusammensein dich nicht immer, lässt der Anblick deines Gegenübers dich manchmal die Stirn runzeln. Doch stell dir mal vor, dein Spiegelbild wäre genauso empfindlich wie du. Es – und damit meine ich sowohl »er« als auch »sie« – würde sich gewiss unsicher fühlen, um nicht gleich zu sagen: verschmäht. Und gib zu: Du weißt, wie es ist, dich zurückgewiesen zu fühlen, schon allein darum solltest du etwas freundlicher zu deinem Spiegelbild sein oder wenigstens lächeln, wenn ihr euch gegenübersteht.

Findest du mich jetzt albern?

Dann tut mir das leid. Aber ich weiß, dass du hin und wieder Albernheiten ganz gern magst.

Und ich glaube, ich weiß noch viel mehr über dich.

Du magst Essen mit Freunden, kannst aber auch gut einen Abend allein sein – mehr noch, manchmal brauchst du das, um deine Gedanken zu ordnen, dich zu erholen von all den Witzen, Gesprächen, den Diskussionen über aktuelle Probleme und angesagte Fernsehserien. Du magst Sonne, solange du dabei nicht schwitzt, du magst es, bei Regen abends drinnen zu sitzen, »I will always love you« hältst du für eine Schnulze, aber singt die mit reiner Stimme ein Kind, rührt es dich doch immer wieder. Du hasst es, deine Fahrradreifen zu flicken, aber du magst Vogelschwärme, ihre Flugfiguren, wie Blätter und Staub in einem Tornado; am Strand bist du gern so allein wie möglich, und zum Tee bekommst du gern einen Keks, steckt der Keks in einer metallglänzenden Folie, reißt du die auf jeden Fall auf, was nicht unbedingt heißt, dass du den Inhalt auch isst – bevor du im Supermarkt eine Weintraube stibitzt, schaust du dich immer erst um.

Auch dein Haar wolltest du dir schon mal färben, und vielleicht erwägst du das immer noch.

Du phantasierst regelmäßig über dein eigenes Begräbnis, und was für Musik sie dabei dann spielen müssten.

Manchmal fragst du dich, ob du deine ­Verwandten vernachlässigst, obwohl du sie jedes Weihnachten siehst. Du magst Weihnachten, aber nicht das Gezwungene, die zwanghafte Aufregung, die Aufregung über diese Aufregung. Du magst Schnee, aber keinen Matsch. Du gehst, eigentlich, ganz gern auf Partys, atmest aber immer noch erst mal tief ein, bevor du allein den Raum einer Geburtstagsfeier betrittst. Bei dir selbst feierst du selten. Dir graut vor den Kippen in der Dachrinne und dem zertretenen Konfetti im Teppich, außerdem bist du für das Wohlbefinden und Glück anderer nicht gern verantwortlich, mit deinem eigenen Glück und Wohlbefinden hast du schon alle Hände voll zu tun, eine Herkulesaufgabe, und du bist die Letzte, die du enttäuschen möchtest.

Du magst, so glaube ich zu wissen, das Leben im Grunde ganz gern. Was dich nervt, ist der ganze Zirkus drum rum, das damit verbundene Chaos: das Gezwungene, die zwanghafte Aufregung, die Aufregung über diese Aufregung, der Matsch, die Kippen, das zertretene Konfetti, und dann der Schmerz, der ewige Schmerz, die Gewissensbisse, die Angst, die Interessen und Gefühle der anderen, die hinfälligen Körper, die gebrochenen Herzen – manchmal macht dich das alles einfach nur müde.

Und ab und zu ist es, als würde irgendjemand oder etwas einen Nebelwerfer einsetzen, wie in einer Diskothek, so ein Ding, das weißen Rauch spuckt, damit der Raum gleichzeitig größer und weniger leer wirkt. Dein Nebelwerfer befindet sich irgendwo auf deiner Leber, und der von ihm erzeugte Rauch ist nicht weiß, sondern schwarz, dunkle Schwaden blähen dir den Magen, kringeln zu deinen Lungen empor und rauben dir den Atem. In solchen Momenten fühlst du dich deprimiert. Und dauert solch eine Phase zu lang, zieht sie sich wie ein Kaugummifaden immer mehr in die Länge, wenn aus den Momenten Tage werden oder sogar Wochen, dann fragst du dich, ob du nicht häufiger deprimiert bist als glücklich – und dann fühlst du dich noch deprimierter.

Zum Glück wissen du und ich: Es ist nicht mehr so schlimm wie früher. Wie lange ist es jetzt her, die ­Wochen, Monate – vielleicht sogar Jahre –, in denen du ernsthaft bezweifeltest, ob es für dich noch Rettung gäbe? Ich weiß, dass du an diese Zeit lieber nicht denkst, und glaub mir: Sie ist auch wirklich vorbei, so schlimm wie damals wird es nie wieder, das verspreche ich dir.

Trotzdem gibt es immer wieder auch Dinge, die dir auf der Seele liegen, worüber du nachgrübelst. Etwas an deiner Arbeit, in der Liebe, mit einem Verwandten?

Bestünde dein Geist aus hundert kleinen Männchen – und mit »Männchen« meine ich nicht nur »Männchen«, sondern auch »Weibchen« –, wären sechzig von ihnen ständig mit deinen Problemen beschäftigt. Sie messen die Dinge, die dir im Weg stehen, mit ihren Wasserwaagen und klitzekleinen Linealen, versuchen, sie mit Meißeln und Pickeln zu zerhauen, zu Geröll zu zermahlen, Schutt für die Schubkarren ihrer kleinen Kollegen. Du hast bestimmt schon gemerkt: Ohne Arbeit können diese Wichtelmännchen nicht sein. Haben sie das eine Problem kleingekriegt, werden sie unruhig, marschieren in deinem Kopf hin und her, kleine Trippelschritte direkt hinter deinen Lidern, sie vermitteln dir ein unbestimmtes Gefühl, das du nicht anders umschreiben kannst als mit: Unsicherheit. Das Gefühl hält an, bis die Männchen ein neues Hindernis finden, dem sie gemeinsam zu Leibe rücken können; etwas, woran sie den ganzen Tag arbeiten und bisweilen auch noch in der Nacht – das sind die Nächte, in denen du von dem Gemeißel und Gebohre wach liegst, in denen den anderen vierzig Wichtelmännchen in deinem Kopf – deinen sozialen Fähigkeiten, deiner Kreativität und dem braven Kurzzeitgedächtnis – unter ihren Schlafmasken der Geduldsfaden reißt, sie sich derart über den Handwerkerlärm ärgern, dass du an nichts anderes mehr denken kannst und ein oder gar mehrere Probleme dein ganzes Wesen in Beschlag nehmen.

