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Kurz vor seinem sechzehnten Geburtstag richtet Kevin in der Schule ein Blutbad an. Innerhalb weniger Stunden ist das Leben seiner Familie nicht mehr, wie es war. – Lionel Shriver erzählt aus der Sicht einer Mutter, die sich auf schmerzhafte und ehrliche Weise mit Schuld und Verantwortung, mit Liebe und Verlust auseinandersetzt. Hätte sie ihr Kind mehr lieben sollen? Hätte sie das Unglück verhindern können? Ein höchst aktueller Roman von erschütternder Klarheit und stilistischer Brillanz.
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Veröffentlichungsjahr: 2017
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www.piper.de
Übersetzung aus dem amerikanischen Englischvon Christine Frick-Gerke und Gesine Strempel
ISBN 978-3-492-95862-2
Mai 2017
© by Lionel Shriver 2003
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
»We Need To Talk About Kevin«,
Counterpoint New York
© der deutschsprachigen Ausgabe:
Piper Verlag GmbH, München 2017
© der deutschen Übersetzung 2006 by
Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Erschienen im List Verlag
Umschlaggestaltung: semper smile, München
Umschlagabbildung: ilolab/shutterstock; Peter Glass/Arcangel (Tisch)
Konvertierer: Kösel Media GmbH, Krugzell
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Für Terri
Ein Katastrophenszenarium, dem wir beide
entkommen
sind
Ein Kind braucht deine Liebe am meisten, wenn es sie am wenigsten verdient.
Erma Bombeck
Lieber Franklin,
ich bin nicht sicher, warum ein unwesentliches Ereignis heute Nachmittag mich bewogen hat, dir zu schreiben. Aber seit wir getrennt sind, vermisse ich wohl am meisten, dass ich dir beim Nachhausekommen nicht mehr die Kuriositäten des Tages erzählen kann – sie dir nicht mehr zu Füßen legen kann wie eine Katze Mäuse: anspruchslose kleine Gaben, die Paare sich darbieten, nachdem sie eben noch jeder für sich getrennte Felder beackert haben. Wenn du jetzt in meiner Küche sitzen und, so kurz vor dem Abendessen, eine Scheibe Vollkornbrot dick mit grober Erdnussbutter bestreichen würdest, hätte ich meine Einkaufstüten noch gar nicht abgestellt – die eine hinterlässt eine klare klebrige Spur –, und diese kleine Geschichte käme zum Vorschein, noch vor meinem Geschimpfe, dass es heute Abend Pasta gibt und du bitte nicht das ganze Sandwich aufessen sollst.
Früher waren meine Berichte natürlich exotische Importe, aus Lissabon, aus Katmandu. Aber eigentlich hört keiner gern Geschichten aus der Fremde, und an deiner verräterischen Höflichkeit merkte ich gleich, dass du heimatliche Anekdoten lieber mochtest: vom absonderlichen Schlagabtausch mit dem Mann in der Mautbude an der George-Washington-Brücke, zum Beispiel. Solche lokalen Kleinodien festigten deinen Glauben, dass meine Fernreisen eigentlich Schummelei waren. Meinen Souvenirs – einer Packung altbackener belgischer Waffeln oder dem britischen Wort für Stuss »Codswallop!« – dichtete ich magische Kräfte an, allein weil sie von so weit her stammten. Wie bei diesem Krimskrams, den sich Japaner schenken – in einer Schachtel in einer Tüte in noch einer Schachtel in noch einer Tüte –, war das Glanzvolle meiner ausländischen Mitbringsel eigentlich reine Verpackungskunst. Dagegen ist es eine beträchtliche Leistung, im Alltagsmüll des Allerweltsstaats New York herumzustochern und dem Besuch des Grand-Union-Supermarkts in Nyack eine gewisse Pikanterie abzugewinnen.
Was genau der Ort ist, an dem meine Geschichte spielt. Ich begreife anscheinend endlich, was du mir immer beibringen wolltest, nämlich dass mein eigenes Land so exotisch und sogar so gefährlich ist wie Algerien. Ich war in dem Gang mit Butter, Käse, Eiern und brauchte nicht viel; wieso auch. Ich esse keine Pasta mehr, weil du nicht mehr den Großteil der Schüssel verputzt. Mir fehlt dein Appetit.
Es fällt mir immer noch schwer, mich in der Öffentlichkeit zu zeigen. Man sollte annehmen, dass ich in einem Land, dem es notorisch an Geschichtssinn mangelt – wie die Europäer behaupten –, von der berühmt-berüchtigten amerikanischen Amnesie profitieren könnte. Weit gefehlt. Niemand in dieser »Gemeinde« lässt Anzeichen von Vergessen erkennen, nicht – auf den Tag genau – nach einem Jahr und acht Monaten. Also muss ich immer noch allen Mut zusammennehmen, wenn mir die Vorräte ausgehen. Oh, für die Verkäufer im 7-Eleven in der Hopewell Street bin ich keine Sensation mehr, und ich kann dort, ohne beglotzt zu werden, Milch holen. Aber in unserem alten Grand-Union-Supermarkt bleibt es beim Spießrutenlauf.
Dort fühle ich mich immer wie eine Diebin. Deswegen halte ich mich kerzengerade, mache mich breit. Jetzt weiß ich, was »den Kopf hoch tragen« heißt, und manchmal staune ich, wie viel innere Verwandlung ein aufrechter Gang auslösen kann. Wenn mein Körper stolz dasteht, fühle ich mich einen Deut weniger gedemütigt.
Ich überlegte, ob ich mittelgroße oder große Eier nehmen sollte, und blickte zum Joghurt. Ein paar Meter vor mir glänzte das fusselige schwarze Haar einer Kundin am Ansatz einen Fingerbreit weiß, und nur die Enden waren noch lockig: eine herausgewachsene Dauerwelle. Das lavendelfarbene Kostüm war vielleicht einmal schick gewesen, doch jetzt schnitt die Bluse unterm Arm ein, und das Schößchen betonte die breiten Hüften. Das Ganze verdiente, aufgebügelt zu werden, und auf den gepolsterten Schultern verlief ein verblichener Strich, der Abruck vom Drahtkleiderbügel. Ein Fundstück aus den hinteren Regionen des Kleiderschranks, vermutete ich – weil alles Übrige schmutzig oder auf dem Fußboden gelandet war. Als der Kopf der Frau sich zum Weichkäse neigte, entdeckte ich ein Doppelkinn.
Versuch nicht zu raten; nach dieser Beschreibung kämst du nie drauf. Früher war sie geradezu zwanghaft adrett, immer Hochglanz, wie ein professionell verpacktes Geschenk. Obwohl die Vorstellung von abgemagerten Hinterbliebenen romantischer sein mag, kann man mit Pralinen offenbar ebenso wirkungsvoll trauern wie mit Leitungswasser. Außerdem halten sich manche Frauen weniger deshalb rank und schlank, weil sie ihren Ehemann beglücken wollen, sondern weil sie mit ihrer Tochter konkurrieren, und dank uns fehlt ihr dieser Ansporn ja nun.
Es war Mary Woolford. Ich bin nicht stolz darauf, aber ich konnte ihr nicht gegenübertreten. Ich machte kehrt. Mit klammen Händen griff ich den Eierkarton und prüfte, ob die Eier heil waren. Ich setzte die Miene einer Kundin auf, der gerade etwas aus dem übernächsten Gang eingefallen war, und packte die Eier, ohne mich umzudrehen, in den Kindersitz des Einkaufswagens. Trat mit gekonntem Täuschungsmanöver den Rückzug an. Den Einkaufswagen ließ ich stehen, weil die Räder quietschten. In der Suppenabteilung atmete ich auf.
Ich hätte darauf gefasst sein sollen, und häufig bin ich es – gewappnet, gewarnt, oft grundlos, wie sich herausstellt. Aber ich kann nicht für jede blöde Besorgung in voller Rüstung aus dem Haus gehen, und außerdem, wie soll Mary mir jetzt noch schaden? Sie hat schon alles versucht; sie hat mich vor Gericht gebracht. Dennoch war ich machtlos gegen mein Herzklopfen, und zurück zu Butter, Käse, Eiern konnte ich auch nicht, dabei hatte ich den bestickten ägyptischen Beutel mit meinem Portemonnaie im Einkaufswagen gelassen.
Das war der einzige Grund, warum ich den Grand Union nicht auf der Stelle verließ. Ich musste zu meiner Tasche zurück, und deshalb drückte ich mich vor Campbell’s-Spargel und -Käse herum, wobei mir durch den Kopf ging, wie entsetzt Warhol über das neue Design wäre.
Bei meiner Rückkehr war die Luft rein, und ich schnappte mir meinen Wagen, ganz die viel beschäftigte Karrierefrau, die in null Komma nichts ihre Hausfrauenpflichten erledigt. Eine vertraute Rolle, sollte man meinen. Aber ich habe mich schon lange nicht mehr so gesehen; ich war mir sicher, dass die Leute vor mir an der Kasse meine Ungeduld nicht als typische Zweitverdienerhektik empfanden – Zeit ist Geld –, sondern als panisches Fluchtverhalten.
Als ich mein Lebensmittelsammelsurium aufs Band stellte, klebte der Eierkarton, worauf die Kassiererin ihn öffnete. Aha. Mary Woolford hatte mich also entdeckt.
»Volltreffer!«, rief das Mädchen. »Ich lasse Ihnen eine andere Packung holen.«
Ich hielt sie davon ab. »Nein, nein«, sagte ich. »Ich hab’s eilig. Ich nehme sie so.«
»Aber sie sind total –«
»Ich nehme sie so!« In diesem Land setzt man seinen Willen am besten durch, wenn man nicht-ganz-richtig-im-Kopf mimt. Nachdem sie das Etikett mit einem Kleenex gesäubert hatte, scannte sie die Eierpackung ein und wischte sich dann augenrollend die Hände an dem Papiertuch ab.
