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USA im Jahr 2029. Der Dollar ist kollabiert und durch eine Reservewährung ersetzt. Wasser ist kostbar geworden. Und Florence Mandible und ihr dreizehnjähriger Sohn Willing essen seit viel zu langer Zeit nur Kohl. Dass es Florence trotz guter Ausbildung so schwer haben würde, ihr Leben zu meistern, hätte niemand aus der Familie gedacht. Doch als die Mandibles alles verlieren und in einem Park Unterschlupf suchen müssen, sind es nicht die Erwachsenen, sondern Willing, der mit Pragmatismus, Weitsicht und notfalls auch krimineller Entschlossenheit dem Mandible-Clan wieder auf die Beine hilft … Scharfsinnig und ironisch erzählt Lionel Shriver von den Konsequenzen von Globalisierung und Nationalismus – eine beängstigende Zukunftsvision und ein komischer, liebevoller, fesselnder Familienroman.
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Veröffentlichungsjahr: 2018
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www.piper.de/literatur
Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Werner Löcher-Lawrence
ISBN 978-3-492-97770-8
Januar 2018
Deutsche Erstausgabe
© 2016 by Barrington Saddler, LLC
Titel der englischen Originalausgabe: »The Mandibles: A Family, 2029-2047« bei HarperCollins, New York, 2016
© Piper Verlag GmbH, München 2018
Covergestaltung: zero-media.net, München
Covermotiv: gettyimages/© Cultura RM Exclusive/Kate Ballis
Datenkonvertierung: Kösel Krugzell
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Inhalt
Widmung
Zitat
2029
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
2047
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Für Bradford Hall Williams
Auch wenn Du wenig Zeit für Literatur hattest, dieses Buch hättest Du gemocht.
Wer hätte gedacht, dass ein so übellauniger Misanthrop so heftig vermisst würde?
Der Kollaps ist eine plötzliche, ungewollte und chaotische Form der Vereinfachung.
James Rickards,Währungskrieg
»Nimm kein sauberes Wasser zum Händewaschen!«
Was als sanfte Erinnerung gedacht war, kam als schrille Ermahnung. Florence wollte nicht wirken wie jemand, den ihr Sohn einen Boomertrottel nennen würde, und doch – die Regeln im Haus waren einfach, und Esteban missachtete sie ständig. Dabei gab es genug Arten klarzumachen, dass man nicht unter der Fuchtel einer (etwas) älteren Frau stand – auch ohne Wasser zu verschwenden. Er war ein so irrsinnig gut aussehender Mann, dass sie ihm sonst fast alles durchgehen ließ.
»Vergib mir, Vater, denn ich habe gesündigt«, murmelte Esteban und steckte die Hände in die Plastikschüssel, die das ablaufende Wasser auffing. Kohlschnipsel trieben darin.
»Das bringt jetzt auch nichts mehr, oder?«, sagte Florence. »Sie mit dem Grauwasser zu waschen, wo du schon das saubere benutzt hast?«
»Ich tu nur, was man mir sagt.«
»Das ist ja was ganz Neues.«
»Was ist dir denn über die Leber gelaufen?« Esteban wischte seine jetzt fettigen Hände an dem noch fettigeren Geschirrtuch ab (noch eine Regel: Eine Rolle Küchenpapier muss sechs Wochen halten). »Stimmt was im Adelphi nicht?«
»Im Adelphi stimmt nie was«, sagte sie. »Drogen, Prügeleien, Diebstahl. Schreiende Babys mit Ekzemen. So sind Obdachlosenheime nun mal. Ernsthaft, ich kapiere nicht, warum es so schwer ist, die Leute dazu zu bekommen, die Toilettenspülung zu drücken. Was hier im Haus ein wahrer Luxus ist.«
»Ich wünschte, du fändest etwas anderes.«
»Ich auch. Aber sag’s niemandem. Das würde meinen Heiligenschein zerstören.« Florence schnitt weiter ihren Kohl klein. Auch für zwanzig Dollar noch preisgünstig, allerdings war sie nicht sicher, wie lange ihr Sohn Willing das Gemüse noch ertrug.
Die Leute waren immer erstaunt, dass sie jetzt schon seit vier langen Jahren, wie lobenswert!, einen so anstrengenden, undankbaren Job machte. Aber wer sie für einen Engel hielt, lag falsch. Vorher war sie von einer schlecht bezahlten Stelle (mitunter: Teilzeitstelle) in die andere geschlittert, und das hatte ihr das naive Gutmenschentum, mit dem sie am Barnard College ihren schwachsinnigen Doppelabschluss in Amerikanistik und Umweltpolitik gemacht hatte, gründlich oder doch fast ausgetrieben. Die Hälfte ihrer Jobs hatte sich in Wohlgefallen aufgelöst, weil sie durch irgendeine Innovation plötzlich überflüssig wurden. So hatte Florence für eine Firma gearbeitet, die elektrische Unterwäsche zum Sparen von Heizkosten verkaufte, aber plötzlich wollten die Leute nur noch mit elektrifizierten Graphen beheizte Wäsche. Andere Stellen fielen durch Computerprogramme weg, die man in ihren Zwanzigern Bots genannt hatte, die für all die freigesetzten Arbeiter heute aber aus nachvollziehbaren Gründen nur noch Robs waren, Räuber, die ihnen die Existenz nahmen. Ihren vielversprechendsten Job hatte sie bei einem Start-up gehabt, das gut schmeckende Proteinriegel aus Grillenpulver herstellte. Als dann jedoch Hershey’s einen ähnlichen, allerdings berüchtigt fetthaltigen Riegel massenproduzierte, brach der Markt für Snacks auf Insektenbasis ein. Auf die Anzeige für den Posten in einem städtischen Obdachlosenheim in Fort Greene bewarb sie sich aus einer Mischung von Verzweiflung und Cleverness: Das Einzige, was in New York City nie ausgehen würde, waren Obdachlose.
»Mom?« Willing steckte den Kopf zur Tür herein und fragte ruhig: »Bin ich nicht mit Duschen dran?«
Ihr Dreizehnjähriger hatte erst vor fünf Tagen geduscht und wusste ganz genau, dass sie sich eigentlich auf einmal pro Woche geeinigt hatten (zwischendurch benutzten sie ein in die Haare zu kämmendes Trockenshampoo). Willing beschwerte sich im Übrigen auch, mit ihrem Ultrasparduschkopf werde das Duschen zu einem »Gang durch den Nebel«. Es stimmte, die Strahlen waren so fein, dass man kaum die Spülung aus dem Haar bekam. Aber die Antwort darauf bestand eben nicht darin, mehr Wasser zu verbrauchen, sondern auf die Spülung zu verzichten.
»Vielleicht noch nicht ganz … aber okay«, gab sie nach. »Vergiss nur nicht, beim Einseifen das Wasser auszudrehen.«
»Dann wird mir kalt«, sagte er tonlos. Er beschwerte sich nicht. Es war eine Feststellung.
»Zittern soll gut für den Stoffwechsel sein«, sagte Florence.
»Mann, dann muss ich einen absolut geilen Stoffwechsel haben«, sagte Willing trocken und drehte sich um. Dass er sich über ihre leicht angestaubte Ausdrucksweise lustig machte, war nicht fair. Sie hatte vor ewigen Zeiten schon gelernt, stattdessen böse zu sagen.
»Wenn du recht hast, und das mit dem Wasser wird nur noch schlimmer«, sagte Esteban und stellte die Teller fürs Essen auf den Tisch, »sollten wir es aufdrehen, solange es geht.«
»Manchmal träume ich von einer langen heißen Dusche«, gestand Florence.
»Ach?« Er umfasste ihre Taille, während sie ein weiteres Stück Kohl aufschnitt. »Tief in dieser strengen, herrischen Chorsängerin steckt also eine Hedonistin, die an die Oberfläche drängt.«
»Mein Gott, als Teenager habe ich wahre Sturzfluten über mich rauschen lassen, und das so heiß, dass ich es gerade noch ertragen konnte. Einmal hab ich das Bad derartig vernebelt, dass wir es neu streichen mussten.«
»Das ist das Schärfste, was du mir je erzählt hast«, flüsterte er ihr ins Ohr.
»Oje, wie deprimierend.«
Er lachte. Bei seiner Arbeit musste er oft füllige ältere Körper in und aus Elektromobilen heben (Mobes nannte man die Dinger, wenn man auch nur entfernt hip war), das hielt ihn in Form. Sie spürte seine Brust- und Bauchmuskeln fest auf ihrem Rücken. Sicher, sie war müde und ehrliche vierundvierzig, aber ihn so zu spüren ließ sie wieder zu einem jungen Mädchen werden. Ihr Sex war gut. Vielleicht war es das Mexikanische, auf jeden Fall war er im Unterschied zu all den anderen Männern, die sie gekannt hatte, nicht vom fünften Lebensjahr an mit Pornos groß geworden. Ihm gefielen richtige Frauen.
Nicht, dass sich Florence da Besonderes zugutehielt. Ihre jüngere Schwester sah weit besser aus. Avery war dunkel und grazil, mit exakt der Dosis Zerbrechlichkeit, die Männer so anziehend fanden. Florence dagegen war sehnig und stark, da sie immer in Bewegung war, schmalhüftig und hibbelig, hatte ein langes Gesicht und eine dichte kastanienbraune Mähne, die ständig dem Kopftuch entwischte, das sie sich im Piratenstil um den Kopf knotete, um die widerspenstigen Locken zu bändigen. Manche sagten, sie hätte was von einem »Pferd«, was sie für abschätzig hielt, bis Esteban die Aussage mit Zuneigung füllte und die Lenden seines »nervösen Füllens« tätschelte. Vielleicht gab es ja Schlimmeres.
