Lass uns doch noch etwas bleiben - Lionel Shriver - E-Book

Lass uns doch noch etwas bleiben E-Book

Lionel Shriver

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Beschreibung

Von der Anomalie namens Leben Bei einem verhängnisvollen Sherry beschließen Cyril und Kay Wilkinson, mit 80 Jahren freiwillig aus dem Leben zu scheiden. Krankheit, Siechtum und Leid: Die beiden wissen, danach geht es bergab. Doch was, wenn einer von ihnen den letzten Akt nicht über sich bringt? Wenn sie die neue Freiheit des Alters so sehr genießen, dass ihr Plan aus dem Blick gerät? Oder sich der Tod am Ende ganz überwinden lässt – was tun mit all der Ewigkeit? Lionel Shrivers Lust am Fabulieren, ihr funkelnd böser Witz und ihre überragende Beobachtungsgabe machen diesen Roman zu einem Fest der Literatur. »Ein beißend komisches Gedankenexperiment.« The Times »Ein Lesegenuss … Herrlich erfindungsreich und immer wieder urkomisch.« The Seattle Times »Shrivers Romane sind wundervoll … Witzig, klug und vollkommen anders als alles, was Sie sonst jemals lesen werden.« Financial Times

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Aus dem amerikanischen Englisch von Bettina Abarbanell und Nikolaus Hansen

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel Should We Stay or Should We Go bei Harper, einem Imprint von HarperCollins Publishers.

© Lionel Shriver 2021

© Piper Verlag GmbH, München 2024

Covergestaltung: Cornelia Niere

Coverabbildung: © James Coates

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

Zitat

1 – Das Seifenschalenkästchen

2 – Das erste letzte Abendmahl

3 – Archetypischer Lieferwagenrüpel, die Zweite

4 – Cyril vollzieht einen unerwarteten Sinneswandel

5 – Das Vorsorgeprinzip

6 – Heimkino

7 – Spaß mit Dr. Mimi

8 – Mehr Spaß mit Dr. Mimi

9 – Man wird nicht älter, man wird besser

10 – Von Ahnungslosigkeit und Glück

11 – Liebe gefriert nicht

12 – Es war einmal in Lambeth

13 – Das letzte letzte Abendmahl

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Für Ann – treu, kompetent,

unwiderstehlich boshaft

und von einer Demonstration

der Stärke zur nächsten unterwegs.

Danke dafür, dass du zuverlässig

in meiner Ecke mitkämpfst –

und dass du für unsere

schlaftrunkenen Heimfahrten im Zug

niemals die kleinen Weinfläschchen

und das Popcorn vergisst.

Jedes in sich geschlossene System hat die natürliche Tendenz, in einen Zustand wachsender Unordnung zu zerfallen.

Zweiter Hauptsatz der Thermodynamik

1Das Seifenschalenkästchen

»Hätte ich weinen sollen?« Kay warf ihren schweren dunklen Wollmantel ab, ein zweckdienliches Teil, denn es war wieder mal so ein endloser April, der die trübe Januarkälte fortschrieb. Die einzige Blüte, die der Frühling bisher getrieben hatte, war ihre springlebendige Wut, die alles träge Sichabfinden mit dem bitteren Winter verdrängt hatte.

»Da gibt es keine Regeln.« Cyril füllte den Kessel.

»Hinsichtlich bestimmter düsterer Übergangsriten gibt es die durchaus, würde ich sagen. Und bitte, ich weiß, dass es noch etwas früh ist, aber Tee möchte ich nun wirklich nicht.« Kay griff kurzerhand zu dem trockenen Amontillado im Kühlschrank. Sie hatte auf dem Empfang einen Schluck Wein getrunken und keinerlei Neigung, jetzt wieder bei English Breakfast anzufangen. Ein Drink zu Hause kam um halb sechs einer Ausschweifung gleich, und sie benutzte die formalen Implikationen des Anlasses, um gegen die – ungeschriebene, aber deshalb nicht weniger eherne – Hausordnung zu verstoßen, nach der vor zwanzig Uhr kein Korken knallen durfte. Jeglicher Eindruck, sie wolle ihren Kummer in Alkohol ertränken, war schiere Einbildung. In Wahrheit fühlte sich die Empfindung, die der nachmittägliche Meilenstein bei ihr hinterlassen hatte, kein bisschen wie Trauer an. Eher wie jenes diffuse, undefinierbare Flattern zwischen Hunger und Verdauungsbeschwerden.

Zu Kays Überraschung ließ Cyril den Teekessel stehen und setzte sich mit einem zweiten Glas zu ihr an den Tisch, nicht ohne vorher zwei Limettenschnitze geschnitten und ausgedrückt zu haben. Falls ursprünglich einer von ihnen für die Einführung der Zwanzig-Uhr-Grenze verantwortlich gewesen war, dann vermutlich Cyril, aber ihre ineinander verflochtenen Gewohnheiten reichten inzwischen so weit zurück, dass niemand mehr Buch führte.

»Ich dachte, ich würde wenigstens Erleichterung empfinden«, sagte sie und stieß mit ihrem billigen Glas aus Barcelona lustlos gegen das andere vor ihr auf dem Tisch. Zweckdienlich wie der Mantel, besaßen die hohen, schmalen Gläser die perfekten Proportionen, an denen es feinem Kristall häufig mangelte. Noch so eine Unziemlichkeit: dass sie in einer Zeit wie dieser über die Form von Gläsern nachdachte.

»Du empfindest keine Erleichterung?«

»Um ehrlich zu sein, habe ich mich seit zehn Jahren darauf gefreut, dass dieses Kapitel endlich zu Ende geht. Was erschütternd sein mag, dich aber nicht überraschen wird. Jetzt sind wir dran mit dem ›Unvermeidlichen‹, wie man das mal nannte.«

»Vielleicht sollten wir es jetzt das ›Optionale‹ nennen«, sagte Cyril. »Oder das ›endlos Aufschiebbare‹. Das ›Bei-nochmaliger-Überlegung-können-wir-es-vielleicht-auch-nächste-Woche-machen, Liebling‹.«

»Na ja, mir ist jedenfalls nicht leichter ums Herz, ich spüre keine Erlösung. Ich fühle mich nur bleiern und leer. Mein Vater hat allen in seiner Umgebung so viel Leben aus den Adern gesaugt. Vielleicht auch die erbärmliche Menge an Energie, die wir nun bräuchten, um zu feiern, dass er endlich tot ist.«

»Was für eine Verschwendung«, sagte Cyril.

»Ja, aber es wäre das eine gewesen, wenn die Verschwendung sich auf das Leben von Godfrey Poskitt beschränkt hätte und auf das nur ihn betreffende Pech, dass es ein schlechtes Ende genommen hat. Bloß war die Verschwendung ja unendlich viel ruinöser. Für meine arme Mutter, für die Pflegerinnen und Pfleger, selbst für unsere Kinder, bevor sie ihre Besuche bei ihm eingestellt haben. Ich bin so froh, dass ich ihnen gesagt habe, sie könnten aufhören, die liebenden Enkel zu spielen. Was hätte es genützt? Meistens wusste er nicht mal, wer sie waren, und zum Dank dafür, dass sie sich Zeit für ihn nahmen, wurden sie bloß beschimpft. Und er war ja auch körperlich so unappetitlich. Meine Mutter und ich haben uns wirklich bemüht, aber allein seine Windeln zu wechseln war ein Kampf, so wie er sich dabei gewehrt und um sich getreten hat, und manchmal bekam er peinlicherweise eine schlaffe kleine Erektion – im Ernst, mein eigener Vater. Also haben wir es oft rausgezögert, und dann roch er schlecht.«

»Dass zwei seiner Enkelkinder trotzdem heute aufgetaucht sind, war anständig von ihnen.«

