Dr. Norden Bestseller 108 – Arztroman - Patricia Vandenberg - E-Book

Dr. Norden Bestseller 108 – Arztroman E-Book

Patricia Vandenberg

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Beschreibung

Dr. Norden ist die erfolgreichste Arztromanserie Deutschlands, und das schon seit Jahrzehnten. Mehr als 1.000 Romane wurden bereits geschrieben. Deutlich über 200 Millionen Exemplare verkauft! Die Serie von Patricia Vandenberg befindet sich inzwischen in der zweiten Autoren- und auch Arztgeneration. Patricia Vandenberg ist die Begründerin von "Dr. Norden", der erfolgreichsten Arztromanserie deutscher Sprache, von "Dr. Laurin", "Sophienlust" und "Im Sonnenwinkel". Sie hat allein im Martin Kelter Verlag fast 1.300 Romane veröffentlicht, Hunderte Millionen Exemplare wurden bereits verkauft. In allen Romangenres ist sie zu Hause, ob es um Arzt, Adel, Familie oder auch Romantic Thriller geht. Ihre breitgefächerten, virtuosen Einfälle begeistern ihre Leser. Geniales Einfühlungsvermögen, der Blick in die Herzen der Menschen zeichnet Patricia Vandenberg aus. Sie kennt die Sorgen und Sehnsüchte ihrer Leser und beeindruckt immer wieder mit ihrer unnachahmlichen Erzählweise. Ohne ihre Pionierarbeit wäre der Roman nicht das geworden, was er heute ist. In der Leitner-Klinik stand man vor einem schwierigen Problem, das Dr. Hans-Georg Leitner, Oberschwester Dora und die Chefsekretärin Heidi Baldus gemeinsam zu lösen suchten. Heidi war erst einige Monate in der Frauenklinik tätig, aber sie hatte durch ihre Umsicht dem vielbeschäftigten Arzt schon aus mancher Bedrängnis geholfen. Es ging einfach darum, dass sie nicht genügend Einzelzimmer hatten. Im Augenblick bestand auch keine Aussicht, dass in den nächsten Tagen eines verfügbar war, doch Dr. Leitner musste eine Patientin unterbringen, die man mit niemandem zusammenlegen konnte. »Frau Bolkow ist schwer krank«, hatte Dr. Leitner erklärt. »Sie hat sich schon zwei Operationen unterziehen müssen und leidet unter schwersten Depressionen. Aber ich kann sie auch nicht abweisen. Ich bin Dr. Bolkow zu Dank verpflichtet, da er mir das angrenzende Grundstück zu einem sehr kulanten Preis überlassen hat, sodass wir nun an einen Erweiterungsbau denken können.« Heidi hatte den Bettenplan vor sich liegen. »Frau Unger wird in vier Tagen entlassen. Frau Kuhn«, sie machte eine kleine Pause, »ja, vielleicht könnte man die beiden doch zusammenlegen. Frau Kuhn ist ja ein bisschen schwierig, aber man könnte mit ihr reden.« »Sie will ihr Baby im Zimmer haben, Frau Unger bekommt viel Besuch«, wandte Oberschwester Dora ein.

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Dr. Norden Bestseller – 108 –

Sie sollte es nie erfahren

Patricia Vandenberg

In der Leitner-Klinik stand man vor einem schwierigen Problem, das Dr. Hans-Georg Leitner, Oberschwester Dora und die Chefsekretärin Heidi Baldus gemeinsam zu lösen suchten.

Heidi war erst einige Monate in der Frauenklinik tätig, aber sie hatte durch ihre Umsicht dem vielbeschäftigten Arzt schon aus mancher Bedrängnis geholfen. Es ging einfach darum, dass sie nicht genügend Einzelzimmer hatten. Im Augenblick bestand auch keine Aussicht, dass in den nächsten Tagen eines verfügbar war, doch Dr. Leitner musste eine Patientin unterbringen, die man mit niemandem zusammenlegen konnte.