»Khatchadourian«, sagte das Mädchen überdeutlich, als ich ihr meine Kundenkarte reichte. Sie sprach so laut, als richtete sie sich an die ganze Schlange. Es war spätnachmittags, die beste Schicht für jobbende Schüler; das Mädchen, etwa siebzehn, hätte eine von Kevins Klassenkameradinnen sein können. Wobei es in dieser Gegend sicher ein halbes Dutzend Highschools gibt, und vielleicht war ihre Familie ja gerade erst aus Kalifornien hergezogen. Doch ihre Augen sprachen dagegen. Sie fixierte mich mit einem harten Blick. »Das ist ein ungewöhnlicher Name.«
Ich weiß nicht, was über mich kam, aber ich habe es so satt. Natürlich schäme ich mich. Ich bin nur schon völlig erschöpft vom Schämen, überall ganz klebrig davon, wie mit Eiweiß überzogen. Scham ist ein Gefühl, das zu nichts führt. »Ich bin die einzige Khatchadourian in New York State«, sagte ich herausfordernd und riß ihr die Karte weg. Sie warf die Eier in eine Einkaufstüte, wo sie noch ein bisschen mehr ausliefen.
Jetzt bin ich also zu Hause – wenn man es so nennen will. Natürlich warst du nie hier, deshalb beschreibe ich es für dich.
Du wärst entsetzt. Nicht nur, weil ich in Gladstone geblieben bin, nachdem ich mich so gewehrt hatte, überhaupt in einen Vorort zu ziehen. Aber ich wollte Kevin noch mit dem Auto erreichen können. Außerdem – sosehr ich mich nach Anonymität sehne, ich möchte nicht, dass meine Nachbarn vergessen, wer ich bin; ich will vergessen, aber keine Stadt der Welt würde mir das ermöglichen. Dies ist der einzige Ort, wo die Verstrickungen meines Lebens restlos zu spüren sind, und heute ist mir weniger wichtig, dass man mich mag, als dass man mich versteht.
Mir blieb, nachdem die Rechtsanwälte bezahlt waren, genug Geld, um mir etwas Kleines kaufen zu können, doch das Provisorische eines Mietverhältnisses passte mir. Zudem entsprach dieses zweietagige Spielzeugreihenhaus stimmungsmäßig meiner Existenz. Oh, du wärst fassungslos; die jämmerlichen Pressspanschränke verhöhnen das Motto deines Vaters: »Das Material ist alles.« Aber genau dieses Unsolide mag ich.
Hier ist alles riskant. Die steile Treppe zum zweiten Stock hat kein Geländer; nach drei Gläsern Wein bekomme ich beim Aufstieg ins Bett Höhenangst. Die Fußböden knarren, und die Fensterrahmen sind undicht; das Ganze strahlt eine Brüchigkeit und Unsicherheit aus, als könnte die gesamte Konstruktion plötzlich nachgeben und sich in nichts auflösen wie eine schlechte Idee. Unten flackern winzige Halogenlampen an rostigen Kleiderbügeln, die an einem Elektrodraht unter der Decke schaukeln, und das zittrige Licht unterstützt mein neues Lebensgefühl – mal an, mal aus. Aus meinem einzigen Telefonstecker hängen die Eingeweide heraus; meine ungewisse Verbindung zur Außenwelt baumelt an zwei schlecht gelöteten Drähten, die manchmal kurzschließen. Obwohl der Vermieter mir einen richtigen Herd versprochen hat, stört mich die Kochplatte mit dem defekten Schalter nicht. Oft fällt mir die Klinke der Haustür in die Hand. Bis jetzt habe ich sie immer wieder festmachen können, doch der bloße Klinkenstumpf erinnert mich an meine Mutter: unfähig, das Haus zu verlassen.
Außerdem habe ich festgestellt, dass die Energieversorgung meines Häuschens schnell an ihre Grenzen stößt. Die Heizung ist schwach, Wärme steigt wie schlechter Atem von den Heizkörpern auf, und schon Anfang November habe ich die Thermostate voll aufgedreht. Beim Duschen verbrauche ich das ganze heiße Wasser und kein kaltes; dann ist es gerade so warm, dass ich nicht zittere, doch das Wissen, dass es keine Reserven gibt, beunruhigt mich bei meinen Waschritualen. Der Kühlschrank läuft auf Hochtouren, dennoch hält die Milch nur drei Tage.
Die Farbgestaltung hat etwas Unechtes, Spöttisches, das sich durchaus passend anfühlt. Unten ist der Anstrich grell gelb, wie mit Buntstiften gemalt – das Weiß darunter ist an manchen Stellen sichtbar. Oben in meinem Schlafzimmer sind die Wände laienhaft türkis gekleckst, wie von Vorschulkindern. Dieses wacklige kleine Haus – es fühlt sich nicht ganz real an, Franklin. Ich mich auch nicht.
Doch ich hoffe, du bedauerst mich nicht; das will ich nicht. Ich hätte etwas Feineres finden können, wenn ich gewollt hätte. Irgendwie gefällt es mir hier. Es ist unernst, wie Spielzeug. Ich wohne in einem Puppenhaus. Selbst die Möbel haben falsche Proportionen. Die Esstischplatte reicht mir bis zur Brust, sodass ich mich minderjährig fühle, und der kleine Tisch im Schlafzimmer, auf dem dieser Laptop steht, ist zum Schreiben zu niedrig – man könnte daran Kindergartenkindern Kokosplätzchen und Ananassaft servieren.
Vielleicht erklärt diese zusammengeschusterte, jugendliche Atmosphäre, warum ich gestern bei der Präsidentschaftswahl nicht gewählt habe. Ich habe es einfach vergessen. Alles um mich herum scheint weit entfernt. Und anstatt meiner Entwurzelung einen soliden Gegenpol zu bieten, ist das Land mir in die Gefilde des Surrealen gefolgt. Die Wählerstimmen sind ausgezählt. Aber wie in einer Geschichte von Kafka scheint keiner zu wissen, wer gewonnen hat.
Nun stehe ich hier mit dieser Packung Eier – vielmehr mit dem, was davon übrig ist. Ich habe alles in eine Schüssel gekippt und die Schalen herausgefischt. Wenn du hier wärst, würde ich uns eine schöne Frittata backen, mit gewürfelten Kartoffeln, frischem Kreuzkümmel und – unerlässlich – einem Teelöffel Zucker. Allein kippe ich alles in eine Pfanne, rühre und stochere trotzig. Aber immerhin, ich esse. Marys Geste war übrigens, auf eine etwas unausgereifte Weise, ziemlich elegant.
Essen ekelte mich anfangs. Zu Besuch bei meiner Mutter in Racine wurde mir vom bloßen Anblick ihrer gefüllten dolma ganz übel, und das, obwohl sie den ganzen Tag Weinblätter blanchiert und die Lamm-Reis-Füllung zu ordentlichen Päckchen gerollt hatte; ich erinnerte sie daran, dass man sie einfrieren konnte. Wenn ich in Manhattan, auf dem Weg zu Harveys Anwaltspraxis, am Deli in der 57. Straße vorbeikam, drehte sich mir beim Pfeffergeruch des Pastrami-Fetts der Magen um. Doch die Übelkeit verging, und dann fehlte sie mir. Als ich nach vier, fünf Monaten Hunger bekam – Heißhunger –, fand ich den Appetit unpassend. Also spielte ich weiter die Frau, die jedes Interesse am Essen verloren hatte.
Doch nach etwa einem Jahr musste ich zugeben, dass dieses Theater sich nicht lohnte. Niemanden kümmerte es, wenn ich abmagerte. Worauf wartete ich – dass du meinen Brustkorb mit deinen Bärenpranken umfassen, mich hochheben und streng mahnen würdest, die heimliche Freude einer jeden westlichen Frau: »Du bist zu dünn«?
Also esse ich jeden Morgen ein Croissant zu meinem Kaffee und tupfe jeden Krümel mit meinem angefeuchteten Zeigefinger auf. Methodisches Kohlhacken füllt einen Teil der langen Abende. Einfach abgesagt habe ich die paar Einladungen, die manchmal noch mein Telefon aufschrillen lassen, meist von ausländischen Freunden, die ab und zu eine E-Mail schicken, die ich aber seit Jahren nicht gesehen habe.
Abgesagt erst recht, wenn sie nicht Bescheid wissen, und das erkenne ich immer an der Stimme; Unwissende krakeelen fröhlich drauflos, während Eingeweihte stottern und die Stimme dämpfen wie in der Kirche. Ich will ganz sicher nicht die Geschichte erzählen. Ich will auch nicht das stumme Mitgefühl von Freunden, die gar nicht wissen, was sie sagen sollen, und es mir überlassen, mein Herz auszuschütten und Konversation zu machen. Aber der eigentliche Grund für meine Standardausrede, ich sei zu »beschäftigt«, ist meine panische Angst, dass wir nur einen Salat bestellen und uns schon um halb neun oder neun die Rechnung bringen lassen, und dann komme ich zurück in mein Minihaus und habe nichts mehr klein zu hacken.
Eigentlich lachhaft, dass ich, die so lange für A Wing and a Prayer unterwegs war – jeden Abend ein anderes Restaurant, Thai oder Spanisch sprechende Kellner, marinierter Fisch oder Hund auf der Speisekarte –, inzwischen so fixiert auf diese Routine bin. Schrecklich, ich bin wie meine Mutter. Aber ich brauche diese exakte Abfolge (ein paar Stückchen Käse oder sechs, sieben Oliven; Hähnchenbrust, Gemüsepfanne oder Omelett; ein einziger Vanillekeks; genau eine halbe Flasche Wein), als würde ich auf dem Schwebebalken balancieren – ein falscher Schritt, und ich stürze ab. Erbsen sind von der Speisekarte gestrichen, weil die Vorbereitung zu mühelos ist.