»Bei Simon war das doch klar. Der hat ein derart ausgeprägtes Verantwortungsbewusstsein, dass er mit seinen sechsundzwanzig Jahren fast schon als mittelalter Mann durchgeht. Und obwohl ich ihr dankbar war, dass sie gekommen ist, und sei es auch nur meiner Mutter wegen, war Hayley natürlich zu spät – um ihren üblichen Auftritt zu haben und die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Ich wette, sie hat es extra so geplant, hat vorher ein bisschen ferngesehen, bloß um sicherzugehen, dass sie nicht langweilig pünktlich kommt. Und dass Roy vorher von der Fahne gegangen ist, ist auch typisch. Enkel zu sein ist einfach ein weiteres Projekt, das er nicht bis zum Ende durchziehen kann.«

»Um auf die Verschwendung zurückzukommen«, sagte Cyril, »ein offensichtliches Opfer hast du ausgelassen. Dich selbst.«

Besser, dass ihr Mann es gesagt hatte. »Ich traue mich gar nicht zusammenzurechnen, wie viele Jahre meines Lebens die endlose Senilität dieses Mannes zerstört hat.«

»Wenigstens hast du es geschafft weiterzuarbeiten, was einem Wunder gleichkommt. Es war ja vor allem deine Freizeit, die dein Vater verschlungen hat. Die Abende und Wochenenden, die frühen Morgenstunden, die Fahrten nach Maida Vale mitten in der Nacht, wenn wieder irgendwas passiert war: alles Zeit, die du mit mir hättest verbringen können.«

»Der Leidtragende bist also du?«

»Nur einer unter vielen.«

Kay, immer im Einsatz, stand auf, um ein paar Krümel von der Arbeitsplatte neben der Spüle zu fegen, und warf einen traurigen Blick auf das halb fertige Möchtegern-Gewächshaus vor ihrem Küchenfenster: Es war seit zwei Jahren in Arbeit und ein weiteres Opfer, das im Strudel der grenzenlosen Hilfsbedürftigkeit ihres Vaters untergegangen war. Neuerdings wirkten die Kinder immer so missgünstig, dabei hatten sie und Cyril dieses Haus 1972 gekauft, als Kay mit Hayley schwanger war und sie mehr Platz brauchten – und damals war nicht nur das ganze Land runtergewirtschaftet gewesen, Lambeth war es auch, weshalb ein so stattliches Anwesen (wenn auch südlich des Flusses) im Rahmen der Möglichkeiten einer Krankenschwester im National Health Service und eines Allgemeinarztes gelegen hatte. Das Haus mit den drei Stockwerken plus Dachboden hatte allerdings nur von außen stattlich ausgesehen; du liebe Güte, »renovierungsbedürftig« war gar kein Ausdruck. Jetzt, da neunzehn Jahre der Unkosten und Unannehmlichkeiten in einer endlich bewohnbaren Immobilie mündeten, neigten die Kinder dazu zu vergessen, dass sie auf dem Weg zum Klo über haufenweise Bauholz steigen oder sich vor der Schule Rigipskrümel aus den Haaren schütteln mussten. Auch die Ermahnungen ihrer Kindheit, sich auf dem Nachhauseweg von der U-Bahn zu beeilen, weil das Viertel damals mehr als zwielichtig gewesen war, hatten sie offenbar verdrängt. Nein, das junge, beim Staat angestellte Ehepaar, das sich nach der Decke strecken musste und das beträchtliche Risiko einging, dass das ganze baufällige Innere des Hauses in sich zusammenfallen würde wie ein Kartenhaus, das sahen sie nicht. Alles, was die Kinder jetzt sahen, war das imposante, respektable Heim von Mom und Dad, ein konventioneller Ausdruck des Establishments, den sie sich selbst angesichts eines Zinssatzes von fünfzehn Prozent nie würden leisten können – und Roy sah, wenn sie nicht völlig danebenlag, schon die eigene Bude vor sich, die er vielleicht einmal erben würde. Roy suchte immer nach Abkürzungen.

Jetzt, da Dad tot war, hätte sie vermutlich Zeit, das Gewächshaus fertigzustellen, aber ihre Lust an dem Projekt war verflogen. Wie lange würden sie hier noch leben? Krasser ausgedrückt, wie lange würden sie überhaupt noch leben? Kay hatte bisher geglaubt, die bedeutsame Schwelle des fünfzigsten Geburtstags souverän überschritten zu haben – Schaut mich an! Ich stehe über den Dingen, was das Altern angeht, und dieses neue Jahrzehnt macht mir gar nichts aus! –, doch in ihren Vierzigern waren ihr solche morbiden Gedanken nie gekommen.

»Ich frage mich, ob ich nach dem Empfang noch mit zu meiner Mutter hätte gehen sollen«, sagte Kay mit ungutem Gefühl. »Percy hat zwar behauptet, er würde ihr Gesellschaft leisten, aber ich kenne ja meinen Bruder. Er bleibt sicher nicht lange.«

»Hast du nicht allmählich genug von all der Aufopferung?«, sagte Cyril. »Ihr Frauen! Da beklagt ihr euch darüber, dass immer ihr diejenigen seid, die sich um alle kümmern, aber kaum habt ihr mal einen Moment für euch selbst, springt ihr auf und kümmert euch freiwillig um den nächsten.«

»Wir machen es nur deshalb ›freiwillig‹, wie du das nennst, weil es sonst niemand tut!«

Ihre Wut überraschte sie beide. Kay ruderte zurück. »Entschuldige. Du weißt, dass ich Percy durchaus um Hilfe gebeten habe. Aber er wohnt das entscheidende kleine Stück weiter draußen in Tunbridge Wells, und außerdem war er furchtbar beschäftigt damit, seine Frau und seine Kinder zu betrügen.«

»Das ist nicht ganz fair.«

»Ich sage ja nicht, dass er es extra so hingedeichselt hat, schwul zu werden, um seinen ehelichen Pflichten zu entkommen. Aber benutzt hat er sein Schwulsein auf jeden Fall. ›Oh, ich kann mich dieses Wochenende nicht um Dad kümmern, er fühlt sich offensichtlich unwohl mit mir, seit ich mich geoutet habe.‹ Ja, klar fühlt er sich ›unwohl‹ damit, du Vollidiot, der Mann ist Jahrgang 1897!«

»Es geht nicht nur darum, dass es immer die Frauen sind, die die Bettpfannen leeren. Das Problem liegt auf institutioneller Ebene«, sagte Cyril, der jetzt allmählich in Fahrt kam und mit seiner gewohnten Autorität sprach. »Die Regierung muss mehr Verantwortung für die Sozialfürsorge übernehmen. Sie sollte nicht dir aufgebürdet werden oder deiner Mutter oder deiner erweiterten Familie.«

»Tja, aber so war es, so ist es, und so wird es auch sein, wenn du und ich irgendwann schwächeln. Schon die kleinste Hilfestellung vom Sozialamt – so was wie dein Bett machen, ganz zu schweigen davon, auf der Straße hinter dir herzurennen, wenn du delirierst? Der Anspruch auf häusliche Pflege orientiert sich am Bedarf, und mein Vater war Anwalt.«

»Stimmt, die Bedarfsorientierung ist ziemlich brutal –«

»Die Schwelle der Ersparnisse, oberhalb derer das Sozialamt dir nicht den Hintern abwischt, liegt bei mickrigen Zwanzigtausend – was wesentlich mehr Kohle ist, als Mom nach all den Pflegerinnen und Pflegern noch übrig hat, aber für irgendwelche Leistungen kommt sie trotzdem nicht in Betracht, weil sie ja das Haus hat. Wenn du nichts zurückgelegt hast, oder so gut wie nichts? Dann begleicht das Sozialamt deine komplette Rechnung. Wie gefällt dir das, Herr Sozialist? Da schuftest du wie mein Vater dein Leben lang, sorgst für dich selbst und deine Familie, und wenn du irgendwann zusammenbrichst, sagt der Staat, du bist auf dich allein gestellt. Tu nichts, verdiene nichts, spar nichts – triff absolut keine Vorsorge für dich selbst –, und du kriegst das Rundum-Sorglos-Paket vom Staat. Stichwort moralisches Risiko! Offensichtlich sind Leute, die etwas tun, etwas verdienen und sparen, einfach Trottel.«