»Ich habe da eine ganz andere Philosophie, weißt du«, murmelte Esteban in ihren Nacken. »Es gibt bald keinen Fisch mehr? Dann stopf dich mit chilenischem Seebarsch voll, als gäbe es kein Morgen.«
»Die Gefahr, dass es kein Morgen mehr gibt, ist genau der Punkt.« Sie dämpfte das Oberlehrerhafte mit etwas Selbstironie, da sie wusste, dass ihm ihre strenge, aufrechte Fassade auf die Nerven ging. »Wenn jeder mit halbstündigem Duschen auf die Wasserknappheit reagiert, ›solange es noch geht‹, haben wir noch eher keins mehr. Und wenn dir das als Grund nicht reicht: Wasser ist teuer. Immens teuer, wie die Kids sagen.«
Er ließ ihre Taille los. »Du bist so eine Spaßbremse, mi querida. Wenn uns das Steini eines gelehrt hat, dann, dass die Welt von heute auf morgen zum Teufel gehen kann. Da dürfen wir uns in den kleinen Lücken zwischen den Katastrophen ruhig mal was gönnen.«
Da war was dran. Eigentlich hatte sie vorgehabt, das Pfund Schweinehack, das sie heute gekauft hatte und das ihr erstes richtiges Fleisch seit einem Monat war, über zwei Mahlzeiten zu strecken, aber nach Estebans Drängen, auch mal zu genießen, was sich bot, entschied sie sich hastig, die Portionen zu verdoppeln, und ihr wurde fast schwindelig angesichts der Verschwendung und Hemmungslosigkeit, doch dann fing sie sich: Gehören wir nicht angeblich zur Mittelklasse?
Im Barnard hatte es noch als gewagt gegolten, ihre am Ende mit Auszeichnung angenommene Abschlussarbeit zum Thema Das Klassensystem, 1945 bis heute zu schreiben, bildeten sich die Amerikaner doch immer noch etwas darauf ein, eine klassenlose Gesellschaft zu sein. Allerdings war das vor dem legendären wirtschaftlichen Niedergang, der »Steinzeit« oder dem »Steini«, der mit ihrem Abschluss zusammenfiel und nach dem Amerika plötzlich über nichts anderes mehr sprach als über Klassen.
Florence hatte sich eine schroffe, praktische Natur zu eigen gemacht und ließ kein Selbstmitleid aufkommen. Dank des Collegefonds ihres Großvaters lasteten die Kosten ihrer sinnlosen Ausbildung weniger auf ihr, als es bei vielen Freunden der Fall war, und sie mochte ihre Schwester ja um ihr Aussehen beneiden, deren Beruf wollte sie ganz sicher nicht. Insgeheim hielt sie Averys eher ausgefallene therapeutische Praxis »PhysHead« für parasitären Humbug. Zudem hatte sich Florence’ Kauf eines Hauses in East Flatbush als clever erwiesen, war das einstmals verlotterte Viertel doch ins bessere Segment aufgestiegen. Die Inder in Mumbai probten den Aufstand, weil sie sich kein Gemüse mehr leisten konnten, Florence hatte noch ausreichend Geld für Zwiebeln. Rein formal mochte sie eine alleinerziehende Mutter sein, aber die waren in diesem Land gegenüber den verheirateten in der Überzahl, und so hatte auch das nichts Abwertendes mehr.
Nur ihre Eltern schienen das nicht zu kapieren. Sowenig sie sich wieder einzukriegen vermochten mit ihren Versicherungen, wie »stolz« sie doch auf sie seien, war ihr sich darin ausdrückender Glaube, dass ihre Älteste in ihren Vierzigern immer noch angefeuert werden musste, nichts anderes als eine Beleidigung. Die Lobeshymnen wegen ihrer Arbeit mit den Obdachlosen waren unerträglich. Sie hatte die Stelle nicht angenommen, weil es um eine gute Sache ging, sondern weil es ein Job war. Sicher, das Asyl war eine wichtige öffentliche Leistung, aber in einer für Florence idealen Welt wäre die von jemand anderem erbracht worden.
Klar, ihre Eltern hatten mit eigenen Belastungen zu kämpfen. Ihr Vater Carter hatte sich lange als Versager gefühlt. Ewig hatte er beim Newsday in Long Island festgesteckt, ohne eine der einflussreicheren, besser dotierten Stellen zu ergattern, die ihm seiner Meinung nach zugestanden hätten. (Wobei Dad auch nicht ganz mit sich im Reinen zu sein schien, was sein Verhältnis zu seiner Schwester Nollie anging, deren Bücher, wie er fand und mehr als einmal angedeutet hatte, weit überschätzt würden.) Gegen Ende seiner Karriere bekam er dann endlich einen Job bei seiner geliebten New York Times (Gott hab sie selig!). Es war zwar nur eine Stelle im Automobilteil und später bei den Immobilien, aber es in die Redaktion dieser Zeitung zu schaffen, die er so verehrte, war eine späte Anerkennung seiner lebenslangen Bemühungen. Florence’ Mutter Jayne stolperte von einem apokalyptischen Projekt zum nächsten und führte schließlich die geliebte Buchhandlung Shelf Life, bis sie bankrottging. Der Feinkostladen mit Selbstgemachtem in der Smith Street, den sie daraufhin übernahm, wurde in der Steinzeit geplündert, was sie so traumatisierte, dass sie keinen Fuß mehr hineinzusetzen vermochte. Aber ihnen gehörte das Haus, oder etwa nicht? Es war abbezahlt! Und ein Auto hatten sie auch immer gehabt. Sicher, es hatte die üblichen Probleme gegeben, Familie und Karriere unter einen Hut zu bringen, aber sie hatten tatsächlich noch »Karrieren«, nicht einfach nur Jobs. Als Jayne spät noch mit Jarred schwanger wurde, sorgten sie sich wegen des Altersunterschieds zu den beiden Mädchen, aber keiner quälte sich wie Florence, als sie mit Willing schwanger war, ob sie sich das Kind überhaupt leisten konnte.
Wie sollten die beiden die missliche Lage ihrer älteren Tochter verstehen? Sechs lange Jahre hatte Florence nach ihrem Abschluss bei ihnen in Carroll Gardens leben müssen, und diese große, hässliche Leerstelle verschandelte ihren Lebenslauf immer noch. Wenigstens war ihr kleiner Bruder Jarred noch zu Hause gewesen, ging in die Highschool und leistete ihr Gesellschaft. Dennoch, es war erniedrigend, sich für den blöden Bachelor abgerackert zu haben, um anschließend Rezepte für Erdnussbutter-Brownies mit Chocolate Chips und Minzgeschmack auszuprobieren. Während der sogenannten Erholung nach dem Steini zog sie endlich aus, zog in enge, schäbige Behausungen, die sie sich mit Altersgenossen teilte, die wie sie Abschlüsse von Eliteunis hatten, in Geschichte oder Politik, die kellnerten und Kaffee aufbrühten, Tische abräumten und alte Smartphones verhökerten, unzuverlässige Dinger, die abstürzten und die man ständig im Apple Store aufladen musste. Keine einzige der bescheuerten Stellen, die sie seitdem hatte ergattern können, hatte auch nur entfernt mit ihrem formalen Abschluss zu tun gehabt.
Es stimmte, die USA waren schneller wieder aus der Krise herausgekommen als vorhergesagt. Die Restaurants in New York waren wieder voll, und der Aktienmarkt boomte. Aber Florence interessierte nicht, ob der Dow Jones jetzt bei 30 000 oder 40 000 stand, weil der wahnsinnige Aufwärtstrend ihr, Willing und Esteban rein gar nichts brachte. Vielleicht gehörte sie eben doch nicht zur Mittelklasse, vielleicht war ihr Gefühl, immer noch Teil davon zu sein, kaum mehr als der letzte Nachhall ihrer Kindheit in einer gebildeten, kultivierten Familie, an den sie sich klammerte, um sich von Leuten abzusetzen, denen es eigentlich nicht viel schlechter ging als ihr. Es gab nicht so viele unterschiedliche Gerichte, die sich allein aus Zwiebeln herstellen ließen.
»Mom!«, rief Willing aus dem Wohnzimmer. »Was ist eine Reservewährung?«
Florence wischte sich die Hände am Geschirrtuch ab, das kalte Grauwasser hatte das Fett der Frikadellen nicht abwaschen können. Ihr Sohn war frisch geduscht und das nasse Haar ein wilder, dunkler Wuschel. Wenn er in diesem Jahr auch einige Zentimeter gewachsen war, wirkte er doch immer noch zart und etwas zu klein dafür, dass er in drei Monaten vierzehn würde. Früher war er ausgelassen und wild gewesen, doch jener schicksalshafte März vor fünf Jahren hatte ihn wenn auch nicht unbedingt ängstlich (er war kein kleines Kind mehr), so doch wachsam werden lassen. Er war zu ernst für sein Alter und zu ruhig. Manchmal fühlte sie sich von ihm unangenehm beobachtet, als lebte sie unter dem unbewegten Auge einer Überwachungskamera. Florence wusste nicht, was sie vor ihrem Sohn verbergen wollte. Was die Privatsphäre am besten schützte, war nicht Heimlichtuerei, sondern Gleichgültigkeit – dann interessieren sich die Leute nicht.
Der für einen Cockerspaniel ebenfalls ausgesprochen ruhige Milo lag reglos neben seinem Herrn, die Schnauze sorgenvoll auf dem Boden, wobei die ständig in Falten liegende Stirn vielleicht auf einen Tropfen Bluthund verwies. Das schokoladenbraune Fell glänzte, doch die Augen blickten bekümmert. Was für ein Pärchen.
