Dr. Norden Bestseller 117 – Arztroman - Patricia Vandenberg - E-Book

Dr. Norden Bestseller 117 – Arztroman E-Book

Patricia Vandenberg

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Beschreibung

Dr. Norden ist die erfolgreichste Arztromanserie Deutschlands, und das schon seit Jahrzehnten. Mehr als 1.000 Romane wurden bereits geschrieben. Deutlich über 200 Millionen Exemplare verkauft! Die Serie von Patricia Vandenberg befindet sich inzwischen in der zweiten Autoren- und auch Arztgeneration. Patricia Vandenberg ist die Begründerin von "Dr. Norden", der erfolgreichsten Arztromanserie deutscher Sprache, von "Dr. Laurin", "Sophienlust" und "Im Sonnenwinkel". Sie hat allein im Martin Kelter Verlag fast 1.300 Romane veröffentlicht, Hunderte Millionen Exemplare wurden bereits verkauft. In allen Romangenres ist sie zu Hause, ob es um Arzt, Adel, Familie oder auch Romantic Thriller geht. Ihre breitgefächerten, virtuosen Einfälle begeistern ihre Leser. Geniales Einfühlungsvermögen, der Blick in die Herzen der Menschen zeichnet Patricia Vandenberg aus. Sie kennt die Sorgen und Sehnsüchte ihrer Leser und beeindruckt immer wieder mit ihrer unnachahmlichen Erzählweise. Ohne ihre Pionierarbeit wäre der Roman nicht das geworden, was er heute ist. Es war keine Seltenheit, dass zufriedene Patienten ihrem Arzt auch dann treu blieben, wenn sie ihren Wohnsitz wechselten, aber ein Ausnahmefall war es wohl doch, dass eine ganze Familie einen beschwerlichen Umzug auf sich nahm, um in der Nähe eines bestimmten Arztes zu wohnen. Solches hatte Dr. Daniel Norden erlebt. Die Ursache dafür lag bereits neunzehn Monate zurück. Dr. Norden war Augenzeuge eines dramatischen Skiunfalls geworden, der ihn dann über lange Zeit beruflich und auch menschlich beschäftigen sollte. Um diese Geschichte zu erzählen, konnte man so beginnen: Es war einmal ein strahlendschönes Wochenende Anfang März. Einer Einladung von lieben Freunden folgend, wollte die Familie Norden dieses in den Bergen verbringen. Danny und Felix, die beiden Söhne der Nordens, konnten auf sanften Hügeln ihre ersten Versuche auf den Brettern machen. Die Jüngste, Anneka, damals noch ein Baby, wurde von der guten Lenni betreut. Fee Norden übte mit den Söhnen. Daniel war es erlaubt, sein früher so perfektes Können auf der Piste zu überprüfen. Es sollte keine reine Freude werden, und doch war es gut, dass er zur Stelle war, als das geschah, was ihn noch lange beschäftigen sollte. Ein junges Mädchen war ihm schon am Skilift aufgefallen, weil es besonders reizend war. Schelmisch hatte es ihm zugeblinzelt, als er ihr den Vortritt ließ. »Es gibt doch noch Kavaliere«, hatte Andrea Horn gesagt. Ihren Namen hatte Daniel allerdings erst später erfahren. Er schätzte sie auf fünfzehn, aber vor allem fiel sie ihm deshalb auf, weil sie eine vage Ähnlichkeit mit seiner Frau Fee hatte, als diese noch so jung gewesen war. Die Haarfarbe war nicht zu erkennen, da eine dicke Pudelmütze das zarte Gesicht umhüllte.

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Dr. Norden Bestseller – 117 –

Junges Herz in Versuchung

Patricia Vandenberg

Es war keine Seltenheit, dass zufriedene Patienten ihrem Arzt auch dann treu blieben, wenn sie ihren Wohnsitz wechselten, aber ein Ausnahmefall war es wohl doch, dass eine ganze Familie einen beschwerlichen Umzug auf sich nahm, um in der Nähe eines bestimmten Arztes zu wohnen. Solches hatte Dr. Daniel Norden erlebt.

Die Ursache dafür lag bereits neunzehn Monate zurück. Dr. Norden war Augenzeuge eines dramatischen Skiunfalls geworden, der ihn dann über lange Zeit beruflich und auch menschlich beschäftigen sollte.

Um diese Geschichte zu erzählen, konnte man so beginnen: Es war einmal ein strahlendschönes Wochenende Anfang März. Einer Einladung von lieben Freunden folgend, wollte die Familie Norden dieses in den Bergen verbringen. Danny und Felix, die beiden Söhne der Nordens, konnten auf sanften Hügeln ihre ersten Versuche auf den Brettern machen. Die Jüngste, Anneka, damals noch ein Baby, wurde von der guten Lenni betreut. Fee Norden übte mit den Söhnen. Daniel war es erlaubt, sein früher so perfektes Können auf der Piste zu überprüfen. Es sollte keine reine Freude werden, und doch war es gut, dass er zur Stelle war, als das geschah, was ihn noch lange beschäftigen sollte.