»Du redest wirres Zeug. Und du kennst meine Meinung, dass die Sozialfürsorge eine allgemeine Leistung sein sollte, genau wie der NHS.«

»M-hm, genau. Mach eine allgemeine Leistung draus, und die gleichen verantwortungsvollen Leute, die auch nur ein bisschen was verdienen, werden für ihre Sozialfürsorge weiterhin selbst aufkommen und für die aller anderen auch, mit so himmelhohen Steuern, dass sie sich kein Glas Marmelade mehr leisten können. Du bist doch derjenige, der zu dieser großen Trafalgar-Demo gegen die Kopfsteuer gehen musste – die Geld für die Pflege und eine Menge anderer Dinge gebracht hätte.«

»Hör bloß auf. Die Kopfsteuer war regressiv, und das weißt du. Und dank solcher Proteste wie dem auf dem Trafalgar Square ist die ›kommunale Bürgersteuer‹ zum Glück tot und begraben. Im Übrigen bezweifle ich, dass du ausgerechnet heute Abend in der besten geistigen Verfassung bist, komplexe Regierungspolitik zu entwerfen.«

»Die ganze Pflegerei – diese dicken, knorzigen Fußnägel schneiden, den Rotz aus seinen haarigen Nasenlöchern zupfen, ganze Schachteln Feuchttücher für seinen Hintern verbrauchen …« Kay lief jetzt auf dem Schieferplattenboden hin und her, denn einer der Vorteile davon, die Küche zum Esszimmer hin zu öffnen, war der, dass man nun Platz zum Auf-und-ab-Gehen hatte. »Ich kann dir gar nicht sagen, wie unangenehm es ist, jemand anderem die Zähne zu putzen, und manchmal hat er auch noch gebissen … Und ihn einzufangen und einzusperren und auszuziehen … Ich war irgendwas zwischen Tochter und Schäferhund. Immer mussten wir ein Auge auf ihn haben, auf ihn aufpassen wie auf einen Zweijährigen, damit er sich nicht schneidet oder Spülmittel trinkt oder das Haus in Brand setzt … und ihn füttern und ihm die Essensreste aus dem Bart wischen … und stundenlang auf ihn einreden, damit er von der Leiter zum Dachboden runterkommt.

Also, all diese Pflegeleistungen für meinen Vater allein hätten den Staat ein Vermögen gekostet. Die Pflege all dieser Wracks zusammengenommen würde ihn den letzten Pfennig kosten, und genau deshalb ist es eben keine allgemeine Leistung. Im Ernst, um mit meinem Vater fertigzuwerden, brauchte es uns alle drei, mich, Mum und die bezahlte Hilfskraft – das heißt, um gerade so mit ihm fertigzuwerden. Das eigentliche Problem ist nicht, wie diese Art wandelnder Verfall finanziert wird, sondern dass er überhaupt finanziert wird. Mein Vater hat gute vier Jahre stetig abgebaut, gefolgt von ganzen zehn Jahren reinsten Niedergangs. Wer auch immer dafür bezahlt, es ist eine groteske Geldverschwendung und obendrein eine Verschwendung der Zeit jüngerer Menschen – meiner Zeit, der Zeit meiner Mutter –, aus unserem Leben wird quasi das Mittelstück rausgeschnitten, wenn wir noch gesund sind, geistig fit und fähig zur Freude. Verschwendung, hast du gesagt? Nichts als Verschwendung, und wofür? Er hätte gleich nach seiner Diagnose sterben sollen. Dann hätte ich von seiner Beerdigung nach Hause kommen und mir die Augen aus dem Kopf weinen können.«

Kay ließ sich wieder auf den Küchenstuhl fallen, mit trockenen Augen. Sie waren so trocken, dass es wehtat.

Cyril musterte seine Frau. Der Stoizismus, den sie an den Tag legte, war untypisch für sie. Von ihnen beiden war sie der wesentlich leidenschaftlichere Mensch. Er war der systematische Denker, weshalb andere ihn mitunter für kaltherzig hielten. Aber Gefühle vortäuschen, das tat sie nicht. Als der Anruf aus Maida Vale sie vor acht Tagen um vier Uhr morgens aus dem Schlaf geholt hatte, war Kay genauso sachlich gewesen. Die Nachricht war nicht unerwartet gekommen. Offenbar hatten sie seit Wochen Schwierigkeiten gehabt, seinen Schwiegervater zu füttern, weil der arme Kerl kaum noch schlucken konnte. (So lief das: Das Gehirn wurde derart dysfunktional, dass es vergaß, wie sich der Kehldeckel schließen ließ. An ihrem äußersten Ende gab die Krankheit dann ihren Gnadenschuss ab: Das Gehirn vergaß, wie Atmen funktionierte.) Nachdem Kay im Flur mit ihrer Mutter telefoniert hatte, war sie wieder ins Schlafzimmer gekommen, hatte das schnurlose Telefon in die Station an ihrem Bett zurückgestellt und ohne Umschweife verkündet: »Tot.« Dann war sie unter die Decke geschlüpft und sofort wieder eingeschlafen.

»Du kannst also nicht die geringste innere Regung für ihn aufbringen?«, fragte Cyril. »Trauer, einen Moment der Wehmut?« In Anbetracht ihres erschreckend unsentimentalen Pragmatismus von letzter Woche war es etwas zu einfach, sich vorzustellen, wie Kay eines Tages bemerkte, dass er selbst gerade neben ihr das Zeitliche gesegnet hatte, und sich mit einem erleichterten Seufzer auf ihre Seite der Matratze zurückrollte: Endlich würde ein gewisser Jemand nicht mehr systematisch das Bettzeug nach links zerren, und sie hätte die Decke für sich allein.

»Nein, ich empfinde absolut nichts, und dabei habe ich es versucht«, sagte sie. »Bei diesem allmählichen Sterben werden alle betrogen. Ich habe das Gefühl, er ist seit Jahren tot. Und ich hatte nie die Chance, richtig um ihn zu trauern. Aber ich sollte mich nicht selbst bemitleiden, für meine Mutter war es viel schlimmer. Mein Vater hat sie ständig beschuldigt, sie würde ihm seine Sachen stehlen oder seine Schriftsätze durchstöbern. Mehr als einmal hat er die Polizei gerufen, und seine Phasen der Klarheit waren mitunter lang genug, um einen Polizeibeamten davon zu überzeugen, dass die fremde Frau im Wohnzimmer tatsächlich eine Schwindlerin oder Diebin war. Ich kann unmöglich nachempfinden, wie schmerzhaft das alles für sie gewesen sein muss. Bestimmt habe ich dir erzählt, dass er in den letzten paar Jahren ihre gesamte Ehe vergessen hat. Stattdessen war er auf eine gewisse Adelaide fixiert, weißt du noch? Das Mädchen, das er geheiratet hatte, als er aus dem Ersten Weltkrieg zurückkam. Sie waren nicht mal zwei Jahre verheiratet, als Adelaide starb: vielleicht an der Spanischen Grippe. Stell dir mal vor, wie das für meine Mutter war – ihre fünfundfünfzig Jahre währende Ehe von einer achtzehnmonatigen Beziehung Anfang der Zwanzigerjahre ausgelöscht. Das wäre so, als würde ich im Alter ewig nach David Soundso schmachten.«

»David Castleveter«, sagte Cyril säuerlich.