Jedenfalls weiß ich trotz unserer Entfremdung, dass du dich sorgst, ob ich genug esse. Das hast du immer getan. Dank Mary Woolfords kläglicher Rache bin ich heute Abend reich verpflegt. Nicht alle fixen Ideen unserer Nachbarn hatten einen solch positiven Nebeneffekt.
Als ich noch in unserem neureichen Ranchhaus in der Palisades Parade wohnte, kippten sie literweise blutrote Farbe über die Vorderfront (ob es dir passt oder nicht, Franklin, eine Ranch – genau das war’s). Über die Fenster, die Haustür. Sie kamen in der Nacht, und als ich am nächsten Morgen erwachte, war die Farbe fast trocken. Damals, kaum einen Monat nach – wie soll ich diesen Donnerstag nennen? –, dachte ich, dass mich nun nichts mehr entsetzen oder verletzen könnte. Wenn man so am Boden zerstört ist, redet man sich offenbar ein, dass diese totale Zerstörung einen nun beschützt.
Als ich aus der Küche um die Ecke ins Wohnzimmer bog, begriff ich, dass all das Stuss war. Ich schnappte nach Luft. Die Sonne schien durch die Fenster – durch jene ohne Farbstreifen. Sie schien auch durch die Stellen, wo die Farbe dünn war, und warf rotes Licht auf die fast weißen Wände, wie in einem kitschigen chinesischen Restaurant.
Ich hatte immer die Angewohnheit – was du bewundert hast –, mich meinen Ängsten zu stellen, wobei diese Angewohnheit noch aus Zeiten stammte, als ich mich am meisten davor fürchtete, mich in einer fremden Stadt zu verlaufen – ein Kinderspiel. Was würde ich heute dafür geben, wenn ich mich in jene Tage zurückversetzen könnte, als ich noch keine Ahnung hatte, was mich erwartete (Kinderspiele, zum Beispiel). Dennoch, alte Gewohnheiten sind nicht totzukriegen, sodass ich mich nicht wieder unter die Decken unseres Betts verkroch. Ich beschloss, die Verwüstung zu besichtigen. Aber die Haustür ging nicht auf, die dicke rote Lackfarbe hatte sie versiegelt. Lackfarbe ist nicht wasserlöslich wie Binderfarbe. Und Lackfarbe ist teuer, Franklin. Sie hatten es sich etwas kosten lassen. Klar, in unserer alten Nachbarschaft mangelte es an allem Möglichen, aber sicher nicht an Geld.
Also ging ich im Morgenmantel durch die Seitentür vors Haus. Als ich sah, was die Nachbarn angerichtet hatten, fühlte ich, wie mein Gesicht wieder zu der »teilnahmslosen Maske« wurde, die die New York Times in ihrem Prozessbericht beschrieben hatte. Die Post hatte, weniger freundlich, meinen Gesichtsausdruck »trotzig« genannt. Und unser Lokalanzeiger war noch weiter gegangen: »Aus Eva Khatchadourians versteinerter, unversöhnlicher Miene zu schließen, hatte ihr Sohn nichts Unerhörteres verbrochen, als einen Zopf in ein Tintenfass zu tauchen.« (Ich gebe zu, dass ich mich im Gerichtssaal um Haltung bemühte, dass ich blinzelte und mir von innen in die Wangen biss; ich weiß noch, dass ich mir deine Devise für harte Männer vor Augen hielt: »Zeig nie, dass du schwitzt.« Aber Franklin, »trotzig«? Ich habe mich bemüht, nicht zu weinen.)
Der Effekt war durchaus grandios, wenn man Sensationen mag – was ich gewiss nicht mehr tue. Das Haus sah aus, als hätte ihm jemand die Kehle durchgeschlitzt. Wilde, triefende Formen bedeckten die Wände, in einem sorgfältig ausgewählten Farbton – tief, satt und üppig, eine Spur Blau, wie extra gemischt. Wenn die Übeltäter die Farbe hatten anrühren lassen, könnte die Polizei sie ausfindig machen, dachte ich benommen.
Nur würde ich freiwillig kein Polizeirevier mehr betreten.
Mein Kimono, der, den du mir zu unserem ersten Hochzeitstag 1980 geschenkt hast, war ziemlich dünn. Er ist für Sommerwetter geeignet, das einzige Kleidungsstück, das ich von dir habe, und ich wollte nichts anderes suchen. Ich habe so viel weggeworfen, aber nichts, was du mir geschenkt oder hinterlassen hast. Ich gebe zu, dass es eigentlich eine Qual bedeutet, diese Dinge als Talisman aufzubewahren. Schon deshalb behalte ich sie. Diese Typen, die mir mit ihrem therapeutischen Anspruch auf die Nerven gehen, würden behaupten, meine vollgestopften Schränke seien nicht »gesund«. Ich bitte doch, dabei zu differenzieren. Verglichen mit dem jämmerlichen, schmutzigen Schmerz, den Kevin, die Farbe, die Straf- und Zivilverfahren auslösten, ist dieser Schmerz heilsam. Die Sechzigerjahre haben Heilsamkeit ziemlich in Verruf gebracht – aber inzwischen halte ich sie für ein rares Gut.
Tatsache ist, dass ich in meiner blassblauen Baumwolle und angesichts des ungefragten Action Painting meiner Nachbarn zu frieren begann. Es war Mai, aber kühl, und der Wind pfiff. Früher hätte ich angenommen, dass nach einer persönlichen Apokalypse die kleinen Scherereien des Daseins praktisch verschwänden. Aber das stimmt nicht. Man fühlt noch Kälte, man rauft sich noch die Haare, wenn ein Päckchen in der Post verloren geht, und man ärgert sich immer noch, wenn man bei Starbucks zu wenig Wechselgeld herausbekommt. Auch wenn es angesichts der Umstände unangebracht scheint, dass ich immer noch einen Pullover brauche oder einen Muff oder dass ich mich wehre, wenn man mich um einen Dollar fünfzig betrügt. Doch seit jenem Donnerstag ist mein ganzes Leben in ein solches Unangebrachtsein gehüllt, dass ich diese vorübergehenden Misslichkeiten geradezu tröstlich finde, Zeichen einer überlebenden Normalität. Für die Jahreszeit unangemessen bekleidet, oder schimpfend, dass in einem viehmarktgroßen Wal-Mart kein einziges Päckchen Streichhölzer aufzutreiben ist, schwelge ich in emotionalen Alltäglichkeiten.
Ich tappte wieder zur Seitentür und rätselte, wie die Frevler dieses Haus mit solcher Gründlichkeit attackieren konnten, während ich drinnen ahnungslos schlief. Ich schob es auf die hohe Dosis Beruhigungsmittel, die ich jede Nacht einnahm (kein Kommentar bitte, Franklin, ich weiß, dass du es nicht gut findest), bis ich begriff, dass ich mir die Szene ganz falsch vorstellte. Es geschah einen Monat danach, nicht einen Tag. Es hatte kein Toben und Heulen gegeben, keine Vermummten und keine Gewehre mit abgesägtem Lauf. Sie kamen klammheimlich. Nur das Zweigeknacken war zu hören gewesen, ein dumpfes Klatschen, als der Inhalt des ersten Eimers unsere polierte Mahagonitür traf und eine Farbwelle sich am Fenster brach, ein leises Rat-a-tat-tat der Spritzer, nicht lauter als starker Regen. Unser Haus war nicht im ersten Zorn mit Neonfarbe besprüht, sondern mit einem Hass übergossen worden, der so lange eingekocht war, bis er die Konsistenz und Würze einer französischen Soße hatte.
Du hättest darauf bestanden, dass wir jemanden bestellen, der alles sauber macht. Du hattest dieses uramerikanische Faible für Spezialfirmen – für jeden Zweck einen Experten –, und manchmal hast du zum reinen Vergnügen im dicken gelben Branchenbuch geblättert. »Farbentfernung: Blutroter Lack.« Aber in der Zeitung hatte so viel darüber gestanden, wie reich wir waren, wie verwöhnt Kevin war. Ich gönnte Gladstone das Naserümpfen nicht: Seht ihr, sie lässt immer andere die Drecksarbeit für sich machen, zuerst der teure Rechtsanwalt und jetzt dies. Nein, sie durften Tag für Tag zuschauen, wie ich eigenhändig alles abkratzte und für die Ziegel ein Sandstrahlgerät auslieh. Eines Abends schaute ich nach meinem Tagewerk in den Spiegel – verschmierte Kleider, abgeknickte Fingernägel, gesprenkeltes Haar – und schrie auf. So hatte ich schon einmal ausgesehen.
Ein paar Spalten um die Tür glänzen vielleicht noch rot; in den Ritzen zwischen den pseudoantiken Ziegeln schimmern noch ein paar Tropfen, an die ich mit der Leiter nicht herankam. Ich verkaufte das Haus. Nach dem Zivilprozess musste ich es.
Ich dachte, es wäre schwierig, die Immobilie loszuwerden. Abergläubische Käufer würden sicher zurückschrecken, wenn sie erfuhren, wem das Haus gehörte. Was nur bewies, wie wenig ich mein eigenes Land verstand. Du hast mir einmal vorgeworfen, dass ich meine ganze Neugier an »beschissene Dritte-Welt-Löcher« vergeuden würde, während sich vor meiner Nase das mit Abstand außergewöhnlichste Reich in der Geschichte der Menschheit befände. Du hattest recht, Franklin. Es geht nichts über zu Hause.