»Frau Bolkow ist schwer krank«, hatte Dr. Leitner erklärt. »Sie hat sich schon zwei Operationen unterziehen müssen und leidet unter schwersten Depressionen. Aber ich kann sie auch nicht abweisen. Ich bin Dr. Bolkow zu Dank verpflichtet, da er mir das angrenzende Grundstück zu einem sehr kulanten Preis überlassen hat, sodass wir nun an einen Erweiterungsbau denken können.«

Heidi hatte den Bettenplan vor sich liegen. »Frau Unger wird in vier Tagen entlassen. Frau Kuhn«, sie machte eine kleine Pause, »ja, vielleicht könnte man die beiden doch zusammenlegen. Frau Kuhn ist ja ein bisschen schwierig, aber man könnte mit ihr reden.«

»Sie will ihr Baby im Zimmer haben, Frau Unger bekommt viel Besuch«, wandte Oberschwester Dora ein. »Es ist einfach nichts zu machen. Ich habe auch schon alles überlegt.«

»Muss es sofort sein?«, fragte Heidi den Chefarzt.

»Ja, sie ist in einem sehr schlechten Zustand.«

»Dann müssen wir eben das Problemzimmer herrichten«, schlug Heidi vor. »Zurzeit haben wir ja keine Problembabys.«

»Und wenn wir das machen, können wir nur beten, dass wir die nächsten Tage keines bekommen«, sagte Schwester Dora.

Momentan schien Heidi geistesabwesend. Ihr Blick wanderte zum Fenster hinaus. Ihr klares Gesicht war überschattet. Aber sie nahm sich zusammen. Sie wollte jetzt nicht wieder Erinnerungen wach werden lassen.

Das Problemzimmer war nicht sehr groß, aber es war ein hübscher Raum, und es kostete nicht viel Mühe, ihn als Krankenzimmer einzurichten. Dr. Leitner hatte nur Bedenken, dass Ruth Bolkow, die anspruchsvolle Frau des bekannten Architekten, damit nicht einverstanden sein könnte.

»Ich werde Dr. Bolkow anrufen und ihn offen über unsere Schwierigkeiten informieren«, sagte er. »Vielleicht kann er ein paar persönliche Dinge mitbringen, die Frau Bolkow über gewisse Mängel hinwegblicken lassen.«

Sein Anruf schien von Erfolg gekrönt. Schon eine Stunde später lernte Heidi Baldus Christoph Bolkow kennen.

Dr. Leitner war im Kreißsaal und derzeit unabkömmlich. Schwester Dora hatte ihre Mittagspause. Es blieb Heidi überlassen, Dr. Bolkow zu dem Zimmer zu führen.

Er hatte dichtes dunkles Haar und braune Augen und machte einen müden, geistesabwesenden Eindruck.

Irritiert wurde Heidi dadurch, dass er sie oft forschend, ja, fragend anblickte, jedoch nicht mit dem Interesse eines Mannes, der ihre äußeren Vorzüge zur Kenntnis nahm.

Deren besaß Heidi einige, ohne dass man sie als Schönheit hätte bezeichnen können. Ihr blondes Haar war schlicht frisiert, ihr ovales Gesicht wies eine kleine, aber sehr aparte Unregelmäßigkeit auf. Die grauen Augen standen weit auseinander, die Nase war kurz und fein, der Mund war schön geschwungen, schien aber sehr selten zu lächeln, obgleich in der linken Wange ein tiefes Grübchen saß.

Mit leiser dunkler Stimme sagte Dr. Bolkow, dass er einige persönliche Dinge mitgebracht hätte.