»Siehst du, du erinnerst dich besser an meine Verflossenen als ich. Mein Dad hat jedenfalls dauernd nach Adelaide gerufen und meiner Mutter vorgeworfen, sie hätte seine Braut entführt. Er dachte, Mum wäre irgendeine eifersüchtige Xanthippe, die ihn in diesem fremden Haus eingesperrt hätte. Ich habe das Porträt gesehen, ein Schwarz-Weiß-Foto, das er ganz oben auf seinem Bücherregal stehen hatte, und Adelaide war eine Wucht – umwerfender, als meine Mutter es je war, um ehrlich zu sein, was Mum sicher nicht geholfen hat.«

»Kannst du die Dinge nicht vielleicht trennen?« Cyril goss ihr noch ein halbes Glas ein. Godfreys verrückte Besessenheit von Adelaide war ihm nicht neu, aber indem sie jetzt noch einmal darüber sprach, schien seine Frau sich der Sache ein für alle Mal entledigen zu wollen. »Als es ihm noch gut ging, hattest du doch eine echte Schwäche für deinen Vater. Kannst du deine Erinnerung an ihn in seinen besten Zeiten nicht an einem separaten Ort aufbewahren?«

»Schöne Idee, aber die Erinnerung ist zu fragil. Man kann sie nicht so zerreißen. Meine Erinnerung daran, wie er einmal war, ist wie ein zarter Weberknecht, auf dem die letzten zehn Jahre rumgetrampelt worden ist. Ich kann die Bilder, die mir in den Kopf schießen, wenn ich an meinen Vater denke, nicht kontrollieren. Unterhalb der Taille nackt, blaurot vor Wut und mit Fäkalien beschmiert: eins meiner liebsten.«

»Ich kann mich ziemlich gut an Godfrey als jüngeren Mann erinnern. Bisschen puritanisch und ein Tory, aber aus Respekt verzeihen wir den Älteren ja so manche Fehleinschätzung.«

»Du hast ihm nichts dergleichen verziehen. Ihr beide hattet doch die heftigsten Auseinandersetzungen, als Thatcher an die Macht kam – und damals fehlten bei ihm schon ein paar Latten am Zaun, also war es kein fairer Streit.«

»Na bitte. Du erinnerst dich also doch an etwas aus der Zeit, bevor der Zaun gar keine Latten mehr hatte.«

»Meine Mutter ist überzeugt, dass sie sich diese Katastrophe selbst zuzuschreiben hat.«

»Wie das?«

»Na ja, vielleicht war mein Vater wirklich am Boden zerstört, als er Adelaide verlor, denn wieder geheiratet hat er, glaube ich, erst 1936. Damals sah er gut aus – schlank, hohe Wangenknochen und dieser flammende Haarschopf, den er bis zum Schluss behalten hat. Meine Mum kann als Empfangssekretärin in seiner Kanzlei nicht viel verdient haben, und einen Anwalt zu heiraten schien ihr ein Maß an Sicherheit zu bieten, von dem sie nur träumen konnte. Der einzige Grund, warum eine alleinstehende junge Frau wie meine Mutter damals arbeitete, war der, dass ihre Eltern nicht die Mittel hatten, sie zu unterstützen – und ihr Vater lebte als Ladenbesitzer von der Hand in den Mund.«

»Verschone uns mit der Nummer über Maggies ärmliche Herkunft, Bab. Du bist in rundum guten Verhältnissen aufgewachsen, und das weißt du auch.«

Früher hatten wichtigtuerische Briten oft entfernte Verwandte mit aristokratischer Legitimation – eine Baronin, einen Herzog – für sich reklamiert, um sich in den Augen ihrer Freunde und Bekannten gesellschaftlich höherzustufen. In jüngerer Zeit berief sich das wichtigtuerische Mittelschichtsvolk dagegen auf Verwandte, die Berg- oder Stahlarbeiter waren. Mit einem Vater, der erst bei Longbridge und dann bei British Leyland angestellt gewesen war, hatte Cyril, der »Brummie«, wie Leute aus der Lkw-Stadt Birmingham liebevoll genannt wurden, in ihrem eheinternen Wettbewerb darum, wessen Herkunft deprimierender war, allerdings immer die Nase vorn – zumal er die Tatsache, dass Arbeiter in der Automobilbranche zu der Zeit, als sein Vater in Rente ging, ganz hübsche Löhne bekamen, regelmäßig herunterspielte. Außerdem hatte er alle möglichen Erklärungen dafür erfunden, warum er seinen Brummie-Akzent rigoros ausradiert hatte, als er nach London gezogen war, doch der wahre Grund war ganz einfach: Scham. Was jedes regionale Überbleibsel wie »Bab«, einen Kosenamen, den Cyril ausschließlich seiner Frau vorbehielt, umso kostbarer machte.

»Darf ich ausreden, o Salz der Erde?«, sagte Kay. »Mitte der Dreißigerjahre war die Wirtschaftslage immer noch miserabel. Und natürlich schmeichelte meiner Mutter die Aufmerksamkeit eines älteren Mannes. Ich glaube, sie hatte sich wirklich in ihn verliebt, nur auf diese eingeschüchterte Art, wie man sich in einen imponierenden Vorgesetzten verknallt. Er war ihr Fels in der Brandung. Der Altersunterschied von achtzehn Jahren dürfte ihr eher wie ein Vorteil vorgekommen sein, nicht wie etwas, das sie in Kauf nehmen musste.«

»Junge Leute haben keine Fantasie«, sagte Cyril.

»Genau«, sagte Kay. »Sie hätte die Konsequenzen für ihre Kinder bedenken können – denn für Percy und mich war unser Vater immer schon ein alter Mann; wir ahnten gar nicht, wie jung er noch war. Die Väter von Freundinnen und Freunden in der Schule hatten alle in ›dem Krieg‹ gekämpft, deshalb verschwiegen wir lieber, dass unser Vater in dem Krieg davor gekämpft hatte. Trotzdem, meine Mutter wird sich bei ihrer Hochzeit ganz sicher nicht ausgerechnet haben, dass sie, wenn ihr Bräutigam seinen Achtzigsten feiern würde, erst zweiundsechzig wäre, ziemlich fesch für ihr Alter und an einen halb Debilen gekettet, der plötzlich nicht mehr weiß, wer Premierminister ist. Und da in den Dreißigern niemand wahnsinnig lange lebte, wird meine Mutter sich ganz, ganz sicher nicht ausgerechnet haben, dass sie, wenn er mit unfassbaren Vierundneunzig endlich sterben würde, sechsundsiebzig wäre, mit kaputter Hüfte, nachdem sie anderthalb Jahrzehnte mit Hinternabwischen vergeudet hätte, für ihren mühevollen Einsatz verflucht und verteufelt, wohlgemerkt – nur um auf die nächste Etappe ihres Lebens zu blicken und sich zu fragen, ob ihr ein ähnliches Siechtum blühen wird!«

»Ich will dich nicht der Egozentrik verdächtigen«, sagte Cyril sanft und berührte ihre Hand, »aber weinst du um deine Mutter oder um dich und mich?«

»Ach, keine Ahnung«, sagte Kay und trocknete sich die Augen, erleichtert, dass sie an diesem speziellen Tag überhaupt um irgendwen weinte, und sei es nur um sich selbst.