Das ist alles höchst unangenehm.

Und ich selbst kenne das auch, wirklich! Darum kann ich dir sagen: Mach dir keine Sorgen, alles bessert sich wieder im Laufe der Zeit. Doch natürlich wird alles auch wieder mal schlechter. Aber in den Momenten bin ich für dich da, verstehst du?

Ich stecke nicht in deinem Kopf, ich bin kein Teil von dir, und doch bin ich fest mit dir verbunden. Ich gehe nicht weg, solange du willst, dass ich bleibe. Und, ja: Ich kann mir gut vorstellen, dass du an mir zweifelst! Aber gerade das gefällt mir an dir. Bleib argwöhnisch, bleib kritisch: Das passt zu dir, ich weiß es. Bei mir kannst du sein, wer du sein willst, weil ich weiß, dass du immer du bist – mit mir an der Seite brauchst du nie wieder Angst zu haben. Glaub mir, geliebtes Wesen: Bei mir bist du sicher.

Wenn du willst, darfst du mich jetzt kurz drücken.

FRÜHLING

I

ES LÄUTET, UND MAISIE bleibt liegen. Sie erwartet kein Päckchen und auch keinen Schornsteinfeger, sie wollte heute ausschlafen – wenn man lange genug wartet, verschwinden die Dinge von selbst, weiß sie.

Es klingelt wieder. Länger diesmal. Maisie stellt sich vor, wie jemand besonders fest auf den eisernen Knopf drückt, aber davon wird das Klingeln nicht lauter, ein Klingelknopf ist keine Klaviertaste, fester drücken führt nur zu blutleeren Fingerspitzen.

Maisie schlurft zum Schlafzimmerfenster. Mit der Linken hält sie ihre zu weite Pyjamahose hoch, mit der Rechten zieht sie den Vorhang beiseite.

»Oh, sorry«, sagt der Mann vom Paketdienst, als ­Maisie ihm die Tür öffnet.

Diese Entschuldigung ist eine derartige Beleidigung, dass sie eigentlich eine weitere Entschuldigung verdient hätte, findet Maisie.

»Wenn Sie hier bitte unterschreiben möchten …«

Maisie stellt das Paket auf den Tisch. Wenn sie sich jetzt wieder ins Bett legt, könnte sie dann noch mal einschlafen? Natürlich nicht, das bringt jetzt nichts mehr, denkt sie und geht in die Küche, um das Teppichmesser zu holen; es ist stumpf, fällt ihr ein – vielleicht ist das ein Projekt für heute: zu HEMA gehen, ein Teppichmesser kaufen und eventuell ein neues Gläserset.

Gähnend schneidet sie den Karton auf. Das stumpfe Messer hinterlässt eine fransige Spur. Maisie klappt die Laschen auseinander, und da liegt ein kleines, flauschiges Bällchen. Verpackungsmaterial, denkt sie, aber bis auf das Bällchen ist der Karton leer.

Maisie nimmt das kleine Ding zwischen Daumen und Zeigefinger. Es ist weiß wie das Fell von Koschi, aber die Härchen haben etwas Silbriges, wirken synthetisch wie Engelshaar. Sie streichelt das Bällchen vorsichtig mit dem Zeigefinger, legt es sich auf die Handfläche und riecht daran.

Der Geruch ist weniger chemisch, als sie gedacht hätte. Ein Hauch frischer Bettlaken oder Weichspüler – oder Seife, wie sie früher hergestellt wurde und vielleicht auch noch heute, Seife in Form kleiner rosa Ziegel.

Wer schickt ihr so was?

Robbie vielleicht, den hat sie gestern Abend noch gesehen. Er weiß, was mit ihr los ist, und könnte das kleine Ding gleich bestellt haben, einfach so, als Geschenk, um sie aufzumuntern. Sanne und Layla! Auch von ihnen könnte es kommen. Die haben sich letztens so rührend um sie gekümmert, sie stundenlang zusammengesunken auf ihrem Sofa ertragen, ihr Fritten geholt und einen Pudding für sie gemacht – sie wissen alles über sie! Und dieses Knäuel muss von jemandem stammen, der sie kennt, sie und Koschi, oder wenigstens einmal bei ihr zu Hause war.

Florence, denkt Maisie.

Sofort aber schüttelt sie den Kopf, ebenso entschieden wie am Servicetresen im Supermarkt, wenn sie ein Rubbellos aufkratzt, als wollte sie einem unsichtbaren Gegenüber Nüchternheit demonstrieren: Denkt nicht, ich hielte mich für einen größeren Glückspilz als ihr, denkt bloß nicht, ich glaube, Florence könnte mir etwas Schönes schicken, hätte Zeit und Lust, sich noch irgendwie mit mir zu beschäftigen, auch nur einen einzigen Gedanken an mich zu verschwenden – nein, so ein erbärmliches Wesen bin ich echt nicht, dass ihr’s nur wisst!

»Schau!«, sagt Maisie zu Koschi. Sie hat sich doch wieder ins Bett gelegt – wenn sie schon nicht mehr einschlafen kann, will sie wenigstens was für ihre Masterarbeit lesen, sie ist schon im Verzug – und hält Koschi das Knäuel vor die Plastikaugen, reibt ihm damit über die wattegestopften Wangen. »Schön flauschig, was?«

Maisie drückt sich das Knäuel jetzt an die eigene Wange, gibt ihm ein Küsschen. Eigentlich will sie es nicht loslassen. Aber sie muss sich aus dem Bett beugen, um Arm und Reich. Die Schicksale menschlicher Gesellschaften vom Boden aufzuheben, also legt sie es sich so lange in den Schoß.