»Meine Frau ist in einem apathischen Zustand«, erklärte er. »Sie wird sich nicht viel umschauen. Es ist leider nicht möglich, sie länger zu Hause zu behalten wegen unseres Sohnes. Er ist vier Jahre alt und sehr lebhaft. Das stört sie, aber sie liebt ihn abgöttisch und würde ihn nie ermahnen. Dr. Leitner ist der einzige Arzt, dem sie vertraut.« Er machte eine Pause und blickte Heidi wieder nachdenklich an.

»Sind wir uns vielleicht schon einmal begegnet?«, fragte er, während er den kleinen Tisch näher ans Bett rückte und eine wunderschöne geschnitzte Madonna aufstellte.

»Nicht, dass ich wüsste«, erwiderte Heidi verwirrt. Bewundernd betrachtete sie dann die Madonna.

»Irgendwie kommen Sie mir bekannt vor«, erklärte er beiläufig, um dann schnell wieder das Thema zu wechseln.

»Ich habe noch zwei Bilder im Wagen. Vielleicht kann man ein paar Nägel einschlagen.«

»Das werde ich gern tun«, erwiderte Heidi.

»Das Bett sollte man besser so stellen, dass nicht das Licht darauf fällt. Meine Frau hat sehr empfindliche Augen. Aber Dr. Leitner kennt sie ja.«

»Wir werden bemüht sein, Ihrer Frau den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen, trotz dieser Schwierigkeiten«, erklärte Heidi höflich.

»Es war nicht vorauszusehen, dass sich ihr Zustand wieder so schnell verschlechtern würde«, sagte Dr. Bolkow. »Besten Dank für die Mühe, die Sie sich machen, Frau …?« Er sah sie wieder fragend an.

»Baldus«, nannte Heidi ihren Namen.

»Nein, an diesen Namen kann ich mich nicht erinnern«, sagte er geistesabwesend. Und mit einem höflichen Gruß entfernte er sich rasch.

Von eigenartigen Gedanken bewegt blieb Heidi noch zurück und betrachtete die Madonna. Sie hatte eine solche schon einmal gesehen, und sie täuschte sich nicht. Sie konnte sich sehr gut erinnern, wo das gewesen war.

Ein Frösteln kroch über ihren Rücken. Sie war ganz sicher, Christoph Bolkow nicht begegnet zu sein, aber es war möglich, dass er sie gesehen hatte in diesem hübschen kleinen Gebirgsort, in dem so mancher von künstlerischer Holzschnitzerei lebte. Ihr Herz hämmerte wild, als sie die Madonna in die Hände nahm und umdrehte, und da sah sie das bekannte Zeichen: M und R, ineinander verschlungen, Markus Rettinger! Ihre Hände zitterten, als sie die Madonna wieder auf den Tisch stellte. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Mit ihrer Selbstbeherrschung war es vorbei. Markus Rettinger war schon fast fünf Jahre tot, und ihr hatte er alles bedeutet, was das Leben ausmachte.

Sie hatte versucht zu vergessen, und jetzt hatte sie gemeint, dass es ihr gelingen könnte. Aber das Schicksal wollte es anders. Es war, als würde sie gemahnt, nicht zu vergessen.

Wie gut mochte Christoph Bolkow Markus gekannt haben? So gut, dass er Bilder von ihr gesehen hatte, die Markus gemalt hatte?

Mochte das auch sein, alles konnte er unmöglich wissen. Ihr Geheimnis hatte sie gewahrt. Niemand wusste davon, und den Schmerz musste sie ganz allein tragen.

*

Mit Mühe hatte Heidi ihre Fassung zurückgewonnen. Dr. Bolkow hatte die beiden Bilder gebracht. Sie hatte das Bett so gerückt, dass kein direktes Licht darauffiel.

Die beiden Aquarelle stellten unterschiedliche Landschaften dar. Das eine ein Haus im maurischen Stil, eingebettet in einen bunten Garten, das andere eine weibliche Gestalt auf einer blühenden Bergwiese. Einen Kommentar dazu gab Dr. Bolkow nicht.