Sobald die Immobilie inseriert war, kamen die Angebote. Nicht weil die Interessenten es nicht wussten. Sondern weil sie es wussten. Unser Haus brachte viel mehr, als es wert war – über drei Millionen Dollar. In meiner Naivität hatte ich nicht begriffen, dass gerade sein fragwürdiger Ruhm den Marktwert steigerte. Während neureiche Käuferpaare unsere Vorratskammer inspizierten, stellten sie sich offenbar bereits den krönenden Augenblick ihrer Einweihungsparty vor.
(Kling-kling!) Alle mal herhören. Bevor ich mit euch anstoße – ihr werdet nicht glauben, von wem wir dieses Superhaus gekauft haben. Seid ihr bereit? Eva Khatchadourian … Schon mal gehört? Klar. Wohin sind wir gezogen? Gladstone! … Ja, genau die Khatchadourian, Pete, wie viele Khatchadourians kennst du denn? Mensch, bist du schwer von Begriff.
… Genau, »Kevin«. Irre, was? Mein Sohn Lawrence hat sein Zimmer. Hat versucht, mir letztens abends einen Streich zu spielen. Sagte, er müsse aufbleiben und Henry: Porträt eines Serienkillers gucken, weil »Kevin Ketchup« in seinem Zimmer »spuken« würde. Tut mir leid, sagte ich, Kevin Ketchup spukt ganz sicher nicht in deinem Schlafzimmer, weil der kleine miese Nichtsnutz noch quicklebendig im Jugendgefängnis in Upstate New York einsitzt. Wenn es nach mir ginge, hätte die Ratte den elektrischen Stuhl gekriegt … Nein, so schlimm wie Columbine war’s nicht. Wie viele waren’s noch, Honey? Zehn? Neun, aha, sieben Kinder und zwei Erwachsene. Die Lehrerin, die er umgelegt hat, war auch noch seine große Förderin oder so. Und ich weiß nicht, man kann nicht alles auf die Videos und Rockmusik schieben. Wir sind doch auch mit Rockmusik aufgewachsen, oder? Keiner von uns hat ’nen Rappel gekriegt und ist in der Highschool Amok gelaufen. Oder nimm Lawrence. Der Kleine liebt Horror im Fernsehen, egal, wie drastisch, er verzieht keine Miene. Aber als sein Kaninchen überfahren wurde? Da hat er eine Woche geweint. Der kennt doch den Unterschied.
Wir erziehen ihn, dass er Recht und Unrecht unterscheiden kann. Vielleicht ist es unfair, aber über die Eltern muss man sich schon wundern.
Eva
Lieber Franklin,
du weißt, ich versuche immer höflich zu sein. Wenn meine Kollegen – du liest richtig, ich arbeite, und zwar gern, in einem Reisebüro in Nyack, du wirst es kaum glauben –, wenn sie sich also ereifern über die unverhältnismäßig hohe Stimmenzahl für Pat Buchanan in Palm Beach, warte ich geduldig, bis sie aufhören, und bin deshalb ein rarer Schatz: Ich bin im Büro die Einzige, die jeden ausreden lässt. Auch wenn die Atmosphäre in diesem Land an Karneval erinnert – heiter, mit drastischen Meinungsäußerungen –, nehme ich an dieser Party nicht teil. Mir ist egal, wer Präsident ist.
Dennoch kann ich mir ausmalen, wie ich die vergangene Woche erlebt hätte, wenn nicht … Ich hätte für Gore gestimmt, du für Bush. Wir hätten vor der Wahl hitzige Diskussionen geführt, doch das jetzt – das –, oh, es wäre wunderbar gewesen. Laut, gellend, Fäuste ballend und Türen knallend, ich mit ausgewählten Zitaten aus der New York Times, du mit Meinungen aus dem Wall Street Journal – und die ganze Zeit verkneifen wir uns ein Lächeln. Wie sehr ich es vermisse, mich über Bagatellen aufzuregen.
Vielleicht war es unaufrichtig von mir, zu Beginn meines letzten Briefs so zu tun, als ob ich am Ende eines Tages, wenn wir uns trafen, immer alles erzählte. Im Gegenteil, der Impuls, dir zu schreiben, rührt auch daher, dass mir der Kopf wegen all der kleinen Geschichten fast platzt, die ich dir nie erzählt habe.
Glaub nicht, dass ich meine Geheimnisse genossen habe. Sie haben mich gefangen genommen, umzingelt, und ich hätte dir für mein Leben gern mein Herz ausgeschüttet. Aber Franklin, du wolltest nichts hören. Ich glaube, du willst es immer noch nicht. Und vielleicht hätte ich damals hartnäckiger versuchen sollen, dich zum Zuhören zu zwingen, doch schon früh vertraten wir gegensätzliche Positionen. Für viele streitende Paare sind diese gegensätzlichen Positionen nicht klar umrissen, es gibt nur eine vage Trennlinie – eine Geschichte, ein undefinierbarer Groll, ein unsinniger Machtkampf, der sein Eigenleben entwickelt: unfassbar. Wenn sich diese Paare versöhnen, trägt die Unwirklichkeit dieser Trennlinie zu ihrer eigenen Auflösung bei. Schau doch, sehe ich – voller Neid – sie feststellen, es steht nichts zwischen uns; keine dicke Luft mehr. Doch in unserem Fall war das Trennende nur allzu greifbar, und wenn es gerade nicht im Raum stand, konnte es jederzeit hereinschneien.
Unser Sohn. Der keine Anekdotensammlung ist, sondern eine einzige lange Geschichte. Und obwohl geborene Geschichtenerzähler natürlich anfangen, wo es anfängt, verkneife ich mir das. Ich muss noch weiter ausholen. So viele Geschichten sind bereits entschieden, bevor sie ihren Anfang nehmen.
Welcher Teufel ritt uns? Wir waren so glücklich! Warum setzten wir alles, was uns lieb war, auf diese eine, wahnsinnige Karte und spielten um ein Kind? Natürlich findest du schon die Fragestellung widernatürlich. Obwohl die Unfruchtbaren ein Recht darauf haben, sich einzureden, dass sie nicht viel verpassen, gehört es sich nicht, wenn man ein Baby hat, das Leben »vorher« und »nachher« gegeneinander abzuwägen. Ich ziehe dennoch, widerborstig, wie ich bin, den verbotenen Vergleich. Ich besitze Fantasie, und ich bin gern wagemutig. Und ich wusste schon im Vorhinein: Ich bin die Sorte Frau, die – wie schrecklich es auch sein mag – dazu fähig ist, selbst etwas so Unwiderrufliches wie einen anderen Menschen zu bereuen. Aber auch Kevin betrachtete die Existenz anderer Menschen nicht als unwiderruflich – oder?
Verzeih, aber erwarte nicht, dass ich mir das Thema verkneife. Ich finde vielleicht keine adäquate Bezeichnung für jenen Donnerstag. Die Katastrophe klingt wie aus der Zeitung; das Ereignis spielt das Geschehene bis an den Rand der Obszönität herunter; und der Tag, an dem unser Sohn einen Massenmord beging ist zu lang, stimmt’s? Wenn man darüber reden will. Und ich will darüber reden. Ich wache jeden Morgen mit seiner Tat auf und gehe jeden Abend mit ihr zu Bett. Sie ist ein schäbiger Ersatz für einen Ehemann.
Also habe ich mir das Hirn zermartert und mir wieder jene Monate in Erinnerung gerufen, in denen wir offiziell »unseren Entschluss« fassten. Wir wohnten damals noch in meinem höhlenartigen Loft in Tribeca – umgeben von Homosexuellen, bindungslosen Künstlern, die du selbstbezogen schimpftest, und unverheirateten berufstätigen Paaren, die jeden Abend beim Mexikaner aßen und sich anschließend bis um drei im Limelight austobten. Kinder waren in jener Umgebung ähnlich rar wie der Fleckenkauz oder andere gefährdete Arten. Kein Wunder also, dass unsere Überlegungen etwas Künstliches, Abstraktes hatten. Wir setzten uns sogar einen Termin, um Himmels willen – meinen siebenunddreißigsten Geburtstag im August –, weil wir kein Kind wollten, das noch bei uns zu Hause wohnte, wenn wir über sechzig waren.
Sechzig! Wir! Damals ein Alter, so unfassbar theoretisch wie das potenzielle Baby. Dabei werde ich in fünf Jahren auch dieses fremde Territorium erreichen – es ist so simpel wie eine Fahrt mit dem Bus. 1999 machte ich einen Zeitensprung, obwohl mir mein Älterwerden weniger im Spiegel auffiel als an den Reaktionen anderer Leute. Als ich im Januar den Führerschein verlängerte, war der Beamte gar nicht erstaunt über meine vierundfünfzig. Ich war auf diesem Sektor verwöhnt, weißt du noch, ich bekam regelmäßig Komplimente, dass ich mindestens zehn Jahre jünger aussähe. Die Komplimente versiegten über Nacht. Einmal in Manhattan, kurz nach dem Donnerstag, machte mich ein Fahrkartenverkäufer der U-Bahn peinlicherweise darauf aufmerksam, dass ich mit über fünfundsechzig ein Recht auf Ermäßigung hätte.
Wir waren uns einig, dass die Elternfrage »die mit Abstand wichtigste Entscheidung war, die wir je gemeinsam treffen würden«. Doch wegen ihrer Tragweite wirkte die Entscheidung nie wirklich echt, sondern eher wie eine fixe Idee. Immer wenn einer von uns die Elternfrage anschnitt, kam ich mir wie eine Siebenjährige vor, die sich zu Weihnachten eine Babypuppe wünscht, die pinkeln kann.