»Bist du vielleicht auch auf mich wütend?«, fragte Cyril zaghaft. »Weil ich nicht oft genug für dich eingesprungen bin, bei deinem Vater?«

»Nein, nein, darüber haben wir doch gesprochen. Bitte hör auf, dich zu geißeln. Einer von uns musste schließlich bei Hayley sein, solange sie noch zur Schule ging, und irgendjemand musste auch daran denken, Brot einzukaufen. Außerdem erinnerst du dich sicher noch gut daran, wie sehr sich mein Vater aufgeregt hat, wenn du mal für mich eingesprungen bist. Vielleicht hat er dich als Rivalen um Adelaides Zuneigung betrachtet. Mal ganz abgesehen davon, dass du praktisch jeden Monat nach Birmingham fährst, um nach deinen eigenen alten Eltern zu sehen. Und wer weiß, was mit meiner Mutter passiert … Ich bin total ausgelaugt, und wie viel von diesem Verfallsmanagement können wir noch aushalten? Es ist, als würde unser künftiger Vollzeitjob darin bestehen, Obst beim Verfaulen zuzusehen.«

Nachdenklich wartete Cyril einen Moment ab. »Falls sich deine Mutter als genauso langlebig erweist wie dein Vater, verstehe ich deine Sorge, das alles noch einmal durchzustehen. Schließlich hat Percy dir erst bei der Planung der Beerdigung geholfen, nachdem der wirklich harte Part erledigt war –«

»Nur um es dann gründlich zu vermasseln. Er hätte Mum das Hauptschiff von St. Mark’s ausreden müssen, da passen bestimmt fünfhundert Leute rein. Das sah lächerlich aus. Die Freunde meines Vaters sind alle tot. Seine Geschwister auch. Mit seinen Nichten und Neffen hat er es sich verscherzt, als er plemplem wurde, und die meisten sind inzwischen selbst zu alt, um ohne Rollator an einer Trauerfeier in Nordlondon teilzunehmen. Niemand war da. Es sah nicht nach einer Trauergemeinde, sondern nach einer Touristengruppe aus.«

»Und ich verstehe auch, warum du befürchtest, dich um meine Eltern kümmern zu müssen«, nahm Cyril geduldig den Faden wieder auf. »Aber da wird meine Schwester helfen. Ich werde alles bezahlen, was nötig ist, damit sie nicht bei uns leben, zumal du und meine Mutter bekanntlich noch nie gut miteinander ausgekommen seid. Also, wenn ich das sagen darf … Ich mache mir weit mehr Sorgen darum, was mit uns passiert.«

»Wir sind jetzt Anfang fünfzig, findest du es dafür nicht ein bisschen früh?«

»Überhaupt nicht. Über die eigenen Optionen im Alter sollte man sich Gedanken machen, solange man noch relativ jung und fit ist. Du warst so unglaublich lieb, mir gewissermaßen einen Freibrief zu geben. Aber der wahre Grund, warum ich es vermieden habe, meinen Teil zur Pflege deines Vaters beizutragen, war, dass ich schon die vergleichsweise kurzen Zeiten, in denen ich seinen Verfall unmittelbar miterleben musste, unerträglich fand. Er war nicht mein Vater, also war ich streng genommen nicht für ihn verantwortlich, eine Formalität, die ich weidlich ausgenutzt habe: Ich habe mich nicht um ihn gekümmert, weil ich es nicht musste, Punkt. Im Krankenhaus habe ich zwar auch ein paar Patienten, die alt und pflegebedürftig sind, aber die Termine dauern nur zehn Minuten, und fast immer ist ein Verwandter dabei; ich muss ihnen nicht die Windeln wechseln oder fünfzigmal am Tag entscheiden, ob ich ihnen ihre Hirngespinste lasse oder sie korrigiere. Ich finde diese Begegnungen trostlos und bedrückend, aber sie setzen mich nicht außer Gefecht. Bei deinem Vater dagegen habe ich, offen gesagt, Selbstmordgedanken bekommen – oder Mordgedanken – oder beides. Eine halbe Stunde in seiner Gegenwart war wie eine kleine Eiszeit. Es gab mir das Gefühl, dass das ganze Leben sinnlos und grauenvoll ist. Godfrey war schon immer politisch fehlgeleitet, ja, aber er konnte sich gut ausdrücken, war gebildet und gepflegt, nur um dann im Alter schlimmer als ein Tier zu werden. Mit echten Tieren kann man wenigstens zum Tierarzt gehen und sie einschläfern lassen, lange bevor sie einen biologisch derart skandalösen Zustand erreichen. Ich würde so gut wie alles tun, um uns vor einem solchen Schicksal zu bewahren.«

»Das meinen alle«, sagte Kay verdrossen und legte die Füße auf den Stuhl vor ihr. »Alle denken, sie wären die Ausnahme. Alle sehen sich an, was mit alten Menschen passiert, und schwören sich, dass ihnen das nie passieren wird. Sie werden sich nicht damit abfinden. Sie haben ihre Standards. Sie schätzen ihre Lebensqualität. Irgendwie werden sie es schaffen, in Würde zu altern. Sollten sie tatsächlich einmal sterben – in ihrem tiefsten Inneren glauben die meisten Leute ja nicht, dass ihnen das je widerfährt –, werden sie bis zum Schluss weise, warmherzig, witzig und bei klarem Verstand sein, umgeben von liebenden Freunden und Angehörigen. Alle denken, sie hätten zu viel Selbstachtung, um einem Fremden zu erlauben, ihren Intimbereich zu waschen, oder sich in ein Pflegeheim sperren zu lassen, das entweder steril und unpersönlich ist oder dreckig und unpersönlich.

Und dann zeigt sich, Überraschung, dass sie genauso sind wie alle anderen! Sie verfallen wie alle anderen und verbringen ihr jammervolles Lebensende wie alle anderen: entweder mit einer Bulgarin im Gästezimmer, die sie verabscheut und ihnen heimlich ihren Whiskey klaut, oder in einer zynischen Anstalt, die Zeit und Geld spart, indem sie ihnen jeden Mittag altbackenes Brot mit Streichwurst auftischt. Ja, mein Vater war mal ein schick gekleideter und gebildeter Mann. Hätte ihm ein prophetischer Geist damals einen Blick auf sich selbst mit neunzig plus gewährt, wie er mit seinen eigenen Exkrementen beschmiert vor einer Ehefrau flüchtet, die er für eine MI6-Agentin hält – glaubst du nicht, er hätte diesem Geist gesagt, er wäre lieber tot?«

»Eben darauf will ich hinaus«, sagte Cyril. »Ich habe genügend Geriatriepatienten kommen und gehen sehen, um zu der ziemlich schlüssigen Überzeugung zu gelangen, dass sich wenige Menschen jene Lebensqualität bewahren, die wir heute auch jenseits der achtzig für selbstverständlich halten. Die chronischen Krankheiten kommen knüppeldick und knüppelhart. Selbst wenn der Verstand sich nicht verabschiedet, implodiert der Körper, und das tägliche Leben dreht sich fast ausschließlich um Schmerzen. Mit jedem Jahr, das man noch erlebt, gibt es einen neuen Schwung von Dingen, die man einmal konnte und jetzt nicht mehr kann. Welten schrumpfen, und nichts, was in der Zeitung steht, ist mehr von Belang, bis es einem irgendwann nur noch darum geht, seine Schmerzen zu lindern oder sie wenigstens nicht schlimmer werden zu lassen. Und möglicherweise ums Essen, in dem unwahrscheinlichen Fall, dass man noch Appetit hat. Achtzig ist eine gute, runde Zahl. Achtzig ist, denke ich, die Grenze.«

»Jenseits von der was passiert?«

»Als Arzt bin ich in der Lage, weit im Voraus eine effektive medizinische Lösung zu besorgen. Der Schlüssel dazu, nicht so zu enden wie alle anderen, ist Eigeninitiative.«

»Moment. Noch mal im Klartext.« Kay schwang die Füße wieder auf den Boden und richtete sich auf. »Du schlägst vor, dass wir kurz nach unseren achtzigsten Geburtstagen Selbstmord begehen. Das Wort hast du nicht benutzt. Aber wer einen solchen Plan ausbrütet, sollte sich nicht auf Euphemismen und Ausflüchte stützen.«

»Ganz recht.« Cyril wiederholte: »Ich schlage vor, dass wir kurz nach unseren achtzigsten Geburtstagen Selbstmord begehen.«