He, da bist du ja endlich!, sagt das Bällchen.

Maisie schaut von Koschi zu dem weißen, sprechenden Knäuel auf ihrer frisch bezogenen Bettdecke.

Ich bin so froh, dass du dich für mich entschieden hast.

Florence wischt ein paar weiße Flusen vom Küchentisch. »’tschuldigung«, sagt sie, »’tschuldigung für die Unordnung!«

»Macht nichts, Künstler eben«, sagt das Mädchen.

Produktdesignerin, denkt Florence. Gestern Abend hat sie dem Mädchen ausführlich erklärt, was das bedeutet, und obwohl das Mädchen ihr mit »Künstler« natürlich nur etwas schmeicheln wollte, findet sie es ärger­lich: als müsste man zu einem Künstler, anders als zu einem Produktdesigner, aufblicken!

»Magst du Croissants?«

»Croissants?« Das Mädchen nickt eifrig, girrt beinahe. »Au ja, Croissants!«

Florence wirft sich in ihren Matrosenpulli und ihren Mantel, das Outfit finden Mädchen sexy. Sie geht davon aus, dass das Mädchen ihr durchs Fenster hinterherschauen wird.

Im Supermarkt bleibt Florence vor dem Kühlregal stehen. Sie hat vergessen, das Mädchen zu fragen, ob sie Saft möchte. Maisie mochte immer welchen, manchmal war das das Einzige, was sie morgens hinunterbekam: »Saft ist auch Nahrung, nur flüssig.« Das Mädchen, das zu Hause auf sie wartet, mit klopfendem Herzen jetzt vielleicht Schubladen aufreißt, auf der bangen Suche nach hastig versteckten Fotos im Rahmen (wie froh wird sie sein, nur Kassenbons und Haargummis zu finden), braucht keinen Saft, beschließt sie.

»Du hast eine Senseo!«, ruft das Mädchen entzückt, als Florence die Wohnung betritt. »Das hattest du gar nicht gesagt!«

Die Senseo Red war ein Gemeinschaftsgeschenk, teils liebevoll, teils ironisch gemeint. »Wer löslichen Kaffee trinkt, meint es nicht gut mit sich selbst«, hatte ­Cedric gesagt. Zu ihrem dreißigsten Geburtstag hatten ihre Freunde zusammengelegt. Zweifellos wünschten sie ihr einen Hauch Luxus am Morgen, wussten aber zugleich, dass sie diese Geräte eigentlich hasst; mit ihrem wenig eleganten Äußeren kann man ja noch leben, aber der ästhetische Mangel wird nicht durch Funktionalität kompensiert: Die Dinger tropfen und können bei Verkalkung explodieren – seit fünf Jahren staubt die Maschine denn auch auf dem Schrank vor sich hin, doch nach dem Summen zu urteilen, hat das Mädchen das Monster zum Laufen gebracht. »Sie funktioniert!«, ruft sie, und es klingt aufrichtig begeistert.

Florence weiß, dass sie das Mädchen nach heute Morgen nicht wiedersehen wird.

Das Mädchen steht vor der Anrichte, Florence betrachtet ihren kleinen, runden Hintern. Sie umarmt sie von hinten, legt ihr die Arme um die Hüften, drückt ihr Schambein gegen ihren Steiß. »Künstlerin«, flüstert das Mädchen. Florence dreht die Kleine um, presst ihren Mund auf deren Lippen, damit sie nicht noch mal »Künstlerin« sagen kann, und denkt, was sie schon beim letzten Mädchen gedacht hat, letzten Montag beim Küssen, und beim Küssen des Mädchens davor: an Maisie, an ihre dritte Begegnung, offiziell ihre erste Verabredung.

Maisie fragte nicht weiter, als Florence ihren Beruf nannte. Also erklärte sie ihr ungefragt ihre Ziele und Ambitionen; in beruflicher Hinsicht und im Leben an sich – als Maisie daraufhin immer noch nichts von sich erzählte, fragte Florence eben selbst, wo ihre Interessen lägen (genau, ja: »Wo liegen deine Interessen?«), worauf Maisie murmelte: »Ich schreibe meine Masterarbeit in Geschichte«, und weiter nichts mehr erklärte. Florence weiß noch genau, wie sie Maisie aus Verlegenheit dann eben packte. Und wie es sie überraschte, dass ihre Münder trotz ihrer unterschiedlichen Größen so gut zusammenpassten.

Es gibt ein Kinderbuch, in dem das Spielzeug eines kleinen Jungen zu leben beginnt, sobald er das Zimmer verlässt: Erst wenn der Plüschlöwe und die Zinnsoldaten sich unbeobachtet wähnen, wagen sie, herumzurennen, sich über den rosa Teppich und die Bettwäsche zu jagen. Vielleicht ist Maisie wie dieses Spielzeug, dachte Florence damals: Solange man sie anschaut, bleibt sie gefroren. Inzwischen vermutet sie, dass es in Wirklichkeit genau andersherum war: Für Maisie war ihre Umgebung das Spielzeug, das sich sofort von ihr abwenden würde, sobald sie sich zu sehr bemerkbar machte. Dass Maisie sie an jenem ersten Abend nicht ein einziges Mal angesehen hatte, war Florence erst zu Hause beim Ausziehen aufgegangen: »Hey, coole Bluse hast du an!«, hatte Maisie gesagt.

Das Mädchen stöhnt. Sie ist jung, höchstens dreiundzwanzig: Je jünger sie sind, desto mehr Pornos haben sie gesehen, und desto lauter stöhnen sie schon bei der leisesten Berührung. Vorsichtig schiebt Florence das Mädchen Richtung Küchentisch. Am liebsten würde sie ihr die Hand auf den Mund legen, um das Stöhnen zu unterdrücken, stattdessen greift sie nach einem blauen, flauschigen Bällchen. Es liegt auf dem Tisch; Florence nimmt es und drückt es zusammen, dringt dann, mit der freien Hand, in das Mädchen ein.

