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Den Alltagsärger hinter sich lassen, die Welt sehen, nachdenken – so hat sich Shepherd den Rest seines Lebens vorgestellt. Seine Frau Glynis kann ihm dabei nicht folgen – sie stellt ihn vor eine tragische Wahl. Nach ihrem mitreißenden Roman »Liebespaarungen« erzählt Lionel Shrivers neues Buch von den Wandlungen einer Ehe in schweren Zeiten. Und auch von dem Glück, das daraus entstehen kann.
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Veröffentlichungsjahr: 2012
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Für Paul. Verloren. Befreit.
Übersetzung aus dem Amerikanischen
von Monika Schmalz
Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Taschenbuchausgabe
1. Auflage Juli 2012
ISBN 978-3-492-95265-1
© 2010 Lionel Shriver Titel der amerikanischen Originalausgabe: »So Much for that«, Harper Collins, New York 2010 Deutschsprachige Ausgabe: © 2011 Piper Verlag GmbH, München Umschlaggestaltung: Cornelia Niere, München Umschlagabbildung: William King / Getty Images Datenkonvertierung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
Zeit ist Geld.
Benjamin Franklin, Guter Rat
an einen jungen Handwerker, 1748
Kapitel 1
Shepherd Armstrong Knacker
Merrill Lynch Konto-Nr. 934 – 23F917
01. 12. 2004 – 31. 12. 2004
Gesamtnettowert des Portfolios: $ 731 778,56
WAS PACKT MAN ein für den Rest seines Lebens?
Auf ihren Recherchereisen – »Urlaub« hatten er und Glynis dazu nie gesagt – hatte Shep immer zu viel eingepackt, um für jede Eventualität gewappnet zu sein: Regenzeug, einen Pullover für den Fall, dass das Wetter in Puerto Escondido für die Jahreszeit ungewöhnlich kalt sein sollte. Angesichts der nun unendlichen Eventualitäten war sein erster Impuls, überhaupt nichts mitzunehmen.
Es gab keinen vernünftigen Grund, heimlich von einem Zimmer ins andere zu schleichen wie ein Dieb, der sein eigenes Haus ausrauben wollte – auf leisen Sohlen über die Dielen zu tappen, bei jedem Knarren zusammenzuzucken. Er hatte sich vergewissert, dass Glynis am frühen Abend nicht zu Hause sein würde (wegen eines »Termins«; dass sie nicht erzählt hatte, mit wem oder wo, beunruhigte ihn). Er hatte sich bestätigen lassen, dass Zach bei einem Freund übernachtete; er hatte seinen Sohn unter dem schwachen Vorwand angerufen, sich nach dessen Plänen fürs Abendessen erkundigen zu wollen, obwohl Zach im vergangenen Jahr kein einziges Mal mit seinen Eltern gegessen hatte. Shep war allein im Haus. Er musste nicht jedes Mal aufschrecken, wenn die Heizung ansprang. Er musste nicht zitternd in der obersten Kommodenschublade nach seinen Boxershorts greifen, als würde man ihn im nächsten Moment am Handgelenk packen und ihm seine Rechte vorlesen.
Nur, dass Shep in gewisser Hinsicht tatsächlich ein Einbrecher war. Vielleicht sogar von der Sorte, wie sie jeder amerikanische Haushalt am meisten fürchtete. Er war etwas früher von der Arbeit nach Hause gekommen, um sich selbst zu stehlen.
Die Innentasche seines großen schwarzen Samsonite-Koffers lag mit offenem Reißverschluss auf dem Bett, so wie sie das auch bei den alljährlichen weniger dramatischen Abreisen getan hatte. Bislang bestand der Inhalt aus: einem Kamm.
Er zwang sich dazu, ein Reiseshampoo und sein Rasierset einzusammeln, wobei er bezweifelte, dass er sich im Jenseits noch rasieren würde. Mit der elektrischen Zahnbürste wurde es schon wieder schwierig. Es gab Strom auf der Insel, ganz bestimmt, aber er hatte herauszufinden versäumt, ob es die Stecker mit den zwei flachen amerikanischen Kontaktstiften waren, die klobigen britischen Dreierstifte oder aber die schlanke europäische Variante mit den weit auseinanderstehenden runden Stiften. Er hätte nicht mal genau sagen können, ob die Stromspannung 220 oder 110 Volt betrug. Schlamperei; genau diese praktischen Details hatten sie sich auf früheren Rechercheexpeditionen immer akribisch aufgeschrieben. Aber in letzter Zeit waren sie überhaupt weniger systematisch gewesen, vor allem Glynis, die auf jüngeren Auslandsreisen nachlässig geworden war und das Wort »Urlaub« verwendet hatte. Es hätte ihm zu denken geben sollen, und nicht nur das.
Während ihm das misstönende Surren der Oral B im Kopf anfangs noch unangenehm gewesen war, hatte Shep irgendwann nach überstandener Mühe Geschmack an der Glattheit seiner Zähne gefunden. Wie bei jedem technologischen Fortschritt fühlte sich die Rückkehr zum alten Hin und Her der Handzahnbürste unnatürlich an. Aber was, wenn Glynis nach Hause kam, ins Badezimmer ging und feststellte, dass sein blau geringelter Aufsatz fehlte, während ihr rot geringelter noch immer neben dem Waschbecken stand? Es wäre besser, er würde nicht ausgerechnet an diesem Abend ihr Misstrauen wecken. Er hätte problemlos den Aufsatz von Zach nehmen können – er hatte den Jungen das Gerät noch nie benutzen hören –, aber dem eigenen Sohn die Zahnbürste zu entwenden brachte Shep nicht über sich. (Natürlich hatte Shep das Ding mit seinem Geld bezahlt, wie fast alles hier. Und doch fühlte sich nichts in diesem Haus an, als gehörte es ihm. Früher hatte ihn das gestört, aber umso leichter fiel es ihm jetzt, die Salatschleuder, den Heimtrainer und die Sofas zurückzulassen.) Schlimmer noch, er und Glynis benutzten dasselbe Aufladegerät. Er wollte sie nicht mit einer Zahnbürste zurücklassen, die fünf oder sechs Tage lief (er wollte sie überhaupt nicht zurücklassen, aber das war wieder eine andere Geschichte) und seiner Frau den langsam verklingenden Soundtrack zu ihrer neuesten Depression lieferte.
Nachdem er also mit wenigen Drehungen angefangen hatte, die Wandhalterung abzuschrauben, schraubte er sie wieder fest. Beschwichtigend schloss er seinen Zahnbürstengriff wieder an das Aufladegerät an und kramte eine manuelle Zahnbürste aus dem Medizinschränkchen. Er würde sich an den technologischen Rückschritt gewöhnen müssen, was bestimmt auf eine gewisse Weise, die er nicht ganz festmachen konnte, gut für die Seele war.
Es war nie seine Absicht gewesen, einfach die Zelte abzubrechen und das Weite zu suchen, sich ohne Vorankündigung oder Erklärung von seiner Familie loszumachen. Das wäre ja grausam, oder: noch grausamer. Er würde sie zumindest nicht ganz vor vollendete Tatsachen stellen, nicht einfach an der Haustür noch einmal winken. Offiziell würde er ihnen die Wahl geben, wofür er, ehrlich gesagt, einiges hingeblättert hatte. Es war möglich, dass er nichts als eine Illusion gekauft hatte, die für ihn persönlich allerdings einen unschätzbaren Wert besaß. Also hatte er nicht nur ein Ticket, sondern gleich drei gebucht. Ohne Rückerstattung. Und selbst wenn er mit seiner Intuition total danebenlag und Glynis überraschend zusagte, würde natürlich Zach noch immer nichts davon halten. Aber der Junge war fünfzehn Jahre alt, und apropos Rückentwicklungen: Ausnahmsweise mal würde ein amerikanischer Teenager machen, was man ihm sagte.
AUS LAUTER ANGST, auf frischer Tat ertappt zu werden, hatte er am Ende zu viel Zeit. Es waren noch ein paar Stunden, bis Glynis nach Hause käme, und der Samsonite-Koffer war voll. Angesichts der Verwirrung über die Stecker und Stromspannungen hatte er noch ein paar manuelle Werkzeuge und ein Schweizer Messer mit eingepackt; von einer Flachrundzange hatte man im üblichen Krisenfall mehr als von einem Blackberry. Nur wenige Hemden, ein paar wollte er zur Auswahl haben. Oder gar kein Hemd? Ein paar Dinge, von denen ein Mann seines Berufsstands wusste, dass sie zwischen zufriedenstellender Unabhängigkeit und der ganz großen Katastrophe entscheiden konnten: Klebeband; diverse Schrauben, Bolzen und Unterlegscheiben; Silikonfett; Dichtungsmittel; Gummibänder (Elastikbänder, wie sein Vater gesagt hätte, aus New Hampshire und von der alten Schule); eine kleine Rolle Draht. Eine Taschenlampe für Stromausfälle und einen Vorrat an Mignonbatterien. Einen Roman, den er sich genauer hätte aussuchen sollen, wenn er schon nur einen mitnahm. Ein Wörterbuch Englisch – Suaheli, Malariatabletten, Insektenschutz. Rezeptpflichtige Cortisonsalbe gegen das hartnäckige Ekzem an seinem Fußgelenk, wobei in der Tube nicht mehr sehr viel drin war.
Um auf Nummer sicher zu gehen, sein Merrill-Lynch-Scheckheft. Er sah sich selbst ungern als berechnenden Charakter, aber es stellte sich jetzt als günstig heraus, dass er dieses Konto immer nur auf seinen Namen geführt hatte. Er konnte – würde – Glynis natürlich anbieten, ihr die Hälfte zu überlassen; sie hatte keine zehn Cents davon selbst verdient, aber sie waren verheiratet, und Gesetz war Gesetz. Er würde sie allerdings warnen, dass sie selbst mit mehreren Hunderttausend Dollar in Westchester nicht weit käme und über kurz oder lang verpflichtet wäre, nicht mehr »ihre Arbeit«, sondern die eines anderen machen zu müssen.
Er stopfte den Samsonite-Koffer mit Zeitungspapier aus, damit das bisschen kläglicher Krimskrams im Gepäckraum der British-Airways-Maschine nicht hin und her klapperte. Dann versteckte er ihn in seinem Kleiderschrank und deckte ihn vorsichtshalber mit einem Bademantel zu. Ein fertig gepackter Koffer auf dem Bett würde Glynis weitaus mehr beunruhigen als eine fehlende Zahnbürste.