»Angenommen, du meinst das tatsächlich ernst –«

»Todernst. Das Fleisch erduldet in jedem Alter Tausende natürliche Schläge. Wir sollten die Mittel für einen schnellen Abgang immer bereithalten. Es können einem innerhalb von zehn Minuten Dinge widerfahren, die jeden von uns weit vor Ablauf dieser zehn Minuten um Besinnungslosigkeit betteln lassen.«

»Ist das eine Drohung?«

»Eine Beobachtung. Ich muss dich nicht daran erinnern, was wir erlebt haben.«

»Aber wie würde dieser Pakt funktionieren? Du bist über ein Jahr älter als ich. Ich soll dir also, nachdem du deinen schändlichen Schierlingsbecher getrunken hast, beim Wegnicken zusehen, nicht den Notarzt rufen – eine Unterlassung, für die ich in deinem Fantasiemodell nicht verhaftet werde – und die nächsten vierzehn Monate in Trauer über dein Dahinscheiden allein hier herumlungern? Wonach ich dann vertraglich verpflichtet bin, mich selbst um die Ecke zu bringen?«

»Mir wäre es lieber, wenn wir es so machen würden, wie wir seit 1963 alles gemacht haben: gemeinsam. Wir könnten uns für meinen Geburtstag entscheiden, aber wenn du bis dahin nicht krank und gebrechlich bist, würde das ein kleines Opfer deinerseits erfordern. Deshalb schlage ich vor, dass ich ausharre, egal in welcher Verfassung, und wir auf deinen Geburtstag warten.«

»Schöner Geburtstag«, murmelte Kay.

»Unsere Vereinbarung müsste absolut bindend sein. Aber vielleicht tröstet es dich zu hören, dass die Lebenserwartung in England und Wales für Männer gegenwärtig bei dreiundsiebzig liegt und für Frauen bei neunundsiebzig. Dein Vater war ein echter Ausreißer. Ein Buchmacher würde uns eine mehr als fünfzigprozentige Chance bescheinigen, dass wir einen solchen Pakt nie in die Tat umsetzen müssen.«

Nur wenige Jahre später würde jemand, der die Lebenserwartung für Männer und Frauen in England und Wales herunterrattern konnte, niemanden mehr beeindrucken, weil schon Achtjährige bloß Zugang zu einer Telefonverbindung brauchten, um solche Statistiken binnen Sekunden abzurufen – wie von Zauberhand. Ein paar weitere Jahre später würden Achtjährige die Geräte, mit denen sich solche Statistiken – ebenso wie die Fläche Mikronesiens und die beste Behandlung für Hühneraugen – einfach aus der Luft abrufen ließen, in der Hosentasche mit sich herumtragen und ein breites Allgemeinwissen damit so gut wie wertlos machen. Noch aber konnte Cyril diese aktuellen Zahlen nur zutage fördern, weil er Allgemeinmediziner war und sich auf dem Laufenden hielt.

»Was, wenn ich Nein sage?«, fragte Kay. »Würdest du es dann trotzdem machen?«

»Wahrscheinlich. Um dir einen Gefallen zu tun. Einen großen Gefallen, wenn dein Vater irgendein Maßstab ist.«

»Wie ein Gefallen würde es sich möglicherweise nicht anfühlen.«

»Wahre Großzügigkeit bedarf keines Dankes.«

An dieser Stelle hätte Kay ihren Mann mit einer beiläufigen Zustimmung abspeisen können, damit er sie in Frieden ließ, und danach hätten sie so weitermachen können wie bisher. Wenn die lebhafteren Eindrücke vom Verfall ihres Vaters erst verblasst wären, würde Cyril seinen absurden Pakt vielleicht wieder vergessen. Doch sie kannte ihn zu gut. Er würde ihn nicht vergessen. Sie hatte nie eine herablassende Beziehung zu ihrem Mann gepflegt und würde auch jetzt nicht damit anfangen. Nach achtundzwanzig Jahren Ehe hätte Cyril jede Unaufrichtigkeit ihrerseits sofort bemerkt. Nach achtundzwanzig Jahren Ehe hätte Kay auch jede Unaufrichtigkeit seinerseits bemerkt – alles, was nach einer bloßen Laune oder vorübergehendem Leichtsinn aussah und was er sicher wieder zurücknehmen würde. Er war ein ernster Mensch, zu ernst häufig für ihren Geschmack. Zweifellos dachte er schon eine ganze Weile über dieses Thema nach, vielleicht seit Jahren. Wenn er jetzt so weit gegangen war, seinen Vorschlag auf den Tisch zu legen, hatte seine Entschlossenheit einen Punkt erreicht, an dem es für ihn kein Zurück mehr gab. Das Mindeste, was sie tun konnte, war, seinen Vorschlag ernsthaft in Erwägung zu ziehen und sich entweder rückhaltlos darauf einzulassen oder ihn genauso rückhaltlos abzulehnen.

Also sagte sie zu Cyril, die Idee komme für sie sehr plötzlich, und angesichts der Tragweite dessen, was auf dem Spiel stehe, müsse sie darüber nachdenken. Als sie aufstand, um den Sherry zurück in den Kühlschrank zu stellen, sah sie bestürzt, dass sie die Flasche ausgetrunken hatten – das heißt, sie hatte sie ausgetrunken. Himmel, es war erst fünf nach halb acht, und sie war schon beschickert und hatte nicht die geringste Lust, Abendessen zu machen, wobei sie in diesem Zustand sowieso besser nicht an einem heißen Herd herumhantieren sollte. Kein Tropfen Alkohol vor zwanzig Uhr! Die Cyril’schen Regeln mochten rigide und willkürlich erscheinen, aber sie musste zugeben, dass ein paar unverrückbare Grenzen im Leben tatsächlich den Rahmen für Produktivität und Zielstrebigkeit lieferten.

Nicht ganz eine Woche nach dem bescheidenen Vorschlag ihres Mannes durchsuchte Kay das oberste Fach des Kühlschranks, weil sie dort ein offenes Glas Minzsoße zu finden hoffte, als sie in der hintersten linken Ecke ein schwarzes Kästchen aus robuster Pappe entdeckte. Sie erkannte darin die Behausung einer Seifenschale aus rostfreiem Stahl wieder, todschick und trotzdem ein Fehlkauf (rostfreier Stahl war nur dann ein attraktives Material, wenn er nicht von einem Stück Seife verschmiert wurde); in Wahrheit hatte sie das unpraktische Accessoire nur wegen des edlen Kästchens behalten, dessen Deckel sich mit einem so befriedigenden Pfffff schloss. Da Cyril sie noch nicht bezichtigt hatte, eine MI6-Agentin zu sein, hatte er ganz sicher auch keine metallene Seifenschale in den Kühlschrank gestellt. Vielmehr war sie, sobald sie das Kästchen entdeckt hatte, sicher, was es enthielt. Sie betrachtete es mit einer widersprüchlichen Mischung aus Neugier und Skepsis, wobei die Neugier nicht so heftig war, dass sie den Deckel aufgemacht hätte. Sie ließ das Behältnis in Frieden und fand sich damit ab, ein neues Glas Minzsoße öffnen zu müssen.

***

Das war im Frühling. Als es Herbst wurde, warf Kay denselben dunklen Wollmantel auf die Arbeitsplatte und ließ sich auf denselben Küchenstuhl fallen. Die Dezimierung ihrer engsten Familie um eine Person hatte ihr die Besuche in Maida Vale nicht ganz erspart, doch konnten diese jetzt zumindest im Voraus und zu vernünftigen Tageszeiten geplant werden. Cyril hatte diesen Monat im Krankenhaus Samstagsdienst und war gerade nach Hause gekommen.

»Es steht doch mehr oder weniger fest, dass Alzheimer eine starke genetische Komponente hat, oder?«, fragte Kay matt.