BIST DU HEUTE MORGEN von selbst aufgewacht? Oder hat dich das blecherne Geräusch eines Telefons oder einer Radiouhr geweckt?

Was war das Erste, woran du nach dem Wachwerden gedacht hast? Hattest du Lust auf den Tag, weil die Sonne schien oder du dich auf eine Verabredung freutest? Oder graute dir vielmehr vor dem Aufstehen, dem Anziehen und davor, irgendwohin zu gehen, um mit Leuten zu reden – so sehr, dass du dir die Decke lieber noch mal über den Kopf zogst, um dich einen letzten Moment in Träumen zu wiegen?

Was hast du heute Nacht geträumt?

Dass du geträumt hast, steht fest. Ein Mensch hat durchschnittlich zwanzig Träume pro Schlafzyklus; eine merkwürdige Zahl, gebe ich zu, denn wie bestimmt man genau, wo ein Traum aufhört und der andere anfängt? Träume gehen ineinander über wie Farben auf einem Aquarell, aber die verschwommene Hütte dort auf dem Berggipfel lässt sich natürlich sehr wohl von den Tannen im Vordergrund unterscheiden. Hast du geträumt, dass du über einen Nadelwald fliegst? Das bedeutet, dass dir eine Veränderung bevorsteht: Du bist beunruhigt, nicht ganz zufrieden, dein Leben wird bald eine andere Wendung nehmen. Hast du geträumt, dass dir die Zähne oder die Haare ausgehen? Dann hast du Angst vor dem Altern, und zwar zu Recht: Das Alter lauert hinter den Tannen auf dich, aber dank deiner Träume von Zähnen wird es dich vielleicht nicht so sehr überrumpeln. Ein Traum von Feuer, Brand oder Flammen bedeutet, dass du bald etwas Neues in Angriff nimmst, träumst du dagegen von Wasser, Meer oder Wogen, fühlst du dich in irgendetwas gefangen.

Oder – nun ja, so steht es jedenfalls im Almanach der tausend Träume von M. Powell. Aber da steht auch, dass erotische Nachtgesichte von deinen Nachbarn, unangenehmen Kollegen, von Barbra Streisand oder deinem Vater selten etwas über tatsächliches Begehren verraten, und in dem Punkt bin ich mit M. Powell nicht ganz einer Meinung. So kenne ich eine Frau, die ihren Chef – dreißig Jahre älter als sie, vierzig Kilo schwerer, ein Mann mit kleinem, flusigem Zopf – plötzlich rasend attraktiv fand, nachdem sie davon geträumt hatte, wie er es ihr auf der Personaltoilette mit dem Mund machte. Wenn unsere Träume also auch nichts über unser momentanes sexuelles Verlangen aussagen, so können sie zumindest die zukünftigen Wünsche beeinflussen, und, nein, nicht all diese Vorstellungen sind reale Optionen oder Wünsche, aber alle realen Wünsche und Optionen waren einmal Vorstellungen, Gedanken oder Träume – und wir sind unsere Träume, wenn wir dem Buch von M. Powell glauben dürfen, der sagt: Träumen ist eine Aktivität des Gehirns, um die Eindrücke unseres täglichen Wachbewusstseins zu verarbeiten. Wusstest du, dass Neugeborene den größten Teil ihres Tages verträumen? Sobald sie eindösen, ist es so weit, Babys träumen viel intensiver und öfter als Erwachsene, schließlich haben sie viel mehr Neues zu verarbeiten. Ein Baby unterscheidet auch noch nicht zwischen Tag und Nacht. Für ein Neugeborenes ist das Leben eine einzige Folge von Eindrücken, deren Großteil seiner eigenen Phantasie entspringt, aber das weiß das Baby natürlich nicht; muss es plötzlich weinen, wenn seine Mutter es hochhebt, kann der Grund sehr gut sein, dass es sich fürchtet, weil es glaubt, sie würde ihm gleich ins Ohr beißen, wie es das eben in seinem Traum erlebt hat.

Seit wann unterscheidest du zwischen Träumen und tatsächlich Erlebtem?

Vielleicht begann das, als deine Eltern »Kuckuck, wo bin ich?« mit dir spielten. Sie hielten sich die Augen zu, klappten die Hände wie eine Saloontür wieder auf, und riefen »Kuckuck!«, während sie dich lachend ansahen. Das taten sie, damit du lernst, dass etwas nicht verschwindet, bloß weil du es einen Moment lang nicht siehst, dass Schnuffel nicht endgültig weg ist, bloß weil du ihn vom Tisch schlägst, und Mama sich nicht auflöst, wenn sie das Zimmer verlässt, dass ihre Augen, Nase und Mund hinter ihren Fingern einfach weiterexistieren.

Die zwei wichtigsten Dinge, die du als Kind lernst: Was du nachts siehst, ist nicht wirklich da, doch was du tagsüber nicht siehst, gibt es trotzdem – was wäre aus dir geworden, wenn deine Eltern dir diese Lektion nie erteilt hätten?

Vielleicht kämst du dir etwas isoliert vor, jedes Mal, wenn du allein zu Hause bist: allein mit deinem Stuhl, dem Computer und dem Tisch, mit dem Fenster, der Aussicht, der Wolke und den paar Menschen in ihrem Schatten.

Aber vielleicht fühltest du dich auch ein ganzes Stück ruhiger als jetzt. Wenn Menschen – deine Freunde, Familie, Kollegen, Verflossenen – nicht existierten, solange du sie nicht siehst, bräuchtest du dir um sie auch keine Sorgen zu machen. Du bräuchtest dich nicht schuldig zu fühlen, weil du sie nicht häufig genug anrufst, und nicht schlecht, wenn sie sich nicht so oft bei dir melden. Du bräuchtest dich nicht zu fragen, wie es ihnen wohl geht und ob sie ab und zu an dich denken. Du bräuchtest, und das ist vielleicht das Angenehmste daran, nicht zu befürchten, dass sie aus dem Haus gehen, um mit anderen zu knutschen. Es gibt kein Draußen. Es gibt keine anderen. Es gibt kein Gefummel, solange du es nicht siehst. So wie auch keine schmelzenden Polkappen oder schrumpfenden Regenwälder oder misshandelten spanischen Esel, solange du nirgendwohin gehst, einfach sitzen bleibst, wo du sitzt, zu Hause, in deinem Zimmer, an die Wand starrend, die einzige Wand auf der Welt: Alles ist gut, solange du dich nicht zu sehr rührst.