Shep machte es sich zur Stärkung mit einem Bourbon im Wohnzimmer bequem. Eigentlich hatte er nicht die Gewohnheit, den Abend mit härteren Sachen einzuläuten als mit einem Bier, Gewohnheiten aber hätten die Dinge an diesem Abend auf unbestimmte Zeit verzögert. Er legte die Füße hoch, ließ den Blick durch das nett, aber billig möblierte Zimmer schweifen und bedauerte es bei keinem einzigen Gegenstand, dass er ihn würde zurücklassen müssen – abgesehen von dem Zimmerspringbrunnen. Über den Abschied von den Dekokissen oder dem gläsernen Wohnzimmertisch war er regelrecht froh. Der Zimmerspringbrunnen hingegen, der auf dem Tisch vor sich hin blubberte, hatte ihn immer mit einem ausgeprägten Mittelschichtsbegehren erfüllt, mit dieser Sehnsucht nach dem, was man ohnehin schon besitzt. Er fragte sich, einfach nur so, ob der Springbrunnen, eingepackt in das Zeitungspapier, das er zwischen seine karge Beute gestopft hatte, in den Samsonite-Koffer passen würde.
Sie nannten ihn immer noch den »Hochzeitsbrunnen«. Das Gerät aus Sterlingsilber hatte vor sechsundzwanzig Jahren bei der bescheidenen Versammlung von Freunden das mittlere Blumengesteck ersetzt und Arbeit, Begabung und, ja, Charakter von Braut und Bräutigam aufs Trefflichste verbunden. Bis heute stellte der Hochzeitsbrunnen das einzige Projekt dar, bei dem er und Glynis fifty-fifty zusammengearbeitet hatten. Shep hatte sich um die technischen Aspekte des Apparats gekümmert. Die Pumpe war gut versteckt hinter einem Bogen Hochglanzmetall, der sich um das Becken wand; da der Mechanismus dauerhaft in Betrieb war, hatte er ihn über die Jahre ein paarmal ersetzen müssen. Weil er sich mit Wasser auskannte, hatte er Glynis hinsichtlich Breite und Tiefe der Abflüsse und der Tropfenfallhöhe von Etage zu Etage fachkundig beraten. Glynis hatte die künstlerische Linie vorgegeben und in ihrem alten Studio in Brooklyn die Einzelteile geschmiedet und gelötet.
Für Sheps Geschmack war der Brunnen nüchtern; für Glynis’ Geschmack war er verschnörkelt; sogar stilistisch verkörperte die Konstruktion also ein Treffen der Denkweisen auf halbem Wege. Und der Brunnen war romantisch. Er war oben zusammengeschweißt, und zwei silberne Rinnen teilten sich und fügten sich wie Schwanenhälse erneut ineinander, der eine stützend, der andere sich öffnend, um sein Wasser in die wartende Schale des Gefährten zu ergießen. Ausgehend von einer schmalen Spitze, zogen sich die beiden Hauptlinien ihrer gemeinsamen Schöpfung schwungvoll in breiteren, immer verspielteren Variationen bis zum Becken hinunter. Dort bildeten beide Zuflüsse einen seichten überdachten See, der im buchstäblichen Sinne ein Sammelbecken darstellte. Handwerklich hatte Glynis auf höchstem Niveau gearbeitet. Egal, wie beschäftigt er gewesen war, Shep hatte ihrer Virtuosität die Ehre erwiesen und regelmäßig Wasser nachgefüllt und auch das Silber geputzt, damit der Gelbstich des Metalls nicht noch deutlicher wurde. Es war jedoch gut möglich, dass sie das Ding ausschalten und irgendwo in die Ecke stellen würde, sobald er weg wäre.
Als Allegorie vertraten die ein gemeinsames Becken füllenden Zuflüsse ein Ideal, an dem sie gescheitert waren. Nichtsdestotrotz nahm der Brunnen erfolgreich die Elemente ihrer jeweiligen Persönlichkeit auf. Glynis arbeitete nicht nur mit Metall (oder hatte es mal getan); sie selbst war aus Metall. Steif, unkooperativ und unflexibel. Hart, das Licht reflektierend und widerscheinend vor Trotz. Ihr Körper war lang, mager und eckig wie der Schmuck und das Besteck, das sie früher geschmiedet hatte – ihr Medium hatte sich Glynis auf der Kunstschule nicht zufällig ausgesucht. Sie identifizierte sich mit dem Material, das sich so erbittert gegen jede Handhabung wehrte, dessen Form gegen Veränderung resistent war und das lediglich auf starke Krafteinwirkung reagierte. Metall war aufmüpfig. Bei Misshandlung fing sich das Licht in den Dellen und Kratzern, als hegte es einen Groll.
Sheps Element, ob er wollte oder nicht, war das Wasser. Anpassungsfähig, leicht zu manipulieren und immer geneigt, den Weg des geringsten Widerstands zu nehmen. Shep schwamm mit dem Strom. Wasser war nachgiebig, fügsam und leicht einzufangen. Stolz war er auf diese Eigenschaften nicht; Biegsamkeit erschien ihm wenig männlich. Andererseits war die vermeintliche Passivität des Wassers ein Trugschluss. Wasser war findig. Wie jeder Hausbesitzer mit einem alternden Dach wusste, war Wasser auch heimtückisch; auf seine eigene Art konnte es sich seinen Weg durch alles hindurchbahnen. Wasser hatte eine ganz eigene, hinterlistige Sturheit, eine verstohlene, sickernde Beharrlichkeit, einen Instinkt dafür, die eine vergessene Naht oder offene Fuge aufzuspüren. Früher oder später findet Wasser immer einen Weg hinein oder – wichtiger noch, in Sheps Fall – hinaus.
Die ersten Zimmerspringbrunnen seiner Kindheit, zusammengeschustert aus ungeeigneten Materialien wie Holz, leckten aufs Schlimmste, und sein sparsamer Vater hatte ihn wegen seiner verschwenderischen »Blubbergeräte« getadelt. Doch Shep wurde erfinderischer und verbaute allerlei Fundstücke: angeschlagene Servierschüsseln, die Gliedmaßen der abgelegten Puppen seiner Schwester. Bis zum heutigen Tag hatte er sein Hobby gepflegt. Als Gegengewicht zur unerbittlichen Funktionalität seines Berufs hatten Zimmerspringbrunnen etwas wunderbar Frivoles.
Diese ausgefallene Freizeitbeschäftigung entstammte bestimmt nicht irgendeiner hochtrabenden Metapher für seinen Charakter, sondern ganz gewöhnlichen Kindheitsassoziationen. Jeden Juli hatten sich die Knackers eine Hütte neben einem rauschenden breiten Fluss in den White Mountains gemietet. Damals genossen Kinder noch das Privileg echter Sommer mit langen Strecken unverplanter Zeit, die sich bis in den diesigen Horizont hineinzogen. Eine Zeit, deren Endlosigkeit zwar eine Lüge, aber immerhin eine betörende Lüge war. Zeit zur Improvisation, Zeit, die man spielen konnte wie ein Saxofon. Also hatte er das Trällern von fließendem Gewässer stets mit Frieden, Gelassenheit und einem trägen Mangel an Druck verknüpft – in dessen Genuss die heutigen Kinder mit ihren Schulferienlagern, Nachhilfestunden, Fechtkursen und organisierten Spielterminen offenbar nicht mehr kamen. Und genau darum ging es ja im Jenseits, erkannte er nicht zum ersten Mal und schenkte sich einen weiteren Fingerbreit Bourbon ein. Er wollte seinen Sommer wiederhaben. Das ganze Jahr über.
KEINE SONNTAGSSCHULKLASSE, KEINE christliche Jugendgruppe hatte bei ihm angeschlagen, aber eine der wirklich charakterbildenden Maßnahmen, die Gabriel Knacker seinem Sohn hatte angedeihen lassen, war die Reise nach Kenia, als Shep sechzehn war. Unter der Ägide eines Austauschprogramms der Presbyterianer hatte der Pastor eine temporäre Stelle als Lehrer in einem kleinen Seminar in Limuru angenommen, eine gute Autostunde von Nairobi entfernt, und die Familie mitgenommen. Zu Gabe Knackers Verzweiflung hatten nicht etwa seine tiefgläubigen Seminarschüler den stärksten Eindruck bei seinem Sohn hinterlassen, sondern der Lebensmittelkauf. Auf dem ersten Proviantierausflug hatten Shep und Beryl ihre Eltern zum örtlichen Markt begleitet, um Papayas, Zwiebeln, Kartoffeln, Maracujas, Bohnen, Zucchini, ein mageres Hühnchen und ein Riesenstück undifferenzierbares Rindfleisch zu kaufen: alles in allem genug Nahrung, um fünf Einkaufsnetze prall zu füllen. Stets die Finanzen im Blick – noch heute musste sich Shep von seinem Vater anhören, er denke immer nur ans Geld –, rechnete Shep im Kopf die Shillinge in Dollar um. Die ganze Fuhre hatte weniger als drei Dollar gekostet. Selbst für die Währungsverhältnisse von 1972 war das, für mehr als einen Wochenvorrat, eine lächerliche Summe.
Shep hatte seine Bestürzung darüber zum Ausdruck gebracht – wie konnten die Händler mit so miserablen Preisen überhaupt Profit machen? Sein Vater hatte betont, dass diese Menschen sehr arm seien; ganze Landstriche des umnachteten Kontinents kämen mit weniger als einem Dollar pro Tag aus. Doch der Pastor räumte ebenfalls ein, dass die afrikanischen Bauern Pennybeträge für ihre Ware verlangen konnten, weil sie ihre Ausgaben ebenfalls in Pennybeträgen rechneten. Der Wert eines Dollars war demnach nichts Feststehendes, sondern relativ. Zu Hause in New Hampshire bekäme man dafür eine Schachtel Büroklammern, auf dem kenianischen Land ein zwar gebrauchtes, aber voll funktionstüchtiges Fahrrad.
»Wieso nehmen wir dann nicht unser Erspartes und ziehen hierher?«, hatte Shep gefragt, während sie ihren Einkauf über den Feldweg der Farm schleppten.