Willing, was typisch für diese Uhrzeit war, bekriegte sich nicht mit Aliens und Warlords, sondern sah sich die Nachrichten an. Es war schon witzig, jahrelang hatten sie das Ende des Fernsehens vorausgesagt, Programme wurden gestreamt, aber das Nachrichtenformat hatte sich erhalten – es bot das offene Feuer, den gemeinschaftlichen Herd und war durch individuelle Gadgets nicht wirklich zu ersetzen. Seit dem fast kompletten Ende der Zeitungen hatte der Printjournalismus einem Gesindel von Amateuren Platz gemacht, die ungeprüfte Geschichten verbreiteten, und das so gut wie immer zu ideologischen Zwecken. Die Fernsehnachrichten waren mit die letzte Informationsquelle, der Florence noch irgendwie traute. Der Dollar ist mittlerweile unter vierzig Prozent des weltweiten …, hörte sie einen Sprecher jammern.
»Ich habe keine Ahnung, was eine Reservewährung ist«, gestand sie. »Ich verfolge das ganze Wirtschaftsgeschwätz nicht mehr. Als ich vom College abging, redeten die Leute von nichts anderem. Es ging nur noch um Derivate, Zinsniveaus und etwas, das LIBOR hieß. Ich konnte es nicht mehr hören. Eigentlich hat es mich nie sonderlich interessiert.«
»Ist es nicht wichtig?«
»Nicht, ob ich daran interessiert bin. Ich schwöre, jahrelang hab ich die Zeitungen von vorne bis hinten gelesen, aber dass ich wusste, wovon ich mittlerweile das meiste wieder vergessen habe, hat nichts geändert. Ich wünschte, ich könnte die Zeit zurückbekommen. Ich dachte immer, ich würde die Zeitungen vermissen, aber das tu ich nicht.«
»Erzähl das nicht Carter«, sagte Willing. »Du würdest ihm wehtun.«
Florence zuckte bei »Carter« zusammen. Ihre Eltern hatten alle Enkel und Enkelinnen gedrängt, sie beim Vornamen zu nennen. Da sie »erst« fünfzig und zweiundfünfzig waren, als Avery ihr erstes Kind bekam, lehnten sie »Grandma« und »Granddad« ab, suggerierte es doch einen eher geriatrischen Zustand, mit dem sie sich nicht identifizieren konnten. Offenbar stellten sie sich vor, als »Jayne« und »Carter« etwas behaglich Egalitäres auszustrahlen, ganz so, als wären sie nicht älter, sondern Kumpel. Vermutlich sollte die Zurückweisung der Konvention sie jung und modern erscheinen lassen. Florence war das unbehaglich, sprach ihr Sohn doch mit einer größeren Vertrautheit über ihre Eltern als sie selbst. Deren Weigerung, die offizielle Bezeichnung für das anzunehmen, was sie nun mal waren, Willings Großeltern, ob es ihnen gefiel oder nicht, zeugte von Selbsttäuschung und war ein Ausweis von Schwäche. Florence schämte sich für sie, wenn es ihnen selbst schon nicht peinlich war. Die forcierte Kumpanei führte nicht zu größerer Nähe, sondern zu Respektlosigkeit. Und statt irgendwie doch nonkonformistisch zu sein, war die »Jayne«-und-»Carter«-Nummer auf ermüdende Weise typisch für die Babyboomer. Trotzdem sollte Florence ihren Unmut darüber nicht an Willing auslassen, der nur tat, was ihm gesagt wurde.
»Keine Sorge, ich habe gegenüber deinem Großvater nie etwas Schlechtes über Zeitungen gesagt«, erwiderte Florence. »Aber selbst während der Steinzeit … Alle dachten, es sei so schrecklich, und einiges war es ja auch. Aber, Mann, für mich war die Befreiung von all dem Lärm echt cool …« Sie hob die Hände. »Sorry, lässig natürlich. Alles schien leicht, heiter und offen. Mir war zuvor nie aufgefallen, dass ein Tag so lang war.«
»Du hast wieder angefangen, Bücher zu lesen.« Die Erwähnung der Steinzeit machte Willing nachdenklich.
»Nun, das hat nicht lange angehalten! Aber du hast recht. Ich habe wieder Bücher gelesen, die alten, zum Blättern. Tante Avery fand das ›skurril‹.« Sie klopfte ihrem Sohn auf die Schulter und überließ ihn den LANGWEILIGSTEN NACHRICHTEN ALLER ZEITEN. Gott, Willing musste der einzige Dreizehnjährige in Brooklyn sein, den die Wirtschaftsnachrichten faszinierten.
Sie sah nach dem Reis und versuchte sich daran zu erinnern, was ihrem merkwürdigen Sohn zur Unterernährung in Afrika und Indien eingefallen war, die wieder zunahm, nachdem beide Regionen solche Fortschritte gemacht hatten. Es sei ein Skandal, dass die Armen dort nicht genug zu essen hätten, hatte sie geklagt, wo es auf dem Planeten doch so viel Nahrung gebe. Worauf Willing einfach nur antwortete: »Nein, gibt es nicht«, und eine gequälte Erklärung seines Urgroßvaters rekapitulierte, irgendwas wie: »Es scheint nur so, als gäbe es genug Nahrung, selbst wenn du den Armen Geld geben würdest, würden die Preise nur noch höher schießen, und sie könnten sich immer noch nichts leisten.« Was überhaupt keinen Sinn ergab. In Anwesenheit von Willing sollte sie die Propagandareden ihres Großvaters genauer überwachen. Der alte Mann war eigentlich liberal, aber sie hatte noch nie jemanden mit Geld kennengelernt, der keinerlei konservative Instinkte hatte. Einer davon bestand etwa darin, das moralisch Offensichtliche (wenn es fiskalisch nicht genehm war) schrecklich kompliziert erscheinen zu lassen. Wenn der Reis zu teuer ist, gib den Leuten eben das Geld dafür. Basta.
In der Schule war Willing eher zurückhaltend und bescheiden, aber hinter geschlossener Tür konnte er ziemlich penetrant werden.
»Übrigens, ich habe ausgemacht, nach dem Essen mit meiner Schwester zu sprechen«, sagte Florence zu Esteban, als der nach einem kalten Bier griff. »Ich hoffe, es stört dich nicht, den Abwasch zu übernehmen.«
»Lass mich sauberes Wasser benutzen, und ich wasche jeden Tag ab.«
»Das Grauwasser ist sauber genug, nur nicht besonders klar.« Sie wollte diese Auseinandersetzung nicht jeden Abend austragen und war erleichtert, dass er das Thema wechselte, als das Fleisch zu brutzeln anfing.
»Hab am Nachmittag die neue Gruppe getroffen, mit der wir auf den Mount Washington raufgehen«, sagte Esteban, »und gleich den Störenfried ausfindig gemacht. Es sind nie die schwachen, bedauernswerten Klienten, die uns Kummer machen, sondern die geriatrischen Superhelden, normalerweise Männer, manchmal ist es allerdings auch einer von den taffen Ich-glaube-ich-bin-immer-noch-fünfunddreißig-Drachen, die ohne Klebeband und plastische Chirurgie, Hunderttausende stecken sie da rein, längst auseinandergefallen wären.«
Er wusste, sie mochte es nicht, wenn er mit solcher Verachtung über seine Kunden sprach, aber vielleicht musste er sich seine Frustration einfach außerhalb von deren Hörweite aus dem System schaffen. »Und, wer ist es?«, fragte sie. »Himmel, das Fleisch ist so voller Wasser, die Frikadellen werden gekocht statt gebraten.«
»Muss schon über achtzig sein, geht man nach den sehnigen Bizepsknollen. Verbringt sicher Stunden im Fitnesscenter und merkt nicht, dass er mittlerweile mit Hanteln aus Balsaholz trainiert. Wollte meinen Sicherheitsinstruktionen nicht zuhören. Seine einzige Frage war, wie wir damit umgehen, dass Leute ›verschieden schnell gehen‹ und einige Kletterer gerne was aus sich ›rausholen‹. Das ist ein Typ. Einer von den Rennern, oder wenigstens war er mal einer, aber das war vor den zwei neuen Hüften und den fünf minimalinvasiven Herz-OPs. Du kannst drauf wetten, dass diese Kerle Geld haben und mal sehr erfolgreich waren, irgendwann vor Beginn der Zeitrechnung, und deshalb traut sich auch niemand, ihnen zu sagen, dass sie verdammt noch mal alt sind. Für gewöhnlich hat ihr Arzt oder Ehepartner die Regel erlassen, sie dürfen nicht mehr raus in den Wald, ohne dass einer dabei ist, der sie aufliest, wenn sie in ein Loch oder eine Rinne fallen und sich die Beine brechen. Aber die Vorstellung, in einer Gruppe loszuziehen, gefällt ihnen nicht, und sie gucken sich ständig um nach den anderen arthritischen Losern und denken: Was mache ich hier mit diesen Boomerscheißern?, wo sie doch bestens dazupassen. Sie folgen den Anweisungen nicht und sind dann genau die, denen was passiert und die uns einen schlechten Ruf verschaffen. Bei einer Kanufahrt schießen sie allein los, nehmen den falschen Zufluss, und wir müssen den ganzen Trupp allein lassen, um sie zu suchen. Weil es ihnen nicht gefällt, einem Führer zu folgen. Besonders nicht einem Latino-Führer. Es macht sie wütend, dass heute die Lats den Laden schmeißen, wo doch einer …«
»Genug.« Florence warf den Kohl hinein, langsam sah es aus wie Schweinesuppe. »Du vergisst, dass ich auf deiner Seite bin.«
»Ich weiß, du kannst es nicht mehr hören, aber du machst dir keine Vorstellung davon, welche Feindseligkeit mir tagtäglich von den Knittrigen entgegenschlägt. Sie wollen ihre Oberherrschaft zurück, selbst die, die denken, fortschrittlich zu sein. Sie wollen Anerkennung dafür, tolerant zu sein, ohne sich einzugestehen, dass man nur ›toleriert‹, was man nicht ausstehen kann. Im Übrigen müssen wir die Idioten genauso tolerieren, wie die sich mit uns abzufinden haben. Es ist genauso unser Land wie das dieser War-mal-Gringos und wäre es noch mehr, wenn sich die tattrigen weißen Schwachköpfe beeilten und endlich sterben würden.«
»Mi amado, das geht zu weit«, schimpfte sie halbherzig. »Bitte rede vor Willing nicht so.«
Wie immer musste sie Esteban nicht bitten, den Tisch zu decken, Wasser einzugießen und den Salzstreuer aufzufüllen. Er war in einer riesigen Familie aufgewachsen und fasste selbstverständlich mit an. Esteban war ihr erster Freund, der sie davon überzeugt hatte, dass, auch wenn sie keine Gesellschaft brauchte und auch niemanden, der ihr half, ihren Sohn großzuziehen, das noch lange nicht hieß, dass sie keinen Mann in ihrem Bett mögen und es ihr nicht gefallen durfte, dass Willing so eine Art Vater hatte – der es sich zugutehalten konnte, dass ihr Sohn perfekt zweisprachig war. Wobei Esteban in Amerika geboren und aufgewachsen war und ein völlig akzentfreies Englisch sprach. Gelegentliche spanische Einschübe waren meist augenzwinkernd gemeint, ein lustiges Spiel mit dem Klischee, das seine etwas betagteren Klienten begierig aufgriffen. Sicher, er war nicht aufs College gegangen, doch das war ihrer Meinung nach eher ein kluger finanzieller Schachzug gewesen.