Heidi fühlte sich einen Augenblick versucht, ihn zu fragen, woher er die Madonna hätte, aber sie verdrängte diesen Gedanken.

»Ich werde meine Frau gegen fünf Uhr bringen«, sagte er. Dann verschwand er endgültig.

Heidi ging wieder an ihre Arbeit, aber es fiel ihr schwer, sich zu konzentrieren. Dann kam Dr. Leitner herein. Er war guter Dinge, denn er hatte eben einen gesunden Jungen in die Arme einer glücklichen Mutter legen können.

Er sagte es Heidi. Sie sagte ihm, dass Dr. Bolkow da gewesen sei.

»Was meinte er?«, fragte Dr. Leitner.

»Er hat einige Bilder und eine Madonna gebracht, die seiner Frau anscheinend viel bedeuten.«

»Sie ist eine bedauernswerte Frau und er irgendwie ein bedauernswerter Mann«, sagte Dr. Leitner gedankenverloren.

»Er bringt seine Frau gegen fünf Uhr«, sagte Heidi.

Nun fühlte sie sich auch von Dr. Leitner forschend gemustert.

»Fehlt Ihnen etwas, Heidi?«, fragte er freundlich. »Mute ich Ihnen zu viel zu?«

»Aber nein«, erwiderte sie rasch.

»Diesmal halten Sie Ihr freies Wochenende ein«, erklärte er energisch. »Ich bestehe darauf.«

»Was soll ich denn damit anfangen, wenn schlechtes Wetter ist?«, fragte sie gleichmütig.

»Haben Sie denn gar keine Freunde?«, fragte er behutsam.

»Nein.«

»Dann leisten Sie doch meiner Frau mal Gesellschaft.«

»Sie haben Ihr freies Wochenende auch verdient, wenn ich Sie daran erinnern darf«, machte sie ihn aufmerksam. »Dr. Ruthart hat Dienst.«

»Ich muss erreichbar sein, solange wir Frau Bolkow zu betreuen haben«, erwiderte Dr. Leitner.

*

Dr. Bolkow brachte seine Frau pünktlich um fünf Uhr. Dass Ruth Bolkow schwer leidend war, konnte man mit einem Blick feststellen. Abgemagert war sie, und ihre Haut war fahl, das Haar von einem hellen glanzvollen Aschblond. Sie stützte sich schwer auf den Arm ihres Mannes, und nur mühsam konnte sie sich fortbewegen.

Dem Krankenblatt hatte Heidi entnommen, dass sie zweiundvierzig Jahre war, aber sie sah noch zwanzig Jahre älter aus.

Aber nicht allein das war es, was Heidi nachdenklich stimmte. Sie meinte diese Frau schon einmal gesehen zu haben.

Schwester Dora und Dr. Leitner bemühten sich um die Patientin. Damit hatte Heidi nichts zu tun. Sie ging auch schnell wieder in ihr Büro zurück.

In ihren Schläfen hämmerte das Blut. Ich rede mir alles ein wegen der Madonna, ging es ihr durch den Sinn, und weil Dr. Bolkow diese Andeutung machte, ob wir uns schon gesehen hätten. Das jedenfalls kann doch nicht die Frau von damals sein.

Damals! Wie eine Drohung stand jene Zeit wieder vor Heidis Augen. Aber diese Zufälle, so befremdliche Zufälle! Heidi drückte ihre Finger an die pochenden Schläfen, doch diesmal wollte der Schmerz nicht weichen.

Sie ertappte sich wieder dabei, das Krankenblatt von Ruth Bolkow zu betrachten.

Seit drei Jahren war sie Patientin von Dr. Leitner. Eine Brustoperation, eine Gebärmutteroperation. Laufende Kontrolluntersuchungen.

Die Angaben waren sehr genau. Verheiratet seit acht Jahren, ein Kind, geboren vor vier Jahren am 4. September!