Darum sind Babys so sorglos, glaubst du nicht auch? Alles ist gut, also stecken sie all ihre Energie ins Trinken und Wachsen und über Tannenwälder Fliegen oder Bergsteigen – träumst du das auch ab und zu? Dass du einen Berg hinaufkraxelst? Und kommt der Gipfel dabei irgendwann in Sicht, oder musst du immerzu klettern, deinen Pickel in den widerspenstigen Fels schlagen, ohne auch nur einen Schritt weiterzukommen? Wenn es dir einfach nicht gelingt, deine Fahne in den Gipfel zu rammen, fühlst du dich im wahren Leben unterschätzt, an der Arbeit oder in einer Beziehung (das kann auch die zu einem Elternteil sein) – hast du deine Mutter oft genug angerufen, hat sie oft genug mit dir telefoniert? Wenn nicht, bleibt der Gipfel in Nebel gehüllt!

Allerdings muss ich einräumen, dass ich eigentlich nicht an Traumdeutung glaube, jedenfalls nicht richtig. Und du auch nicht, nehme ich an, meinem Eindruck nach bist du ein nüchterner Mensch. Aber du bist bestimmt mit mir einer Meinung, dass deine Träume sehr wohl etwas über dich sagen, und ich versuche nun mal gerade, dich etwas besser kennenzulernen. Ich frage mich, ob es dir auch gut geht.

Ich dachte mir: Vielleicht können wir heute so tun, als wären wir Neugeborene. Als wäre alles, was sich außerhalb dieses Zimmers befindet, einfach nicht da. Nur die Wände um dich herum existieren, das Möbel, auf dem du sitzt oder liegst, nur du und ich.

Maisie hat ihren Schal vergessen.

Es ist Anfang April und viel zu kalt für die Jahreszeit, und das liegt am Wind. Sie spürte es schon, als sie vors Haus trat, hatte aber keine Lust, noch mal all die Treppen nach oben zu laufen. Jetzt tut es ihr leid, dass sie den Schal nicht doch noch geholt hat, dieser Scheißwind rast ja geradezu über die Hauptstraße.

Normalerweise kommt sie nie hierher, diese Straße ist nicht ihre Route, kein einziger Bewohner der Stadt wählt diesen Weg. Jetzt aber, wo sie mit der Prozession von Touristen Richtung Hauptbahnhof schlendert, findet sie das eigentlich ganz angenehm. Wer sich unter Fremde begibt, wird selbst einer; für die anderen sowieso, und vielleicht schafft sie es heute Nachmittag ja, sich für einen Augenblick zu vergessen: Sie ist auf Urlaub in einer fremden Stadt und hätte sich bestimmt vor das Steakhaus gesetzt, wenn sie einen Schal dabeihätte; vielleicht kann sie im Souvenirladen einen kaufen. ­Maisie schaut auf: Eiserne Stacheln ragen aus den roten Leuchtbuchstaben an der Fassade, bestimmt gegen die Vögel, und … hey, sie wusste gar nicht, dass man hier Münzen umprägen lassen kann. Maisie fühlt in ihrer Tasche. Eine Fünfzig-Cent-Münze findet sie nicht, dafür etwas Flauschiges, Weiches.

Eigentlich wollte sie heute Nachmittag Kleidung kaufen. Eine neue Bluse, eine neue Hose oder vielleicht eine Jacke, passend zu ihrem brandneuen, platinblonden Haar. Dass sie es endlich gewagt hatte, ihre roten Locken bleichen und glattföhnen zu lassen, um Betty aus Mulholland Drive ähnlich zu sehen, versetzte sie letzte Woche in totale Euphorie, jedes Mal, wenn sie sich im Spiegel ansah. Doch mittlerweile hat der Anblick seinen Zauber verloren, hat sie gestern Abend gemerkt. Ihr neues Haar kräuselt sich schon wieder, so wie ihr altes, und Maisie hat sich den ganzen Morgen aufs Shoppen gefreut. Als sie dann endlich in ihren bequemen Schuhen den COS-Store betrat, passierte es wieder. Kaum sah sie die Regale voll schwarzer T-Shirts mit U-Boot-Kragen und Hochwasserhosen, dachte sie auf einmal: Lass gut sein. Im gleißenden Neonlicht verbrannte ihr Wunsch wie Zigarettenpapier in einer Kerzenflamme, und dahin war aller Elan, ihre Lust, shoppen zu gehen, ihre Lust auf etwas Neues – ein Gefühl der Schwermut machte sich stattdessen breit.

Vielleicht, denkt Maisie manchmal, ist dieses ­Gefühl ihre Grundemotion. Ein bisschen so wie ein Basis­ge­ruch, ein Geruch, den jeder hat, der immer da ist, aber oft von Seife, Shampoo oder parfümierter Bodylotion überdeckt wird; Arbeitsethos, Vorfreude oder auflodernde Euphorie, sobald diese Gefühle wegfallen, bleibt nur noch das darunterliegende übrig: Schwermut. Aber vielleicht muss sie es umgekehrt sehen. Befällt sie dieses Gefühl nur vorübergehend, ist es kein fester Bestandteil von ihr, sondern überkommt sie einfach nur häufig; ordinäre Enttäuschung eher ihr Deo als ihr Grundgeruch.