Was das Ethnische anging, so stimmte es einfach nicht, dass sie sich, wie ihre Schwester eindeutig glaubte, an einen Lat gehängt hatte, um hip (upps!, lässig) zu sein, zu vereinnahmen, was sie nicht vertreiben konnte, oder aus banaler liberaler Scham ihr Erbe zu verleugnen. Ungeachtet seiner Abstammung war Esteban ein entschiedener, verantwortungsbewusster, vitaler Mann, und sie hatten viel gemeinsam, nicht zuletzt, dass ihr Lieblingsgefühl Entrüstung war. Trotzdem fühlte sie sich mit der Wahl eines mexikanischen Liebhabers auch auf der richtigen Seite der Geschichte, offen und nach vorn blickend, und ja, es stimmte, seine Herkunft war ein Plus. Ob sie sich immer noch so von ihm angezogen fühlen würde, wenn er ein normaler weißer Mann wäre, war eine Frage, die sie sich nicht stellen mochte. Menschen waren Gesamtpakete. Man konnte nicht auseinanderfieseln, wer und was sie waren, und unterm Strich mochte sie einfach Estebans nussfarbene Haut, seinen seidigen schwarzen Zopf, und fand die weiten, hohen Wangenknochen unwiderstehlich sexy. Mit seiner Andersartigkeit erweiterte er ihre Welt und gewährte ihr Zutritt zu einem reichen, komplexen amerikanischen Paralleluniversum, das für vernagelte rechte Paranoide wie ihre Schwester Avery eine undurchschaubare, monumentale Bedrohung darstellte.
»Hey, erinnerst du dich an den Mann, der letztes Jahr gegenüber auf der anderen Straßenseite eingezogen ist?«, sagte Florence, während Esteban die Kohlreste vom Boden auffegte. »Brendan Sowieso. Da habe ich dir gesagt, es sei ein Zeichen dafür, dass ich mir heute hier im Viertel kein Haus mehr würde kaufen können. Er arbeitet an der Wall Street.«
»Ja, dunkel. Ein Investmentbanker, sagtest du.«
»Heute Morgen bin ich ihm auf dem Weg zum Bus begegnet, und wir hatten eine ziemlich merkwürdige Unterhaltung. Ich glaube, er wollte mir helfen. Ich hab das Gefühl, er mag mich.«
»Hey, das gefällt mir aber gar nicht!«
»Oh, das ist sicher nur wieder dieser abscheuliche Ruf von Güte und Barmherzigkeit, der mir wie ein nasser Straßenköter überallhin folgt. Er sagte, wir sollten ›unsere Investitionen‹ aus dem Land schaffen, sofort, heute noch, und alles Bargeld in eine andere Währung tauschen. Was für Bargeld, bitte schön? Ich wünschte, es wäre nicht so komisch, ›und gehen Sie‹, ich zitiere, ›aus allen Dollaraktiva raus‹. Gott, er war richtig theatralisch. Vielleicht haben diese Leute sonst nicht viel Drama in ihrem Leben. Bei der Schulter hat er mich gefasst und mir direkt in die Augen gesehen, ganz so wie: Das ist verdammt noch mal ernst gemeint, ich mache keine Witze. Es war irre. Keine Ahnung, was ihn auf die Idee bringt, Leute wie wir hätten ›Investitionen‹.«
»Hätten wir ja auch, wenn dein abuelo abdanken würde.«
»Wenn wir da auch nur einen Cent sehen wollen, müssen auch meine Eltern abdanken. Fordere das Schicksal nicht heraus.«
Obwohl Esteban kein Goldgräber war, wurde Florence immer leicht unwohl, wenn vom Vermögen der Mandibles die Rede war. Ohnehin schien niemand zu wissen, wie groß es war. Der wohlhabende Großvater väterlicherseits hatte ihre bescheidene Kindheit nicht merklich verändert, und über die Zeit hatte sie einiges an Energie darauf verwandt, ihren Lat-Freund davon zu überzeugen, dass sie keine faule, verwöhnte, anspruchsberechtigte Gringa war, die ihr Glück nicht verdiente – aber wann immer das Geld Erwähnung fand, hob die verhätschelte Kreatur wieder den Kopf. Es war heikel genug, dass sie die Übertragungsurkunde von 335 East 55th Street besaß und Estebans Angebot widerstanden hatte, sich an den Hypothekenzahlungen zu beteiligen. Sie waren jetzt seit fünf Jahren zusammen, aber ihm zu erlauben, sich Ansprüche auf ihr Kapital zu erwerben, hätte geheißen, der Beziehung eine Umdrehung mehr zu trauen, als es sich für sie angesichts der Reihe seiner Vorgänger richtig anfühlte. Samt und sonders hatten sie sich als spektakuläre Enttäuschungen erwiesen.
»Was, denkst du, geht da vor, dass der Kerl so was so sagt?«, fragte Esteban. »So aus dem Blauen heraus.«
»Ich weiß es nicht. Offenbar ist vor ein paar Tagen in England eine Bank pleitegegangen, aber was soll’s. Es kam in den Nachrichten und hat nichts mit uns zu tun. Und gestern, was war da noch wieder, da hat bei irgendwem irgendwie was mit der ›Zinsbindung‹ nicht funktioniert …? Du weißt, dass ich das nicht verfolge, aber das war auch irgendwo in Europa. Nach Jahren des ›geordneten Rückzugs aus dem Euro‹ bin ich deren Finanzprobleme immens leid. Wobei, in den Nachrichten eben, die Willing sich immer ansieht, da ging es um Anleihen. Trotzdem, ich wette, Brendan wollte mich nur beeindrucken.
Oh, und wo wir schon davon reden, was wirklich super merkwürdig war«, erinnerte sie sich und stellte das Essen auf den Tisch. »Brendan wollte wissen, ob uns das Haus gehört, und als ich Ja sagte und dass wir einen Mieter hätten, der helfe, das Darlehen zu bezahlen, meinte er: ›Besitz könnte sich als günstig erweisen. Dass Sie einen Mieter haben, könnten Sie bereuen.‹«
Bei den berühmten Wo-warst-du-damals-Fragen war es nur zu leicht, so zu tun, als erinnerte man sich: zurückzublicken und die harten Fakten, die man erst im Nachhinein erfahren hatte, in die eigentlich nebulöse Vergangenheit zu pflanzen. Für jemanden wie seine Großtante Nollie ging es mit dem Kennedy-Attentat so, für die Generation seiner Mutter mit 9/11. Und so beschloss Willing denn, sich später wirklich in allen Einzelheiten an diesen Abend zu erinnern, bis hin zu den sandigen Frikadellen, dem langen Videopalaver zwischen seiner Mutter und seiner Tante nach dem Essen und der zeitweisen Wassersperre (an die sie sich längst gewöhnt hatten). Dabei wollte er nicht verschweigen, dass er noch nicht gewusst hatte, was eine Reservewährung war, genauso wenig wie, was unter einer Anleihenauktion zu verstehen war, obwohl beides zweifellos schon seit Jahrzehnten, wenn nicht Jahrhunderten von fast allen für langweilig und unwichtig gehalten wurde. Trotzdem wollte er sich zumindest so viel zugutehalten: dass ihm in den Sieben-Uhr-Nachrichten, auch wenn er nicht kapiert hatte, was es mit der »Anlagenauktion des Finanzministeriums« und der »Zinsniveauspitze« auf sich hatte, der Ton aufgefallen war.
Seit der Steinzeit hatte er ein Ohr für derlei Dinge. Alle dachten, dass sie das Schlimmste hinter sich hätten und die Ordnung glorreich und dauerhaft wiederhergestellt sei. Für Willing jedoch war seine eigene grundlegende Wo-warst-du-damals-Begebenheit im zarten Alter von acht Jahren, Der-Tag-an-dem-nichts-mehr-weiterging, eine Offenbarung gewesen, und Offenbarungen ließen sich nicht rückgängig machen oder irgendwo in einem Schrank verstauen. In Folge dieser irreversiblen Erleuchtung hatte er gelernt, Erwartungen zu kippen. Es war nichts Erstaunliches daran, dass Dinge nicht funktionierten und zerfielen. Versagen und Verfall waren der natürliche Zustand der Welt. Erstaunlich war eher, dass überhaupt etwas wie beabsichtigt funktionierte, für wie lange auch immer. So hatte er die letzten Jahre in einem Zustand dankbaren Staunens verbracht – über den Fernseher, der immer wieder mit supergesättigten Farben zum Leben erwachte (er lässt sich einschalten!, schon wieder!), über seine Mutter, die mit einem Bus von der Arbeit kam (pünktlich!, und überhaupt!) und dass sauberes Wasser aus der Leitung floss, auch wenn er es kaum einmal benutzen durfte.