»Der Lebensstil scheint ein weiterer Faktor zu sein – ein hübsches kleines Argumentchen, das im NHS Verbreitung findet und unsere Patienten praktischerweise für ihr eigenes Unglück verantwortlich macht – aber ja, Demenz scheint tatsächlich einen erblichen Aspekt zu haben.«

»Weil ich nämlich zehn Schachteln Weetabix in den Schränken meiner Mutter gefunden habe. Sie hat ihre Speisekammer schon immer wie eine Armeekantine bestückt. Aber jetzt sagt sie, sie geht zu Sainsbury’s und erinnert sich nicht mehr daran, dass sie schon Müsli gekauft hat. Und anscheinend, aber das habe ich ihr nicht gesagt, erinnert sie sich auch nicht mehr daran, dass es mein Vater war, der Weetabix zum Frühstück gegessen hat. Sie isst nur Toast.«

»Verständlich, dass dir das Angst macht. Ziehst du voreilige Schlüsse daraus?«

»Ich ziehe weniger, als dass ich zupfe. Innerhalb einer Stunde hat sie mir dreimal vom selben Kammerkonzert in St. Mark’s erzählt. Dann hat sie gefragt, wie ›Cyril‹ bei Barclays zurechtkommt und wie ›Cyril‹ seine neue Wohnung gefällt, woraus ich ableiten musste, dass sie Simon meinte. Und zum Schluss habe ich noch einen Stapel frisch gewaschener Handtücher im Ofen gefunden. Dieser Pakt, von dem du gesprochen hast, mein Lieber?«, sagte Kay grimmig. Seit er seinen makabren Vorschlag im April zur Diskussion gestellt hatte, war sie nicht mehr darauf zurückgekommen. »Ich bin dabei.«

***

Und so wurde Kay und Cyril Wilkinsons Abmachung im Oktober 1991 besiegelt. Mit der ewigen Arroganz der Gegenwart schien das letzte Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts kühn in eine schöne neue Welt fortzuschreiten, denn die Welt ist immer neu, wenn auch nicht immer schön. Wie all die anderen Zeitalter vor ihm machte auch dieses den Eindruck, ungeheuer modern und voller erstaunlicher Innovationen zu sein – Computer, die so billig und kompakt waren, dass jeder Haushalt einen haben konnte –, Innovationen, an deren Erfindung die meisten Menschen nicht beteiligt gewesen waren, deren faszinierende Kapazitäten aber ein gutes Licht auf sie zu werfen schienen.

Trotz wirtschaftlichem Gegenwind war es eine Phase des schwindelerregenden Optimismus. Im Vereinigten Königreich, wo Michael Heseltine seine eigene Parteivorsitzende mit Kritik überzogen hatte, war die böse Hexe mild geworden (auch wenn Kay eine Schwäche für Maggie hatte, die sie tunlichst vor Cyril verbarg). Mandela war nicht mehr im Gefängnis und schon dabei zu verzeihen, was unverzeihlich erscheinen mochte, während in Johannesburg multilaterale Verhandlungen zur Befriedung des Landes in Gang kamen. Die sechs Wochen eines Golfkriegs wirkten seinerzeit lang, während schon bald munter von »nur« sechs Wochen die Rede sein sollte. Nachdem die Berliner Mauer zu touristischen Souvenirs zerbröckelt war, wurden Tyrannen in Osteuropa abgesetzt oder gelyncht. Deutschland war wiedervereinigt, und eine Kaskade sowjetischer Republiken, von denen die meisten Menschen im Westen noch nie gehört hatten, erklärten ihre Unabhängigkeit – alles zusammengenommen verleitete einen prominenten Politologen dazu, das »Ende der Geschichte« zu postulieren, was bei zwei noch nicht lange zurückliegenden Weltkriegen eine reizvolle Aussicht war.

Der britische National Health Service wurde gegründet, als Cyril neun war, und das kulturelle Klima der Nachkriegszeit, in dem sowohl er als auch Kay aufwuchsen, war von Solidarität und Verzicht geprägt. Er brannte darauf, an dem großen sozialistischen Experiment teilzunehmen, und hatte darum schon mit fünfzehn beschlossen, Arzt zu werden. Und so war seine Hingabe an das, was Politiker wie Patienten sentimental »unserNHS« nannten, unerschütterlich gewesen, trotz mancher Skandale wie der Kontamination der nationalen Blutkonserven mit HIV und Hepatitis C in den Achtzigern und dem Problem der Kostenspirale. Seit seiner ersten Assistenzzeit hatte es nie einen Zweifel gegeben: Dr. Cyril J. Wilkinson hatte sein Leben dem NHS geweiht.

Dagegen war Kays Entscheidung, sich zur Krankenschwester ausbilden zu lassen, eher ein Gelegenheitsentschluss gewesen. Ende der Fünfzigerjahre gehörte die Krankenpflege zu den wenigen Berufen, die Frauen ohne Weiteres offenstanden. Von ihrer Veranlagung her war sie für den Job allerdings nicht geeignet. Als Mädchen war sie zimperlich und nadelscheu gewesen, und beim Spritzengeben konnte sie einen gefährlichen Schwindel nur dadurch überwinden, dass sie sich einbildete, der Arm des Patienten sei ein Schweinesteak. Sie war empathisch, aber nicht bis zur Selbstverleugnung, und sehnte sich insgeheim nach persönlicher Anerkennung, die Pflegeberufe nicht mit sich brachten. Absolut kompetent und weit davon entfernt, in der Endokrinologie des St. Thomas Hospital nur Dienst nach Vorschrift zu machen, hatte sie die Krankenpflege nie ganz als ihre Berufung betrachtet. Deshalb war sie mit den üblichen fünfundfünfzig Jahren in Rente gegangen und hatte sich umgehend für ein Innenarchitekturstudium an der Kingston University eingeschrieben. Sich neu zu erfinden hieß, heftigen ehelichen Protest zu überwinden. Sie musste ihren Mann daran erinnern, wie oft er ihren Sinn für Ästhetik bewundert hatte, denn sie hatte ihr Haus in Lambeth so geschmackvoll eingerichtet, dass man ihr immer wieder Komplimente dafür machte. Nach ihrem Abschluss und der Zulassung bekam sie ihre ersten Aufträge von Freunden, aber Inneneinrichtung bewirbt sich selbst, und so sprach sich ihr Name herum. Schon bald hatte sich Kay eine komplette zweite Karriere geschaffen. Und wesentlich mehr Spaß.

Allgemeinmediziner sollten eigentlich mit sechzig in Pension gehen, aber Cyril arbeitete bis fünfundsechzig weiter – und hätte vielleicht noch länger dabeibleiben sollen, wenn man bedachte, dass jeder Anflug von Untätigkeit ihn grantig machte (am Gärtnern hatte er kein Interesse). Immerhin las er gerne, auch wenn die trockenen Sachbücher, zu denen es ihn hinzog, keinem anderen Zweck als seiner eigenen Erbauung dienten – und wen kümmerte es, bei welchen Themen ein Arzt im Ruhestand sich auskannte? Bevor er seine Tiraden gegen einen weiteren sinnlosen Golfkrieg vom Stapel ließ, verbrachte er oft Stunden mit der Lektüre des Guardian, vor sich hin schimpfend, was in aller Welt es nütze, endlich eine Labour-Regierung zu haben, wenn sie von einem händeschüttelnden Plastikpremierminister geführt werde, der ein Tory im Schafspelz sei? Er bewegte sich langsamer, und sei es nur, um den Tag zu füllen, während Kay, immer schon eine energiegeladene Frau, noch einen Zahn zugelegt hatte. Es gab immer eine Wandfarbe auszusuchen, an einer weiteren Nachlassversteigerung teilzunehmen, ein verrücktes Zweiersofa vom Straßenrand zu retten und neu zu beziehen, bevor die Stadtreinigung es zur Müllhalde transportierte.

