Doowylloh - Marco Theiss - E-Book

Doowylloh E-Book

Marco Theiss

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Beschreibung

Hollywood: Die Welt der Stars und Sternchen. Kevins Leben hier gestaltet sich schwierig, die erhoffte Schauspielkarriere will nicht so recht in Gang kommen und jedes Casting endet mit denselben, immergleichen Worten – »Wir melden uns …« Als er schließlich einen Job bei Prime Catering annimmt, bringt ihn seine Fahrertätigkeit näher an die Stars heran, als er jemals zu träumen gewagt hatte. Er lernt den Actionhelden Randy Cook kennen, Jessica Lawson, die schönste Frau Hollywoods – und natürlich die legendäre Garner-Familie. Außerdem wird ihm klar, dass Prime Catering tatsächlich den besten Burger der Stadt zu bieten hat! Aber warum darf Kevin den Lieferwagen unter gar keinen Umständen öffnen? Weshalb sind die Burger so teuer? Und was soll schon passieren, wenn er die Lieferung doch öffnet?

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Seitenzahl: 395

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Marco Theiss

Doowylloh

DOOWYLLOH

Marco Theiss

IMPRESSUM

1. Auflage 2021

© Wortschatten Verlag

In der Verlagsgruppe Mainz

Alle Rechte vorbehalten

Printed in Germany

Wortschatten Verlag

Verlagsgruppe Mainz

Süsterfeldstraße 83

52072 Aachen

[email protected]

0049 (0)241 87343422

www.wortschatten.de

Gestaltung, Druck und Vertrieb:

Druckerei und Verlagshaus Mainz

Süsterfeldstraße 83

52072 Aachen

www.verlag-mainz.de

Lektorat:

Marie Köhler, Julia Huntscha

Umschlaggestaltung und Coverillustration:

Dietrich Betcher

E-Book:ISBN-10: 3-96964-015-6

ISBN-13: 978-3-96964-015-9

Print:

ISBN-10: 3-96964-014-8

ISBN-13: 978-3-96964-014-2

Teil 1

Der Blick

von aussen

Kapitel 1

Der beste Burger der Stadt.

»I love your vampire attitude!«

Die junge Kellnerin lächelte freundlich und warm.

Aber das ist keine Geschichte über Vampire. Hier geht es nicht um Blut.

»Führen Sie die Kuh in die Küche, zeigen Sie ihr den Grill nur kurz und legen Sie sie dann einfach auf mein Brötchen«, hatte Kevin ihr kurz zuvor auf die Frage geantwortet, wie er seinen Burger wolle.

Es ist eine Geschichte über Fleisch.

Das Lächeln der Kellnerin war ehrlich, keins um ein höheres Trinkgeld zu bekommen. Ihre Zähne schimmerten perlweiß unter ihrer Oberlippe hervor, links und rechts ihrer Mundwinkel bildeten sich süße Grübchen, ihre blauen Augen strahlten unter den braunen Löckchen, die ihr verspielt ins Gesicht fielen, während sie die Worte super rare auf ihren Block kritzelte.

Kevin liebte es, in einen guten Burger zu beißen, und im Beef By The Sea machten sie einen verdammt guten Burger.

Als er nach L. A. gezogen war, hatte er um das Beef By The Sea zunächst noch einen weiten Bogen gemacht. Der Laden lag jenseits der Uferpromenade des Venice Beach, auf der der Stadt zugewandten Seite des Boulevards. Das Schild über der Tür zeigte die Karikatur eines Anglers, der einen Stier mit Haifischfinne aus dem Meer zog.

Kevin hatte vermutet, dass er hier bessere Fischbrötchen als Burger bekommen würde, dass ein Surf’N’Turf das höchste der Gefühle für einen Fleischliebhaber wie ihn sein würde, was sie auf der Karte hatten. Es hatte seinen Kumpel Alex viel Anstrengung gekostet, ihn vom Gegenteil zu überzeugen.

Bis zu diesem Tag war das The Counter Kevins erste Adresse gewesen, um einen guten Burger zu essen. Ihn hatte jedoch immer gestört, dass man seinen Burger in mühsamer Kleinarbeit selbst auf einem Fragebogen zusammenbauen musste, indem man jede Zutat einzeln ankreuzte.

Als gebürtiger Deutscher, der sein Abitur an einem Gymnasium in Frankfurt gemacht hatte, hatte er immer etwas spöttisch auf die amerikanische Schulbildung und ihre Multiple Choice Tests herabgeschaut. Wenn er jedoch mit einem dieser kurzen Bleistifte im The Counter saß und die Felder seiner Bestellkarte ausmalte, fragte er sich jedes Mal aufs Neue, ob er zu voreilig geurteilt hatte. Der Multiple Choice Test dort war nervig und störend. Möglicherweise war genau das das Ziel dieser Art von Test. Die Teilnehmer zu zermürben, um neben ihrem Wissen auch ihre Ausdauer auf die Probe zu stellen.

War dann endlich der Moment gekommen, in dem er seinen Burger serviert bekam, musste Kevin jedenfalls immer wieder aufs Neue feststellen, dass er durchgefallen war.

Manchmal hatte er in einer Kategorie die falsche Zutat angekreuzt, weil er in der Zeile verrutscht war, manchmal hatte er sich für eine der ersten drei Käsesorten entschieden, weil er hungrig und ungeduldig war, und dann erst während der Wartezeit weiter unten seinen Lieblingskäse entdeckt hatte, und manchmal hatte er eine Kategorie auch ganz vergessen, weil er »am Ende noch einmal darauf zurückkommen« wollte.

Als er einmal keine Lust auf die Umstände und die daraus resultierende Enttäuschung im The Counter hatte, war Alex’ Chance gekommen. Kevin hatte ihm gesagt, dass er keine Lust auf Fisch habe und sein Kumpel hatte versprochen, er würde sich noch wundern.

Alex sollte recht behalten, und Kevin war ihm bis heute dankbar für seine Beharrlichkeit. Mit seiner eingefahrenen Art machte Kevin es seinen Freunden nicht immer leicht, das wusste er selbst.

Genauso dankbar war er für die Bemühungen der jungen Kellnerin. Sie hatte fleißig mitgeschrieben, als er ihr gesagt hatte, dass er seinen Burger mit Bacon, angebratenen Champignons, Cheddar Cheese und BBQ-Soße wollte. Außerdem hatte er die Tomatenscheibe abbestellt, die mit Salat und der Gurke als Standard auf jeden Burger gehörte, ihm aber nicht schmeckte. Zu wässerig. Er hatte vergessen, eine Beilage zu bestellen, und anders als der Multiple Choice Test seines zweitliebsten Burgerladens hatte sie noch einmal nachgefragt, was er zu seinem Burger wolle und auch seine Portion Pommes Frites mit Ketchup notiert.

Kevin gegenüber saß ein gemischter Salat mit Diet Coke, und verzog angewidert das Gesicht, während er seine Bestellung aufgab.

Sie war hübsch, keine Frage. Hatte eine tolle Figur – und er wettete, sie würde jedem, der ihr dafür ein Kompliment machte, groß und breit erklären, dass sie sie ausschließlich ihrer gesunden, veganen Ernährung zu verdanken hatte. Sie hatte das Gesicht bereits verzogen, als sie das Schild über der Tür gesehen hatte.

Kevin wusste nicht mal, warum es ihn überraschte. Es war einer der Gründe, warum er aufgehört hatte sich mit Schauspielerinnen zu verabreden. Ihr Körperwahn in Verbindung mit dem Gesundheitstrip, der Hollywood erfüllt hatte und von den Hügeln der Reichen hinab ins Tal gewabert war, wo sich ihm jeder Jungschauspieler und jede Jungschauspielerin anschloss, mit dem Ziel, irgendwann auch einmal in einer der schmucken Villen oberhalb der Stadt und in den Canyons dahinter zu leben.