Ich erinnere mich an eine Reihe von Gesprächen damals, die mit schöner Regelmäßigkeit entweder auf ein Dafür oder ein Dagegen hinausliefen. Das optimistischste war sicher jenes nach einem Sonntagslunch mit Brian und Louise am Riverside Drive. Sie luden nicht mehr zum Abendessen ein, weil das zu elterlicher Apartheid führte: Ein Elternteil spielte Erwachsensein bei Kalamata-Oliven und Cabernet, der andere jagte, badete und bettete diese beiden übermütigen kleinen Mädchen. Ich treffe mich lieber abends mit Leuten – man ist eindeutig ausgelassener –, aber ausgelassen war kein Adjektiv mehr, das ich in Zusammenhang mit diesem freundlichen, soliden Fernsehdrehbuchautor brachte, der seine eigene Pasta machte und dünne Petersilienpflänzchen im Balkonkasten goss.
Im Fahrstuhl nach unten wunderte ich mich: »Und er war mal ein richtiger Kokser.«
»Du klingst wehmütig«, stelltest du fest.
»Oh, er ist jetzt sicher glücklicher.«
Ich war mir nicht sicher. Damals fand ich Normalsein noch suspekt. In der Tat war es zusammen richtig »nett« gewesen, was mich merkwürdig ratlos machte. Ich hatte die eichene Esszimmergarnitur bewundert, die sie für einen Apfel und ein Ei bei einem Lagerverkauf in Upstate New York erstanden hatten, und du hattest dir mit einer Engelsgeduld von dem kleineren Mädchen ihre komplette Cabbage-Patch-Puppensammlung vorführen lassen, worüber ich nur staunte. Wir lobten überschwänglich den ausgefallenen Salat – in den Achtzigerjahren waren Ziegenkäse und getrocknete Tomaten noch nicht passé.
Vor Jahren hatten wir beschlossen, dass du dich mit Brian nicht mehr über das Thema Ronald Reagan in die Haare kriegen würdest – deiner Ansicht nach ein gutmütiger Kerl, blitzgescheit und ein Finanzgenie, der unserer Nation ihren Stolz zurückgegeben hatte, für Brian ein gefährlicher Idiot, der das Land mit seinen Steuergeschenken an die Reichen in den Bankrott treiben würde. Wir blieben also bei den unverfänglichen Themen, während im Hintergrund in Erwachsenenlautstärke »Ebony and Ivory« lief und ich mein Unbehagen unterdrückte, dass die kleinen Mädchen falsch mitsangen und immer wieder den gleichen Song dudelten. Du beklagtest, dass die New York Knicks es nicht in die Basketball-Playoffs geschafft hatten, und Brian tat dir zuliebe, als interessierte er sich für Sport. Wir bedauerten alle, dass bald die letzte Staffel von All in the Family laufen würde, waren uns aber einig, dass die Serie eigentlich ausgedient hatte. Den einzigen Konflikt des Nachmittags gab es anlässlich von M*A*S*H*, weil dieser Sendung ein ähnliches Schicksal drohte. Wohl wissend, dass Brian Alan Alda vergötterte, hast du ihn als »scheinheilige Schnarchnase« verrissen.
Doch der Streit verlief bestürzend gutmütig. Brian war in Bezug auf Israel auf einem Auge blind, und so war ich versucht, ganz ruhig etwas über »Juden-Nazis« zu sagen, um dieses leutselige Treffen platzen zu lassen. Statt dessen fragte ich ihn nach dem Thema seines neuesten Drehbuchs, bekam aber keine Antwort, weil das ältere Mädchen sich ihr barbieblondes Haar mit Kaugummi verklebt hatte. Es gab ein langes Hin und Her über Lösungsmittel, dem Brian ein Ende setzte, indem er die Locke mit einem Küchenmesser absäbelte, was Louise etwas schockierte. Das war aber auch der einzige Aufruhr, ansonsten trank keiner zu viel, und keiner war beleidigt; die Wohnung war nett, das Essen war nett, die Mädchen waren nett – nett, nett, nett.
Ich war selbst enttäuscht darüber, dass ich unser durchaus angenehmes Essen mit durchaus angenehmen Leuten ungenügend fand. Warum hätte ich lieber einen Krach gehabt? Waren die beiden Mädchen nicht absolut hinreißend, was machte es schon, wenn sie ständig dazwischenredeten und ich den ganzen Nachmittag keinen klaren Gedanken fassen konnte? War ich nicht mit dem Mann verheiratet, den ich liebte? Wieso wünschte sich dann etwas Böses in mir, dass Brian mir unter den Rock fasste, als wir zusammen die Schüsseln mit Häagen-Dazs-Eis aus der Küche holten? Rückblickend war es richtig, dass ich mich verurteilte. Nur ein paar Jahre später hätte ich bares Geld für eine normale, gut gelaunte Familienfeier gegeben, wo Kaugummi-in-die-Haare-Kleben das Schlimmste war, was die Kinder anstellten.
Du jedoch hast großspurig im Hauseingang verkündet: »Das war toll. Ich finde die beiden klasse. Wir müssen sie unbedingt bald einladen, wenn sie einen Babysitter finden.«
Ich hielt den Mund. Dir war jetzt nicht nach meiner Nörgelei, ob dieser Lunch nicht ein bisschen harmlos gewesen war; ob du nicht auch fandest, dass diese Vater-ist-der-Beste-Nummer ein bisschen schlicht und bieder und einfältig wirkte, wo Brian doch früher so ein Wahnsinnstyp gewesen war (endlich kann ich zugeben, dass ich vor deiner Zeit auf einer Party einen Gästezimmer-Quickie mit ihm abgezogen habe). Womöglich hast du genau das Gleiche gefühlt wie ich, und dieses oberflächlich so erfolgreiche Treffen kam auch dir platt und abgeschmackt vor, doch anstelle eines anderen Modells, das man hätte anstreben können – wir wollten ja nicht gleich zu Koks greifen –, hast du einfach die Augen verschlossen. Diese Leute waren gut, und sie waren zu uns gut gewesen, und deshalb hatte es dir gut gefallen. Eine andere Logik machte Angst, beschwor den Geist einer unbenennbaren Größe, ohne die wir nicht leben, die wir aber auch nicht auf Wunsch herbeirufen konnten, am wenigsten, indem wir tugendhaft nach bewährtem Rezept handelten.
Du warst der Ansicht, Erlösung sei ein Willensakt. Du hast Leute verachtet (Leute wie mich), die immer ein Haar in der Suppe fanden. Du empfandest es als Charakterschwäche, sich nicht an den Dingen des einfachen Lebens zu erfreuen. Wählerische Esser, Hypochonder und Snobs, die über Filme wie Zeit der Zärtlichkeit – nur weil sie gerade »in« waren – die Nase rümpften, hast du gehasst. Nettes Essen, nette Wohnung, nette Leute – was wollte ich mehr? Außerdem fällt dir das gute Leben nicht in den Schoß. Freude ist harte Arbeit. Wenn du also mit einiger Mühe zu dem Ergebnis kamst, dass es bei Brian und Louise theoretisch schön gewesen war, musste es auch de facto schön gewesen sein. Das einzige Indiz, dass der Nachmittag auch dich angestrengt hatte, war deine übertriebene Begeisterung.
Als wir durch die Drehtür am Riverside Drive kreiselten, waren meine Zweifel diffus und flüchtig. Später würden diese Gedanken zurückkehren und mich verfolgen. Doch ich konnte nicht ahnen, dass deine Neigung, diese störrische, verunglückte Erfahrung ordentlich zu verdrängen, wie jemand, der ein wirres Bündel Treibholz in einen festen Samsonite-Koffer stopft, dass diese bedenkliche Verwechslung des Ist mit dem Sollte-Sein – deine herzzerreißende Neigung, das, was du tatsächlich hattest, mit dem zu verwechseln, was du dringend wolltest –, dass dies alles so verheerende Folgen haben würde.
Ich schlug vor, zu Fuß nach Hause zu gehen. Wenn ich für A Wing and a Prayer unterwegs war, ging ich überallhin zu Fuß, es war mir in Fleisch und Blut übergegangen.
»Es sind sicher sechs, sieben Meilen nach Tribeca«, gabst du zurück.
»Du nimmst ein Taxi, um dann vor dem Spiel der New York Knicks siebentausendfünfhundertmal seilzuspringen, aber ein ordentlicher Spaziergang, der dich dahin bringt, wohin du willst, ist dir zu anstrengend.«
»Zum Teufel, ja. Alles zu seiner Zeit.« Deine Macken waren hinreißend, solange sie sich auf deine Fitness oder deine Hemdenfaltmethode beschränkten. Aber in einem ernsteren Kontext, Franklin, war ich weniger begeistert. Ordnungsliebe führt mit der Zeit zu Angepasstheit.
Also drohte ich, allein nach Hause zu gehen – damit kriegte ich dich rum; drei Tage später sollte ich nach Schweden fahren, und du warst hungrig nach meiner Gesellschaft. Wir tobten den Fußweg hinunter in den Riverside Park, wo die Gingkobäume blühten und die leicht abfallende Wiese voller Magersüchtiger war, die Tai Chi übten. Aufgekratzt, weil ich vor meinen eigenen Freunden flüchtete, kam ich ins Stolpern.
»Du bist betrunken«, sagtest du.
»Zwei Gläser!«
Dein Blick wurde streng. »Am helllichten Tage.«
»Drei wären besser gewesen«, sagte ich bissig. Abgesehen vom Fernsehen war bei dir jedes Vergnügen rationiert, und ich wünschte mir manchmal, dass du dich wieder gehen lassen würdest, wie damals, als du um mich warbst und mit zwei Pinot Noir, einem Sechserpack St. Pauli Girl und einem geilen Blick vor meiner Tür auftauchtest – was alles nicht danach aussah, als wolltest du warten, bis wir uns die Zähne mit Zahnseide gesäubert hatten.