Der Ton fiel ihm auf, als seine Mutter noch in der Küche plauderte und mit dem Kohl hantierte. Weder sie noch Esteban schienen zu bemerken, dass da etwas Besonderes mitschwang. Nur Willing. Willing und Milo, um genau zu sein, denn auch der Spaniel hörte etwas Sonderbares, reckte aufmerksam den Kopf, sah zum Bildschirm hin und hob die Ohren. In der Stimme des Sprechers schwang eine Art nervöser Erregung mit. Leute, die Nachrichten verlasen, liebten es, wenn etwas passierte. Das konnte man ihnen kaum vorwerfen, war es doch ihr Job zu verkünden, was war, und sie hatten nun mal gern zu tun. Wenn es um schlimme Ereignisse ging, was fast immer der Fall war, da gute Nachrichten meist bedeuteten, dass alles gleich blieb, waren sie peinlich berührt, wie glücklich sie das Schlimme machte. Die schlechten Moderatoren verbargen ihr Glück hinter übertrieben falscher Traurigkeit, auf die keiner hereinfiel. Willing wünschte, sie würden es lieber gleich lassen.
Wenigstens war für’s Erste keiner gestorben, und was immer das für undurchschaubare Geschehnisse waren, über die da berichtet wurde, sie hatten mit Zahlen und sperrigen Begriffen zu tun, die, da hätte Willing gewettet, vom Rest der Zuschauer auch nicht verstanden wurden. Und so zogen denn der Sprecher und seine Gäste die Mundwinkel auch nicht herunter und wechselten in ein künstlich bedrücktes Moll. Im Gegenteil, alle im Studio schienen zufrieden, ja sogar begeistert. Wobei ihre kribblige Fröhlichkeit vom klaren Bewusstsein durchdrungen war, dass sie, so gut es ging, ihre Erregung verbergen sollten, die sie bald schon bedauern würden. Der Ton besagte: Im Moment ist es fun, aber das wird nicht lange halten.
Avery Stackhouse war sich wohl bewusst, dass ihre Schwester fleXface nicht mochte, putzte sie doch gern die Küche, während sie mit Avery sprach, und war nicht wirklich bei der Sache, womit sie es heute vertan hätten, mal ganz unter sich zu sein, was selten genug vorkam: Lowell hielt einen Abendkurs ab, und Savannah war mit einem ihrer Freunde unterwegs, die in ihrem Abschlussjahr so schnell wechselten, dass es ihre Mutter aufgegeben hatte, sich die Namen zu merken. Goog bereitete sich mit seinem Team auf eine große Debatte zwischen mehreren Schulen zu der These vor: »Verknappung und Rekordpreise werden durch eine destruktive nationale ›Nahrungssicherheits‹-Politik hervorgerufen, nicht durch reale landwirtschaftliche Engpässe.« Goog votierte dafür. Und Bing probte mit seinem Quartett.
Avery schmiegte sich mit einem zufriedenen Seufzer in ihren luxuriösen Sessel und ließ den Blick durchs Wohnzimmer gleiten. In ihrem frühen Erwachsenenalter waren glatte Oberflächen, klare Linien und Lichtbrechungen modern gewesen, die Farbskala dominierte ein unerbittliches Weiß. Wie wunderbar, dass heute das Weiche, Runde und gedämpftes Licht ein Muss waren, selbst die Wände waren mit staubigem Kunstveloursleder bedeckt. Dieser Raum war ein Meer aus Umbra und Toast, die Möbel aus Leder in Vintageoptik und Kurzhaarfell. Es sich hier mit einem Glas Wein gemütlich zu machen war so, als kuschelte man sich an einen ausgestopften Bären. Das geschmacklose Spiegeln von Chrom war durch mattes Zinn ersetzt worden, und gnädigerweise fanden sich in den wohlhabenden Häusern D.C.s auch keine schrecklichen Sofalandschaften mehr, sondern man war zur alten, ehrbaren Couch zurückgekehrt.
Die Stackhouses hatten auch das unruhige Bücherwirrwarr aus ihren Räumen verbannt, mit dem sämtliche drei Etagen des Hauses ihrer Eltern in Carroll Gardens vollgestopft waren. Nichts war altmodischer und kauziger als die Reihen schäbiger Buchrücken, mit denen dort die Wände zugemüllt waren. Wenn du ein Buch gelesen hattest, warum es dann in dreidimensionaler Form aufbewahren? Um damit anzugeben? Heute, da man elektronisch auf die gesamte Library of Congress Zugriff hatte, kam das Mitschleppen unzähliger Kartons gelesener Bücher dem Versuch gleich, die Schalen des Eis zu bewahren, aus dem man geschlüpft war.
Avery entfaltete und versteifte den fleXcreen auf dem fellbezogenen Kaffeetisch. Der Bildschirm war so dünn, dass ihn manch einer, bevor die zweite Generation mit den charakteristischen leuchtenden Farben ausgestattet worden war, aus Versehen weggeworfen hatte, weil er das Knäuel in seiner Tasche für ein Taschentuch hielt. Das transparente Material konnte zu einem Bildschirm von fünf mal fünf bis zu vierzig mal fünfzig Zentimeter werden, und der untere Teil ließ sich als Tastatur verwenden. Der fleX hatte mit einem Schlag Smartwatch, smartspeX, Smartphone, Tablet, Laptop und Desktop ersetzt. Und das Beste war, dass der fleXcreen unzerbrechlich war, was seine Hersteller mittlerweile zu bereuen begannen.
»Hallo, bist du so weit?«, fing Avery an. »Weil ich unbedingt mit dir über die Farm reden will, die Jarred gekauft hat.«
»Ja, Dad sagte so was«, antwortete Florence. »Aber wie kann Jarred es wuppen, sich eine Farm zu kaufen?«
Die hohe Auflösung machte sich ankündigende Tränensäcke unter den Augen ihrer Schwester sichtbar, die ihr so in einem Raum mit ihr nicht aufgefallen wären. Avery neigte nicht dazu, sich für besser und überlegen zu halten, Florence’ alterndes Gesicht kündete nur davon, was sie selbst in zwei Jahren im Spiegel zu sehen bekäme. Im Übrigen waren auch bei ihr dunkle Flecken, sprießende schwarze Haare und scheußliche Verfärbungen zu sehen. Die forensische Qualität der Bilder ging weit über die wohlwollend verschwommene Wahrnehmung eines menschlichen Gesichts im normalen Leben hinaus. Sie glichen einem medizinischen Scan, der dir nichts darüber aussagte, ob deine Schwester glücklich oder traurig war, sondern nur, ob sie Hautkrebs hatte. Wenigstens waren Avery und Florence übereingekommen, nicht wieder auf 3-D zu gehen, was noch schlimmer war: Da sahst du nicht nur wie ein einziges großes Melanom, sondern auch noch fett aus.
»Weil Jarred nie auch nur annähernd so viel aus dem Collegefonds bekommen hat wie du und ich«, erklärte Avery, »hat er den Großen Mann überzeugt, dass es nur fair wäre, wenn er ihm stattdessen mit der Anzahlung hilft.« Als formidabler Mann formidabler Eitelkeiten hatte Großvater Mandible es immer schon genossen, der Große Mann genannt zu werden, und das umso mehr, als ihre Kinder dem Ganzen mit Toller Großer Mann noch eins draufsetzten.