Kevin konnte nicht abstreiten, diesen Traum zu teilen. Er war einer von ihnen. Schauspieler, 24 Jahre alt, erfolglos. Und er wusste, dass der Erfolg nicht von selbst an die Tür klopfen würde. Er wusste aber auch, dass es der falsche Weg war, ein Leben lang unglücklich auf ihn hin zu arbeiten, in einer Stadt mit drei Millionen Träumern, von denen man doch immer nur die Gleichen auf der Leinwand sah.

Kevin trieb Sport, hielt sich fit und in Form, aber er ließ sich nun mal nicht seinen Burger verbieten! Wenn er in fünfzig Jahren noch immer zu den Hills hinaufblickte, statt von ihnen hinab auf den endlosen Teppich aus Stahl, Beton, Glas und Asphalt, als der sich Los Angeles bis zum Pazifik erstreckte, dann wollte er wenigstens auf viele schmackhafte Erinnerungen zurückblicken können.

Die Frau gegenüber würde ihm wohl prophezeien, dass er in fünfzig Jahren nirgendwo mehr hinblicken würde, bei seiner Ernährungsweise. Aber dafür würde sie gleich im besten Burgerladen der Stadt in einem Salat herumstochern.

Eigentlich hätte er ihr das nicht mal übelgenommen. Bis zu ihrem Blick während seiner Bestellung.

Inzwischen war er sich sicher, dieser Abend würde kein angenehmer werden. Mit so vielen Unterschieden würde sowieso nichts aus ihnen werden.

Er hatte sie bei einem Casting am Vormittag kennen gelernt. Sie hatten einander die Wartezeit vertrieben, indem sie gemeinsam ihre Texte geprobt hatten und fanden den jeweils anderen wohl optisch ansprechend. So ansprechend, dass Kevin bereit gewesen war gegen seine Keine Schauspielerinnen!-Regel zu verstoßen. Er hatte sie zum Essen eingeladen.

»Um unsere neuen Rollen zu feiern«, hatte er scherzhaft gesagt, während er die lange Reihe der wartenden Bewerber vor dem Castingbüro entlang gesehen hatte.

Am Abend hatte natürlich keiner von den beiden eine Rolle. Beide hatten das altbekannte »Danke. Sie hören von uns.« bekommen.

Sie hatte sich viel Mühe gegeben es schön zu reden, während die beiden die Promenade entlang hier her geschlendert waren. Kevin hatte seins schon als Absage verarbeitet. Er hatte sich nicht besonders gut geschlagen. Es würde ihn wundern, wenn es niemanden gab, der es besser gemacht hatte.

Sie würde mich sicher nicht küssen, dachte Kevin. Nachdem ich vor ihren Augen in ein blutiges Stück Rind beißen würde.

Darüber, wohin der Abend sonst noch führen mochte brauchte er gar nicht erst nachzudenken. Falls er noch ein bisschen Hoffnung gehabt hatte, zerstörte ihr herablassender Blick sie vollends, als die Kellnerin ihnen eine dröge Viertelstunde später ihre Teller vor die Nasen stellte. Für einen Salat sah ihrer nicht einmal schlecht aus. Sie hatte ihre Augen jedoch verächtlich auf seinen Viertelpfünder gerichtet, wartete nur darauf, dass Kevin der Geste Beachtung schenkte. Er tat ihr den Gefallen, damit sie mit dem Augenverdrehen nicht warten musste, bis ihr Salat kalt war, und musste sich verkneifen den Spruch vor ihr zu bringen. Dann gab es seinen Burger halt heute mit einer extra Portion Unverständnis.

»Guten Appetit«, wünschte Kevin ihr freundlich und voller Vorfreude auf den ersten Bissen.

Sicher würde sie sich darüber schon genug ärgern.

Auch wenn das Date spätestens seit Kevins Bestellung gelaufen war, wollte er keine Diskussion anfangen. Er konnte nur verlieren. Denn im Gegensatz zu ihrem konnte sein Essen kalt werden.

Er nahm seinen Burger mit beiden Händen vom Tablett und biss herzhaft hinein. Er spürte ihren bohrenden Blick dabei noch immer, sah sie aus dem Augenwinkel verständnislos den Kopf schütteln, bevor sie in ihrem Salat zu stochern begann, als hätte selbst der zu viele Kalorien. Währenddessen füllte das Aroma des Burgers Kevins Mund. Schon beim Abbeißen fühlte er den Saft des Fleischs, der beim Kauen von dem weichen Brot des Buns aufgesaugt und wie von einem Schwamm wieder auf seinen Geschmacksnerven verteilt wurde. Eine Sekunde später fügten die restlichen Zutaten ihre Komponenten hinzu und machten den Beef By The Sea einmal mehr zu seinem Lieblings-Burger.

Mehr als einmal war Kevin versucht, ihr anzubieten, ihn zu probieren – immerhin hatte sie ihm bis jetzt noch nicht offen ins Gesicht geschmettert, dass sie Vegetarierin war, vielleicht sogar Veganerin.

»Bei euch alles in Ordnung?«, unterbrach die Kellnerin das Schweigen des Dates, das inzwischen keins mehr war.

»Super«, antwortete Kevin mit der üblichen Begeisterung.

Dann waren er und seine Begleiterin wieder ihrem Schweigen überlassen. Als er das letzte Stückchen Burger in den Mund schob, hatte sie die Hälfte ihres Salats gegessen.

Verdammt!

Er war zu schnell gewesen. Jetzt hatte er keine Beschäftigung mehr. Kevin richtete sich innerlich auf die anbrechende Langeweile ein, als sie ihre Gabel auf dem Teller ablegte und sich den Mund mit der Serviette abtupfte.

»Schon satt?«, fragte er.

Sie nickte, atmete zweimal scharf durch die Nase ein, inhalierte die Grill- und Fleischaromen, ließ die Luft geräuschlos wieder entweichen und meinte: »Hier drinnen schmeckt sowieso alles nach Burger.«

Er musste schmunzeln. Sie hatte es also doch nicht geschafft die Sache kommentarlos auszusitzen. Einmal mehr widerstand er der Versuchung, Kontra zu geben. Sie knüllte die Serviette zusammen und warf sie auf den halb aufgegessenen Salat, machte damit alles zu Müll.

Verschwendung war also okay, Fleisch essen nicht.

Dann stand sie auf und meinte: »Ich bin mal kurz auf Toilette.«

Kevin wollte ihr nicht unterstellen, die Hälfte, die sie so lustlos gegessen hatte, jetzt auch noch auszukotzen, aber er schloss es auch nicht aus.

»Klar«, bestätigte er nickend und deutete auf ihr leeres Glas. »Soll ich dir noch was bestellen?«

Sie schüttelte den Kopf und verschwand Richtung Toilette.

»Kann ich euch noch was bringen?«, ertönte die Stimme der Kellnerin nur Sekunden später hinter Kevin.

Sie trat vom Nachbartisch an ihn heran, brachte eine Karaffe Wasser und ein weiteres ehrliches Lächeln mit. Noch bevor Kevin antworten konnte, hatte sie den halbvollen Salatteller entdeckt.

»War irgendwas nicht in Ordnung?«, fragte sie und deutete darauf.

»Nein, alles …« Er hielt inne, sah in ihre großen, freundlichen Augen. »Es riecht zu sehr nach Fleisch bei euch.«

Endlich ein Augenrollen, das Kevin verstehen konnte.