In einem seltenen Moment der Milde hatte Gabe Knacker seinem Sohn auf die Schulter geklopft und den Blick über die in flammende äquatoriale Sonne getauchten üppigen Kaffeefelder schweifen lassen. »Das frage ich mich auch.«
Shep bekam die Frage nicht wieder aus dem Kopf. Wenn man in Ostafrika mit einem Dollar pro Tag zumindest über die Runden käme, wie gut ließe es sich dann erst mit zwanzig Dollar leben?
Schon auf der Highschool hatte Shep mühsam nach Orientierung gesucht. Doch leider war er, genau wie heute sein Sohn Zach, in allen Fächern gut, aber in keinem hervorragend gewesen. In einer Zeit, die der Beherrschung des Abstrakten immer mehr Wert beimaß – bis zur benebelnden Welt der »Informationstechnologie« waren es nur noch zehn Jahre hin –, bevorzugte Shep diejenigen Aufgaben, deren Ergebnisse er sowohl im Kopf als auch mit den Händen nachvollziehen konnte: ein klappriges Geländer austauschen zum Beispiel. Doch sein Vater war ein gebildeter Mann und erwartete etwas anderes von seinem Sohn, als Handwerker zu werden. Mit seinem wässrigen Herzen hatte Shep als Kind nie rebelliert. In Anbetracht seiner Neigung zum Bauen und Reparieren schien ein Ingenieursstudium das Naheliegende zu sein. Wie er seinem Vater seitdem immer wieder versicherte, hatte er wirklich, ehrlich studieren wollen.
Doch inzwischen war aus der in Limuru geborenen Laune ein fester Entschluss geworden. Sparen mochte aus der Mode gekommen sein, aber ein amerikanisches Mittelschichtsgehalt würde es doch gewiss zulassen, dass man ein wenig Geld auf die hohe Kante legte. Mit Betriebsamkeit, Fleiß und Bescheidenheit – die einstigen moralischen Stützpfeiler des Landes – sollte es doch möglich sein, ein finanzielles Pölsterchen zur Größe eines Rettungsrings aufzublasen und irgendwann einfach ins nächste Flugzeug zu steigen. Ausverkauf in der Dritten Welt: zwei Leben zum Preis von einem. Leben A und Leben B. Seit er volljährig war, hatte Shep sich der Verwirklichung von Leben B gewidmet. Er war nicht mehr sicher, ob der Begriff Fleiß noch passte, wenn man dermaßen hart arbeitete, nur um irgendwann nicht mehr arbeiten zu müssen.
Im Hinblick auf sein wahres Ziel – nämlich Geld – hatte es Shep also instinktiv dorthin gezogen, wo Amerika das meiste davon verwahrte: Er bewarb sich am City College of Technology in New York. Eine Zeit lang nannte Gabe Knacker seinen Sohn charakterlos und beschimpfte ihn wegen seiner Anbetung des Mammon als »Philister«, während Shep überzeugt war, dass Geld – das Netzwerk der finanziellen Beziehungen zwischen dem Individuum und der Welt als Ganzem – eben gerade ein Zeichen von Charakter war; dass sich die Ambitionen eines Mannes am besten danach beurteilen ließen, wie er mit seinem Verdienst verfuhr. Insofern rührte er als anständiges, halbwegs begabtes Kind auch nicht das magere Gehalt seines Vaters als Kleinstadtpastor an (ein Schritt, dem sich Beryl nicht anschloss, als sie vier Jahre später ungeniert von ihrem Vater verlangte, ihr ein Filmstudium an der NYU zu finanzieren). Seit er mit neun Jahren seine ersten fünf Dollar fürs Schneeschippen verdient hatte, war Shep immer für sich selbst aufgekommen, sei es für einen Schokoriegel, sei es für seine Ausbildung.
Da er also entschlossen war, zunächst arbeiten zu gehen und sich sein Studium dann selbst zu finanzieren, hatte er seinen Studienbeginn am City Tech in Downtown Brooklyn aufgeschoben und sich in der Nähe von Park Slope eine Einzimmerwohnung gesucht, einer damals – heute schwer vorstellbar – schäbigen Gegend, und unsagbar billig. Der Wohnungsbestand im Bezirk war heruntergekommen und wimmelte von Familien, die kleinere Reparaturarbeiten vornehmen lassen mussten und sich die halsabschneiderischen Stundenlöhne der gewerkschaftlich organisierten Handwerker nicht leisten konnten. Da er sich im Zuge seiner Mithilfe beim Erhalt des ewig bröckelnden spätviktorianischen Elternhauses in New Hampshire allerhand rudimentäre Elektriker- und Tischlerfähigkeiten angeeignet hatte, hängte Shep in den Lebensmittelläden Flugblätter auf und bot seine Dienste als Handwerker von der alten Schule an. Über Mundpropaganda wurde schnell bekannt, dass da ein junger Weißer war, der zu bescheidenen Preisen Dichtungsringe austauschen und morsche Dielen ersetzen konnte, und schon bald wuchs ihm die Arbeit über den Kopf. Als er den Studienbeginn an der City Tech um ein zweites Jahr verschob, hatte er eine Firma gegründet und beschäftigte als »Der Allrounder« bereits die ersten Teilzeitkräfte. Zwei Jahre später stellte Shep seinen ersten Vollzeitmitarbeiter ein. Als gestresster Unternehmer genoss Shep wenig Freizeit, und außerdem hatte er gerade geheiratet. Aus reinen Effizienzgründen fungierte Jackson Burdina deshalb nicht nur als Arbeitskollege, sondern, damals wie heute, zudem als sein bester Freund.
Dass Shep nie studiert hatte, war seinem Vater noch immer ein Dorn im Auge, wenn auch unsinnigerweise; der Allrounder hatte expandiert und gedieh auch ohne akademischen Segen. Das eigentliche Problem war, dass Gabriel Knacker von körperlicher Arbeit nichts hielt – es sei denn, es ging darum, mit dem Friedenskorps für verarmte Dorfbewohner in Mali einen Brunnen auszuheben oder aus reiner Nächstenliebe einem Renter das Dach auszubessern. Für Geldangelegenheiten hatte er keinen Sinn. Er verurteilte jede Tätigkeit, die nicht in direktem Sinne tugendhaft war. Dass eine Welt, in der sich jeder nur dem Guten als Selbstzweck verschrieb, vermutlich rasant zum Stillstand käme, kümmerte den Mann nicht im Geringsten.
Bis vor etwas mehr als acht Jahren hatte Leben A durchaus seine Vorzüge gehabt. Shep hatte nicht das Gefühl, dass er die beste Zeit seines Lebens einem Luftschloss opferte. Körperliche Arbeit hatte ihm immer zugesagt, schon immer hatte er eine gewisse Form von Erschöpfung zu schätzen gewusst, die sich nicht etwa im Fitnessstudio, sondern eher beim Bau von Bücherregalen einstellte. Es gefiel ihm, sein eigener Chef zu sein und niemandem Rechenschaft ablegen zu müssen. Auch wenn sich Glynis als ein anstrengender Charakter entpuppte und sich selbst niemals als glücklich bezeichnet hätte, ließ sich wahrscheinlich behaupten, dass sie mit ihm glücklich war – zumindest so weit, wie sie es eben sein konnte mit einem anderen Menschen. Er war froh, als sie sofort mit Amelia schwanger wurde. Er hatte es eilig, wollte unbedingt in der Hälfte der üblichen Zeit durch sein Leben rasen; es wäre ihm weitaus lieber gewesen, wenn Zach gleich im Anschluss geboren worden wäre und nicht erst zehn Jahre später.
Was das Jenseits betraf, hatte Glynis in der Anfangszeit den Eindruck gemacht, dass sie mit von der Partie sei. Sein Status als Mann mit Mission hatte ihn in ihren Augen wohl überhaupt erst attraktiv gemacht. Ohne seine Vision, ohne das immer konkretere Leben-B-Konstrukt, das in seinem Kopf Gestalt annahm, war Shep Knacker nur einer von vielen Kleinunternehmern, die eine Marktnische entdeckt hatten: also nichts Besonderes. So aber war die Suche nach einem Zielland in Form der allsommerlichen Recherchereisen ein belebendes Ritual ihrer Ehe geworden. Sie waren ein Team, oder zumindest hatte er das geglaubt, bis ihm im letzten Jahr allmählich zu dämmern begann, dass das Gegenteil der Fall war.
Als ihm also im November 1996 ein Kaufangebot gemacht wurde, konnte er nicht widerstehen. Eine Million Dollar. Nüchtern betrachtet erkannte er, dass eine Million nicht mehr das war, was es einmal gewesen wäre, und dass er Kapitalgewinnsteuer würde zahlen müssen. Dennoch war die Summe noch immer eine ehrfurchtgebietend runde Nummer; ganz gleich, wer alles »Millionär« wurde, das Wort hatte nichts von seinem Zauber verloren. Zusammen mit den Früchten seines lebenslangen Knauserns würde der Erlös aus dem Verkauf von Allrounder genügend Kapital einbringen, um nie wieder zurückblicken zu müssen. Also spielte es keine Rolle, dass der Käufer – ein Angestellter so faul und schlampig, dass sie den Kerl fast entlassen hätten, bis er zu aller Überraschung an seinen Treuhandfonds kam – ein unerfahrener Großkotz und Schwätzer war.
Und dieser Mensch, Randy Pogatchnik, war jetzt Sheps Chef. Nun ja, anfangs erschien es schon sinnvoll, in seiner ehemals eigenen Firma als Angestellter weiterzuarbeiten – die über Nacht »Handy Randy« getauft worden war, ein Name, der wohl kaum ein professionelles Firmenimage vermittelte, da »randy« in den Ohren nicht weniger Amerikaner etwas anzüglich klang: rallig. Die ursprüngliche Idee war gewesen, ein bis zwei Monate dabeizubleiben, um in Ruhe zu packen, diverses Hab und Gut zu verkaufen und zumindest fürs Erste ein Haus in Goa zu finden. Unterdessen hatte Shep das Kapital in bombensicheren Investmentfonds geparkt, um es vor der Schlachtung noch ein wenig zu mästen; der Dow Jones war im Höhenflug.