»Lass Jarred sich seinen Collegeabbruch doch versilbern«, sagte Florence. »Doppelt. Trotzdem verblüfft es mich. Jarred hat doch nie Interesse an Gartenarbeit erkennen lassen.«
»Er hat sich auch nie für Meerwasser interessiert, bevor er in die Entsalzungssache eingestiegen ist. Oder ein Ei gebraten, bevor er den marokkanischen Kochkurs gemacht hat. Jarreds Leben ist ein einziges Was-passt-nicht-in-dieses-Bild-Rätsel, in das nichts reinpasst. Eine ländliche Idylle passt nicht, also passt sie. Die mangelnde Logik macht es logisch.«
»Verrenkst du dich bei deinen Klienten auch so, damit sie einen Sinn in ihrem Leben sehen? Ich bin beeindruckt. Das war athletisch.«
»Die Wahrheit ist, dass Mom und Dad ihn immens unterstützt haben. Sie denken, die Farm ist eine großartige Idee. Hauptsache, er zieht aus.«
»Mein Gott, im zarten Alter von fünfunddreißig zu Hause auszuziehen, ist das nicht mutig?« Sie lachten verschwörerisch. Sie waren die Erwachsenen, und was immer sie schon verbockt haben mochten, wenigstens waren sie nicht so träge wie der verwöhnte Loser der Familie. »Und wo liegt die Farm?«
»In Gloversville, New York«, sagte Avery. »Sie hat ein paar Apfel- und Kirschbäume, Möhren und Mais. Ich glaube, er hat sogar ein paar Kühe geerbt. Es war ein Familienbetrieb, von dem die Kinder nichts wissen wollten.«
»Das sind alles Verlustgeschäfte«, sagte Florence. »Da wird er sich noch umsehen. So eine kleine Farm, das ist echte Knochenarbeit. Der Spinner … Ich habe seit Monaten nicht mit ihm gesprochen.«
»Jarred wandelt sich zum Überlebenskünstler. Die Farm nennt er Zitadelle, als wäre es eine Festung. Die letzten paar Mal, als wir geredet haben, klang er ziemlich düster. All dieser Endzeitquatsch. Es ist ein solcher Irrsinn: Ich laufe durch die Stadt, und die Kneipen sind rappelvoll, die Häuserpreise gehen durch die Decke, und die Leute entspannen hinten in ihren fahrerlosen Kutschen, die zweihundert Riesen kosten. Der Dow leidet höchstens unter Bluthochdruck, und unser kleiner Bruder mauert sich mit untergangsschwangeren Downloads ein: Tut Buße, das Ende ist nahe! Die Mitte zerbricht, wir gehen zugrunde! Das ist zwar nicht wirklich religiös, aber emotional gesehen, ist das evangelikales Iowa. Kein Wunder, dass er auf einer Farm gelandet ist.«
»Eine Menge Leute haben so auf die Steinzeit reagiert …«
»Ich halt’s nicht aus. Niemand sagt das mehr.«
»Nenn mich pedantisch, aber runtergekocht auf ›Steini‹ verliert der Begriff seine ganze Zurückgebombt-in-die-…-Bedeutung.«
»Du bist ein Pedant. Genau wie Dad. Die Sprache lebt, du kannst sie nicht ins Gefrierfach packen. Aber egal. Ich glaube nicht, dass das bei Jarred eine verspätete Reaktion auf die Stein-zeit ist.« Avery trennte die Silben überdeutlich, als redete sie mit einer Idiotin, die kompliziertere Worte nur mit Schwierigkeiten verstand: Kli-ma-an-la-ge. »Die Haltung, die dahintersteckt … Ich meine, die hat nicht nur er, oder? Die Überzeugung, dass wir auf einen Abgrund zuwanken und kurz davorstehen, in die Tiefe zu stürzen? Das ist alles Projektion und hat nichts mit der ›Welt‹ oder dem schrecklichen Kurs zu tun, auf dem sich dieses Land befindet und für den wir alle einmal werden bezahlen müssen. Das ist Jarreds Gefühl persönlicher Unsicherheit. Sein Pessimismus in Bezug auf seine Zukunft. Aber sich um den Zusammenbruch der Zivilisation zu sorgen statt um den seiner Hoffnungen, Entsalzungsexperte zu werden, weil die Ausbildung zu anstrengend gewesen wäre, nun … als Endzeitprophet fühlt er sich wichtiger.«
»Hast du ihm deine Theorie schon mal dargelegt?«, fragte Florence. »Es würde ihm kaum gefallen, dass seine politische Einstellung einfach als ein Problem abgetan wird, das er mit sich selbst hat. Was ihn aufbringt, die Ausrottung der Arten, die Versteppung, die Abholzung der Wälder, die Versauerung der Meere und die Tatsache, dass nicht eine einzige große Volkswirtschaft ihre Zusagen zur Reduktion des CO2-Austoßes eingehalten hat, das bildet er sich doch nicht alles nur ein.«
»Aber ich sehe das ständig bei meinen älteren Klienten, die natürlich unter verschiedenen Zwangsvorstellungen leiden: Wir haben bald kein Wasser mehr, kein Essen, keine Energie. Die Wirtschaft steht am Rande des Zusammenbruchs, und unsere Pensionskonten lösen sich in Luft auf. Tatsächlich aber haben sie Angst vorm Sterben. Und weil, wenn du stirbst, die Welt mit dir stirbt, wenigstens für dich, denken sie, sie stirbt für alle. Es ist eine Art Vorstellungsfehler, die Unfähigkeit, sich das Universum ohne sich selbst vorzustellen. Deswegen kriegen alte Leute oft apokalyptische Anwandlungen: Sie sehen sich ihrer persönlichen Apokalypse gegenüber, und das, ihr eigener Untergang, ist auch völlig real. Aber je näher er rückt, ihr Untergang, umso sicherer projizieren sie ihn auch auf ihre Umgebung, manchmal mit fast so was wie Schadenfreude. Ich schwöre, für manche der giftigen Propheten ist der Weltuntergang keine Bedrohung, sondern eine Fantasie, in der sie schwelgen. Als wollten sie, dass der gesamte Planet in einem riesigen schwarzen Loch verschwindet, denn wenn sie schon nicht mehr auf ihrer Veranda sitzen und Martini trinken können, dann bitte auch kein anderer. Sie wollen alles mit sich mitnehmen, bis hin zu den Oliven und den Zahnstochern. Tatsächlich aber bleibt alles in bester Ordnung. Das Leben, die Zivilisation, die Vereinigten Staaten, alles geht weiter und weiter, und genau das ist es, was sie nicht ertragen.«
Florence kicherte. »Einer deiner Standardvorträge. Den habe ich schon mal gehört.«
»Hmm«, gab Avery zu, »vielleicht ein-, zweimal. Aber was ich wegen Jarred gesagt habe, steht. Er vertieft seinen Brunnen und hortet Gulaschkonserven, weil er eine Krise psychischen Überlebens durchmacht. Wenn er die überstanden hat, wird er seine zahllosen Erste-Hilfe-Kästen und Kisten mit extralangen Sicherheitsstreichhölzern ansehen und sich ziemlich dämlich vorkommen.«
»Hmm, aber Jarred ist vielleicht nicht der Einzige, der da was projiziert. Dein Leben entwickelt sich famos, und deshalb ist für dich alles eitel Sonnenschein.«
Das famos war abschätzig, und Avery mochte es nicht, dass die Instrumente ihrer eigenen Analyse gegen sie gewandt wurden. »Ein mehr oder weniger anständiges Einkommen macht dich nicht automatisch zu einem Schwachkopf«, widersprach sie. »Und die besser Betuchten haben auch ihre Probleme.«
»Ach ja?«, sagte Florence. »Nenn mir eines.« Aber sie wartete gar nicht erst auf eine Antwort. »Was Jarred angeht, ist das Problem mit seinem neuesten Luftschloss ein praktisches, kein psychisches. Das ›Zitadellen‹-Debakel klingt nach einer Geldvernichtungsmaschine. Er ist mit seinen Kreditkarten bis über beide Ohren verschuldet, und das, obwohl er die Füße bei Mom und Dad unter den Tisch stecken konnte. All die Sackgassen waren teuer. Da braucht der Große Mann ganz schön tiefe Taschen.«
»Die reichen dem Großen bis runter zu den Schuhen.«
Avery beschloss, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. Wie viel Geld aus dem Mandible-Nachlass zu ihnen durchsickern würden war ein schwieriges Thema. Natürlich hatte Florence geradeheraus noch nie etwas Entsprechendes gesagt, aber angesichts der Ungleichheit ihrer Einkommen fragte sich Avery, ob von ihr, wenn es so weit war, wohl erwartet wurde, beiseitezutreten und einen Teil ihres Erbes den Geschwistern zu überlassen oder gar ganz darauf zu verzichten. Auf den ersten Blick brauchte sie das Geld nicht, doch warum sollte sie, mit anderen Worten, dafür bestraft werden, dass sie intelligente Entscheidungen gefällt hatte und vorangekommen war? Nun ja, das war die Lektion, die sie das, in Anführungszeichen, progressive amerikanischen Steuersystem schon lange hätte lehren sollen. Oh, und Florence-wie-in-Florence-Nightingale verdiente das Geld ja auch viel mehr, weil sie so gut und mildtätig war.
Aber sie waren beide mit den gleichen Voraussetzungen gestartet. Avery hatte sich entschlossen, ein etwas älteres intellektuelles Schwergewicht zu heiraten, Lowell, der heute ordentlicher Professor an der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Georgetown University war, mit ihm ein hübsches Stadthaus in D.C. zu kaufen, das bereits im Wert gestiegen war, eine lukrative Privatpraxis einzurichten und drei intelligente, begabte Kinder großzuziehen, die sie auf die besten privaten Schulen schicken konnten. Florence dagegen hatte sich dafür entschieden, mit einem ungebildeten mexikanischen Fremdenführer zusammenzuziehen, ein winziges marodes, aber verboten überteuertes Haus in einem Teil Brooklyns zu kaufen, der in ihrer Jugend für mörderische Revierkämpfe zwischen verfeindeten Crackdealern bekannt gewesen war, ein bei einem One-Night-Stand gezeugtes Einzelkind (einen Jungen, der sich als etwas merkwürdig erwies) großzuziehen und auf eine staatliche, spanischsprachige Schule zu schicken – und beruflich Kissen für Schizophrene aufzuschütteln. Avery wünschte sich verzweifelt, dass ihre kluge, versierte, furchtbar hart arbeitende Schwester (die wirkliche Überlebenskünstlerin in der Familie, nicht Jarred) eine Berufung fand, bei der sie ihre Talente besser einsetzen konnte. Wenigstens war Esteban ein verlässlicher Kerl. Aber wie auch immer, Florence’ klägliche Situation, die für sie als Älteste besonders peinlich war, war ganz sicher nicht Averys Schuld. Averys Leben, das sie sich unter großen Anstrengungen so eingerichtet hatte, sollte nicht jedes Mal, wenn sie miteinander redeten, dazu führen, sich schuldig fühlen zu müssen.