»Aaah ja«, sagte sie. »Werd ich dem Koch ausrichten.«

»Bitte nicht«, erhob Kevin Einspruch.

»Aber dir hat’s geschmeckt?«

»Ja.«

»Gut gerochen auch?«

Kevin lächelte. Sie nahm Kevins leeres Tablett und stellte den halbvollen Salatteller darauf.

»Dann werd ich das mal wieder einpflanzen«, scherzte sie trocken. »Ich bring euch dann die Rechnung.«

»Danke.«

Kevin sah ihr nach, wie sie sich zwischen den Tischen hindurch zum Tresen schlängelte. Sie hatte nicht nur ein hübsches Gesicht. Ihr Körper war nicht so auffällig wie der seiner Begleiterin, ihre Beine nicht so lang, ihr Po ein bisschen mehr Birne als Apfel … aber er fiel ihm auf, obwohl sie eine Arbeitsuniform trug, statt eines sorgsam ausgewählten bauchfreien Outfits mit enger Jeans, mit dem sie bei einem Casting einen guten Eindruck hinterlassen wollte – und das sich in diesem Moment wieder in sein Blickfeld schob. Seine Begleitung nahm wieder gegenüber Platz.

»Ist die Rechnung schon da?«, fragte sie.

»Nein, noch nicht.«

»Mieser Service.«

Kevin musste lächeln. Er sah zur Kellnerin rüber, fand sie an der Theke, wo sie etwas in die Registrierkasse eintippte.

»Ja, furchtbar«, stimmte er zu.

Der Hauch Sarkasmus blieb seiner Begleiterin verborgen. Sie sah ungeduldig auf ihre Uhr.

»Wenn du noch was vorhast, kannst du ruhig schon gehen«, bot Kevin an. Nicht so sehr aus Nettigkeit, sondern weil er hoffte noch ein paar Worte mit der Kellnerin wechseln zu können, wenn sie ihm die Rechnung brachte.

»Schon okay, ein paar Minuten hab ich noch«, sagte sie.

Kevin sah die Kellnerin im Augenwinkel in ihre Richtung kommen.

Verdammt!

Freundlich lächelnd legte sie ihm einen schwarzen Lederschuber auf den Tisch und wanderte weiter. Kevin zog die kleine Mappe an sich heran, hob sie so weit an, dass seine Begleiterin nicht hineinsehen konnte und öffnete sie. Er überflog die Rechnung darin, vergas den genauen Betrag aber sofort wieder. Er wusste er hatte mit etwas über vierzig Dollar zu rechnen und das hatte der erste Blick bestätigt. Danach waren seine Augen zu der handgeschriebenen Zeile am unteren Ende der Rechnung gewandert. Mit blauem Kugelschreiber hatte sie die Worte »Salat ist an nächste Kuh verfüttert. Bis zum nächsten Mal!« geschrieben – auf Deutsch.

Er zog die Rechnung aus der Mappe, faltete sie und ließ sie in seiner Hosentasche verschwinden, als er das Portemonnaie hervorzog. Er freute sich über die persönliche Nachricht. Es ärgerte ihn nur, dass die Kellnerin ihn als Deutschen erkannt hatte. Er gab sich viel Mühe, seinen Akzent los zu werden, um als Schauspieler größere Chancen zu haben, und bildete sich eigentlich ein das inzwischen ziemlich gut zu beherrschen. Vielleicht sollte er es aufgeben. Die einzigen beiden Filmrollen, die er in L. A. bekommen hatte, hatte er ohnehin seinem Dialekt und der Tatsache zu verdanken, dass er Deutscher war. Für die gab es immer einen Fußsoldaten im zweiten Weltkrieg zu spielen, einen Erfüllungsgehilfen des Schurken mit zwei Sätzen Text in irgendeinem Actionstreifen, einen unsympathischen, schimpfenden Snob im Mercedes, dem eine Lektion erteilt werden musste, und manchmal sogar einen Russen. Gelegentlich genügte es den Produzenten, einen Schauspieler mit strengem Dialekt zu haben, ganz gleich, ob es der richtige war.

Kevin war Grenzer gewesen in einem Agentenstreifen, der zur Zeit des Kalten Krieges an der Deutsch/Deutschen Grenze gespielt hatte. Er hatte die Papiere des Hauptdarstellers kontrolliert, und ihm dann eine gute Fahrt gewünscht. Der strenge deutsche Blick war dabei obligatorisch. Er hatte seine zwei Sätze auf Deutsch gegeben. In der fertigen Fassung waren sie dann englisch untertitelt. Die andere Rolle war die eines deutschen Soldaten gewesen, der bei der Verteidigung einer Stellung laut Befehle grölte, bevor er von einer amerikanischen Kugel niedergestreckt wird. Diesmal wollte man seinen Text im Englischen, doch die vier Dialogzeilen waren gespickt mit deutschen Wörtern, die jeder Amerikaner kannte. Jawohl, Führer, Panzer. Kevin hätte den Regisseur gerne überzeugt, den Text in einer Sprache zu halten, doch die Regie-Assistentin gab ihm zu verstehen, dass er gerade keine Zeit habe, sich um Statisten zu kümmern. Es hatte Kevin gekränkt, zumal es seine erste Rolle in Hollywood gewesen war. Aber er wollte keinen Ärger machen. Als Niemand in Hollywood brach einem nichts schneller das Genick, als negativ aufzufallen. Einer zu sein, mit dem es schwierig ist zu arbeiten. Also hatte er seinen Stolz und seine Enttäuschung heruntergeschluckt und seine Befehle gebellt, wie sie im Drehbuch standen. Besser hatte es der kleine Streifen mit B-Movie Actionschauspieler Scott Kelly auch nicht verdient.

Wie man hörte, war Kelly auch einer, mit dem es schwierig war zu arbeiten. Aber er hatte in den 80ern ein paar Leuten in Hollywood viel Geld in die Kassen gespült, also ertrug man es wohl. Kevin hatte ihn nur einmal kurz getroffen, war von ihm fälschlicherweise Melvin genannt worden, bevor er zu einer hübschen jungen Frau weitergewandert war, mit der er das Set eine Stunde später auch verlassen hatte.

Die Filme waren beide auf DVD erschienen. Keiner davon taugte für die große Leinwand. Rollen wie diese zu spielen, in Filmen wie diesen, brachte ein wenig Geld, doch um ein Leben in L. A. zu finanzieren, musste man sie regelmäßiger bekommen als Kevin.

Er wusste es selbst, und so waren die fünfzig Dollar, die er statt der Rechnung in die kleine schwarze Mappe steckte, das letzte was er außer der Miete für diesen Monat noch hatte. Ein bisschen bereute er, es an die hübsche Veganerin verschwendet zu haben. Selbst wenn es ein netter Abend geworden wäre, und zu mehr geführt hätte, hätte er sich zweimal überlegen sollen, ob es das wert war. Er war zum Opfer seiner Triebe geworden. Wenigstens hatte er einen verdammt guten Burger gehabt. Eine Art Henkersmahlzeit, bevor er den Gürtel jetzt wieder enger schnallen musste. Er brauchte einen Job. Keinen, der ihn erfüllte. Auch keinen einzelnen, in dem er zwei Sätze sagte. In nächster Zeit brauchte er einen, der seine Rechnungen bezahlen würde.