»Ein bis zwei Monate« hatten sich ausgedehnt auf über acht Jahre unter den sadistischen Launen eines übergewichtigen, mit Sommersprossen übersäten Bengels, der von seiner Beinahe-Entlassung Wind bekommen haben musste und den Laden nur gekauft hatte – so viel musste man dem Kerl lassen –, um teuflisch effektiv Rache zu nehmen. Nach dem Verkauf war das Qualitätsniveau so in den Keller gesunken, dass sich Sheps Stelle in der »Kundenbetreuung« zur Entgegennahme von Beschwerden – eine Position, die zu seiner Zeit als Geschäftsführer nicht mal existierte –, zu einem anspruchsvollen und ausgesprochen unangenehmen Vollzeitjob entwickelt hatte.
Rückblickend war es natürlich völlig idiotisch, einige Jahre zuvor das Haus in Carroll Gardens abgestoßen zu haben – kurz nach einer Rezession und kurz vor einem Immobiliencrash –, um nach Westchester zu ziehen und dort zur Miete zu wohnen. Shep wäre liebend gern in Brooklyn geblieben, aber Glynis hatte beschlossen, dass sie sich nur dann endlich auf »ihre Arbeit« konzentrieren könne, wenn sie den »Ablenkungen« der Stadt den Rücken kehrte. (Wohl wissend um seine Schwäche, hatte sie zudem ein listiges finanzielles Argument ins Spiel gebracht: Das hohe Niveau der öffentlichen Schulen in Westchester werde ihnen das kostspielige Schulgeld der New Yorker Privatschulen ersparen. Und das war auch so gewesen, zumindest in Amelias Fall. Aber später, als Glynis der Meinung war, dass Zach Hilfe brauchte – womit sie recht hatte –, schien es nötig, eine »bessere Schule« zu finden, um das Gefühl zu haben, dass man überhaupt irgendetwas unternahm, und inzwischen mussten sie auch so ihre 26 000 Dollar pro Jahr an eine Privatschule abdrücken.) Jackson und Carol waren in Windsor Terrace geblieben, und sogar deren heruntergekommene Bude war inzwischen im Wert auf 550 000 Dollar gestiegen.
Da er selbst vom Immobilienboom profitiert hatte, war Jackson hinsichtlich der selbstgefälligen Eigenheimbesitzer nachsichtiger als Shep; als Handwerker war man heutzutage keine fünf Sekunden durch die Tür, da krähte schon die Ehefrau, wie viel der Schuppen jetzt wert sei, also pass auf mit der Werkzeugkiste, die schöne Vertäfelung! Wahrscheinlich war Shep nur neidisch. Als Sohn eines Predigers sah er einfach nicht ein, was man von einem Jackpot haben sollte, der nicht auch darauf verwies, dass man etwas Gutes oder Schwieriges geleistet hatte.
Auch in Westchester waren die Immobilien über die letzten zehn Jahre auf den dreifachen Wert gestiegen, also klar, rückblickend hätten sie kaufen sollen – und er hätte im Laufe der Zeit in etwa so viel Profit gemacht wie durch den Verkauf seiner ganzen Firma, den Früchten von zweiundzwanzig Jahren schweißtreibender Arbeit.
Für das Wohnen zur Miete hatte sich Shep aus demselben Grund entschieden, der alle großen Entschlüsse in seinem Leben motiviert hatte. Er wollte die Zelte abbrechen können – einfach, schnell, sauber und ohne darauf warten zu müssen, dass sein Haus einen Käufer fand auf einem Markt, dessen Klima er nicht vorhersehen konnte. Das war es ja auch, was ihn an den Eigenheimbesitzern so ärgerte: All diese Leute mit ihren eigenen vier Wänden taten immer so, als hätten sie den Boom kommen sehen, als wären sie Finanzgenies und nicht nur die Nutznießer eines Zufalls; schon möglich, dass er es bereute, das Immobilienglück an sich vorbeigezogen haben zu lassen. Aber den Grund dafür bereute er nicht. Er war stolz auf den Grund, stolz darauf, dass er die Absicht hatte zu gehen. Er schämte sich allenfalls, geblieben zu sein.
Shep gab sich alle Mühe, Glynis nicht dafür verantwortlich zu machen. Wenn er sich stattdessen selbst dafür verantwortlich erklärte, schien ihm das nur gerecht. Das Jenseits war seine Eingebung – dieses Wort zog er dem Begriff Phantasie vor –, und verwässert und abgenutzt war doch jeder Traum. Er gab sich wegen vieler Dinge Mühe, nicht auf sie wütend zu sein, und zum großen Teil gelang ihm das auch.
Bei ihrer ersten Begegnung hatte Glynis ihr eigenes kleines Unternehmen gehabt. Sie stellte von zu Hause aus Schmuck von auffallend klarer und stromlinienförmiger Gestalt her, und das in einer Zeit, in der Klobigkeit, Schlamperei und Federn vorherrschten. Sie hatte sich mit Allrounder in Verbindung gesetzt, um sich eine festschraubbare Werkbank bauen zu lassen und später, aus Sympathie für den Chef – seine breiten, geäderten Unterarme, sein Gesicht, offen wie ein Weizenfeld –, noch einen Satz Regale für Hammer, Zangen und Feilen. Shep wusste ihre minutiösen Angaben zu schätzen und sie ihrerseits seine minutiösen Ausführungen. Als er zum zweiten Mal auftauchte, um bei dem Tisch letzte Hand anzulegen, hatte sie zahlreiche Arbeitsproben hier und da im Studio herumliegen lassen (absichtlich, wie sie lachend zugab, als sie anfingen, sich zu verabreden; sie hatte ihrem hübschen Handwerker den glitzernden Tand vor die Nase gehalten »wie Angelköder«). Obwohl er seiner Meinung nach keine künstlerische Ader hatte, war Shep von ihnen in Bann geschlagen. Verschiedene längliche Broschen, zart und morbide, sahen aus wie aus Vogelknochen; die Armbänder, die sie ihm vorführte, wanden sich bis zum Ellenbogen hinauf wie Schlangen. Glynis’ Schöpfungen, sehnig, geheimnisvoll und streng, waren eine unheimliche Manifestation der Frau, die sie geschaffen hatte. Ob er sich zuerst in Glynis verliebte oder in ihre Schmiedekunst, war schwer zu sagen, denn für Shep war beides ein und dasselbe.
Zu der Zeit, als sie sich verliebten, unterrichtete Glynis in Ferienlagern und fertigte im Jewellry District Auftragsarbeiten an, um ihre Miete zahlen zu können. Nebenbei stellte sie in zweitrangigen Galerien einzelne Halsketten aus, sodass sich ihre Silberschmiedearbeiten gerade eben gegenfinanzierten. Und dann legte sie noch lange und fieberhafte Arbeitsstunden ein, um ihre Telefonrechnung ausgleichen zu können. Gewiss hätte jeder Mann angenommen, dass es für einen Menschen mit so viel Eigenantrieb – diszipliniert, asketisch und feurig, wie Glynis war – Ehrensache sein würde, in einer Ehe ihr Scherflein beizutragen. (Wenn man’s bedachte, war das wahrscheinlich auch der Fall gewesen.) Insofern hatte er nie damit gerechnet, ganz allein für das Jenseits sparen zu müssen.
Weniger mitfühlende Männer hätten vielleicht das Gefühl gehabt, einem Etikettenschwindel erlegen zu sein. Die Schwangerschaft war ein einleuchtender Vorwand gewesen, das Schmiedewerkzeug zu vernachlässigen, aber innerhalb der letzten sechsundzwanzig Jahre waren das gerade mal achtzehn Monate gewesen. Mutterschaft war nicht das eigentliche Problem, wobei es lange dauerte, bis er dahinterkam, was das eigentliche Problem war. Sie brauchte Widerstand, genau jene Eigenschaft, die das Metall am nachweislichsten bot. Auf einmal hatte Glynis kein Hindernis mehr zu überwinden, kein schweres Kunsthandwerkerleben zu führen und sich mit Galerien herumzuschlagen, die die Hälfte eines ohnehin viel zu niedrigen Preises für eine Mokumebrosche kassierten, in der drei Wochen Arbeit steckten. Nein, ihr Mann verdiente gutes Geld, und auch wenn sie lange schlief und den Nachmittag mit der Lektüre diverser Kunstmagazine vertrödelte, würde die Telefonrechnung bezahlt werden. Was sie brauchte, war schlicht die Notwendigkeit zur Arbeit. Nur wenn sie keine Wahl hatte, konnte sie ihre Ängste überwinden und einen Gegenstand in Angriff nehmen, der bei der Fertigstellung vielleicht nicht ganz ihren hohen Erwartungen entsprechen würde. In dieser Hinsicht hatte ihr Sheps Hilfe eher geschadet als genützt. Indem er ihr ein finanzielles Polster bot, mit dem sie sich eigentlich hätte ganz ihrer Kunst widmen können, hatte er ihr das Leben ruiniert.
Es war ja nicht so, dass sie faul gewesen wäre. Da Glynis die Fiktion aufrechterhielt, beruflich als Kunstschmiedin zu arbeiten, galten alle anderen häuslichen Aktivitäten als Verzögerungstaktik und wurden daher energisch und eilig in Angriff genommen. Es war auch nicht so, dass sie gar nichts machte – das heißt, aus Metall. Nachdem sie Schmuck als nutzlosen Firlefanz abgetan hatte, verlegte sie sich ganz auf Besteck und schuf über die Jahre eine Handvoll bezaubernder Essgeräte; erinnerungswürdig waren der Fischheber mit einer Einlegearbeit aus Bakelit sowie ein Paar wunderbar ergonomischer silberner Essstäbchen, deren dickere Enden ein klein wenig, fast schmerzlich gekrümmt waren, als würden sie schmelzen. Allerdings entpuppte sich jedes beendete Projekt als so mühsam und zeitraubend, dass sie sich am Ende zum Verkauf der Gegenstände nicht durchringen konnte.
Geld hatte sie also keines verdient. Hätte er jemals laut ausgesprochen, dass Glynis nie auch nur zehn Cent mit zum Haushalt beitrug, selbst nachdem Zach und Amelia in die Schule gekommen waren, wäre sie in eiskalter Wut erstarrt (also hatte er’s gelassen). Ihr Einkommen von null Dollar war eine unveränderbare Tatsache. Dass sich Shep bei seiner Heirat nicht vorgestellt hatte, bis in alle Ewigkeit allein den gesamten Haushalt zu tragen, war zwar ebenfalls eine Tatsache. Aber er konnte den Haushalt tragen, und so trug er den Haushalt eben auch.