Heidi stützte den Kopf in die Hand. Vor ihren Augen begann es zu flimmern. Wenn mein Kind jetzt leben würde, wäre es am fünften September vier Jahre geworden, dachte sie, und der Gedanke, dass ihr diese Frau doch schon einmal begegnet war, verstärkte sich.

Es war sechs Uhr vorbei, als Dr. Leitner ins Büro kam.

»Jetzt wird aber Schluss gemacht, Heidi«, sagte er sehr bestimmt. »Sie sehen aus, als würden Sie jeden Augenblick umkippen. Das hätte uns jetzt gerade noch gefehlt.«

Sie wurde sich bewusst, dass das Krankenblatt von Frau Bolkow auf dem Schreibtisch lag.

»Ich habe die Akte herausgesucht, Herr Doktor«, sagte sie leise. »Sie brauchen sie doch sicher.«

»Sie sind sehr aufmerksam, Heidi«, sagte Dr. Leitner, »aber das brauche ich jetzt nicht mehr.«

Ihr Kopf ruckte empor. Fragend sah sie ihn an. Er wandte sich ab. »Frau Bolkow ist nicht mehr zu helfen«, sagte er rau. »Mit allen Mitteln nicht. Vor allem nicht mit denen, die wir bisher angewandt haben. Sie will leben für ihr Kind, das ist verständlich. Um dieses Kind zu bekommen, hat sie viel auf sich genommen. Sie hat Jahre ihres Lebens dafür riskiert. Nun ja, jetzt wissen Sie es.« Er seufzte schwer. »Und Sie schnappen jetzt frische Luft«, ermahnte er sie.

Heidi nahm ihren Mantel. Ihr Kopf dröhnte, als sie die Klinik verließ. Ziellos lief sie durch die Straßen des Villenviertels. Dann wusste sie plötzlich gar nicht mehr, wo sie war. Sie starrte auf ein Straßenschild. Grünauer Straße, las sie. Da wohnten die Bolkows! Wie kam sie ausgerechnet hierher? Sie war doch früher niemals hier gewesen.

Langsam ging sie weiter. Es ist doch lange vorbei, dachte sie. Ich muss doch einmal zur Ruhe kommen. Markus ist tot. Unser Kind ist tot. Es ist nichts geblieben. Er hat die Berge und seine Kunst mehr geliebt als mich. Und in den Bergen war er geblieben, vor genau vier Jahren und sieben Monaten, und er hatte nicht gewusst, dass sie ein Kind erwartete.

Das Kind hatte sie behalten wollen, aber auch das war ihr nicht vergönnt gewesen.

Wie grausam war doch das Schicksal. Da war Ruth Bolkow, die ihr Kind abgöttisch liebte und sterben würde, und ihr selber war das Kind genommen, das sie lieben wollte, wie sie seinen Vater geliebt hatte.

Sie hatte nun das Ende der Straße erreicht. Ein riesengroßes Grundstück war dort mit einer hohen Mauer umgeben. Nur ein schmiedeeisernes Gartentor unterbrach diese Mauer.

Heidi hörte einen Hund bellen. Er kam angeschossen, groß, blond, täppisch. Und ihm nach ein kleiner Junge. Er stand da, in Jeans und einem dunkelblauen Pullover, dunkles Haar, dunkle Augen in einem kleinen blassen Gesicht.

»Bonny beißt nicht«, sagte er. »Und sie bellt auch gar nicht mehr. Wir warten nur auf meinen Papi.«

»Sandro, komm ins Haus«, ertönte eine strenge Stimme.

Der Junge zuckte die Schultern. »Großmama erlaubt nicht, dass ich mit Fremden spreche«, sagte er entschuldigend. »Aber sie ist nicht böse.«

Heidi blickte ihm nach, dann drehte sie sich um und lief den Weg zurück, den sie gekommen war, wieder wie in Trance, bis sie ihre kleine Wohnung erreicht hatte. In ihr tobten die widersprüchlichsten Empfindungen. Sie sank auf ihr Bett, und ein krampfhaftes Schluchzen schüttelte sie.