Die Verabschiedung vor dem Restaurant verlief nüchtern und knapp. Eine kurze Umarmung und das Versprechen einander zu informieren, wenn jemand die Rolle, für die sie vorgesprochen hatten, bekommen sollte. Kevin bekam sie nicht. Dass Helen Gordon sie tatsächlich bekam, erfuhr er erst, als er ihr ein Jahr später erneut gegenübersaß – im Saal eines Kinos, während sie von der Leinwand aus sechs Meter groß auf ihn herab lächelte. Einmal mehr hatte er im Stillen ihren Salat verflucht.

Doch an diesem Tag trennten sich ihre Wege als die zweier erfolgloser Schauspieler, in einer Stadt, die voll von ihresgleichen war.

Kevin sah noch einmal durchs Fenster des Beef By The Sea nach drinnen, wo die Kellnerin sich gerade über sein letztes Geld freute. Sie sah auf, erblickte ihn durch die Scheibe. Für den Bruchteil einer Sekunde schien sie verlegen darüber, dass er sie beobachtete. Kevin ging es ähnlich. Beide widerstanden dem Reflex, den Blick abzuwenden. Stattdessen winkte sie ihm zum Abschied zu und er erwiderte ein lächelndes Nicken. Dann wandte sie sich dem nächsten Tisch zu und er ging davon. Er hatte sie vorher noch nie im Beef By The Sea gesehen, aber er hoffte, sie würde noch dort arbeiten, wenn er das nächste Mal Geld für einen Burger hatte.

Kevin nahm die erste Seitenstraße, die zur Rückseite des Beef By The Sea, auf die Strandpromenade führte. Der kühle Seewind trug das Rauschen der Wellen an sein Ohr, mischte es mit den Klängen eines Straßenmusikers, der auf der Promenade Countrymusik mit einer elektrischen Gitarre und einem kleinen Verstärker spielte. Schon bekam Kevin zwei Dinge, die er liebte, gratis. Das Meer und Musik.

Er trat zwischen den Buden und Ständen hervor, die die eine Seite der Promenade säumten und an denen T-Shirts, Souvenirs und jede Menge anderer Krimskrams verkauft wurden. Auf dem Weg von der Breite einer einspurigen Straße kreuzten sich Fußgänger und Radfahrer. Ihm gegenüber verlief ein Geflecht aus kleineren Wegen durch einen Grünstreifen, aus dem Palmen, Halfpipes und die Geräte eines Kinderspielplatzes emporragten, bevor das Grün der Wiese weiter hinten erst in das sanfte Weiß-Braun des Strands und schließlich in das schimmernde Blau des Pazifiks überging.

Kevin folgte der Promenade nach links. Er schlenderte ziellos an den Ständen der Maler und Straßenkünstler vorbei, die mit dem Rücken zur See aufgebaut waren und wie die Stadt selbst von Schönheit bis zu bloßer Kuriosität alles zu bieten hatten. Landschaftsmalereien hingen hier neben Karikaturen von Stars. Straßenmusiker spielten teilweise so dicht beieinander, dass sie sich gegenseitig die Lieder versauten. Akustische Gitarren wurden von den kleinen Verstärkern ihrer elektrischen Konkurrenz geschluckt, doch einen mühsam erstrittenen Standplatz gegenüber einem der gut besuchten Restaurants gab man nicht einfach auf.

Kevin blieb einen Moment stehen und lauschte einem der besseren Musiker, der eine innovative Schmuseversion von Radioheads »Creep« zum Besten gab. Dabei hielt er so weit Abstand, dass es nicht auffallen würde, wenn er weiterzog, ohne Geld in den aufgeklappten Gitarrenkoffer vor den Füßen des Musikers zu legen. Ein kurzer Blick hinein verriet Kevin, dass der Mann mit der Gitarre ohnehin besser dran war als er. Die klügere Entscheidung bei der Wahl seiner Kunstform hatte er auch getroffen. Bestimmt schüttelte er seine lange Matte sonst in zwei oder drei Rockbands und träumte von einem Plattenvertrag und dem großen Durchbruch. Aber wenn er sein letztes Geld in einen Burger und ein aussichtsloses Date investiert hatte, konnte er sich immer noch seine Gitarre schnappen, hier herauskommen und »Creep« spielen, um seine Miete zu zahlen. Selbst die Maler, von denen er umringt war, lebten Tag für Tag von der Kunst, die sie für sich erwählt hatten.

Kevin war ein erbärmlicher Maler. Zum Sänger hatte ihm immer die Bereitschaft gefehlt, sich vor Menschen zu stellen und möglichst ausufernd er selbst zu sein. Als Schauspieler genoss er es, als jemand anderes vor die Menschen zu treten, ihnen nicht jede Faser seiner eigenen Persönlichkeit unter die Nase zu reiben, wie es von einem Musiker verlangt wurde. Gesang war ein Teil seiner Schauspielausbildung gewesen, aber er hatte es als etwas rein Technisches erlernt, das nicht aus seinem tiefsten Innern kam. Wenn jemand einen singenden Wehrmachtssoldaten brauchte, würde er seinen Gesang aus dem tiefsten Innern eines Wehrmachtssoldaten erfüllen, gewürzt mit harten Lauten und einzelnen deutschen Worten. Das war es, was er als Schauspieler tat. Doch hier auf der Promenade gab es für Schauspieler nichts zu holen. Niemand würde stehen bleiben, um sich anzuhören, wie er mit einem Schädel in der Hand Hamlet rezitierte. Nicht ohne die Illusion der Bühne und die Scheinwerfer, die sie vom dunklen Saal abhoben. Hier draußen würde er gegen den blauen Himmel sprechen, die tosende See, zum Beat der beiden Rapper, die sich fünf Meter weiter die Fucks und Niggaz um die Ohren hauten und von grölenden jungen Fans gefeiert wurden. Schauspielerei war keine Kunstform, die man alleine betreiben konnte. Keine, die man überall betreiben konnte. Und keine, die man einfach mal so zum Zeitvertreib betreiben konnte. Sie bedurfte großer Vorbereitung und großem technischen Aufwands, um damit Geld zu verdienen. Selbst die hübschen Mädchen, die den langhaarigen Promenaden-Rockstar anhimmelten, wenn er auf einer Party eine Gitarre in die Finger bekam, interessierten sich für einen Schauspieler höchstens, wenn er berühmt war.

Kevin konnte hier also kein Geld verdienen, außer er würde sich der Gruppe der Obdachlosen und Bettler anschließen. Er hoffte inständig, dass es nicht so weit kommen würde.

Es war nicht das erste Mal, dass er Geldprobleme hatte. Aber er hatte es noch jedes Mal geschafft, seinen Traum von Hollywood am Leben zu erhalten. Er hatte zwei Mal in Bars gekellnert und war einmal für einen Limousinen-Service gefahren. Das würden morgen seine ersten Anlaufstellen sein. Vielleicht hatte ja einer seiner früheren Arbeitgeber einen Job zu vergeben. Doch heute genoss er erst einmal den Strand und seine kostenlosen Vergnügen.

Kevin ließ den Straßenmusiker hinter sich, nachdem er »Creep« beendet hatte. Seine warme Stimme wurde sowieso mehr und mehr von der wachsenden Gruppe der Rap-Fans nebenan erdrückt.

Er schlenderte den Boulevard entlang, überflog die Shirts in den Shops zu seiner Linken, mit ihren großflächigen, offenen Fassaden zum Strand hin. Sie waren hauptsächlich auf Touristenfang spezialisiert, doch Kevin hatte noch immer einen Hang zu Kleidungsstücken, die vom Glamour und Glanz Hollywoods zeugten. Und hier fand man vom Konterfei großer Stars bis zu klassischen Filmfiguren in ungewöhnlichen Situationen alles, was das Herz begehrte. Freddy Krueger, der mit Jason Vorhees und Michael Myers ein Selfie schießt, Marlon Brando’s Pate, der mit Al Pacino’s Scarface Karten spielt, Scooby Doo, der mit seinen Freunden in Ghostbuster-Kostümen dem Marshmellowmann gegenübertritt.