»Wenn du Brians Kinder siehst«, begann ich förmlich, »möchtest du dann auch welche?«
»Mmm, vielleicht. Sie sind niedlich. Aber ich muss die Racker ja auch nicht in die Falle schaffen, wenn sie einen Keks wollen, ihren Lieblingshasen und fünf Millionen Gläser Wasser.«
Ich verstand. Unsere Dialoge folgten Spielregeln, und dein Auftakt war unverbindlich. Einer von uns übernahm immer die Rolle des Spielverderbers, und das letzte Mal hatte ich die Figuren auf dem Brett umgeworfen: Ein Kind war laut, machte Dreck, engte ein und war undankbar. Diesmal übernahm ich den kühneren Part: »Wenn ich schwanger würde, dann würde wenigstens was passieren.«
»Offensichtlich«, sagtest du trocken. »Du bekämst ein Kind.«
Ich zog dich auf den Weg zum Flussufer. »Mir gefällt die Idee, einfach eine neue Seite aufzuschlagen.«
»Das kann alles heißen.«
»Ich meine, wir sind doch glücklich. Oder?«
»Klar«, fuhrst du vorsichtig fort. »Davon gehe ich aus.« Aus deiner Sicht durfte man unser Glück nicht zu genau fixieren – als wäre es ein scheuer Vogel, leicht zu verschrecken, und in dem Augenblick, wo einer von uns riefe, Sieh doch den schönen Schwan!, würde es auf und davon flattern.
»Na, vielleicht sind wir zu glücklich.«
»Genau, deswegen wollte ich schon ein ernstes Wort mit dir reden. Mach mich doch ein bisschen unglücklicher.«
»Hör auf. Ich rede von Geschichten. Im Märchen heißt es am Schluss immer: Und wenn sie nicht gestorben sind …«
»Tu mir einen Gefallen: Sprich mit mir wie mit einem Normalsterblichen.«
Oh, du hast genau gewusst, was ich meinte. Nicht, dass Glück langweilig war. Es eignete sich nur nicht so gut zum Erzählen. Und einer unserer liebsten Zeitvertreibe, wenn wir älter werden, ist, dass wir unsere Geschichte erzählen, nicht nur den anderen, auch uns selbst. Ich sollte das wissen; ich bin täglich vor meiner eigenen Geschichte auf der Flucht, und sie bleibt mir auf den Fersen wie ein treuer Straßenköter. Dementsprechend habe ich mich gegenüber meinem jüngeren Ich verändert: Heute halte ich Leute, die kaum eine oder gar keine Geschichte zu erzählen haben, für schrecklich glücklich.
An den Tennisplätzen im hellen Aprillicht gingen wir langsamer, blieben stehen und bewunderten durch eine Lücke im grünen Windschutz eine kräftige Rückhand. »Alles scheint so geordnet«, jammerte ich. »A Wing and a Prayer ist so erfolgreich; das Einzige, was mir beruflich passieren könnte, wäre ein Firmenbankrott. Ich könnte immer mehr Geld verdienen – aber eigentlich bin ich ein Secondhandfan, Franklin, und weiß gar nicht, was ich mit so viel Geld anfangen soll. Geld ödet mich an, und ich mag nicht, wie es unseren Lebensstil verändert. Viele Leute haben keine Kinder, weil sie sich keine leisten können. Für mich wäre es eine Erleichterung, etwas Wichtiges zu haben, für das sich die Ausgaben lohnen.«
»Ich bin nicht wichtig?«
»Du bist nicht kostspielig genug.«
»Neues Springseil?«
»Zehn Dollar.«
»Na ja«, hast du eingelenkt, »wenigstens wäre ein Kind die Antwort auf die Große Frage.«
Auch ich konnte störrisch sein. »Welche Große Frage?«
»Du weißt schon«, sagtest du leichthin und fuhrst in gedehntem Südstaatendialekt fort, »das alte existenzielle Dilemma.«
Ich grübelte nicht lange, warum, doch deine Große Frage rührte mich nicht. Mir gefiel das Neue-Seite-Aufschlagen besser. »Ich könnte mich immer noch in ein neues Land verkrümeln –«
»Gibt’s da noch welche? Du sammelst Länder wie andere Leute CDs.«
»Russland«, sagte ich. »Obwohl ich mein Leben ungern bei Aeroflot aufs Spiel setze. In letzter Zeit … kommt es mir überall irgendwie gleich vor. Alle Länder haben unterschiedliches Essen, aber sie haben alle Essen, verstehst du, was ich meine?«
»Wie nennst du das noch? Genau! Stuss.«
Siehst du, damals hattest du die Angewohnheit, so zu tun, als hättest du keine Ahnung, wenn ich von etwas Komplexem oder Subtilem sprach. Später verkam diese spielerische Strategie des Sich-dumm-Stellens zur dumpfen Unfähigkeit, meine Anliegen zu begreifen, nicht weil sie zu abstrus, sondern weil sie nur allzu klar waren – und das mochtest du nicht.
Erlaube mir einen Exkurs: Alle Länder haben anderes Wetter, aber alle haben sie irgendein Wetter, irgendeine Architektur, eine Haltung zu der Frage, ob Rülpsen beim Essen ein Kompliment oder eine Unhöflichkeit ist. Deshalb hatte ich angefangen, mir weniger Gedanken darüber zu machen, ob ich in Marokko meine Sandalen vor der Tür stehen lassen musste, als vielmehr über die generelle Tatsache, dass – egal, wo ich mich befand – jede Kultur auf dem Schuhsektor ihre besonderen Bräuche hatte. Reisen schien mir ein großer Aufwand – Gepäck, Jetlag etc. –, wenn man sich doch immer wieder nur innerhalb des Wetter-Schuh-Kontinuums bewegte; dieses Kontinuum immergleicher Faktoren wurde selbst zu einer Art Ort, sodass ich im Grunde regelmäßig und gnadenlos an dieser gleichen Stelle landete. Obwohl ich manchmal über die Globalisierung schimpfte – ich konnte deine schokoladenbraunen Lieblingstreter bei Banana Republic in Bangkok kaufen –, war es doch im Grunde die Welt in meinem Kopf, die monoton geworden war; das, was ich dachte, was ich fühlte und was ich redete. Mein Kopf würde erst an einem wirklich anderen Ort ankommen, wenn ich mich in ein anderes Leben begab und nicht an einen anderen Flughafen.
»Mutterschaft«, brachte ich es im Park auf den Punkt, »das ist ein fremdes Land.«
Aber wenn ich, selten genug, wirklich Ernst machen wollte, wurdest du nervös. »Vielleicht bist du deinen Erfolg leid«, sagtest du. »Aber Location-Scouting für Madison-Avenue-Werbeagenturen ist für mich auch nicht der Gipfel der Selbstverwirklichung.«
»Gut.« Ich blieb stehen, lehnte mich rücklings gegen das warme Holzgeländer am Hudson River und breitete die Arme seitlich darauf aus, um dir offen gegenüberzutreten. »Also, was soll passieren? Was meinst du, worauf warten und hoffen wir beruflich?«
Du hast den Kopf geschüttelt, mir prüfend ins Gesicht gesehen. Du schienst zu begreifen, dass ich weder deine Leistung noch die Wichtigkeit deiner Arbeit anfechten wollte. Es ging um etwas anderes. »Ich könnte als Scout beim Film arbeiten.«
»Aber du hast immer gesagt, das sei derselbe Job: Du findest die Leinwand, ein anderer malt die Szene. Und Werbeagenturen zahlen besser.«
»Da ich mit einer goldenen Gans verheiratet bin, ist das ja egal.«
»Ist es dir aber nicht.« Dein erwachsener Umgang mit mir als der deutlich besser Verdienenden hatte seine Grenzen.
»Vielleicht mache ich was völlig anderes.«
»Was denn, lässt du dir endlich einreden, dass du ein eigenes Restaurant aufmachen sollst?«
Du musstest lächeln. »Das schafft keiner.«
»Genau. Du bist viel zu praktisch veranlagt. Vielleicht machst du etwas anderes, aber doch immer etwas auf der gleichen Ebene. Ich rede von Topografie. Von der emotionalen, narrativen Topografie. Wir leben in Holland. Aber manchmal zieht es mich nach Nepal.«
Da New Yorker gemeinhin als zielstrebig galten, hättest du beleidigt sein können, dass ich dich nicht ehrgeizig fand. Aber du sahst dich selbst ausgesprochen pragmatisch und warst mir nicht böse. Du warst ehrgeizig, was dein Leben anging – wie es war, wenn du morgens aufwachtest –, doch du warst nicht hinter irgendwelchen Errungenschaften her. Wie die meisten Menschen, die nicht von klein auf eine besondere Berufung verspürt hatten, kamst erst du und dann deine Arbeit; deine Beschäftigung füllte deinen Tag, aber nicht dein Herz. Das mochte ich an dir. Ich mochte es wirklich sehr.
Wir gingen weiter, und ich schwenkte deine Hand. »Unsere Eltern werden bald sterben«, fing ich wieder an. »Über kurz oder lang werden alle, die wir kennen, ihre irdischen Verstrickungen im Suff ertränken. Wir werden alt, und irgendwann verlierst du mehr Freunde, als du gewinnst. Sicher können wir in die Ferien fahren, zu guter Letzt noch Rollkoffer anschaffen. Wir können mehr essen, können mehr Wein trinken und mehr Sex haben. Aber – und versteh mich nicht falsch – ich fürchte, dass alles etwas langweilig wird.«
»Einer von uns könnte immer noch Bauchspeicheldrüsenkrebs kriegen«, schlugst du gut gelaunt vor.