Und jetzt erwies sich das als Ablenkung gedachte Thema auch noch als ganz und gar nicht unverfänglich. »Hey, hast du den Wirbel um die Ländervorwahl mitbekommen?«
»Ja, das Personal im Heim fand es irrsinnig komisch, dass sich die Leute so darüber aufregen. Wobei ich sicher bin, dass sie bei Fox News noch für den Rest des Jahres mit Schaum vor dem Mund herumlaufen.«
»Nun, die Vorwahl für die Staaten war die Eins, seit es Vorwahlen gibt, oder?«, sagte Avery. »Für manche ist das ein Symbol.«
»Ein Symbol für was? Dass wir die Nummer eins sind? Wenn es überhaupt was bedeutet, dann dass wir die dämliche Eins schon viel zu lange haben und sie endlich mal jemand anderes bekommen sollte.«
»Das klingst ganz schön heftig dafür, dass dir die Sache so egal ist. Und den Chinesen muss es schon was bedeuten, wenn sie so einen Stunk machen.«
»Wenn einer schmollt«, sagte Florence, »ist es manchmal das Beste, ihn einfach haben zu lassen, was er will. Besonders wenn es nichts kostet, nur ein paar Eingaben in einen Computer. Solche Konzessionen tun uns nicht weh, und ein Stück weiter die Straße hinunter winken wichtige Geschäfte.«
»Oder du trittst Forderungen nach allen möglichen anderen Konzessionen damit los, und dann wird’s tatsächlich wichtig. Eine Patientin heute meinte, sie fühle sich ›gedemütigt‹.«
»Die meisten Amerikaner leben in Amerika«, sagte Florence. »Sie brauchen kaum mal ihre eigene Ländervorwahl. Wenn deine Patientin also nicht ständig aus dem Ausland nach Hause fleXt, wird sie an normalen Tagen nie aktiv ›gedemütigt‹. Es ist das Gleiche wie mit dem Trubel um das Drücken Sie die Eins für Englisch. Ist es in irgendeiner Weise schwerer, die Zwei statt die Eins zu drücken?«
»Fangen wir nicht wieder damit an. Du weißt genau, dass ich die Aufhebung der alten Bestimmung unmöglich fand.«
»Es war eine großzügige Geste, die ebenfalls nichts weiter gekostet hat. Für die Lats stand die Zwei für zweiter Klasse. Es war eine kleine Änderung, die den Einwanderern und ihren Nachkommen das Gefühl gab dazuzugehören.«
»Wir haben sie triumphieren lassen …«
»Vorsicht«, sagte Florence. »Gefährliches Terrain.«
Dass Florence mit einem echten Mexikaner zusammenlebte, gab ihr Oberwasser. Damit war sie Ehrenmitglied einer Minderheit, die so enorm groß war, dass sie das bald schon nicht mehr von sich würde behaupten können. Dem wiederum sah Avery mit großen Erwartungen entgegen, drängte sie doch all ihre Patienten, sich als etwas Besonderes zu fühlen und ein Gespür für ihre Identität zu entwickeln – aber das dazu notwendige Gefühl, Teil von etwas zu sein, der Stolz auf ein großes, besonderes Erbe wurde der Mehrheit in diesem Land gezielt verwehrt, so unübersehbar die Erfolge und Errungenschaften waren, auf die man stolz sein konnte. Wenn die Weißen allerdings zu einer Minderheit wurden, bekamen sie an den Universitäten womöglich eigene Abteilungen für White Studies, die ungeniert Herman Melville preisen konnten, und ihre Kinder würden leichter ins College aufgenommen werden, ganz gleich, wie gut sie in den Prüfungen abschnitten. Und alle könnten plötzlich behaupten, »weiß« genannt zu werden sei beleidigend, sodass man »westeuropäisch-amerikanisch« sagen musste, was wunderbar lang war. Und während sie selbst sich untereinander in kumpelhaftem Insiderjargon mit: »Was geht, Cracker?« riefen, kamen alle Nichtweißen für derlei fanatische Ausfälle an den CNN-Pranger. Zur Minderheit zu werden öffnete die Tür, sich bei jeder Gelegenheit klar und feierlich beleidigt zu fühlen, und dann bekamen sie bei der Sprachauswahl für automatische Anrufe auch wieder die Eins.
Esteban war von irgendwo aus dem Off zu hören: »Was habe ich dir gesagt? Wir hätten die Schleusen öffnen sollen, solange es ging!«
Und Florence über die Schulter: »Willing! Lauf in den Green Acre, und schnapp dir so viele Flaschen Wasser, wie du kannst! Esteban kommt nach. Und nimm den Karren mit!«
»Okay, okay«, sagte der Junge hinter ihr. »Die Lektion kenne ich. Ich werde zu spät kommen, das weißt du. Die mit Auto sind schneller.«
»Dann renn.«
»Nicht schon wieder«, sagte Avery.
Florence seufzte und wandte sich wieder dem Bildschirm zu. »Das Schlimme ist, dass wir nie wissen, wie lange solche Ausfälle dauern. Das Wasser kann in einer Stunde wieder da sein oder auch erst in einer Woche. Wenigstens haben wir jetzt hinten ein paar Regentonnen. Das Wasser ist zwar nicht trinkbar, aber es hilft mit den Toiletten. Ich hab auch noch etliche alte Flaschen Leitungswasser, aber das ist schrecklich abgestanden. Hoffentlich haben Willing und Esteban Erfolg. Es gibt immer Gerangel am Wasserregal. Allerdings haben wir Glück, dass es schon relativ spät ist. Da werden es einige noch gar nicht gemerkt haben. Fuck, ich hasse es, das sagen zu müssen, aber Esteban hatte recht. Ich habe seit einer Woche nicht geduscht. Hätte ich es mal getan, als ich nach Hause kam.«
»Ist mittlerweile klar, woran es liegt? Ich meine nicht nur irgendwelche Bloggertheorien, sondern solide Informationen?«
»Solide Informationen? Was ist das?«, schnaubte Florence. »Im Westen sind das Problem wohl die Trockenheit und der gesunkene Grundwasserspiegel, aber hier ist es nicht so klar. Vielleicht gibt es im Umland Versorgungsprobleme, und der Sabotageakt des Kalifats in Tunnel drei war auch nicht gerade eine Hilfe. Viele geben der maroden Infrastruktur die Schuld, den massiven Lecks. Und wo ich den Grund sehe, weißt du.«
»Jaja, ich weiß, was du denkst.« Da sie in die Kamera sah, verkniff es sich Avery, die Augen zu verdrehen. Es war eine so verbreitete wie beliebte Aussage, dass die Leute in einer Zeit ohne ernsthaften investigativen Journalismus glaubten, was ihnen am besten in den Kram passte. Ihr Vater ritt ständig darauf herum. Wobei Avery der Ansicht war, dass die Leute schon immer erst eine Meinung gefasst und dann nach Belieben Beweise dafür gesammelt hatten, so, wie man sich erst mal ein Outfit aussuchte und dann die passenden Accessoires dafür anschaffte. Natürlich sah Florence im Fracking das Problem. Das passte ins Bild.
Die Haustür knallte. »Hey«, sagte Lowell.
»Hey! Ich rede gerade mit Florence.«
»Nun, dann versuch ein Ende zu finden, okay?«
Lowell war immer ein Wichtigtuer, aber die Gereiztheit war eigenartig. »Wenn ich so weit bin!«
»Ist schon okay«, sagte Florence. »Ich muss sowieso noch Regenwasser in die Toilette schleppen. Bye, Kleines.«
Ach, mit seinen achtundvierzig Jahren sah Averys Mann mit Dreitagebart nicht mehr hip, sondern heruntergekommen aus, und dieser Eindruck wurde durch das ergrauende, früher mal trendig ungleich lang geschnittene Haar noch unterstrichen. Avery musste sich etwas einfallen lassen, wie sie ihm das klarmachen konnte, ohne zu direkt zu werden. Für einen Volkswirt war er immer schon etwas zu auffällig und downtown dahergekommen. Er zog sich schick und gewagt an und bewegte sich auf eine Weise, die an der Georgetown Gefolge anzog (zumindest mal angezogen hatte). Der glänzende taubengraue Anzug war der letzte Schrei, ohne Manschetten und Kragen, die Hose hoch geschnitten, die Jacke tunikalang bis übers Knie. Seine Schuhe heute waren knallrosa. Es war ein Risiko, sich so zu stylen. Lowell sah aus wie jemand, der sich für jung hielt, es aber nicht mehr war.
»Mojo, yo, schalt den Fernseher ein!«, befahl Lowell. Ihr sprachgesteuertes intelligentes Haushaltssystem entwickelte seit Neuestem verschiedene Marotten. Angefangen hatte es damit, dass es Avery ständig neu informierte, es gebe keine Milch mehr, und als sie die Funktion endlich abschaltete, hatte das Programm schon so viel neue Milch im Supermarkt bestellt, dass sie förmlich darin ertranken. Jetzt wurde die Sache noch exzentrischer: Nach Lowells Befehl hörte sie, wie der Geschirrspüler in der Küche anging.
»Fällt dir auf, dass hier alles auf einmal den Dienst einstellt?« Lowell klang verzweifelt. »Genau das habe ich heute dem Spatzenhirn von Mark Vandermire zu erklären versucht. So geht’s auch in der Wirtschaft. Wenn überall zur selben Zeit reihenweise Kleinkram implodiert, sieht das so aus, als wären die Probleme miteinander verbunden. Aber das ist nicht unbedingt der Fall. Es ist einfach nur eine Art karmisches … Klumpen.«
»Das könnte einen guten Artikel abgeben: Karmisches Klumpen, das geht ins Ohr.« Sie gab ihm die verstaubte Fernbedienung. »Glücklicherweise können wir den lieben Mojo noch abschalten. Der von Ellen, ein Stück die Straße hinunter, lässt sich nicht auf manuell umschalten. Wenn der ausrastet, können sie nicht mal mehr Wasser kochen.«
Lowell ließ sich niedergeschlagen aufs Sofa sinken. Statt die Nachrichten einzuschalten, klopfte er sich mit der Fernbedienung aufs Knie.