Kevin hatte eine ganze Schublade ähnlicher Shirts. Heute verbot er sich jedoch an die Ständer heran zu treten. Wo viele Touristen waren, zahlte man auch Touristenpreise – und er konnte gar nichts zahlen. Die Shirts würden auch noch da sein, wenn er wieder Kohle hatte. Das waren sie immer. Seit Jahren die gleichen. Manchmal kam ein neues dazu – schließlich produzierte Hollywood weiter Filme und Stars – aber keines der Motive verschwand jemals ganz von der Promenade.

Nichts verdeutlichte das besser als die zunehmende Zahl von Shirts und Hoodies, die mit der Silhouette von Arnold Schwarzeneggers Oberkörper bedruckt waren, aus einer Zeit, in der er noch nicht Mister Hollywood, sondern Mister Universum gewesen war, und er Titel auf Titel im internationalen Bodybuilding gewonnen hatte. Über dem Schattenriss des definierten Körpers prangte der Schriftzug Muscle Beach. Die steigende Zahl der Kleidungsstücke, auf denen dieses Motiv prangte, führte Kevin wie ein Wegweiser zu eben jenem berühmten Fitnessstudio, das zwischen Boulevard und Strand gelegen vor allem für seinen Trainingsbereich unter freiem Himmel bekannt war. Es war der Ort, der Arnold Schwarzenegger berühmt gemacht hatte – oder der Ort, den Arnold Schwarzenegger berühmt gemacht hatte. Wahrscheinlich ein bisschen von beidem.

Die Hollywood-Karrieren zahlreicher starker Männer hatten hier begonnen, einfach nur, indem sie Tag um Tag, von tausenden Menschen beäugt, Gewichte gestemmt und ihre leicht bekleideten Muskelberge präsentiert hatten, bis ein Hollywood-Produzent auf sie aufmerksam wurde.

Als Kevin an dem Trainingsgelände entlang schlenderte, zählte er sechs verschwitzte Männer, die ihre Körper in der heißen Nachmittagssonne Kaliforniens stählten. Immer wieder unterbrachen sie ihr Training und posierten für die Kameras der Touristen, die am Zaun des Geländes stehen blieben. Das war der Ruhm, den sie heutzutage noch am Muscle Beach erlangen konnten.

Für Hollywood hatte der Muscle Beach an Bedeutung verloren. Der Actionheld von heute war kein tumber Berg Muskeln mehr. Der Actionheld von heute war jung, gutaussehend und machte Crossfit, statt sich aufzupumpen und Tag um Tag möglichst schwere Gewichte zu stemmen. Was vom Muscle Beach blieb, war seine Legende – und die Legenden, die er erschaffen hatte.

Kapitel 2

Randy Cook.

Am frühen Mittag, als Kevin eine hübsche, aber militant vegane Kollegin kennengelernt und beim Casting versagt hatte, hatte am Muscle Beach der Glanz alter Tage noch einmal Einzug gehalten.

Eine Menschentraube hatte das Areal umringt, Handys wurden aus allen Entfernungen und Positionen in die Höhe gereckt, um über die Köpfe der Menge hinweg einen Schnappschuss zu erhaschen. Zwar stemmten zu diesem Zeitpunkt nur drei Bodybuilder Gewichte, aber einer von ihnen war Randy Cook. Der Randy Cook, der in den 80er Jahren neben Schwarzenegger und Stallone die Heilige Dreifaltigkeit des Testosteron-Actionkinos war. Mit seinen 1.96 Meter überragte er seine beiden Kollegen um ein gutes Stück, was seit 1986 einer der Gründe für einen lebenslangen Streit zwischen ihm und Stallone war, der ihn nie für einen seiner »Expendables«-Filme besetzt hatte.

Cook konnte damit leben. Seine Karriere hatte den Schrumpfprozess der Actionhelden überstanden und hatte nach einer schwierigen Zeit Ende der 90er, in der er drohte in die B-Film-Garde abzurutschen, wieder Fahrt aufgenommen und ihn nach zwei Flops und drei kleineren Streifen, die nur auf DVD veröffentlicht wurden, zurück auf die große Leinwand katapultiert. Dort war er noch immer – und wirkte seit dem Kampf gegen den Schrumpfprozess des Actionhelden erbittert dem eigenen Schrumpfprozess entgegen.

Auf den ersten Blick sah man es dem riesigen Randy Cook nicht an, aber mit 59 Jahren war es ihm inzwischen unmöglich geworden, seine Muskelmasse aufrecht zu erhalten. Er trainierte mehrere Stunden täglich, pumpte sich mit Eiweißdrinks voll, und sah sich doch jedes Mal, wenn er vor den Spiegel trat, schrumpfen.

Der Auftritt am Muscle Beach an diesem Morgen war ihm fast unangenehm. Er hatte hinten im Schatten des überdachten Teils des Studios gestanden und unter der Kapuze seines Sweaters hervor nach draußen geblickt, wo drei junge Kerle mit Klimmzügen und Hanteltraining beschäftigt waren. Er hatte die Beulen ihrer Arme beobachtet, wie die Haut fast über ihren Muskeln zu zerreißen schien, jedes Mal, wenn sie sie anspannten. Cook hatte sich so armfrei gefühlt wie der schwarze Sweater, den er trug.

Sie sind 25, vielleicht 30, hatte er sich eingeredet. In diesem Alter hätte ich jeden von denen über den Tisch gezogen.

Er hatte durchgeatmet und die Kapuze vom Kopf gestreift. Dann war er unter dem Dach hervor nach draußen in die Sonne getreten.

Jetzt, da er langsam ins Schwitzen kam, vergaß er seine Sorgen. Pumpen hatte ihm schon immer geholfen den Kopf frei zu bekommen. Kaum, dass er die erste Hantel vom Boden aufgehoben hatte, hatte er zum ersten Mal seinen Namen von der anderen Seite des Zauns gehört. Zuerst noch verstohlen. Ein leises: »Oh mein Gott, ist das Randy Cook?«

Er hatte mit dem Bizepstraining begonnen. Und da er tatsächlich Randy Cook war, wurde aus dem ersten heimlichen »Ist er das wirklich?« schnell die Traube Menschen, vor der er inzwischen die Langhantel mit fünfzig Kilo vor dem Körper zur Brust hoch führte und langsam wieder sinken ließ.

Er konnte mehr stemmen, doch er wollte nicht übertreiben. Sehen und gesehen werden galt am Muscle Beach. Kaum ein Bodybuilder kam her, um sich auszupowern. Man kam, um seinen Körper vorzuführen. Der Öffentlichkeit zu präsentieren, was man in jahrelanger harter Arbeit hinter verschlossenen Türen aus dem Sack Haut voller Knochen, den Gott einem mit auf den Weg gab, erschaffen hatte. So hatte Randy Cook sich für ein Gewicht entschieden, das schwer genug war, um seine schrumpfenden Armmuskeln gut zur Geltung zu bringen, ohne dass er dabei jedoch angestrengt oder erschöpft wirkte. Er war nicht hier, um zu trainieren. Er war hier, um Werbung zu machen. Für sich selbst, seine Karriere und seinen neuen Film, der in der darauffolgenden Woche in den Kinos anlief.