»Stimmt. Oder im Pick-up mit einem Betonmischer zusammenstoßen, das macht die Geschichte noch ein bisschen raffinierter. Aber genau das meine ich. Alle größeren Ereignisse, die ich mir von unserer Zukunft erwarte – ich meine keine liebevollen Postkarten aus Frankreich, sondern ernst zu nehmende Ereignisse –, sind schrecklich.«
Du gabst mir einen Kuss aufs Haar. »Ganz schön trübe Gedanken an so einem wunderschönen Tag.«
Ein paar Schritte gingen wir halb umarmt, aber unsere Schritte kamen aus dem Takt; ich hakte meinen Zeigefinger in deine Gürtelschlaufe. »Du kennst doch diesen Euphemismus, sie ist froher Erwartung? Genau das. Die Geburt eines Kindes ist, wenn es gesund ist, etwas, worauf man sich freuen kann. Etwas Gutes, ein großes, gutes, enormes Ereignis. Und von da an geschieht alles Gute, was dem Kind geschieht, auch dir. Alles Schlechte natürlich auch«, fügte ich hastig hinzu, »aber auch erste Schritte, erste Freundschaften, erster Platz im Sackhüpfen. Kinder machen einen Schulabschluss, sie heiraten, sie bekommen selbst Kinder – man erlebt gewissermaßen alles zum zweiten Mal. Selbst wenn unser Kind Probleme hätte«, sagte ich naiv, »wären es wenigstens nicht unsere alten Probleme …«
Genug. Dieses Gespräch noch einmal wiederzugeben bricht mir das Herz.
Rückblickend war meine Aussage, dass ich mehr »Geschichte« wollte, vielleicht meine Art anzudeuten, dass ich noch jemanden brauchte, den ich lieben konnte. So etwas sprachen wir nie laut aus; wir waren zu schüchtern. Und es ängstigte mich, je nahezulegen, dass du mir nicht genug sein könntest. Jetzt, wo wir getrennt sind, finde ich eigentlich, dass ich es dir viel öfter hätte sagen sollen: Mich in dich zu verlieben war das Erstaunlichste, was mir je passiert ist. Nicht allein das Verlieben, dieses seichte Ereignis an sich, sondern das In-dich-verliebt-Sein. An jedem Tag, den wir getrennt verbrachten, stellte ich mir deine breite, warme Brust vor, die Wölbung, fest und rund von deinen täglichen hundert Liegestützen, die Schlüsselbeinmulde, in die ich an jedem herrlichen Morgen meinen Kopf kuschelte, an dem ich nicht pünktlich am Flughafen sein musste. Manchmal hörte ich dich von irgendwoher meinen Namen rufen: »Eee-VA!« Gereizt, kurz, fordernd riefst du mich, weil ich dir gehörte, wie einen Hund, Franklin! Aber ich gehörte dir ja, und ich hatte nichts dagegen, und ich mochte diesen Anspruch: »Eeeeeee-VA!«, immer auf der zweiten Silbe betont, und an manchen Abenden konnte ich kaum antworten, weil ich einen dicken Kloß im Hals verspürte. Ich musste aufhören, die Äpfel für den Kuchen in Scheiben zu schneiden, weil meine Augen feucht wurden und die ganze Küche verschwamm und ich mir sonst in den Finger geschnitten hätte. Du hast mich immer angeschrien, wenn ich mich geschnitten habe; du wurdest dann wütend, und dein irrationaler Zorn war so betörend, dass ich es am liebsten gleich noch einmal getan hätte.
Ich habe dich nie und nimmer für selbstverständlich gehalten. Dazu hatten wir uns zu spät getroffen. Ich war damals fast dreiunddreißig, und meine Vergangenheit ohne dich war mir zu karg und zu eindringlich in Erinnerung, als dass ich das Wunder der Zweisamkeit normal gefunden hätte. Aber nachdem ich so lange von den Brosamen meines eigenen emotionalen Tischs gelebt hatte, verwöhntest du mich mit einem täglichen Festmahl verschwörerischer So-ein-Arschloch-Blicke auf Partys, grundloser Überraschungsblumensträuße und Nachrichten am Kühlschrankmagneten, die immer mit »1000 Küsse, Franklin« unterschrieben waren. Du machtest mich gierig. Wie ein Süchtiger wollte ich mehr Stoff. Und ich war voller Neugier. Ich wollte wissen, wie es sich anfühlt, wenn ein Kinderstimmchen schon von Weitem »Mamm-MIII?« rief. Du hast damit angefangen – wie jemand, der einem einen einzelnen Ebenholzelefanten schenkt, und plötzlich denkt man, wie schön es wäre, so was zu sammeln.
Eva
PS (3.40 Uhr nachts)
Ich habe versucht, die Schlaftabletten abzusetzen, schon weil ich weiß, dass du dagegen bist, wenn ich sie nehme. Aber ohne Tabletten wälze ich mich nur herum. Morgen werde ich im Travel R Us nicht zu gebrauchen sein, aber ich will noch eine Erinnerung aus jener Zeit loswerden.
Erinnerst du dich, wie wir mit Eileen und Belmont im Loft Krebse gegessen haben? Das war ein ausgelassener Abend. Selbst du schlugst über die Stränge und holtest um zwei Uhr nachts noch den Himbeergeist hervor. Ohne Unterbrechungen, weil es Puppenkleider zu bewundern gab, ohne ein »Morgen ist schließlich ein Schultag« schlemmten wir, aßen Obst und Sorbet und schenkten großzügig gefüllte zweite Gläser des klaren, hochprozentigen Framboise nach, juchzten über unglaubliche Geschichten in einer Orgie ewiger Jugend, typisch für Kinderlose mittleren Alters.
Wir redeten über unsere Eltern – besser gesagt, machten uns kollektiv über sie lustig. Wir veranstalteten einen inoffiziellen Wettbewerb: Wessen Eltern hatten die schlimmsten Macken. Du warst im Nachteil; der unerschütterliche Neu-England-Stoizismus deiner Eltern war schwer zu parodieren. Dagegen bot der Erfindungsreichtum meiner Mutter, mit dem sie vermied, das Haus zu verlassen, Anlass für großen Jubel, und ich gab auch den Standardspruch von meinem Bruder und mir zum Besten: »Wie ungemein praktisch!« – was in unserer Familie gleichbedeutend war mit »Sie liefern frei Haus«. Früher (bevor er vermied, seine Kinder in meine Nähe zu lassen) brauchte ich nur zu sagen: »Wie ungemein praktisch!«, und Giles prustete los. Im Morgengrauen konnte ich auch Eileen und Belmont gegenüber bemerken: »Wie ungemein praktisch!«, und sie schrien vor Lachen.
Mit diesem multikulturellen Varietégespann aus zwei welterfahrenen Bohemiens konnten wir allerdings beide nicht mithalten. Eileens Mutter war schizophren, ihr Vater ein professioneller Falschspieler; Belmonts Mutter hatte früher als Prostituierte angeschafft und kleidete sich immer noch wie Bette Davis in Was geschah wirklich mit Baby Jane?. Sein Vater war ein halb berühmter Jazzschlagzeuger, der mit Dizzy Gillespie aufgetreten war. Ich spürte, dass sie diese Geschichten schon oft erzählt hatten – sie erzählten sie um so besser. Und nach so viel Chardonnay, mit dem wir die Krebsberge hinunterspülten, lachte ich, bis mir die Tränen kamen. An einem Punkt hätte ich beinah das Gespräch auf die Wahnsinnsentscheidung gebracht, mit der wir uns herumtrugen, aber Eileen und Belmont waren mindestens zehn Jahre älter, und ich war mir nicht sicher, ob ihre Kinderlosigkeit gewollt war; ich wollte nicht taktlos sein.
Sie gingen erst nachts um vier. Und vertu dich nicht: Diesmal hatte ich mich blendend amüsiert. Es war einer der raren Abende, an dem es sich gelohnt hatte, dass ich zum Fischmarkt gerannt war, dass ich eine Menge Obst klein geschnitten hatte, und wo sich eigentlich selbst das Kücheputzen hätte lohnen sollen, in der überall Mehl und Mangoschalen klebten. Ich glaube, dass ich ein bisschen ernüchtert war, weil der Abend vorbei war, oder vom Alkohol nur mehr ein bisschen schwerfällig und nicht mehr so euphorisiert. Ich war wacklig auf den Beinen, hatte müde Augen und musste mich zusammenreißen, die Weingläser nicht fallen zu lassen. Aber nicht deshalb hatte ich Katzenjammer.