Außerdem konnte er sie ja verstehen. Oder er konnte verstehen, wie viel er nicht verstehen konnte, und das war ja auch schon mal was. Glynis hatte zwar den Motor, aber der Anlasser war defekt. Sie konnte beschließen, etwas zu tun, aber dann passierte nichts. Es war bei ihr etwas Inwendiges, ein Designfehler, und wahrscheinlich kein behebbarer.
Nachdem er jahrzehntelang den Mund gehalten hatte, hätte er (während einer besonders aufreibenden Woche bei Handy Randy) vor einigen Jahren nicht andeuten dürfen, wie sehr es doch zu bedauern sei, dass sie nicht die ganzen Jahre über den Rest zweier Gehälter auf die hohe Kante gelegt hatten, womit sie längst im Jenseits hätten sein können … noch bevor er den Satz beendet hatte, war sie wortlos vom Tisch aufgestanden und aus der Tür marschiert. Als er am selben Abend nach Hause kam, hatte sie einen Job. Offenbar hätte er ihr über die ganzen Jahre nur etwas Feuer unterm Hintern zu machen brauchen, anstatt sie mit Samthandschuhen anzufassen. Seitdem hatte sie Modelle für die Firma Living in Sin hergestellt, einem besseren Chocolatier mit Fabrik im nahe gelegenen Mount Kisco. Diesen Monat rüstete sich die Firma bereits für das Ostergeschäft. Statt also Avantgardebesteck fürs Museum zu polieren, schnitzte seine Frau kleine Wachshäschen, die – passenderweise – mit Bitterschokolade ausgegossen wurden. Es war ein Teilzeitjob ohne Leistungen. Ihr Gehalt trug lächerlich wenig zur Haushaltskasse bei. Aus Gehässigkeit behielt sie den Job.
Und er gestattete ihr aus Gehässigkeit, den Job zu behalten.
Es war nicht schön, systematisch für etwas bestraft zu werden, was ihm doch eigentlich ein Minimum an Dankbarkeit hätte bescheren müssen. Glynis beklagte ihre Abhängigkeit; sie empfand sie als entwürdigend. Sie beklagte, dass sie keine gefeierte Kunstschmiedin war, und sie beklagte, dass ihr Status als berufliche Null offenbar für alle, einschließlich sie selbst, als selbst verschuldet zu erkennen war. Sie beklagte, dass ihre beiden kleinen Kinder ihre ganze Energie absorbiert hatten; und als die Kinder dann nicht mehr klein waren, beklagte sie, dass sie ihre Energie nicht mehr genug absorbierten. Sie beklagte, von ihrem Mann und den mittlerweile gnadenlos anspruchslosen Kindern dessen beraubt worden zu sein, was sie am meisten geschätzt hatte – ihrer Ausflüchte. Da der Unmut eine Art seelisches Sodbrennen darstellte, beklagte sie das Beklagen selbst. Der Umstand, dass sie nie genug Grund zum Klagen gehabt hatte, bildete einen weiteren Anlass zur Verdrossenheit.
Vom Temperament her neigte Shep dazu, sich glücklich zu schätzen, obwohl er selbst Grund genug zur Klage gehabt hätte. Er sorgte für den Lebensunterhalt seiner Frau und seines Sohnes. Er unterstützte seine Tochter Amelia, obwohl ihr Collegeabschluss schon drei Jahre zurücklag. Er unterstützte seinen alten Vater, ohne dass der stolze Pastor im Ruhestand davon etwas mitbekam. Er hatte seiner Schwester Beryl mehrere Darlehen eingeräumt, die sie nie zurückzahlen würde, und es würden nicht die letzten sein; aber weil es offiziell Darlehen und keine Geschenke waren, würde Beryl ihm niemals danken. Er hatte die gesamten Kosten für die Beerdigung seiner Mutter übernommen, und da es sonst niemandem auffiel, fiel es auch Shep nicht auf. Jedes Familienmitglied hatte eine Rolle zu spielen, und Shep war eben derjenige, der zahlte.
Er kaufte sich selten etwas, aber er wollte ja auch nichts. Beziehungsweise nur eine Sache. Aber warum gerade jetzt? Wenn der Verkauf von Allrounder schon acht Jahre zurücklag, warum sollten nicht auch neun daraus werden? Wenn heute Abend der richtige Moment war, warum dann nicht auch morgen Abend?
Weil es Anfang Januar war im Bundesstaat New York und kalt. Weil er schon achtundvierzig Jahre alt war, und je näher die fünfzig heranrückte, desto mehr sah das Jenseits, falls es überhaupt noch dazu kommen sollte, wie die gewöhnliche Frührente aus. Weil seine »bombensicheren« Investmentfonds erst im vorigen Monat den ursprünglichen Investitionswert wieder erreicht hatten. Weil er in seiner idiotischen Unschuld schon seit Jahrzehnten überall seine Absicht kundtat, die Welt von Steuerplanung, Autoinspektion, Verkehrsstau und Telemarketing zu verlassen. (Während sein Publikum gealtert war, hatte sich deren jugendliche Bewunderung hinter seinem Rücken längst in Häme verwandelt. Oder auch nicht hinter seinem Rücken, denn bei Handy Randy genoss Sheps »Fluchtphantasie«, wie Randy Pogatchnik flapsig dazu sagte, beschämenderweise Unterhaltungswert.) Weil er selbst inzwischen die Realität des Jenseits bedenklich in Zweifel zog und weil er ohne Begnadigungsversprechen nicht weitermachen konnte – nein, es ging einfach nicht. Weil er sich selbst wie einem verfluchten Esel eine Möhre vor die Nase gehängt und sich mit der verführerischen Vorstellung endlosen Aufschubs in Sicherheit gewiegt hatte, ohne darauf zu kommen, dass er, wenn er immer morgen fahren könnte, auch heute schon fahren konnte. Es war die reine Willkür dieses Freitagabends, die die Sache so vollkommen machte.
ALS GLYNIS DIE Haustür aufschloss, schrak Shep schuldbewusst zusammen. Er hatte seinen Eröffnungstext so lange geprobt, und jetzt fehlten ihm die Worte.
»Bourbon«, sagte sie. »Gibt’s einen besonderen Anlass?«
Er wollte erklären, dass es eben keinen Anlass gebe, genau das sei ja das Besondere. »Gewohnheiten sind dazu da, um abgelegt zu werden.«
»Manche«, sagte sie vorwurfsvoll und zog ihre Jacke aus.
»Möchtest du auch einen?«
Überraschenderweise sagte sie Ja.
Glynis war noch immer schlank, und niemand schätzte sie auf fünfzig, wobei sie heute so erschöpft wirkte, dass man sie sich auf einmal mit fünfundsiebzig vorstellen konnte. Mindestens seit September schon war sie stets müde gewesen und hatte ständig über leichtes Fieber geklagt, das Shep allerdings nicht bei ihr hatte ausmachen können. Obwohl sie in letzter Zeit ein kleines Bäuchlein entwickelte, war der Rest ihres Körpers, wenn er sich überhaupt verändert hatte, dünner geworden; eine solche Gewichtsverteilung war in den mittleren Jahren normal, und er war zu sehr Gentleman, um eine Bemerkung darüber fallenzulassen.
Dass sie beide kurz nach neunzehn Uhr schon harte Spirituosen zu sich nahmen, erzeugte ein warmes Gefühl der Eintracht, das er nur ungern untergraben wollte. Doch sein harmloses »Wo warst du denn?« hatte etwas von einer Anklage.
Ausweichende Antworten waren bei ihr normal, aber dass sie überhaupt nicht reagierte, kam selten vor. Er ließ es dabei bewenden.
In ihrem üblichen Sessel sitzend drückte sie schützend ihren Highball an sich, zog die Knie hoch und schob die Fersen unter. Sie wirkte eigentlich immer verschlossen, in gewissem Sinne zusammengeballt, aber heute war das ganz besonders der Fall. Vielleicht erahnte sie seine Absicht, nach so langem Vorlauf. Als Shep in seine Innentasche griff und wortlos drei e-Tickets auf den Glastisch neben den Hochzeitsbrunnen legte, zog sie die Augenbrauen hoch. »Jetzt bin ich aber gespannt.«
Glynis war eine elegante Frau, und sie interessierte ihn – in der Art, wie schlichtere Gemüter gern von verkorksten Menschen gefesselt sind. Er hielt inne und überlegte, ob es im Jenseits ohne Glynis, ob nun als Partner oder als Gegner, nicht sehr einsam werden würde.
»Drei Tickets nach Pemba«, sagte er. »Ich, du und Zach.«
»Schon wieder eine ›Recherchereise‹? Hättest du dir das nicht vor den Weihnachtsferien einfallen lassen können? Zach hat doch schon wieder Schule.«
Obwohl sie den Begriff sonst nie in Anführungszeichen gesetzt hatte, gemahnte der leicht verbitterte Unterton, mit dem sie das Wort »Recherchereise« aussprach, an Pogatchniks hämisches »Fluchtphantasie«. Er bemerkte, wie schnell sie einen Grund zur Hand hatte, um seinen Vorschlag als unmöglich einzuschätzen, wie hastig sie sogar den vermeintlichen Kurztrip abtat. Bei seiner Arbeit setzte Shep seine Intelligenz ein, um Probleme zu lösen; Glynis dagegen setzte ihre Intelligenz ein, um Probleme zu erfinden, sich Steine in den Weg zu legen. Dieses exzentrische Verhalten hätte ihm ja nichts ausgemacht, wenn ihr Weg nicht auch sein Weg gewesen wäre.
»Die Tickets sind nur für die Hinreise.«
Sobald der Groschen fiel, hatte er gedacht, sobald sie die wahre Natur des Fehdehandschuhs erkannte, den er da auf den Wohnzimmertisch geworfen hatte, würde sich ihr Gesicht verfinstern, andächtig werden oder in Vorbereitung auf den Kampf in Misstrauen erstarren. Stattdessen wirkte sie leicht belustigt. Häme war er von Randy gewohnt (»Na klar ziehst du nach Afrika, schon in wenigen Tagen, du und Meryl Streep«), und auch wenn er sich dafür hasste, spielte er gelegentlich sogar mit. Doch es ging ihm an die Nieren, dass er nun von Glynis den gleichen mitleidigen Zynismus zu spüren bekam. Er wusste ja, dass sie keine Lust mehr aufs Jenseits hatte, aber dass ihre Einstellung so negativ geworden war, hätte er nicht gedacht.