Wo konnte er das besser als an dem Ort, an dem er vor mittlerweile 37 Jahren entdeckt worden war und der den Grundstein für seine Karriere gelegt hatte?

Einer der drei jungen Bodybuilder, die mit ihm hier draußen waren, strich die Segel, als es dank Randy Cook für ihn vorbei war mit dem Gesehenwerden. Er war zu stolz und zu sehr auf Testosteron, um einen anderen Mann anzuhimmeln – zumal der alt war und nicht mehr annähernd mit seiner eigenen Muskelmasse mithalten konnte. Die beiden anderen unterbrachen ihr Training schließlich auch, waren aber versöhnlicher. Sie traten an Cook heran, der die Langhantel ablegte und ihre Hände schüttelte.

»Mister Cook, es ist eine Ehre, mit Ihnen zu trainieren«, schwärmte der Kleinere von beiden, der ihm nur bis zur Brust reichte, sich aber fast zu einem Quadrat aus Muskeln geformt hatte.

»Könnten wir vielleicht ein Foto mit Ihnen machen?«, bat der Größere ehrfurchtsvoll.

»Klar«, antwortete Cook mit einem freundlichen Lächeln und sofort teilten sich die beiden Bodybuilder in Fan und Fotograf auf, die sicher gleich darauf die Rollen tauschen würden.

»Wartet, Jungs«, bremste Cook sie aus und winkte in Richtung des überdachten Teils.

Auftritt Andrew Kaufmann. Randy Cooks persönlicher Assistent eilte aus dem Gym in den Außenbereich, wirkte sowohl aufgrund seines Business-Outfits als auch seines leicht schwabbeligen Äußeren fehl am Platz.

»Andrew, schießt du ein Foto von mir und den beiden Jungs?«, fragte Cook.

Reine Formsache. Aus diesem Grund war Andrew Kaufmann da. Er war eingehend gebrieft worden und hatte Erfahrung darin, seinen Schützling auch neben kräftigen Männern groß und stark aussehen zu lassen.

Die beiden Bodybuilder übergaben ihm bereitwillig ihre Smartphones und nahmen Cook stolz grinsend in ihre Mitte. Sie spielten einige Posen durch, wobei der Actionstar sich Mühe gab, den direkten Vergleich der angespannten Arme zu vermeiden; den beiden entweder während ihrer Posen den Arm auf die Schulter zu legen oder ihnen ein Daumenhoch zu geben. Innerhalb einer Minute war das Shooting vorbei. Die beiden Bodybuilder versicherten Cook noch einmal, was für ein großes Vorbild er für sie sei, Hände wurden geschüttelt und Schultern geklopft. Dann überließen sie ihm die Bühne und der Star war mit seinem Publikum allein. Von der anderen Seite des Zauns waren Rufe nach weiteren Fotos laut geworden.

»Leute, ich bin hier, um zu trainieren«, log er mit einem verschmitzten Lächeln im Gesicht und machte noch im gleichen Atemzug den ersten Schritt in Richtung Zaun. »Also schön, also schön. Ein paar können wir machen.«

Die Menge jubelte. Arme reckten sich nach ihm. Arme, die deutlich dünner waren als seine.

Randy Cook wanderte den Zaun einmal von links nach rechts ab, schüttelte Hände, unterschrieb, was man ihm hinhielt, von Zetteln über T-Shirts bis zu zerknüllten Restaurant-Quittungen, und posierte für Fotos. Er genoss das Bad in der Menge, war froh noch Jemand zu sein. Sich nicht von der Schnelllebigkeit Hollywoods auffressen gelassen zu haben, im Gegensatz zu den zahllosen Actionhelden, die inzwischen billige Filmchen in Rumänien und anderen osteuropäischen Staaten herunterkurbelten, mit denen sie ihrer treuen Fans aus alten Tagen das Geld für ihren eigenen Lebensunterhalt aus der Tasche zogen.

Randy Cook war ein A-Star geblieben. A wie Alpha. Fressen statt gefressen werden. Und Randy Cook war gewillt, diesen Status um jeden Preis zu erhalten – genau wie seine Muskeln. Es gab vielversprechende Wege. Und er war gewillt, sie auszuprobieren.

Kapitel 3

Sorgen.

Am Muscle Beach hatte Kevin Randy Cook verpasst. In seinem Zimmer erwartete der Actionheld ihn bereits.

Kevin teilte sich eine Ansammlung von Zimmern mit drei anderen Schauspielern. Er brachte es nicht übers Herz, es als Wohnung zu bezeichnen. Neben seinem und den drei anderen vermieteten Räumen gab es eine kleine Küche und zwei Badezimmer, die sich die vier jungen Leute teilten. Es gab kein Wohnzimmer oder einen anderen gemeinsamen Raum, in dem man sich traf und gemütlich miteinander den Abend verbrachte. Keine gemeinsamen Filmabende, kein »Ich hab gekocht, nimm dir was und setz dich zu uns«, nach einem harten Tag. Dafür aber allerlei Missgunst und Neid, wenn einer der Jungs eine neue Filmrolle mit nach Hause brachte.

Da dem bei ihm nicht so war, folgte Kevin dem gemeinsamen Flur bis zur zweiten Tür links und betrat sein kleines Reich.

Randy Cook saß auf dem Thron – eines Posters, das gegenüber der Zimmertür an der Wand neben dem Fenster hing. Er hatte die dicken Arme seiner jüngeren Jahre, hielt in der einen Hand einen Totenschädel und hatte die andere auf ein riesiges Breitschwert gestützt, dessen Spitze neben dem Thron im steinernen Boden steckte. »Krulor – Der Zerstörer« war Cooks erste Hauptrolle gewesen, nachdem er in Venice entdeckt worden war. Die Kritiker hatten den Film gehasst, das Publikum sich aber sofort in Hollywoods neuen Star verliebt und ihm den Weg geebnet zum Superstar, der er heute war.

Auch für Kevin war »Krulor« die erste Begegnung mit Randy Cook gewesen. Außerdem war es einer der ersten Filme, an die er sich überhaupt erinnerte, wenn er zurückdachte, wann seine Liebe zu Film und Schauspielerei begonnen hatte. Er würde nicht so weit gehen, Cook als großen Schauspieler oder gar als Vorbild zu bezeichnen, aber er hatte doch einen wichtigen Einfluss darauf gehabt, wer Kevin heute war – ganz davon abgesehen, dass die meisten seiner Filme einfach großen Spaß machten.

Kevin warf sich aufs ungemachte Bett und schloss für einen Moment die Augen. Er erlaubte sich nur eine kurze Verschnaufpause, dann kehrten die Sorgen zurück. Er brauchte Geld. Und er konnte nicht warten, bis er seine Mitbewohner mit der nächsten großen Rollenzusage neidisch machen konnte. Falls die denn überhaupt je kam. Er nahm sein Handy und scrollte durch seine Kontakte. Nacheinander rief er in den beiden Bars und beim Chef des Limousinen-Service an, für die er schon einmal gearbeitet hatte. Warum bis morgen warten, wenn er morgen vielleicht schon gutes Geld verdienen konnte. Stattdessen holte er sich drei Absagen ab. Der Besitzer des Limousinen-Service versicherte ihm wenigstens, sich sofort bei ihm zu melden, wenn er eine Vertretung suchte, doch das war ein ähnliches in der Luft hängen, wie das Warten auf die Bestätigung der Casting Agentur. In L. A. meldete man sich nicht leichtfertig krank. Es gab keinen Kündigungsschutz und die meisten Firmen bezahlten Krankentage nicht. Kevin hatte selbst schon mit Fieber hinter dem Steuer gesessen oder versucht Magen-Darm-Beschwerden mit einer Vielzahl an Medikamenten unter Kontrolle zu bekommen, um die Fahrt nicht bei jeder öffentlichen Toilette unterbrechen zu müssen, nur um seinen Job nicht zu verlieren.