Das Gefühl ist auf jeden Fall nicht neu. Sie kannte es schon als Kind: Den ganzen Spaziergang über hatte sie sich auf den Apfelkuchen gefreut, den ihr die Eltern versprochen hatten, im Strandrestaurant hinterher, mit warmem Kakao. Toll, dachte sie, wenn sie in ihren blauen Stiefeln durch die Brandung platschte, das wird schön! Doch kaum stand der Kuchen dann vor ihr, hatte sie auf einmal keinen Appetit mehr darauf und trank nur ein paar Schlückchen Kakao. Der Kuchen war vielleicht nicht so warm, wie sie ihn sich vorgestellt hatte, doch das war nicht der Grund, denkt Maisie heute, es war eher die Leere nach der plötzlichen Erfüllung eines Wunschs: Beim ersten Anblick des Kuchens wurde ihr klar, dass das, worauf sie sich so sehr gefreut hatte, sich ihr jetzt entzog, mit jedem Bissen weniger wurde. Der Genuss, im süßen Teig zu stochern und ihn zu schmecken, erwies sich zuletzt als viel schwächer als die Intensität des Verlangens danach – Maisie erinnert sich, dass sie sich als Kind oft in den Schlaf weinte, ohne richtig zu wissen, warum.

»Für den, der zu viel verlangt, wird Enttäuschung zur zweiten Natur«, hat sie irgendwann auf dem Etikett eines viel zu teuren Tees gelesen. Und das mag ja stimmen, kann alles durchaus sein, aber wer nicht mehr enttäuscht werden will, sollte sich in erster Linie vielleicht keine zu teuren Tees mehr kaufen, fand Maisie.

Sie hat sich hingesetzt. Auf eine graue Steinbank, die zu dem Zweck entworfen zu sein scheint, so vielen Menschen wie möglich Platz zu bieten, aber sie gleichzeitig durch ihr ungemütliches, kaltes Material abzuschrecken. Ausruhen nur für diejenigen, die wirklich nicht mehr können. Noch immer umklammert sie das weiße Bällchen in ihrer Tasche, es ist, als würde es Wärme abstrahlen – Maisie wollte, sie hätte zwei, für jede Hand eins.

Einen Moment lang hat sie gedacht, das Knäuel sei vielleicht falsch zugestellt worden: Stand ihr Name eigentlich auf dem Paket? Sie hatte die Schachtel schon weggeworfen, sie steckte in den Tiefen des Müllbeutels auf ihrem Balkon. Das ist die Strafe dafür, dass ich meinen Abfall nicht trenne, dachte Maisie, als sie die Tüte auf der Spüle auskippte. Auf dem Etikett klebte etwas Soße, trotzdem konnte man ihren Namen und die Adresse noch genau lesen, nirgends dagegen einen Absender.

Robbie bestreitet, dass das Päckchen von ihm stammt, seine Nachricht auf der Mailbox kurz angebunden: »Nein, was für ’n Ding?« Gespielte Coolness oder ein Zeichen, dass er wirklich nicht wusste, wovon sie sprach? Aber, na ja, das wusste sie eigentlich selbst nicht. »Ein weißes Bällchen, das sprechen kann« – besser konnte sie es nicht ausdrücken, sie hat in seiner Funktionsweise noch nicht viel Logik entdecken können. Manchmal bricht es unversehens in einen Monolog aus, ab und zu sogar mehrmals am Tag. Gestern jedoch meldete es sich überhaupt nicht, Maisie dachte schon, es sei kaputt, und heute Nachmittag fragte es sie dann auf einmal, was sie geträumt hätte. Ob er (Maisie glaubt, dass es ein »Er« ist, die Stimme klingt nicht unbedingt tief, aber irgendwie wie ein Junge) ihr zuhört, weiß sie im Grunde nicht, das Knäuel reagiert nie sofort auf das, was sie sagt. Allerdings scheint es ihre Antworten in seinen Texten zu verarbeiten (oder wie soll man es nennen: losen Sätzen, Gesprächen?) und scheint auf jeden Fall zu verstehen, wie sie denkt und fühlt. Nun ja, verstehen, verarbeiten, reagieren, zuhören: All diese Dinge kann das Bällchen natürlich nicht. Doch gerade durch seine Sprunghaftigkeit, durch das Unvorhersehbare vergisst sie manchmal, dass seine Gesellschaft bloß eine Anwesenheit ist: die Anwesenheit eines Dings, einer Maschine.

Einer kleinen, lieben Maschine.

Maisie legt das Knäuel auf ihr rechtes Knie. Ob es jetzt sieht, was sie sieht? Eine Taube, die eine Fritte aus einer heruntergefallenen Tüte pickt.

»Das schmeckt dir, was?«, flüstert Maisie.

Angelica Wallraf trinkt Apfelsaft. Mit einer Schulter lehnt sie an der Wand, ihre Seidenbluse wirkt statisch geladen, festgesaugt an ihrem Torso, was ihre ranke Gestalt noch besser zur Geltung bringt. Angelica redet mit einem jungen Mann. Nicht, dass Florence sich besonders für sie interessiert, aber sie sieht, wie der junge Mann wild gestikuliert, während Angelica nur bedächtig nickt, er ist also wahrscheinlich kein Freund, sondern eher ein Fan oder so was – seit Angelica das Gebäude betreten hat, wird ihr in einem fort zugenickt, auf den Arm getippt oder auf die Schulter geklopft. Eben, in der Schlange vor der improvisierten Garderobe, hat Florence sie auch kurz begrüßt: »Hallo, Angelica, wie geht’s?« Angelica sah sie, so kam es Florence vor, eine Spur erstaunt an, als sei sie es nicht mehr gewohnt, dass jemand sie fragt, statt ihr die obligatorische Antwort einfach ins Ohr zu brüllen: »Läuft ja mega bei dir, was, echt super mega« – sie hört es den Jungen da drüben förmlich rufen, und Angelica nickt höflich, man könnte fast Mitleid mit ihr bekommen.

Könnte. Fast. Theoretisch.