»Möchtest du was essen?«
»Ein Glas von dem Wein, den du da trinkst. Ich habe Angst, wenn ich Mojo um ein Schinken-Tomaten-Sandwich bitte, schaltet er die Sprinkleranlage ein. Oder er setzt das Haus in Brand.«
Als sie ihm ein Glas gab, fragte er: »Und, hast du das Neueste gehört?«
»Da ich nicht weiß, was du meinst, wahrscheinlich nicht.«
»Von der Anleihenauktion heute Nachmittag.«
»Wieder Frankreich?«
»Nein, unser Finanzministerium. Hör zu, ich denke nicht, dass es eine große Sache ist. Aber das Bid-to-Cover-Verhältnis war seltsam niedrig. Absolut lausig: 1,1. Und die Zinsen für die Zehnjährige sind hoch auf 8,2 Prozent.«
»Das klingt hoch.«
»Hoch? Sie haben sich verdoppelt. Trotzdem sehe ich es immer noch als zufällige Konfluenz willkürlicher Kräfte.«
»Karmisches Klumpen.«
»Ja. Nimm Frankreich, das unfähig ist, eine Tranche fällig werdender Kredite komplett zu verlängern, aber Deutschland und die EZB springen sofort ein, sodass sie wegen fehlender Mittel nicht gleich den Eiffelturm schließen müssen. Ein paar Köpfe rollen, das ist alles. Was Barclays in GB angeht, ist die offizielle Version, dass Ed Ball ihnen diesmal nicht aus der Patsche helfen kann, doch das ist nur eine strategische Pose. Ich wette, sie finden noch genug Pennies in den Sofaritzen in Downing Street, um die Bank vorm Kollaps zu bewahren. Dann fahren gestern plötzlich ein paar sprunghafte Hedgefonds in Zürich ihre Dollarpositionen praktisch auf null herunter und gehen in Gold. Lass sie. Die benutzen ihre Nuggets als Briefbeschwerer, wenn der Goldpreis wieder fällt.«
»Steht er hoch?«
»Im Moment! Du weißt, wie es mit Gold geht. Ständig rauf und runter. Wenn du nicht das absolute Händchen dafür hast, mit dem Auf und Ab umzugehen, ist Gold ein wahnwitziges Investment.«
»Warum habe ich das lästige Gefühl, dass du diese Unterhaltung gar nicht mit mir führst? Du argumentierst und argumentierst, und ich sage doch gar nichts dagegen. Das reinste Ein-handklatschen.«
»Sorry. Ich hab mich mit diesem Boomerscheißer von Vandermire gestritten. Weil, okay, die Anleihenauktion heute, das war unglücklich. Im Moment ist die ausländische Nachfrage nach US-Schulden niedrig, aber die Gründe der verschiedenen Länder, vor US-Schuldverschreibungen zurückzuschrecken, haben nichts miteinander zu tun und fallen nur zufällig zusammen. Hier bei uns ist der Markt sprunghaft. Investoren erzielen höhere Gewinne im Dow als in schwerfälligen Staatspapieren. Es ist absolut unwahrscheinlich, dass das Zinsniveau auch nur irgendwo in der Nähe von 8,2 Prozent bleibt – das ist eine einmalige kurzfristige Spitze. Himmel, in den 1980ern ging’s bei den Staatsanleihen mal über 15 Prozent hinaus. Noch 1991 brachten Anleihen über 8 Prozent …«
»Das ist ja nun schon etwas her.«
»Ich will nur sagen, es ist kein Grund zur Hysterie!«
»Dann kling nicht so hysterisch.«
»Die Panik wegen des Zinsausschlags, das ist das Problem. Schwachköpfe wie Vandermire … oh, stell dir vor, wohin er gerade wollte, als ich ihm in der Fakultät in die Arme gelaufen bin. Zu MSNBC. Er hat Interviews mit allen großen Sendern vereinbart, eins nach dem anderen. Fox, Asia Central, RT, LatAmerica …«
»Bist du neidisch?«
»Gott, nein. Solche Shows sind ein Knochenjob. Wegen der Hyperauflösung klatschen sie dir zentimeterdick Make-up drauf, und hinterher kriegen sie’s nicht ganz wieder runter, und es landet auf unseren Kopfkissen. Außerdem weißt du nie, ob du dich unter Druck womöglich mit irgendeiner Statistik irrst, und das hängt dir dann ewig nach.«
»Aber du machst das doch hervorragend.«
Er wuchs ein Stück auf dem Sofa, das Kompliment war angekommen. »Die Angst, die Vandermire den ganzen Abend verbreitet … so was bewahrheitet sich selbst. Wobei er kaum verängstigt klingt. Ihm selbst geht’s großartig. Es ist so, wie du immer sagst, oder? Diese apokalyptische …«
»Ich sage nie was ›immer‹. Wir haben einmal darüber geredet.«
»Jetzt wehr dich nicht, wenn ich versuche, dir zuzustimmen. Es ist tatsächlich so, dass die Leute, die so unbedingt denken, das Ende der Welt vorhersagen zu müssen, von dieser Aussicht kaum verunsichert sind. Sie beschwören Verderben, Qual und Zerstörung herauf und können ihre Freude kaum verbergen. Was denken sie, wie so ein Kollaps aussieht? Wie ein Kindergeburtstag, bei dem alle im Kreis tanzen und singen: ›Dideldideldum! Wir fallen alle um!‹? Sie scheinen anzunehmen, dass ihnen selbst nichts passieren kann, dass sie sich am Pool sonnen, während am Horizont die Städte runterbrennen. Möchtegernvoyeure sind das, die das Schicksal von Millionen, wenn nicht Milliarden von Menschen für eine Vergnügungsshow halten.«
Lowell sah aus, als wollte er das aufschreiben.
»Florence und ich denken, dass Jarred ähnlich unterwegs ist. Ich glaube, bei ihm ist es eher der Ökohorror, aber das Prinzip ist das gleiche. Obwohl, um fair zu sein, würde ich kaum sagen, dass er irgendeine Freude daran empfindet. Er ist ziemlich griesgrämig.«
»Nun, Vandermire ist geradezu verzückt. Er liebt die Aufmerksamkeit und fühlt sich erhaben, weil er vermeintlich schon immer recht hatte: ›Untragbar! Die Staatsschulden sind untragbar!‹ Hätte er das Wort untragbar heute Nachmittag noch ein weiteres Mal gesagt, ich wäre ihm an den Kragen gegangen. Die konkrete Definition von untragbar ist: was nicht getragen werden kann. Wenn du etwas nicht tragen kannst, lässt du es. Nach all dem Getöse vor zwanzig Jahren wegen des Defizits, all den melodramatischen Regierungskrisen wegen der Erhöhung der Schuldenobergrenzen, was ist geschehen? Nichts. Sogar hundertachtzig Prozent des BIP – Japan hat bewiesen, dass es absolut möglich ist – wurden getragen. Sie sind also, ipso facto, tragbar.«
»Lass dich von Vandermire nicht verrückt machen. Wenn er falschliegt, sieht er bald schon so dumm aus, wie du denkst, dass er ist.«
»Aber er ist ein Unsicherheitsfaktor. Seine Hetzreden sind gefährlich, sie unterminieren das Vertrauen.«
»Vertrauen, Verhauen … Was macht es, wenn ein paar reiche Investoren nervös werden?«
»Geld ist was Emotionales«, betonte Lowell. »Werte sind grundsätzlich subjektiv, und Geld ist nur so viel wert, wie die Leute denken. Sie nehmen es im Austausch für Waren und Dienstleistungen, weil sie ihm vertrauen. Wirtschaft hat mehr mit Religion als mit Wissenschaft zu tun. Ohne dass Millionen einzelner Bürger an eine Währung glauben, ist Geld nichts als buntes Papier. Genauso müssen Geldgeber, die einen Kredit an die US-Regierung verlängern, davon ausgehen, dass sie ihr Geld schon zurückbekommen, sonst würden sie es nicht tun. Vertrauen ist keine Nebensache. Es ist der zentrale Punkt.«
Das Problem mit dem Professorsein ist, dass man vom Dozieren lebt und es nur schwer abstellen kann, wenn man nach Hause kommt. Avery war es natürlich gewohnt, nur fand sie Lowells Tiraden längst nicht mehr so hinreißend wie in den frühen Tagen ihrer Ehe.
»Und weißt du, der Großteil der übrigen Schwarzmaler neben Vandermire, die sind alle goldverrückt«, fuhr Lowell fort. »Ich meine, ernsthaft, in einem Schmuckmetall die Antwort auf all unsere Gebete zu sehen, das ist mittelalterlich …«
»Jetzt reg dich nicht auf.«
»Ich rege mich nicht auf. Ich verstehe nur nicht, warum Georgetown diesen Idioten auf einen Lehrstuhl berufen hat. Er soll ein Beweis für die ideologische ›Breite‹ der Fakultät sein, nur ist das so, als sagte man: ›Wir sind akademisch breit aufgestellt, weil einige unserer Professoren klug und einige Hohlköpfe sind.‹ Der Goldstandard ist vor sechzig Jahren verabschiedet worden, und niemand hat ihn vermisst. Er war schwerfällig und schränkte die Steuerungsinstrumente der Zentralbanken ein. Die Geldbasis wurde künstlich niedrig gehalten. Das Ganze ist antiquiert und basiert auf nichts als Aberglauben und Sentimentalität. Was die Goldverrückten nie zugeben würden? Dass das Metall keinen wirklichen eigenen Wert und Nutzen hat und damit einen genauso künstlichen Gegenwert hat wie Papierwährungen oder Kaurischnecken.«
Avery musterte ihren Mann. Vielleicht schaltete er die Nachrichten nicht ein, weil er Angst hatte, seinen Intimfeind Mark Vandermire sehen zu müssen. Vielleicht hatte er aber auch vor den Nachrichten selbst Angst. »Du wirkst besorgt.«
»Nun ja, ein bisschen.«