Seine Kontakte würden ihm also nicht helfen. Morgen würde er Klinken putzen gehen.

Kapitel 4

Auf Jobsuche.

Der Erfolg blieb aus. Kevin war früh aufgestanden, hatte seine ungeliebte Kombination aus feiner, schwarzer Hose und in den Bund gestecktem Hemd aus dem Schrank geholt, statt dem sonst üblichen James Dean Doppel aus Jeans und engem Shirt, und war bereits zur Frühstückszeit von Bar zu Restaurant getingelt, hatte Filialleiterhände geschüttelt, Nummern hinterlassen und freundlich gelächelt, dass ihm bis Mittag die Gesichtsmuskeln schmerzten.

Niemand hatte sich an diesem Tag überraschend krankgemeldet. Keines der Restaurants suchte spontan eine Aushilfe. Niemand drückte ihm eine Schürze in die Hand und dankte Gott dafür, dass Kevin gerade im richtigen Moment aufgetaucht war. Stattdessen gab es viel »Mal sehen« und »Wir melden uns« … ungewisse Floskeln, die er als Schauspieler nur allzu gut kannte, mit denen er aber keine Rechnungen bezahlen konnte.

Das Lächeln schaltete er in der Sekunde ab, in der er durch die Tür der klimatisierten Läden nach draußen in die warme Luft der Stadt trat, die er so einseitig liebte. Er kreuzte frustriert den Bürgersteig, verfluchte seine Situation in Gedanken, während er den ersten Fuß auf die Straße setzte.

Ein aggressives Hupen wurde ihm von rechts entgegen geschleudert und riss Kevin aus seinen Gedanken. Er wirbelte herum, erblickte Stoßstange und Windschutzscheibe des Transporters, der auf ihn zu rauschte. Kevin riss die Arme hoch. Ein verzweifelter Versuch, seinen Körper gegen den drohenden Aufprall von zwei Tonnen Metall zu schützen. Für den Bruchteil einer Sekunde sah er den Fahrer hinter dem Lenkrad, die Augen weit aufgerissen. Dann kniff Kevin die eigenen Augen zu. Er wollte den Tod nicht näherkommen sehen. Er würde ihn spüren. Hoffentlich nur kurz. Er fürchtete, verdreht und zerbrochen zehn Meter weiter auf der Straße aufzuschlagen und noch zu leben. Erbärmliche Minuten voller Schmerzen, in denen er wusste, dass jede Hilfe zu spät kommen würde, während umstehende Passanten ihm zuflüsterten, dass alles gut werden würde, und die Sirene des Krankenwagens langsam näherkam.

Stattdessen blieb alles aus. Der flüchtige Kuss des Todes ebenso wie das lange Ringen mit ihm. Selbst der Aufprall. Nur das Hupen hielt an.

Als Kevin die Augen wieder öffnete war die Motorhaube des Lieferwagens keine zehn Zentimeter von ihm entfernt. Sein Blick wanderte hoch zur Windschutzscheibe, hinter der der Fahrer tief schnaufend seine Stirn auf das Lenkrad presste. Dann sah er Kevin an. Die Fahrertür ging auf und der rundliche junge Mann streckte den Kopf heraus. Die Erleichterung war innerhalb einer Sekunde in Wut umgeschlagen.

»Pass doch auf, du Arschloch!«, schrie er Kevin an.

Kevin hob entschuldigend beide Hände und stammelte: »Tut mir leid. Ich wollte nicht …«

Dann unterbrach ihn auch schon wieder die Hupe des Lieferwagens.

»Verpiss dich von der Straße!«, folgte die schimpfende Stimme des Fahrers.

Kevin machte einen Schritt zurück auf den Bürgersteig, wo mehrere Fußgänger den Kopf schüttelten. Er wusste nicht genau, ob über seine Unvorsichtigkeit oder die harsche Wortwahl des Lieferwagenfahrers, der sein Fahrzeug wieder in Bewegung setzte. Kevins entschuldigendes Winken beantwortete er im Vorbeifahren mit einem ausgestreckten Mittelfinger zum Seitenfenster hinaus. Dem Mittelfinger folgte der Schriftzug PRIME CATERING. Finest Food and Delicates, der über die Flanke des Laderaums des Kastenwagens geschrieben stand.

Kapitel 5

Die andere Seite.

Pete lebte am Strand. Er hatte das Klinkenputzen hinter sich gelassen. So wie die Jobsuche über alte Bekannte davor, und die Schauspielerei davor. Sein Nachname war Thompson, aber den hatte die Welt schon lange vergessen. Die wenigen Menschen, die sich noch an seinen Vornamen erinnerten, nannten ihn Slim Pete, um ihn von den anderen Petes zu unterscheiden, die ihre Nachtlager entlang des Venice Beach aufgeschlagen hatten. Sein Traum von Hollywood war ausgeträumt. Die drei Episodenrollen, die er mit Mitte zwanzig gespielt hatte, hatten ihn an ein wenig Geld gebracht, das Geld wiederrum an Drogen, und die Drogen in die Gosse, noch bevor sein Name jemals auf einem Filmplakat hätte auftauchen können. Dort war er geblieben. Anfangs hatte er sich noch eingeredet, dass er den Wiederaufstieg schaffen würde, hatte sein Ziel immer wieder wie ein Mantra leise vor sich hin gebetet, während das Heroin, das er sich spritzte, immer billiger und schmutziger wurde. Über die Jahre machte die Sucht Slim Pete aus ihm, abgemagert, mit eingefallenen Wangen und leerem Blick. Das Beten seines Mantras wich dem Gebrabbel der Straße, einem leisen, unzufriedenen Gemurmel in den eigenen, zotteligen Bart, der die untere Hälfte seines sonnengegerbten Gesichts verdeckte. Erdrückte Worte, deren Sinn er nur mit sich selbst teilte, und die es anderen Menschen umso schwerer machten, auf ihn zuzugehen und Kontakt zu ihm aufzunehmen.

Damit war er einer von vielen. Die Stadt hatte den Hang dazu, junge Menschen mit ihren Versprechungen von Ruhm und Reichtum zu ködern, nur um ihre Träume und dann sie selbst zu ermorden und als lebende Leichen auf der Straße liegen zu lassen. Und selbst diese traumlosen, ziellosen Gestalten köderte sie mit ihren 260 Sonnentagen im Jahr, und Temperaturen, die selbst im Winter nur selten unter die 10-Grad-Marke fielen. Die Stadt rief sie aus anderen Ecken des Landes hier her, als wolle sie das Elend in sich haben. Als würde sie all die Petes langsam hier unten in ihrem Bauch verdauen, um die Villen und Schlösser der Reichen und Berühmten oben in den Hills zu ernähren.

Nuschelnd und brabbelnd taumelte Slim Pete durch den nie abreißenden Strom der Touristen, mit denen er und seinesgleichen sich die Promenade von Venice teilten. Den Blick starr vor sich auf den Boden gerichtet, sah er immer nur seine nackten Füße, schwarz und verhornt, und die zwei Meter Asphalt vor ihm. So ging er gar nicht erst die Gefahr ein, sich zu weit von sich selbst und seiner eigenen, kleinen Welt zu entfernen, in der sich sein Geist in den letzten 15 Jahren immer mehr abgeschottet hatte.