»Verschwendung«, sagte sie ruhig. »Das sieht dir nicht ähnlich.«
Sie vermutete ganz richtig, dass die Hinreise allein mehr gekostet hatte als eine Hin- und Rückreise. »Es soll eine Geste sein«, sagte er. »Es geht hier nicht um Geld.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass du irgendetwas tust, wobei es nicht um Geld geht. Dein ganzes Leben, Shepherd«, erklärte sie, »dreht sich doch nur um Geld.«
»Aber nicht um Geld als Selbstzweck. So geldgierig war ich nie, das weißt du – ich habe nie einfach nur reich sein wollen. Ich will mir auch was dafür kaufen können.«
»Früher habe ich dir das abgenommen«, sagte sie traurig. »Jetzt frage ich mich, ob du irgendeine Ahnung davon hast, was du dir eigentlich kaufen willst. Du weißt doch nicht mal, aus was du raus willst, geschweige denn, was du anfangen willst.«
»Oh doch«, konterte er. »Ich will mich freikaufen. Tut mir leid, wenn ich schon wieder genauso rede wie Jackson, aber irgendwie hat er recht. Ich bin ein Leibeigener. Wir leben hier nicht in einem freien Land, nicht mal ansatzweise. Wer seine Freiheit will, muss sie sich kaufen.«
»Aber Freiheit ist doch auch nichts anderes als Geld, oder? Freiheit hat nichts zu bedeuten, solange man nicht weiß, wofür man sein Geld ausgeben will.« Der Einwand klang hohl, ja gelangweilt.
»Wir haben doch darüber geredet, wofür ich sie ausgeben will.«
»Ja«, sagte sie erschöpft. »Ohne Ende.«
Er steckte die Beleidigung weg. »Zum Weggehen gehört auch, genau diese Dinge herauszufinden.«
Shep wäre kein Gespräch eingefallen, das seine Frau mehr gefesselt hätte als dieses, und doch hätte er schwören können, dass sie mit den Gedanken woanders war.
»Gnu«, sagte er beschwörend; der Kosename ging auf ihre allererste Keniareise zurück, wo sie großartige Gnu-Imitationen hingelegt hatte, indem sie die Hände über dem Kopf zu Hörnern geformt und ihr langes Gesicht zu einem flehenden, traurig-dümmlichen Ausdruck verzog. Es war ein mädchenhafter, betörender Spaß gewesen. Damals nannte er sie ständig Gnu, und in letzter Zeit – nun, in letzter Zeit, wie er erschrocken feststellte, hatte er sie gar nichts mehr genannt. »Das hier sind echte Tickets. Für ein echtes Flugzeug, das in einer Woche startet. Ich möchte, dass du mitkommst. Ich möchte, dass Zach mitkommt, und wenn wir als Familie fliegen, schleife ich ihn notfalls an den Haaren über den Flugsteig. Ich werde jedenfalls fliegen, ob du mitkommst oder nicht.«
Verdammt, seine Erklärung schien sie ja außerordentlich zu amüsieren. »Also ein Ultimatum?« Sie nahm den letzten Schluck Bourbon, als wollte sie ein Lachen ersticken.
»Eine Aufforderung«, gab er zurück.
»In einer Woche willst du in ein Flugzeug steigen und auf eine Insel fliegen, auf der du noch nie gewesen bist, um da den Rest deines Lebens zu verbringen. Und wozu waren dann die ganzen ›Recherchereisen‹ gut?«
Da sie das Wort du anstelle von wir verwendete, schien ihre Antwort schon jetzt festzustehen, und auf das bange Gefühl ums Herz war er nicht vorbereitet gewesen. Obwohl er versucht hatte, realistisch mit sich zu sein, hatte er offenbar die Hoffnung genährt, dass sie und Zach doch mit nach Pemba kommen würden. Aber die Diskussion war noch jung, und er hielt die Hoffnung aufrecht, dass es ihm – zum ersten Mal in der Geschichte des Universums – gelingen würde, ihre Meinung zu ändern.
»Ich habe mich für Pemba entschieden, eben weil wir da noch nie waren. Du kannst dir also nicht schon gleich eine Milliarde Gründe ausgedacht haben, warum wieder eine Option vom Tisch ist.«
Als sie darauf nichts erwiderte, fiel ihm etwas von dem ein, was er nachmittags auf dem Henry Hudson Parkway hinter seinem Lenkrad geübt hatte. »Goa hatte grünes Licht, bis du diesen Artikel über die britische Auswanderin gelesen hast, die von einem Bekannten vor Ort in ihrem eigenen Haus ermordet wurde, und plötzlich war es da zu gefährlich. Ein einziger Mord. Als würden sich die Leute in New York nicht gegenseitig umbringen. Bulgarien wäre ein Schnäppchen gewesen bei unserem ersten Besuch, und es lag sogar im westlichen Teil der Welt, wenn auch knapp, mit Breitband und Post und sauberem Wasser. Aber das Essen war dir zu fade. Das Essen. Als hätten wir nicht ein bisschen Knoblauch und Rosmarin auftreiben können. Inzwischen sind die Immobilienpreise derart explodiert, dass es zu spät ist. Auch Eritrea hatte zuerst deine Phantasie angeregt: stolzes neues Land, warmherzige Menschen, Espresso an jeder Ecke, Wahnsinns-Fünfzigerjahre-Architektur. Dein Glück, dass die Regierung gerade den Bach runtergegangen ist. Marokko hat dir richtig gut gefallen, weißt du noch? Zimt und Terrakotta; weder das Essen noch die Landschaft waren fade. Es wirkte so vielversprechend, dass ich bereit war, länger zu bleiben, obwohl meine Mutter ihren Schlaganfall hatte; wir sind einen halben Tag zu spät zurückgekommen, und ich konnte mich nicht mehr von ihr verabschieden.«
»Das hast du ja wiedergutgemacht.« Ja ja, die Kosten für die Beerdigung. Wenn Shep die familiären Ansprüche auf seine Finanzen schon nicht selbst beklagte, wollte wenigstens Glynis diese Aufgabe übernehmen.
»Aber nach dem elften September«, fuhr er unerbittlich fort, »waren auf einmal alle muslimischen Länder – inklusive der Türkei zu meiner Enttäuschung – ersatzlos gestrichen. Als das Finanzsystem in Argentinien kollabierte, hätten wir die Gelegenheit gehabt. Davor hätten wir während der Finanzkrise in Südostasien mehr oder minder alles kaufen können. Aber inzwischen haben sich all diese Währungen wieder erholt, und dreißig bis vierzig Jahre würden wir mit unseren Reserven in keinem dieser Länder auskommen. Auf Kuba konntest du ohne Haarshampoo und Klopapier nicht leben. Kroatiens Einwanderungsbestimmungen waren dir zu kompliziert. Die Slums in Kenia waren dir zu deprimierend; in Südafrika hattest du Schuldgefühle, weil du Weiße bist. Laos, Portugal, Tonga und Bhutan – ich kann mich nicht mal mehr erinnern, was an den Ländern verkehrt war« – und er fügte verbittert hinzu –, »aber du bestimmt schon.«
Glynis verströmte eine aggressive Milde und wirkte belustigt. »Aber Frankreich hast du ja verworfen«, flötete sie.
»Das stimmt. Die Steuern hätten uns den Rest gegeben.«
»Immer dieses Geld, Shepherd«, sagte sie tadelnd.
Auf einmal ging ihm auf, dass genau die Leute, die immer taten, als wäre das Thema Geld unter ihrer Würde – Künstlertypen wie seine Schwester oder sein alttestamentarischer Vater –, nie nennenswert viel verdienten. Glynis wusste ganz genau, dass sich das Jenseits finanziell rechnen musste, sonst wäre es einfach nur ein langer, ruinöser Urlaub.
»Du hast uns hinten und vorne ausgebremst«, fuhr er fort. »Nicht nur ist kein Ziel gut genug, sondern es ist nie die richtige Zeit. Wir müssen warten, bis Amelia aus der Schule ist. Wir müssen warten, bis Amelia fertig studiert hat. Wir müssen warten, bis Zach die Grundschule hinter sich hat. Die Mittelschule. Jetzt ist es die Highschool. Wir müssen warten, bis sich unsere Investitionen von der Dotcom-Blase erholen, und dann vom elften September. Also, es ist jetzt so weit.«
Shep war es nicht gewohnt, so viel zu reden, und er kam sich idiotisch vor. Vielleicht war er genauso süchtig nach Widerstand wie Glynis, das heißt: süchtig nach ihrem Widerstand. »Du hältst mich für egoistisch. Vielleicht bin ich das wirklich. Es geht aber nicht um Geld, es geht um« – beschämt hielt er inne – »um meine Seele. Du wirst jetzt sagen, und du hast es auch schon gesagt, dass es nicht so sein wird, wie ich erwarte. Das akzeptiere ich. Ich mache mir keine Illusionen, dass ich den ganzen Tag am Strand liegen werde. Ich weiß, die Sonne wird langweilig, und es gibt Fliegen. Aber trotzdem, so viel kann ich dir sagen: Ich habe vor, acht Stunden Schlaf zu bekommen. Hört sich lächerlich an, ist es aber nicht. Ich schlafe nun mal wahnsinnig gern, Glynis, und« – jetzt bloß keine zugeschnürte Kehle, bevor es raus war – »besonders gern schlafe ich mit dir. Aber wenn ich auf einer Dinnerparty in Westchester erzähle, dass ich acht Stunden Schlaf brauche? Da lachen die Leute. Für die Pendler hier in der Gegend ist das eine so absurde Ambition, dass sie bloß Heiterkeit auslöst. Also ist es mir egal, was ich sonst noch so in Pemba machen werde oder dass es ständig Stromausfälle gibt. Wenn ich jetzt wieder einen Rückzieher mache, wüsste ich tief in meinem Herzen, dass die Sache gegessen ist. Und ohne ein gelobtes Land, auf das ich mich freuen kann, kann ich nicht weitermachen, Gnu. Ich kann nicht weitermachen und Randys ungelernten Trotteln hinterherräumen. Ich kann nicht weiter auf dem West Side Highway im Stau stehen und NPR hören. Ich kann nicht weiter zum Supermarkt fahren und Milch kaufen und unsere Bonuskarte aufstocken, damit wir, nachdem wir mehrere Tausend Dollar dagelassen haben, einen Gratis-Thanksgiving-Truthahn bekommen.«
»Es gibt schlimmere Schicksale.«
»Nein«, sagte er. »Da habe ich meine Zweifel. Ich weiß, wir haben jede Menge Elend gesehen – überschwemmte Kanalisationen und Mütter, die nach Mangoschalen im Müll wühlen. Aber diese Leute wissen, was in ihrem Leben falsch läuft, und sie haben die Vorstellung, dass es ihnen mit ein paar Shillingen oder Pesos oder Rupien in der Tasche besser ginge. Das Schlimmste ist doch, dass man immer wieder vorgebetet bekommt, man würde das beste Leben auf Erden führen und es gäbe kein besseres, und trotzdem ist es scheiße. Das hier soll das großartigste Land der Welt sein, aber Jackson hat recht: Man wird nur abgezockt, Glynis. Ich muss vierzig verschiedene Passwörter haben, für Banking und Telefon und Kreditkarte und Internet-Account, und vierzig verschiedene Kontonummern, und wenn man alles zusammenzählt, dann hat man die Summe seines Lebens. Und es ist alles hässlich, hässlich anzusehen. Die Einkaufszentren in Elmsford, die Kmarts und Wal-Marts und Home Depots … nichts als Plastik und Chrom mit grellen Farben, die sich alle beißen, und jeder ist ständig in Eile, und wozu?«
Es war keine Einbildung. Sie hörte ihm wirklich nicht zu.