»So still«, bemerktest du beim Tellerstapeln. »Fix und fertig?«
Ich aß die letzte einsame Krebsschere, die in den Topf zurückgerutscht war. »Wir haben – wie lange – vier, fünf Stunden über unsere Eltern geredet.«
»Und? Wenn du Schuldgefühle hast, weil du über deine Mutter hergefallen bist, tue bitte Buße bis 2025. Das ist doch dein Lieblingszeitvertreib.«
»Ich weiß. Das ist es ja, was mich beunruhigt.«
»Sie konnte dich nicht hören. Und niemand am Tisch hat dir, als du dich über sie lustig gemacht hast, unterstellt, du fändest sie nicht auch tragisch. Oder dass du sie nicht lieben würdest.« Du hast hinzugefügt: »Auf deine Art.«
»Aber wenn sie stirbt, werden wir … werde ich nicht so weitermachen können. Dann kann ich unmöglich weiter so zynisch sein, ohne dass ich mir wie eine Verräterin vorkomme.«
»Also mach die arme Frau lächerlich, solange du kannst.«
»Aber sollten wir überhaupt noch über unsere Eltern reden, stundenlang, in unserem Alter?«
»Wo ist das Problem? Du hast dermaßen gelacht, wahrscheinlich hast du dir dabei in die Hosen gepinkelt.«
»Als sie gingen, sah ich uns plötzlich – uns vier, alle über achtzig, überall Leberflecken, wie wir uns immer noch volllaufen lassen, immer noch die gleichen Geschichten erzählen. Wie wir immer noch, vielleicht mit ein bisschen mehr Wehmut oder Bedauern, weil sie inzwischen tot sind, über unsere komischen Eltern reden. Ist das nicht ein bisschen erbärmlich?«
»Du würdest dich lieber über El Salvador aufregen.«
»Das ist es nicht –«
»Oder Kulturgemeinplätzchen zum Kaffee reichen: Belgier sind unhöflich, Thais hassen Gefummel in der Öffentlichkeit, Deutsche sind analfixiert.«
Die Bitterkeit solcher Sticheleien hatte zugenommen. Meine hart erarbeiteten anthropologischen Erkenntnisse sollten mich wohl daran erinnern, dass ich mich in der Fremde ins Abenteuer stürzte, während du in New Jerseys Vororten nach einer heruntergekommenen Garage für Black and Decker fahnden musstest. Ich hätte dir über den Mund fahren können – schade, dass meine Reisegeschichten dich anöden –, aber eigentlich machtest du Spaß, es war spät, und ich hatte keine Lust, mich zu streiten.
»Sei nicht blöd«, sagte ich. »Ich bin wie alle: Ich rede gerne über andere Leute. Nicht fremde Leute. Leute, die ich kenne, Leute, die mir nahestehen – Leute, die mich aufregen. Aber ich finde, ich mache zu viel Gebrauch von meiner Familie. Mein Vater war tot, bevor ich geboren wurde; ein Bruder und eine Mutter bieten wenig Angriffsfläche. Ehrlich, Franklin, vielleicht sollten wir ein Kind bekommen, damit wir mal ein anderes Gesprächsthema haben.«
»Also das«, du hast den Spinattopf in die Spüle geknallt, »ist naiv.«
Ich griff deine Hand. »Ist es nicht. Was wir reden, ist, was wir denken, ist, was unser Leben ausmacht. Ich bin mir nicht sicher, ob ich mein ganzes Leben lang über meine Schulter auf meine Elterngeneration zurückschauen möchte – wo ich doch auf dem besten Wege bin, meine Sippe endgültig auszulöschen. Keine Kinder zu kriegen ist nihilistisch, Franklin. Als würde man nicht an die Menschheit glauben. Wenn jeder es uns nachmachen würde, wäre die Spezies Mensch in hundert Jahren ausgestorben.«
»Raus«, hast du geschimpft. »Kein Mensch kriegt Kinder, um die Spezies zu erhalten.«
»Vielleicht nicht bewusst. Aber eigentlich können wir solche Entscheidungen erst seit den Sechzigerjahren treffen, ohne ins Kloster zu gehen. Außerdem wäre es nach Abenden wie diesem eine Art poetischer Gerechtigkeit, wenn meine erwachsenen Kinder später bei ihren Freunden stundenlang über mich herziehen würden.«
Wie sehr wir uns selbst in Sicherheit zu wiegen wissen! Mir gefiel die Aussicht, dermaßen unter die Lupe genommen zu werden. War Mama nicht hübsch? War Mama nicht mutig? Mensch, sie ist immer mutterseelenallein in diese fürchterlichen Länder gereist! In meiner Fantasie sprachen meine Kinder in ihren nächtlichen Diskussionen nur in den höchsten Tönen von ihrer Mutter – keine Spur der boshaften Vivisektion, die ich an meiner Mutter vornahm. Ein Versuch: Mama ist so eine Angeberin! Hat sie nicht eine Riesennase? Und diese Reiseführer, die sie sich abringt, sind toooodlangweilig. Am schlimmsten ist, dass Söhne und Töchter ihre Eltern deshalb so leicht denunzieren können, weil sie Zugang zu allen vertraulichen Informationen haben, was das Ganze zu einem doppelten Vertrauensbruch macht.
Doch selbst rückblickend war diese Sehnsucht »nach einem anderen Gesprächsthema« alles andere als naiv. Tatsächlich ließ ich mich anfangs durch verlockende kleine Fantasien – wie Kinovorschauen – für eine Schwangerschaft erwärmen: Wie ich dem Jungen, der die erste Liebe meiner Tochter ist, die Tür öffne (ich muss zugeben, ich stellte mir immer eine Tochter vor); wie ich seine Unbeholfenheit durch einen freundlichen Plausch vertreibe; wie ich ihn endlos, spielerisch, gnadenlos durchdiskutiere, nachdem er wieder weg ist. Meine Sehnsucht, mit Eileen und Belmont bis in die Nacht einmal über junge Leute herzuziehen, die ihr Leben noch vor sich hatten – die neue Geschichten hervorbrachten, über die ich neue Ansichten hatte, und deren Stoff nicht schon ganz abgedroschen vom vielen Erzählen war –, diese Sehnsucht war echt und keine fixe Idee, keine Spinnerei.
Oh, aber ich habe nie darüber nachgedacht, was ich denn eigentlich zu erzählen haben würde, wenn ich denn endlich mit meinem heiß ersehnten frischen Gesprächsstoff versorgt wäre. Wirklich nicht vorhersehen konnte ich die tragische Ironie, dass ich über mein abendfüllendes neues Thema ebenden Mann verlieren würde, mit dem ich am liebsten darüber reden wollte.
Lieber Franklin,
es sieht nicht so aus, als ob dieser Zirkus in Florida demnächst ein Ende haben wird. Unser Büro ist in hellem Aufruhr wegen einer Staatsbeamtin mit viel Make-up, und einige meiner überarbeiteten Kollegen sagen eine »Verfassungskrise« voraus. Obwohl ich die Geschichte nicht in allen Einzelheiten verfolgt habe, bezweifle ich das. Was mir – angesichts der Leute, die an der Imbisstheke, wo sie vor Kurzem noch schweigend gegessen haben, nun lautstark übereinander herfallen – zu denken gibt, ist nicht, wie sehr sie sich bedroht fühlen, sondern wie sicher. Nur ein Land, das sich unantastbar fühlt, kann es sich leisten, politische Wirren als Unterhaltung zu betrachten.
Wenige Amerikaner armenischer Abstammung, deren Angehörige noch vor gar nicht allzu langer Zeit beinah ausgerottet worden wären (ich weiß, du kannst es nicht mehr hören), teilen dieses überhebliche Sicherheitsgefühl. Die Daten meines eigenen Lebens sind apokalyptisch. Ich wurde im August 1945 geboren, als die Sporen zweier Giftpilze uns einen warnenden Vorgeschmack auf die Hölle gaben. Kevin kam während des bangen Countdowns zum Jahr 1984 zur Welt – von vielen gefürchtet, du erinnerst dich. Obwohl ich die Nase rümpfte über Leute, die sich George Orwells Zufallstitel zu Herzen nahmen, begann für mich mit diesen Zahlen eine Ära der Tyrannei. Der Donnerstag schließlich fand 1999 statt, jenem Jahr, für das man den Weltuntergang vorausgesagt hatte. Und das mit Recht.
Seit meinem letzten Brief habe ich meine Erinnerung nach meinen ursprünglichen Bedenken gegen eine Mutterschaft durchforstet. Ich weiß, dass ich einen ganzen Packen Ängste hatte, nur nicht die richtigen. Hätte ich die Nachteile der Elternschaft aufgelistet, hätte dort niemals gestanden: »Sohn könnte ein Killer werden.« Die Liste hätte eher folgendermaßen ausgesehen:
1. Stress.
2. Weniger Zeit für uns beide. (Besser gesagt, keine Zeit für uns beide.)
3. Andere Leute. (Elternabende. Ballettlehrerinnen. Die unerträglichen Freunde des Kindes und ihre unerträglichen Eltern.)
4. Dass ich eine Kuh werde. (Ich war zierlich und wollte es gerne bleiben. Meine Schwägerin hatte während der Schwangerschaft dicke Krampfadern bekommen, die sich nie zurückbildeten, und die Aussicht auf Unterschenkel mit blauen verästelten Adern versetzte mich in größere Panik, als ich zugeben konnte. Also sagte ich nichts. Ich bin eitel oder war es einmal, und eine meiner Eitelkeiten bestand darin, so zu tun, als wäre ich es nicht.)
5. Unnatürlicher Altruismus: der Zwang, Entscheidungen an dem Wohl eines anderen Menschen auszurichten. (Ich bin ein Schwein.)
6. Einschränkung meiner Reisen. (Wohlgemerkt: Einschränkung. Nicht Ende.)
7. Tödliche Langeweile. (Kleine Kinder ödeten mich schrecklich an. Das habe ich mir von Anfang an eingestanden.)
8. Das Ende aller guten Beziehungen. (Ich hatte noch nie ein anständiges Gespräch unter Freunden erlebt, wenn ein Fünfjähriger dabei war.)
9. Gesellschaftlicher Abstieg. (Ich war eine angesehene Unternehmerin. Mit einem Kleinkind im Schlepptau würde jeder Mann in meinem Bekanntenkreis – jede Frau deprimierenderweise auch – mich weniger ernst nehmen.)
10. Vergeudete Investition. (Eltern zahlen eine Schuld ab. Aber wer möchte schon eine Schuld abzahlen, der man entrinnen kann? Kinderlose kommen auch so davon. Außerdem, was bringt es, wenn die Zahlung an die falsche Adresse geht? Nur die kaputteste Mutter könnte es als Belohnung für ihre Mühen empfinden, dass ihre Tochter ebenfalls ein erbärmliches Dasein fristet.)