»Schuhe«, schimpfte er vor sich hin. »Machen alles dreckig. Sollen sie alle ausziehen. Ist doch warm genug.«

Ein Hund betrat seine kleine Welt. Ein Funke Leben blitzte hinter Petes Augen auf. Er mochte Hunde, hatte sie immer gemocht. Er hatte selbst mal einen gehabt.

Ein Ruck an der Leine zerrte den kleinen Mischling wieder aus seiner Welt, ließ Pete alleine mit den verhassten Schuhen der Touristen und Jogger. So schnell, wie er gekommen war, erlosch der Funke in seinen Augen wieder.

»Verdammte Schuhe!«

Er bog ab, kreuzte den Touristenstrom, ignorierte das Chaos und die Beschimpfungen, die er auslöste, als er den Verkehr von links und rechts ins Stocken brachte. Seine nackten Füße traten vom heißen Asphalt in das kühle, weiche Gras, das Promenade und Strand voneinander trennte. Durch die dicke Hornhautschicht, die sich Pete zugelegt hatte, seit er vor zehn Jahren von Schuhen auf barfuß gewechselt war, spürte er den Unterschied zwischen dem Bitzeln der Hitze und dem Kitzeln der Grashalme kaum. Die Erleichterung, die ihm der Rasen verschaffte, bestand vor allem darin, dass die Anzahl der Schuhe stark nachließ. Ein Grund zum Aufatmen allemal.

Etwas Neues huschte in sein Blickfeld. Die Räder eines Einkaufswagens. Daneben eine schmutzige Decke, die im Gras lag. Und zwei Füße, barfuß wie seine, die über sie hinweg ragten und zu zwei aufgeschürften Beinen gehörten.

Slim Pete musste nicht aufsehen, um zu wissen, dass es die Beine von Tommy waren. Seinen Nachnamen kannte Pete nicht. Die Welt hatte auch ihn längst vergessen.

»Hey Mann! Pete!«, drang Tommys kratzige Stimme an sein Ohr. »Hast du was für mich?«

Pete sah ihn nicht an, schüttelte nur im Vorbeigehen den Kopf. Wenn man sich seinen Schuss in den angesagten Nachtclubs entlang des Sunset Strips setzte, dann gab man seinen Freunden schon mal was ab. Aber hier draußen teilte man seinen Stoff nicht. Vor allem nicht mit Tommy. Es hatte einen Grund, warum er sein Lager abseits der anderen aufgeschlagen hatte. Er war ein Schmarotzer. Er nahm, was er kriegen konnte, doch revanchierte sich nie.

Die anderen duldeten ihn, weil er einer von ihnen war. Doch niemand legte großen Wert auf seine Gesellschaft.

Pete ließ sein Lager hinter sich, ignorierte die Lüge »Ich kann dafür bezahlen!«, die ihm Tommy hinterher schleuderte, und erreichte wenige Meter weiter die Anderen.

L. A. konnte gefährlich sein. Sogar für Pete und seinesgleichen. Sie hatten zwar nichts, was es zu stehlen lohnte, aber dafür hatten sie auch nichts, was sie schützte. Keine Schlösser, Alarmanlagen oder Sicherheitsdienste. Selbst die Polizei scherte sich einen Dreck um sie. Also schlossen sie sich in Gruppen zusammen, schlugen ihr Lager auf, um wenigstens selbst aufeinander aufzupassen. Ein einzelner Obdachloser war leichte Beute für betrunkene Unruhestifter oder Mitglieder von Straßengangs, die sich ihre Sporen verdienen wollten, indem sie jemanden zusammenschlugen oder sogar ermordeten. Vor allem, wenn er sich gerade einen Schuss gesetzt hatte und in einer anderen Welt war.

In der Gruppe waren sie zwar auch nicht wirklich stark, da sich Pete nicht darauf verlassen würde, dass einer der anderen den Kopf für ihn hinhalten würde, wenn es hart auf hart kam, aber die Masse wirkte zumindest abschreckend. Zu viele potentielle Zeugen. Wer will schon in den Knast gehen, weil er einen Niemand umbringt?

Sie hatten keinen Anführer, weil es keine wichtigen Entscheidungen zu treffen gab, aber wenn sie einen brauchten, dann wäre das wohl am ehesten O’Reiley, ein rauer, drahtiger Ire mit einem roten Vollbart. Er maß fast zwei Meter, war in guter physischer und psychischer Verfassung – und jeder hier kannte seinen Nachnamen! Der Mann hieß Sean O’Reiley. Und er hielt daran fest. Die Anderen hatten versucht ihn zum Irishman zu machen, oder zu Red. O’Reily hatte beides abgewehrt. Und wenn er einem das von oben herab sagte, widersprach man ihm nicht. Also war er noch immer O’Reiley.

Pete war sich sicher, wenn einer hier im Lager bei Gefahr aufstehen und ihm helfen würde, dann O’Reiley.

Der kleine Unterstand direkt neben O’Reileys Zelt gehörte Dreamer, einem jungen Kerl, Anfang zwanzig. Dreamer lebte noch nicht lange auf der Straße. Er hatte noch nicht den typischen Look. Er hatte einen blonden Lockenkopf und oft ein breites Lächeln unter seinen gebrochenen, verzweifelten Augen. Um seinen Hals hing ein Lederband, an dem ein Haifischzahn baumelte. Als er vor vier Monaten zu den anderen gestoßen war, hatte er noch ein Surfbrett dabei. Jeden Morgen bei Sonnenaufgang war er raus gepaddelt und hatte den Vormittag auf dem Wasser verbracht. Hatte jedem erzählt, er würde sich nie von seinem Brett trennen. Es sei das wichtigste in seinem Leben. Dann lernte er Hunger und Durst kennen. Eines Tages war das Board verschwunden. Dreamer hatte eine Zeit lang gelebt wie der König der Penner. Hatte das Geld, das er für das Board bekommen hatte, im großen Stil für Lebensmittel rausgehauen. Hatte die anderen daran teilhaben lassen. Sogar Tommy, den Schnorrer. Der Name Dreamer kam nicht von ungefähr. Er war fest davon überzeugt gewesen, dass er sein Leben schnell wieder in den Griff bekommen und all das hinter sich lassen würde. Sein Board zurückkaufen und wieder der lockere Surferboy werden würde, dessen Fassade noch immer in Resten sein Äußeres schmückte. Stattdessen hatte Crystal Meth inzwischen begonnen, diese Fassade in großen Stücken von ihm runter zu reißen.

Trotzdem himmelte Annie ihn an, verbrachte mehr Zeit in seinem Unterstand, als auf ihrer eigenen Decke, die fünfzehn Meter weiter im Gras lag. Sie war eine der drei Frauen in Petes Gruppe. Sie war nicht viel älter als Dreamer, lebte aber auf der Straße, seit sie 14 war – und sah aus wie Mitte dreißig. Als Dreamer zu ihnen gestoßen war, hatte sie sich Hals über Kopf verknallt. Er hatte sie anfangs zurückgewiesen, als er noch zu hübsch und voller Hoffnung gewesen war. Inzwischen fickten sie regelmäßig irgendwo in den Büschen.

Früher hatte Pete sie auch gehabt. Ein bisschen Spaß musste man sich ja gönnen. Doch irgendwann hatte selbst das für ihn an Bedeutung verloren. Wichtig war nur noch der nächste Schuss.

Pete erreichte sein Lager. Eine Decke, die unter einer Plastikplane lag, die er am Rand der Gruppe zwischen zwei Palmen gespannt hatte. Daneben ein Einkaufswagen mit all seinem Besitz. Das meiste davon war Müll, den er im Laufe der Jahre zusammengesammelt hatte.