Das Paar erwähnte seinen selbst gesetzten Tag X nur selten. Die »effektive medizinische Lösung« blieb jahrelang in der linken hinteren Kühlschrankecke, und Kay rührte sie nie an. Es war wahrscheinlich, dass Cyril ihren Inhalt regelmäßig durch frischere Pharmazeutika ersetzte, aber wenn es so war, verjüngte er ihren Vorrat nie in ihrer Gegenwart. Als ihre treue John-Lewis-Kühl-Gefrierkombination schließlich Kondenswasser pinkelte wie ein zitternder alter Hund kurz vor der Einschläferung, übernahm Kay die Aufgabe, all die Mayo- und Marmeladengläser herauszuholen und die in der Gemüseschublade vor sich hin schimmelnden Zitronenhälften zu entsorgen. Beim Ausräumen des obersten Fachs fand sie dann ein verkrustetes Glas Minzsoße, aber kein schwarzes Kästchen. Sobald der neue Bosch geliefert worden war, begann sie, die überlebenden Esswaren wieder einzuräumen, nur um festzustellen, dass das schwarze Kästchen in dem ansonsten leeren Kühlschrank wie gehabt in der linken hinteren Ecke des obersten Fachs lag. In dem Durcheinander, das mit dem Versagen eines wichtigen Haushaltsgeräts einhergeht, hatte sie Cyril weder in der Nähe des kaputten Kühlschranks noch bei dessen Nachfolger gesehen. Mysteriös.

Auffallend regelmäßig jedoch spielte Cyril im Verlauf ihrer angeregten, aber nicht immer heiteren Gespräche am Abendessenstisch auf ihre Vereinbarung an. Seine Vorstellung von spritziger Konversation lief auf Bemerkungen wie diese hinaus: »Hast du dir mal klargemacht, dass man in der Wildnis nie Tiere sieht, die erkennbar gealtert sind – die einen Buckel haben und kahl werden und kaum noch laufen können? Rehe zum Beispiel: Die werden erwachsen, sehen ihr Leben lang ungefähr gleich aus, und dann sterben sie. Wir gewöhnen uns daran, sehr alte Menschen zu sehen, aber wir sind auch Tiere, und in einem Zustand fortgeschrittenen Verfalls weiterzuleben ist widernatürlich.«

Er verfolgte den stetigen Anstieg der Lebenserwartung mit unterschwelliger Bestürzung. »In Berichten über unsere ›alternde Bevölkerung‹«, sagte er, während sie ihren Chicken Pot Pie aßen, »erwähnt kein Moderator die zunehmende Langlebigkeit, ohne sofort ein ›was natürlich gut ist‹ hinterherzuschicken. Eine Art zwanghafte Zusatzbemerkung. Es ist aber nicht gut! Wir leben nicht länger. Wir sterben länger!«

Zusammenhangslos führte er aus, das Jahresbudget des NHS sei »seit seiner Gründung im Jahr 1948 um das Vierfache gestiegen! Und zwar effektiv, Inflation inklusive!« Als Cyril 1999 in den Ruhestand ging und Tony Blair dem »kostenlosen« Dienst Geld injizierte, als bearbeitete er einen Truthahn mit heißer Butter, aktualisierte Cyril: »Um das Sechsfache!«

Er informierte seine Frau laufend über den eskalierenden Anteil der über Fünfundsechzigjährigen an der britischen Bevölkerung und unterstrich insbesondere den Zuwachs bei den »ganz Alten« über fünfundachtzig, deren vielfältige chronische Leiden finanziell ruinös seien, von all dem unermesslichen privaten Leid ganz zu schweigen.

»Menschen unseres Alters«, sagte er, als sie beide Mitte sechzig waren, »kosten den NHS doppelt so viel wie der durchschnittliche Dreißigjährige. Aber bei Fünfundachtzigjährigen ist das Verhältnis fünf zu eins! Fünfmal so viel Zaster, um einen alten Kauz am Leben zu halten, der den ganzen Nachmittag im Halbschlaf vor Come Dine with Me hängt, im Vergleich zu einem Steuerzahler mit kleinen Kindern, der an einem schönen Tag noch was zu lachen hat und eine Runde Rugby spielen kann.«

Leutselig prophezeite er Kay, dass die Queen, die eigenhändig Geburtstagskarten für alle frischgebackenen Hundertjährigen unterschreibe, diese Aufgabe bald an einen Computer delegieren müsse, weil so viele Briten älter als hundert würden, dass die liebenswürdige alte Dame sonst den ganzen Tag nichtssagende Glückwünsche verschicken und schließlich mit einem Schreibkrampf das Bett hüten müsste.

Cyril führte auch ständig Buch über den wachsenden Anteil von »Bettenblockierern« in britischen Krankenhäusern: ältere Patienten, die an sich gesund genug seien, um nach Hause zu gehen, aber zu schwach, um sich selbst überlassen zu werden. Angesichts der mangelhaften Pflegesituation blieben sie oft monatelang im Krankenhaus und nähmen jüngeren Patienten, die noch gesund werden könnten, die dringend benötigten Plätze weg. Immer häufiger – ein Detail, das er regelrecht zu feiern schien – würden wegen der bösen Bettenblockierer OPs abgesagt oder mehrfach in letzter Minute verschoben, weil kein Krankenhausbett für die Tage danach verfügbar sei. »Kannst du dir das vorstellen?«, flötete Cyril. »Du hast es selbst erlebt: Man muss sich gehörig wappnen, muss sich mental vorbereiten, bevor man aufgeschnitten wird. Und auch physisch hat man lauter Regeln zu befolgen, wie ab Mitternacht nüchtern zu bleiben. Stell dir vor, du machst diesen ganzen Stress durch, nur um am nächsten Morgen zu hören: ›Tut uns leid, die OP findet doch nicht statt, gehen Sie bitte nach Hause.‹ Und dann das gleiche Hin und Her noch einmal, wieder und wieder? Das ist doch ein Skandal.«

Diese ministerialen Vorträge erinnerten an die wiedergeborenen Evangelisten der Speakers’ Corner im Hyde Park, nur dass Cyril nicht mit dem Versprechen ewigen Lebens hausieren ging, sondern mit dem Gegenteil. Sein offenkundiger Groll gegen die Alten konnte unbarmherzig erscheinen, schließlich hatten all diese armen Menschen nichts weiter getan, als auf der Welt zu bleiben. Doch als die Zeit voranschritt, fühlte Kay sich bemüßigt zu bemerken: »Bald wirst du aufhören müssen, über ›sie‹ zu motzen, mein Lieber, und anfangen, ›wir‹ zu sagen.«

Die meisten Menschen werden mit zunehmendem Alter konfuser, wenn es darum geht, ihre Angelegenheiten zu regeln, was verständlich ist, denn sie wissen ja nicht, für wie viele Jahre diese Angelegenheiten geregelt werden müssen. Wer noch vier Jahrzehnte vor sich hat, trifft andere Entscheidungen als jemand, bei dem es vier Tage sind – und doch ist es erstaunlicherweise selbst unter sehr alten Menschen gang und gäbe, Entscheidungen in der Annahme zu treffen, sie würden ewig leben. Die Alternative wäre schließlich zu akzeptieren, dass sie jeden Moment tot umfallen könnten, was logischerweise dazu führen würde, dass sie ihren Nächsten und Liebsten ständig und mitunter bis zu deren Überdruss versichern würden, wie unbeschreiblich nah und lieb sie ihnen sind – während sie die Stromrechnungen, das Ausfüllen von Behördenanträgen und das Putzen der Toilette, alles Dinge, die einem auf keinen Fall die letzten Momente auf Erden rauben sollten, schlicht ignorieren. Die Alternative wäre, in einem dunklen Zimmer zu sitzen, arbeitslos, mit ekelhaftem Klo.