»Tut mir leid«, sagte er. »Du hast das alles schon gehört. Vielleicht habe ich ja unrecht, vielleicht komme ich ja wirklich in ein paar Wochen auf den Brustwarzen nach Hause gekrochen. Aber lieber der gescheiterte Versuch und die Schmach, als die Idee von vornherein aufzugeben. Die Idee aufzugeben wäre der Tod.«
»Ich glaube, du wirst feststellen« – ihre Stimme war so gemessen, sie strotzte von irgendeiner großartigen neuen Weisheit, von der er gar nichts wissen wollte –, »dass es überhaupt nicht so sein wird wie der Tod. Es gibt nichts, das so ist wie der Tod. Den Tod verwenden wir immer nur als Metapher für etwas anderes. Etwas Kleineres und Lächerliches und weitaus Erträglicheres.«
»Wenn du glaubst, dass du mich damit umstimmen kannst, muss ich dich enttäuschen.«
»Und wann genau gedenkst du unsere heimischen Gefilde zu verlassen?«
»Nächsten Freitag. Flug BA-179 von JFK mit Anschluss in London um 22.30 Uhr. Dann weiter nach Pemba über Nairobi und Sansibar. Du und Zach könnt dazukommen, bis das Gate schließt. Bis dahin, habe ich gedacht, bin ich mal hier weg und gebe dir die Chance, die Sache in Ruhe zu überdenken.« Die Chance, mich zu vermissen war das, was er meinte. Mich zu vermissen, solangedu mich noch ent-vermissen kannst. Und ehrlich gesagt hatte er Angst vor ihr. Bliebe er hier, würde es ihr gelingen, ihm die ganze Sache wieder auszureden. Dazu wäre sie imstande. »Ich wohne solange bei Carol und Jackson. Sie erwarten mich, und du kannst mich da jederzeit erreichen, bis zu meiner Abreise.«
»Mir wäre es lieb, wenn du das nicht tätest«, sagte Glynis. Nachdem sie ihr Glas vom Tisch genommen hatte, stand sie auf und strich sich die Hose glatt, eine Geste, die er als Signal zum Sichaufraffen und Zubereiten eines weiteren durchschnittlichen Abendessens erkannte. »Ich fürchte, ich werde deine Krankenversicherung brauchen.«
WÄHREND GLYNIS SPÄTER am Abend noch immer die Küche aufräumte, lief Shep nach oben und zog den Bademantel von seinem Koffer. Er legte die beiden Hemden zurück in die dritte Schublade seiner Kommode und strich sie glatt, damit sie in ordentlichem Zustand fürs Büro waren. Er nahm Flachnadelzange, Schraubenzieher und Metallsäge und legte das Werkzeug zurück in seine zerbeulte rote Werkzeugkiste. Ehe er am Ende den Kamm an seinen angestammten Platz neben die Zigarrenkiste mit der ausländischen Restwährung legte, fuhr er sich einmal damit durch die Haare.
Kapitel 2
»DER FÄHRT NIE im Leben«, sagte Carol beim Rucolawaschen.
»Blödsinn«, sagte Jackson und stibitzte sich aus dem Paprikagemüse eine Scheibe italienischer Wurst. »Er hat ja schon das Ticket. Ich hab’s gesehen. Beziehungsweise die Tickets. Ich hab ihm gesagt, das Geld für die anderen beiden könne er sich sparen. Sie geht niemals mit, so viel ist sicher. Das war mir schon immer klar, lange vor Shep. Diese vielen Reisen waren für Glynis doch nur ein Spiel. Von dem sie irgendwann genug hatte.«
»Du denkst immer, ich meine, dass er zu feige sei. Aber das ist es nicht. Er ist zu vernünftig. Er würde niemals seine Familie im Stich lassen; er ist einfach nicht der Typ dafür. Die Reisetasche schnappen und nie wieder einen Blick zurück werfen? Noch mal bei null anfangen, jetzt, wo er auf die fünfzig zugeht? Kennst du irgendjemanden, der das wirklich gemacht hätte? Und selbst wenn er geht, weil er sich irgendwas beweisen will, er wird postwendend wieder nach Hause kommen. – Flicka, die halbe Stunde ist bestimmt schon wieder rum. Hast du an deine Tropfen gedacht?«
Ihre älteste Tochter stieß einen nasalen Seufzer aus, halb Stöhnen, halb Blöken. Es war ein raffinierter Ton, der sowohl Nein als auch Ja heißen konnte. Grollend kramte sie in der Tasche ihrer Strickjacke und benetzte ihre Augen mit künstlichen Tränen aus einer von mehreren Dutzend kleiner Plastikampullen, deren Form Jackson immer an die Bombe »Fat Man« erinnerte, die über Nagasaki abgeworfen worden war. Wie immer waren Flickas Augen entzündet und die Wimpern von Vaseline verkrustet.
»Was denn, er zieht den Schwanz ein?«, sagte Jackson. »Du hast keinen Sinn für männlichen Stolz.«
»Ach nein?« Carol warf ihm einen Blick zu. »Wo liegt dieses ›Pemba‹ überhaupt?«
»Pemba ist eine Insel vor Sansibar«, sagte Jackson. »Berühmt für den Anbau von Nelken. Die ganze Insel stinkt danach, behauptet zumindest Shep. Ich seh ihn schon vor mir, meinen Kumpel, wie er sich in seiner Hängematte räkelt, und überall der Duft von heißem Whiskey und Kürbistorte.«
»Ich wette, er fährt«, sagte Flicka. »Wenn er das gesagt hat. Shep ist kein Lügner.« Obwohl sie oft für die jüngere Schwester der elfjährigen Heather gehalten wurde, war sie sechzehn; ähnlich wie man das relative Alter von Haustieren berechnet, bewegte sich im Anbetracht ihres Leidens ihr wahres Alter vermutlich um die hundertdrei. Da sich für sie das Hier und Jetzt als ewige Prüfung darstellte, war Flicka selbstverständlich gefesselt von der Vorstellung eines Anderswo.
Jackson fuhr seiner Tochter durch das feine blonde Haar. Als Kind hatten sie es ihr immer kurz schneiden lassen, damit nicht ständig ihr Erbrochenes darin hängenblieb, doch seit der Fundoplikation konnte sie ohnehin nur noch würgen und hatte sich die Haare wachsen lassen. »Endlich mal jemand, der den Glauben an die Menschheit noch nicht verloren hat!«
»Aber was will er da?«, bohrte Carol weiter. »Raffinierte Zimmerspringbrunnen für die Dritte Welt bauen? Shep ist doch gar nicht der Typ, der den ganzen Tag in der Hängematte liegt.«
»Vielleicht keine Zimmerspringbrunnen, aber, na ja, Brunnen könnte er tatsächlich bauen. Shep ist praktischveranlagt. Er kann gar nicht anders. Wenn ich irgendwo in einer Lehmhütte wohnen würde, hätte ich auch am liebsten ihn als Nachbarn.«
»Flicka, weg vom Herd!«
»Ich bin nicht mal in der Nähe von deinem verdammten Herd«, sagte Flicka, wie üblich etwas lallend. Sie näselte nicht nur, sondern klang zudem immer leicht angetrunken, wie Stephen Hawking nach einer Flasche Wild Turkey. Außerdem klang sie schlecht gelaunt, aber das war echt. Es gehörte zu den Dingen, die Jackson an ihr liebte. Sie weigerte sich, das behinderte Sonnenscheinchen zu spielen, das mit seinem unglaublichen Lebensmut die Herzen aufgehen lässt.
»Jetzt lass das!«, sagte Carol, nahm Flicka das Schälmesser aus der Hand und knallte es zurück auf die Arbeitsplatte.
Mit einem Gang, der auf die meisten unbeholfen wirkte, den Jackson aber immer als seltsam anmutig empfand, torkelte Flicka zum Tisch: Sie schwankte mit dem Oberkörper, während sie mit eleganten kleinen Ruderbewegungen das Schlingern ausglich und dabei vorsichtig die Füße abrollte wie eine Drahtseilartistin. »Wovor hast du denn schon wieder Angst?«, sagte sie. »Dass ich meine Finger in den Salat schneide, weil ich sie nicht von den Mohrrüben unterscheiden konnte?«
»Das ist nicht lustig«, sagte Carol.
Es war nicht lustig. Als Neunjährige hatte Flicka in der Küche helfen wollen und den Krautsalat zubereitet, und nur weil der Kohl auf einmal von grün zu rot wechselte, hatte Jackson überhaupt bemerkt, dass das Ende ihres linken Zeigefingers fehlte. Man hatte ihn ihr auf der Intensivstation wieder angenäht, aber seitdem war ihm der Appetit auf Krautsalat vergangen. Auf den ersten Blick mochte es vielleicht ein Vorteil sein, dass die Gliedmaßen seiner Tochter so wenig schmerzempfindlich waren, dass der Finger sogar ohne örtliche Betäubung wieder angenäht werden konnte, doch als er seine Kollegen in der Firma aufforderte, ernsthaft über die Sache nachzudenken, wurden sie blass. Diese Kinder, hatte er erklärt, brechen sich ein Bein und schleifen es kilometerweit hinter sich her, und sie kommen erst drauf, dass irgendwas nicht stimmt, weil das Bein ständig im Weg ist.