*

Dr. Daniel Norden kam spät von seinen Krankenbesuchen nach Hause. Liebevoll wurde er von seiner Frau Fee empfangen.

»Das war mal wieder ein langer Tag, mein Schatz«, sagte sie. »Aber jetzt hast du Ruhe. Die Kinder schlafen schon.«

Der Tisch war gedeckt. Lenni trug das Essen auf.

»Was gibt es Neues?«, fragte Daniel, der sich Neuigkeiten lieber von seiner Frau berichten ließ, als sie aus der Zeitung zu lesen, ausgenommen den Samstag, wenn er mal Zeit hatte.

»Nichts Erfreuliches«, erwiderte Fee. »Wieder so ein schrecklicher Unfall, bei dem fünf junge Leute ums Leben gekommen sind.« Aber schnell lenkte sie ab, weil das kein Thema beim Essen sein sollte.

»Vorhin ist Heidi Baldus hier vorbeigelaufen, als wäre der Teufel hinter ihr her«, sagte Fee nach einer Weile. »Ich habe sie gerade gesehen, als ich Ausschau nach dir hielt. Ärger in der Klinik wird es doch nicht gegeben haben?«

»Kann ich mir nicht vorstellen. Schorsch hütet Heidi wie seinen Augapfel. Sie ist ungemein tüchtig. Aber das Mädchen wird auch mal Sorgen haben. Man weiß ja gar nichts von ihr.«

»Sollte sich Claudia mal um sie kümmern?«, fragte Fee.

»Sie weicht doch jedem privaten Kontakt aus. Claudia hat es aufgegeben. Jedenfalls hat Schorsch es letzthin gesagt, als ich ihn fragte, ob Heidi Tag- und Nachtdienst macht. Sie arbeitet für zwei. Schorsch ist das auch nicht recht. Vielleicht machst du dir auch unnütze Gedanken. Dauerlauf kommt doch wieder in Mode.«

Sie konnten freilich nicht ahnen, was in Heidi vor sich ging, da sie vor Erinnerungen fliehen wollte und plötzlich von unglaublichen Gedanken gequält wurde.

*

»Warum willst du schon gehen, Christoph?«, fragte Ruth Bolkow ihren Mann. Ihre Stimme klang matt.

»Ich muss Sandro gute Nacht sagen, Ruth. Er wird warten, bis ich zurückkomme.«

»Deine Mutter wird ihn mir ganz entfremden«, klagte Ruth.

»Das tut Mutter nicht. Sie lenkt ihn nur ab.«

»Kinder vergessen so schnell«, murmelte sie. »Ich habe doch so viel um seinetwillen auf mich genommen, warum muss ich so leiden?«

Er wusste nicht, was er sagen sollte. Er hatte Mitleid mit ihr, aber er konnte es nicht in die Worte kleiden, die sie hören wollte.

»Es wird alles wieder gut werden«, flüsterte sie. »Sandro braucht mich doch.«

Oh, mein Gott, dachte Christoph Bolkow, wie gut, dass sie nicht begreift, dass der Junge sie nicht braucht.

»Es wird alles gut werden«, quälte es sich über seine Lippen. »Bei Dr. Leitner bist du gut aufgehoben. Sag mir, was du noch haben möchtest, Ruth.«

»Die Bilder von Sandro. Du hast sie vergessen«, sagte sie vorwurfsvoll.

»Ich bringe sie dir morgen. Du sollst nicht ständig an Sandro denken, Ruth. Denk an dich. Entspann dich.«

»Pass auf, dass ihm nichts passiert, Christoph. Dass er nicht entführt wird. Ich werde diese Angst nicht los.«

Er atmete tief durch, als er draußen war. Mit diesen Ängsten hatte sie das Kind nervös gemacht, alle in ihrer Umgebung. Keinen Augenblick durfte Sandro unbeaufsichtigt sein. Bei jedem fremden Laut hatte es Szenen gegeben. Aber ein Kind durfte nicht in einem Käfig aufwachsen. Sandro musste mit anderen Kindern zusammenkommen. Er musste lernen, dass sich nicht alles um ihn drehte. Er musste lernen, sich anzupassen.