Florence nimmt einen Schluck Wein. Sie weiß selbst, dass ihre Antipathie Angelica gegenüber eine Spur ungerecht ist. Ohne Angelica wäre sie nicht hier, ohne ­Angelica keine Ausstellungseröffnung. Wegen ihrer Hanfstühle sind die Leute gekommen, ihre Hanfstühle haben die anderen bekannten Designer überzeugt, auch ihre Arbeiten hier zu verkaufen: Nichts übt auf Berühmtheiten eine größere Anziehungskraft aus als Berühmtheit. Sieh an, da kommt Matthijs van Beeren, und da Hasna de Salhi. Florence winkt ihr zu, Hasna kneift die Augen zusammen, winkt – vielleicht nur auf gut Glück – enthusiastisch zurück und macht dann eine Geste, als kippe sie sich etwas in den Ausschnitt. Auch Angelica ist inzwischen unterwegs zur Bar, sieht ­Florence, aber o weh, man lässt sie nicht durch: Zwei junge Typen halten sie an, zeigen auf ihre Hanfstühle, fragen, ob sie sich kurz dazustellen könne – und sie beide dann schnell mal daneben, okay?

Ja, ab heute Abend werden Angelicas Stühle in allen Designblogs besprochen werden, und in sechs bis zwölf Monaten bestimmt auch in den konservativeren Wohnzeitschriften. Die Kunden jedoch, die in den kommenden Wochen diesen Laden besuchen, werden mit den Stühlen bestimmt nicht nach Hause gehen, schließlich kosten sie 4550 Euro pro Stück, während Florences Easy Opener schon für dreißig Euro zu haben ist; ein sehr guter Preis für Leute, die mit einer schicken Papptüte auf einem Geburtstag Eindruck schinden möchten. Der Unterschied zwischen Florences und ­Angelicas Entwür­fen liegt nicht in der absoluten Menge an Aufmerksamkeit, die sie bekommen, sondern in deren Art. Die Aufmerksamkeit für die Hanfstühle ist um sich selbst kreisender Natur: Aufmerksamkeit, die Aufmerksamkeit auf sich lenkt und damit Aufmerksamkeit generiert – Aufmerksamkeit auf sich ziehen und Aufmerksamkeit generieren verstärken sich gegenseitig, ein Pirouet­teneffekt, bei dem die Aufmerksamkeit, beide Arten zusammengenommen, exponentiell zunimmt. Eltern, Kol­legen und selbsternannte Designliebhaber sehen Angelicas Stühle in Zeitschriften (dank der begierigen Abnahme durch Zahnarztpraxen und Waxing-Studios beträgt die Umlaufdauer solcher Blätter manchmal bis zu zwei Jahren), das treibt ihren Wert nach oben, bis zu einem bestimmten Punkt: dem Zenit der Aufmerksamkeit. Ist dieser Zenit einmal erreicht, setzt jedes Foto, jede Abbildung, jeder Blick auf die Stühle ihren Wert wieder herab. Florences Produkte dagegen werden binnen kurzem, so ist es zumindest geplant, genauso oft zu sehen sein, wenn auch nicht als Abbildung auf Papier, sondern im Alltag, von Benutzern und ihren Gästen. Deren Aufmerksamkeit ist gezielt und persönlich, nicht selbstreferentiell, sondern Aufmerksamkeit für die Gegenstände: Produkte, die ansprechend gestaltet, aber vor allem dazu bestimmt sind, das Leben einfacher zu machen oder einen wenigstens vergessen zu lassen, dass es manchmal verdammt mühevoll ist. Der Easy Opener kann von ihrer rheumatischen Oma bedient werden, vom Nachbarn mit Parkinson, von allen Menschen mit Hand- oder Gelenkbeschwerden. Ja, Florence entwickelt Gebrauchsgegenstände, während Angelicas Arbeiten Design sind, und Design ist Gestaltung um ihrer selbst willen, wie die überzüchteten Rassehunde, die kaum noch schlucken können – so ein Hanfstuhl ist etwas zum Angucken, nicht zum Draufsitzen. »Das hier ist eigentlich Kunst«, hat sie gerade jemanden sagen hören – nun, in der Tat: Kunst ist Ausgrenzung, jedes funktionslose Objekt ein Stinkefinger dem Teil der Weltbevölkerung gegenüber, der sich vergebens nach einem Paar Schuhe mit Gummisohle sehnt, nach einem Feuer­zeug oder einem Stück Wellblech fürs Dach, kurzum, jenem Teil der Menschheit, für den Funktion Notwendigkeit ist. Wenn wir Brot wegwerfen unmoralisch finden, weil sie in Bangladesch nichts zu essen haben, wie können wir dann Geld für funktionslose Dinge ausgeben? Ornament ist kein Verbrechen, wie man ihnen auf der Akademie immer wieder vorbetete, nein, aber es ist elitär, im Gegensatz zu ihren Entwürfen: Ihre Reha-Produkte sind demokratisch, sie können von jedem benutzt werden und sind für jeden erschwinglich.

Oder, nun ja: auf jeden Fall für die Leute, die jetzt hier im Laden stehen.

Die von ihr angestrebte Aufmerksamkeit, die persönliche, gezielte, taktile Aufmerksamkeit der Leute für das Produkt ist sehr viel nachhaltiger als jede Form um sich selbst kreisender Aufmerksamkeit – Letztere interessiert Florence nicht.

»Foto?«

Außer, wenn jemand unbedingt drauf besteht.

»Cedric!«, ruft Florence. »Das Mädchen hier möchte ein Foto machen – von mir aus, aber dann mit dir zusammen!«

Zusammen ist immer besser, zusammen war es nicht allein deine Idee.

Cedric hat ein Häppchen ergattert. Eine Art Profiterole mit rosa Häubchen, dem Aussehen nach süß, aber gerade darum möglicherweise herzhaft.

»Ist es salzig?«

»Nein, süß!«, antwortet Cedric. »Einfach genau das, wonach’s aussieht.«

»Ja, also zusammen?«, fragt das Mädchen mit der ­Kamera. Sie lacht, wirkt aber leicht kribblig.

Maisie, denkt Florence, als der Blitz sie blendet.