»Ich hab nie verstanden, warum dir Sheps Auswanderung so am Herzen liegt«, fuhr Carol fort. »Er ist dein bester Freund. Würdest du ihn denn nicht vermissen?«
»Klar, Süße. Ich werd ihn sogar sehr vermissen.« Jackson nahm sich ein Bier und schwor sich, Shep auch vor all den Ungläubigen bei Allrounder weiterhin zu verteidigen. (Für Jackson hieß die Firma immer noch Allrounder, egal, welchen bescheuerten Namen der Fettsack ihr verpasst hatte.) Vielleicht hätte er warten sollen, bis Shep in seinem Flieger saß, aber heute nach der Mittagspause hatte er sich nicht zurückhalten können, als der Webdesigner mal wieder eine hämische Bemerkung fallen ließ. So konnte Jackson mit unsagbarer Genugtuung verkünden, dass Shep sein Flugticket bereits in der Tasche hatte, du Armleuchter, und von diesem heutigen Nachmittag an nie wieder das Innere dieser überheizten Büroräume würde ansichtig werden müssen. Da war diesem Vollidioten aber die Kinnlade runtergeklappt. Er hatte Carol noch nicht mit der Idee vertraut gemacht, aber er stellte sich vor, dass er selbst mal hinfahren würde, sobald Shep dort Fuß gefasst hatte. Streng genommen stellte er sich vor, wenn auch noch sehr unkonkret, dass er seine Familie irgendwann unter den Arm nehmen und für immer zu seinem Kumpel nach Pemba ziehen würde. Offenbar wollte Carol noch nicht darüber nachdenken, aber irgendwo am Horizont dräute eine finstere Zeit, in der ein Tapetenwechsel therapeutische Wirkung haben könnte.
»Einem muss es doch mal gelingen, hier rauszukommen und ein besseres Leben zu führen, oder nicht?«, fuhr er nach einem Schluck aus der Flasche fort und legte die Füße hoch. »Großer Gott, sollen die Einwanderer das Land ruhig haben. Wir leben hier in einer Riesenabzocke von einem Land; die ursprünglichen Bewohner sollten ihre Sachen packen, die Tür hinter sich zuziehen und dem Pöbel den Schlüssel zuwerfen, das wär’s doch. Dann ziehen wir in diese hippen Ethnodörfer nach Mosambik und Cancún, wo die Häuser alle leer stehen, weil die Besitzer bei uns die Klos putzen. Wenn die alle so versessen drauf sind, hier zu leben, meinetwegen. Sollen sie sich totarbeiten und ihren halben Lohn an die Regierung abdrücken, die dafür hin und wieder einen Bürgersteig erneuert oder ein fremdes Land überfällt –«
»Jackson, fang nicht wieder damit an.«
»Ich hab noch gar nicht angefangen. Ich hab gerade erst angefangen –«
»Du willst doch nicht, dass sich Flicka zu sehraufregt.«
»Regst du dich etwa meinetwegen zu sehr auf, Mäuschen?«
»Ich würde mich allenfalls dann zu sehr aufregen, wenn du nicht mehr über Steuern und Geschröpftwerden und Absahner und arme Säue wettern würdest«, sagte Flicka gedehnt. »Und dass die Asiaten gerade dabei sind, die Weltherrschaft zu übernehmen. Dass ›niemand in diesem Land noch irgendwas produziert, das nicht sofort kaputtgeht‹. Dass wir ›unsere Kinder zu Schlappschwänzen erziehen‹.«
Das Mädchen mochte aussehen wie eine Zehnjährige und sich anhören, als wäre sie leicht zurückgeblieben, aber Flicka war blitzgescheit – »high functioning«, ein Ausdruck, den Jackson immer als Beleidigung empfunden hatte. Da Carol den Großteil der elterlichen Schwerstarbeit leistete, war es vielleicht unfair, aber Flicka und ihr Vater waren immer schon Verbündete gewesen. Sie mochte ein blasses, schmächtiges Kind mit kraftlosem Haar, fleckiger Haut und einem dauerhaft defekten »autonomen« System sein (einem biologischen Netzwerk, von dem er vor ihrer Diagnose noch nie gehört hatte), während er ein vierundvierzigjähriger dunkelhaariger, kräftig gebauter Handwerker halb-baskischer Abstammung war, doch gefühlsmäßig hatten beide die gleiche Standardeinstellung, nämlich: Ekel.
»Jetzt plapper mir nicht wieder das mit den Asiaten und der Weltherrschaft nach, ohne hinzuzufügen, dass dein Vater der Meinung ist, sie hätten den Erfolg nicht auch verdient«, sagte Jackson tadelnd; wer aus ihrer quäkenden, schleppenden Sprechweise überhaupt schlau wurde, hätte Flicka – beziehungsweise ihrem Vater – diese aufgeladene fremdenfeindliche Rhetorik durchaus übelnehmen können. »Die Chinesen, die Koreaner – sie arbeiten hart und hören nicht auf den Rat ihrer armseligen Pädagogen, denzufolge sie ihre Hausaufgaben erst dann machen sollen, wenn sie Lust dazu haben. Das sind die echten Amerikaner, wie es die Amerikaner selbst einmal waren, und sie kolonisieren die Plätze an sämtlichen Eliteuniversitäten, und zwar nicht dank irgendwelcher gönnerhaften Quoten, sondern durch Verdienst –«
Carol hörte wie üblich überhaupt nicht zu. Beim Surfen im Büro hatte er jede Menge ungeläufige Informationen aus dem Netz gezogen, doch seine Frau tat sie in der Überzeugung ab, alles schon mal gehört zu haben. Manch eine Frau wäre dankbar gewesen für einen Mann, der jeden Tag neue, faszinierende (wenn auch höchst ärgerliche) Fakten mit nach Hause brachte, der eine ungewöhnliche, dezidierte Meinung hatte und sich ein (wenn auch deprimierendes) Bild von der Welt machte. Aber bei Carol war nichts zu holen. Sie wäre offensichtlich glücklicher gewesen mit einem braven Packesel, der gutgläubig seine Mayonnaisegläser ausspülte, obwohl der Großteil seines »Recycling« auf der stinknormalen Mülldeponie landete, und der frohgemut an die Polizeigewerkschaft spendete, obwohl er dadurch nicht im Geringsten freundlicher behandelt wurde von den Bullen.
Klar, politischen Biss hatte sie noch nie gehabt, aber trotzdem war Carol nicht schon immer so gewesen. Damals hatten sie sich kennengelernt, als sie für ein Haus, für das er einen dicken Rigipsauftrag hatte, den Garten entwarf; den Hausbesitzer hatten sie als Arschloch und sich gegenseitig als Verbündete betrachtet. Insofern war es nicht von Belang gewesen, dass sie, wie sich herausstellte, trotz Fronarbeit nach dem College einen Abschluss in Gartenbau von der Penn State hatte oder dass ihr Vater (der immer der Ansicht war, seine Tochter habe unter ihrem Stand geheiratet) kein dahergelaufener Handwerker war, sondern Bauunternehmer. Damals bei dem Job fühlte sich Jackson von einer hübschen Frau in den Bann gezogen, die keine Angst hatte, sich die Hände schmutzig zu machen, und ihre Fünfzehn-Kilo-Torfsäcke selbst wuchtete. Aber am meisten gefiel ihm, dass sie sich streiten konnte. Sie war mit nichts von dem, was er sagte, einverstanden, hatte aber offenbar Spaß daran, beim Feierabendbier grandios mit ihm zu streiten. Heute tat sie so, als hätte sie den Sieg von vorneherein in der Tasche, wozu also die Mühe, was rätselhaft war, da Jackson sich nicht erinnern konnte, auch nur einen einzigen Streit verloren zu haben.
Und auch diese spielverderberische Ernsthaftigkeit hatte sie früher nie ausgestrahlt. Sie war immer zum Schreien komisch gewesen oder hatte immerhin über seine Witze gelacht. Schuld war vermutlich Flicka. Die Verantwortung verändert einen. Das war auch mit ein Grund, weshalb Carol heute kaum noch Alkohol trank: Jederzeit konnte das Leben ihrer Tochter davon abhängen, dass ihre Mutter einen klaren Kopf hatte. Es war, als wäre man Arzt, nur ohne den Golfklub. Man hatte immer Bereitschaftsdienst.
Also kehrte Jackson zu jenem Thema zurück, bei dem seine Frau nun überraschend Engagement an den Tag legte. »Du verstehst nicht, warum mir so viel daran liegt, dass Shep dieses Zerrbild von Freiheit hinter sich lässt. Aber drehen wir den Spieß um. Was liegt dir daran, dass er’s nicht tut?«
»Ich habe nicht gesagt, dass mir daran etwas liegt«, sagte Carol. »Ich sagte, er ist ein liebenswerter, rücksichtsvoller Mensch, der seine Familie niemals im Stich lassen würde.«
Jackson knallte seinen Stiefel zurück auf das blaue Forbo Marmoleum (und wer hatte ihm beim Verlegen geholfen? Shep Knacker). »Du kannst die Idee einfach nicht ertragen, dass es irgendjemandem gelingen könnte, aus allem rauszukommen! Dass jemand vielleicht mal nicht wie ein Automat durchs Leben stapft und im Gleichschritt in sein Grab marschiert! Dass es vielleicht einen echten Mann geben könnte. Mit Mut! Phantasie! Einem eigenen Willen!«
»Du suchst Streit, ja? Toll, so schaffst du’s hundertprozentig, deine Tochter aufzuregen. Aber bitte, nur zu, mach sie nervös«, murmelte Carol gleichmäßig und mit dieser an Wahnsinn grenzenden Ruhe. »Du musst ihr ja kein Diazepam in den Hintern schieben, weil sie die Tabletten nicht bei sich behalten kann.«
Kaum hatte sie das Medikament erwähnt, kam Heather wie auf Stichwort in die Küche gehüpft. »Ist es nicht Zeit für mein Cortomalaphrin?« Jackson hatte keine Ahnung; er konnte sich nicht merken, ob sie so taten, als müsse sie vor oder nach den Mahlzeiten ihre Tabletten einnehmen.