Auch Christoph Bolkow war ein Mensch, der gepeinigt wurde von Erinnerungen, der Jahre seines Lebens am liebsten auslöschen würde, wenn eben nicht Sandro wäre. Er liebte den Jungen auch, aber Ruths maßlose Eifersucht hatte ihn immer gehindert, dem Jungen zu zeigen, wie lieb er ihn hatte.

Als er nun heimkam, konnte er es zeigen. Sandro stürmte ihm entgegen, warf sich in seine Arme, ließ sich durch die Luft schwenken.

»Bleibt Maman lange fort?«, fragte er.

Ruth hatte es gewünscht, Maman genannt zu werden.

Sie liebte das Französische, obgleich sie der Sprache nicht mächtig war. Sie liebte alles, was aus dem Rahmen fiel. Deshalb war der Junge auch auf den Namen Sandro getauft worden, obgleich es Christoph lieber gewesen wäre, wenn er den Namen Alexander bekommen hätte.

Dass »Sandro« italienisch war, hatte er ihr umsonst vorgehalten. Ruth bezog ihr Wissen aus Filmen und der Boulevardpresse. An Intelligenz hatte es ihr immer gemangelt. Warum Christoph sie geheiratet hatte, wusste nur seine Mutter, und deshalb fühlte sich Marieluise Bolkow schuldbewusst.

Dreiundzwanzig Jahre war Christoph gewesen und mit dem Studium noch nicht ganz fertig, als er die fast zehn Jahre ältere Ruth Berensen geheiratet hatte. Ruth hatte sich in Christoph verliebt. Und sie war reich. So reich, um Christophs Vater, einen Bauunternehmer, vor dem Konkurs zu retten.

Das Opfer hatte Christoph nicht seinem Vater, sondern seiner Mutter gebracht. Die Firma wurde gerettet, doch Christophs Vater starb knapp zwei Jahre später.

Dann hatte Christoph versucht, sich aus den Fesseln dieser Ehe zu befreien, aber Ruth hatte seine Mutter auf ihre Seite gebracht, und er wusste mittlerweile, dass Ruth niemals in eine Scheidung einwilligen würde.

Sie wollte ein Kind. Mit einem Kind wollte sie ihn für immer an sich fesseln, aber er wusste, dass er auch so, auch ohne Kind, immer in diesen Fesseln verstrickt bleiben würde.

Endlich hatte sie dann das ersehnte Kind bekommen. Schon während der Schwangerschaft hatte sie sich verändert. So sehr, dass er liebenswerte Seiten an ihr entdeckt hatte.

Er war erfolgreich in seinem Beruf. Er war selten zu Hause. Seine Mutter war zu ihnen gezogen.

Alles schien Ruth recht zu sein. Sie konzentrierte sich nur auf das Kind. In der Abgeschiedenheit eines ländlichen Entbindungsheimes wollte sie es zur Welt bringen. Irgendwie war sie rührend während dieser Zeit.

»Ich will erst wissen, dass es ein gesundes Kind ist, Christoph«, hatte sie gesagt. »Ich würde dich niemals mit einem kranken Kind belasten. Wenn ich nicht fähig bin, ein gesundes Kind zur Welt zu bringen, werde ich mich von dir trennen.«

Dann hatte sie ein gesundes Kind heimgebracht. Aber seit dieser Zeit begann sich ihr Zustand zu verschlimmern. Kränklich war sie schon immer gewesen, labil, wie es die Ärzte nannten. Und immerhin war sie schon fast achtunddreißig gewesen, als Sandro geboren wurde.