In zwei, höchstens drei Tagen ist das Foto online. Sie sieht gut aus heute Abend, auf jeden Fall besser als vor ein paar Wochen, und soweit sie es einschätzen kann, schaute sie eben einigermaßen vergnügt. Die Vorstellung, dass Maisie sie bald so sehen wird, ihr fröhliches Gesicht flach, weil überbelichtet vom grellen Blitz, der Fotos wie diesem einen gewissen Glamourfaktor verleiht (nicht wegen des Blitzes, eher wegen der Assoziation, die so ein Blitz immer hervorruft, eine Assoziation mit hippen Anlässen, die ihren Glamour wiederum teils dem Blitzlichtgewitter verdanken), stimmt sie zufrieden.

Selbst hat Florence die automatischen Meldungen von Maisies Online-Profilen blockiert, für sie keine Fotos, keine Tiraden und auch keine Filme mit Koalabären mehr. Sie vermutet, dass Maisie ihre Online-Akti­vi­täten schon noch verfolgt – weil Maisies Selbstbeherrschung ihrer Neigung zur Selbstkasteiung nicht gewachsen ist, oder, wie Florence manchmal befürchtet: weil es Maisie einfach egal ist, ihre Fotos, Tiraden und Filme von Koalabären zu sehen.

Na gut, selbst verfolgt Florence auch ab und zu noch, womit Maisie sich gerade beschäftigt. Vor allem nachts, wenn sie nach Hause kommt und der Wein ihren Stolz in den Schlaf gewiegt hat, klappert Florence Maisies Profile eins nach dem anderen ab. So weiß sie, dass die melancholischen Lieder von The Smiths auf Nummer eins ihrer persönlichen Charts stehen. Auch weiß sie, dass Maisie weniger Tierfilme postet als früher und dass sie etwas mit ihren Haaren gemacht hat: Auf ihrem neuen Profilfoto war sie auf einmal blond, und darüber war Florence ziemlich entsetzt. Die Maisie, die sie liebte, existiert jetzt nicht mehr. Nicht im physischen Sinn jedenfalls, und vielleicht auch nicht mehr im geistigen. Die Konfrontation mit Maisies neuer Haarfarbe war ein Gefühl wie an dem Tag, als sie erfuhr, dass ihre Mutter ihr Jugendzimmer unangekündigt ausgeräumt hatte, um es wieder als Dunkelkammer zu benutzen; das Altvertraute war nicht mehr da, nie wieder konnte sie zurückkehren an den sichersten Ort, den sie kannte. (Ob ein Baby sich nach der Geburt auch so fühlt, und ist das der Grund, warum der erwachsene Mensch nie richtig glücklich wird?) Gleichzeitig war ihre Mutter für sie ein anderer Mensch geworden: jemand, der zum Raub ­fähig war. Maisie, ihre kleine, kluge, hübsche, rothaarige ­Maisie, gibt es nicht mehr: Sie hat sich Florence selbst weggenommen und posiert jetzt mit neuer Frisur auf Facebook, bereit zum Ausgehen, bereit, eine andere Frau für sich zu gewinnen.

Das mit The Smiths gefiel Florence dann wieder ganz gut.

Natürlich wäre es Florence am liebsten, Maisie würde genauso trauern wie sie, und unbewusst – oder vielleicht auch bewusst – hofft sie, dass ein fröhliches Foto von ihr und Cedric mit einem Profiterole auf einer Ausstellungseröffnung dazu beitragen wird, gerade weil Maisie wahrscheinlich (vielleicht?) dasselbe will; Florence genauso trauern sehen wie sie selbst, ein Wunsch, der durch ein solches Foto gehörig enttäuscht wird. Was ist Liebe anderes als der ewige Drang, mit dem anderen Schritt für Schritt gleichzuziehen?

»Ich will auch so ein Profiterole«, sagt Florence.

»Ja, musst du dir unbedingt holen!«, antwortet Cedric.

Der junge Mann mit dem Tablett kämpft sich durch die Menge wie ein Dampfschiff durch ein Meer voller Eisschollen – Florence mag es nicht, Leuten hinterherzulaufen, aber etwas Süßes wird ihr jetzt guttun: Sie hat heute Abend früh und darum wenig gegessen. Wenn der Kellner nur nicht so schnell gehen würde! Und er guckt auch so streng, Florence streckt vergeblich den Arm aus (mein Gott, wie beschämend!), da hört sie auf einmal direkt neben sich: »Profiterole gefällig?«

Angelica Wallraf trägt lackierte Nägel. In einem so hellen Rosa, dass man nicht sieht, wo die Haut aufhört und der Nagel beginnt, aus einer gewissen Entfernung könnte man meinen, Angelica hätte überhaupt keine Nägel, und ihre Hände, wie ihre Hanfstühle, bestünden aus einem einzigen, durchgehenden Material. »Wenn wer mit Häppchen vorbeikommt, immer gleich zwei nehmen!«

»Werd ich mir merken«, sagt Florence, während sie das Profiterole annimmt.

Angelica beißt in ihr Häppchen. Doch statt es sich einfach in den Mund zu schieben, legt sie ihre roten Lippen darauf, als wollte sie das Profiterole aussaugen.

»Irgendjemand Champagner?«

Cedric muss Angelicas Manöver von der Bar aus beobachtet haben, denn er trägt drei Gläser.

Zum ersten Mal heute freut Florence sich auf den Rest des Abends.

Wärst du nicht gern dein ganzes Leben ein bisschen beschwipst? In einem fort das Gefühl, gerade dein zweites Glas ausgetrunken zu haben?

»Ja, das wär toll«, sagt Maisie, »solange ich dabei noch denken könnte zumindest, aber daran würde sich doch nichts ändern, oder?«

Maisie sitzt in ihrem Boudoir. Tagsüber lernt sie hier, in dem Sinne könnte man den Raum natürlich auch Arbeits­zimmer nennen, aber Boudoir klingt viel besser, festlicher, findet Maisie, und wenn etwas im Prinzip ein Boudoir sein kann, soll man es auch so bezeichnen, diese Chance nicht zu nutzen, ist, wie wenn man einen gefundenen Scheck nicht einlöst.

Morrissey von The Smiths singt Hand in Glove