Ein junges Mädchen war ihm schon am Skilift aufgefallen, weil es besonders reizend war. Schelmisch hatte es ihm zugeblinzelt, als er ihr den Vortritt ließ. »Es gibt doch noch Kavaliere«, hatte Andrea Horn gesagt. Ihren Namen hatte Daniel allerdings erst später erfahren.

Er schätzte sie auf fünfzehn, aber vor allem fiel sie ihm deshalb auf, weil sie eine vage Ähnlichkeit mit seiner Frau Fee hatte, als diese noch so jung gewesen war.

Die Haarfarbe war nicht zu erkennen, da eine dicke Pudelmütze das zarte Gesicht umhüllte.

Lange konnte er sich dann allerdings nicht an den graziösen Schwüngen der jungen, sehr geübten Skifahrerin erfreuen, denn ein rücksichtsloser Bursche, der im Schuss die schon ausgefahrene Piste herunterstierte, wie man in Bayern sagt, rammte das Mäd­chen.

Daniel Norden setzte der Herzschlag momentan aus, als er sah, wie das Mädchen versuchte, sich auf den Beinen zu halten, wie es dann auf einer Eisplatte stürzte, mit dem Kopf aufschlug und bewusstlos liegen blieb.

Später konnte er wieder einmal mit maßloser Verachtung darüber nachdenken, wie gleichgültig die Mitmenschen waren. Er war der Einzige, der sich sofort um das Mädchen bemühte, obgleich andere näher bei der Stelle waren als er.

Allerdings sollte es für Andrea Horn lebensrettend sein, dass ein so erfahrener Arzt zur Stelle war, der sie vor der Unterkühlung bewahrte, die ihren Zustand noch verschlimmert hätte.

Er begleitete Andrea Horn dann auch in das Unfallkrankenhaus, in das sie mit dem Hubschrauber gebracht wurde, und er sollte dann die unendliche Dankbarkeit liebevoller und besorgter Eltern erleben. Dennoch sollte für Andrea Horn ein langer Leidensweg beginnen. Vierzehn Tage blieb sie bewusstlos, bis sie endlich erste Regungen zeigte.

Dr. Norden war von seinen Patienten in der Praxis schon wieder voll in Anspruch genommen, aber er nahm sich doch die Zeit, sich immer wieder nach Andreas Fortschritten zu erkundigen. Freilich taten die Ärzte alles für sie, doch das so menschliche Verständnis fanden die Horns dann doch nur bei Dr. Norden.

Aus der fröhlichen Andrea war ein verzagtes Mädchen geworden. Lange Zeit hatte man sie im Rollstuhl fahren müssen. Dann, als sie aus dem Krankenhaus entlassen worden war, hatte man wieder Rat bei Dr. Norden gesucht.

Er hatte Andrea aufgemuntert. Er hatte ihr von Katja erzählt, Anne Cornelius’ Tochter aus ihrer ersten Ehe, die bei einem Lawinenunglück durch den Schock gelähmt worden war und nun schon lange völlig genesen.

Andrea war mit ihrer Mutter sechs Wochen auf der Insel der Hoffnung gewesen, und Andreas Zustand hatte sich so weit gebessert, dass sie wenigstens mit Stützen wieder gehen konnte. Freilich musste sie ständig in ärztlicher Behandlung bleiben, und so war es dann gekommen, dass Dr. Horn, ein bekannter Rechtsanwalt, den Entschluss fasste, in Dr. Nordens Gegend zu ziehen, damit er Andreas Betreuung wahrnehmen konnte, denn nur zu ihm hatte das Mädchen volles Vertrauen.

Endlich bot sich ein Haus an, das auch Patienten von Dr. Norden gehörte, den Dongens. Das Schicksal der jungen Sandra Dongen und ihres kleinen Halbbruders Nicolas beschäftigte die Nordens auch jetzt noch, obgleich Sandra nun mit dem Amerikaner Gary Batten glücklich verheiratet war.

Es war ein schönes Haus, das Dr. Gustav Horn kaufte, wenngleich auch nicht nur Glück darin gewohnt hatte. Für die Familie Horn war es nur wichtig, dass Dr. Norden innerhalb kürzester Zeit dort sein konnte, wenn man ihn brauchte. Und in diesem Haus war Dr. Norden auch früher schon sehr oft gewesen.

Andrea Horn hatte inzwischen ihren achtzehnten Geburtstag gefeiert. Normalerweise wäre es ein großes Fest gewesen, aber durch ihr langes Leiden war Andrea so schwermütig geworden, dass sie nur noch ihre Angehörigen und Dr. Norden sehen wollte, und außer diesen nur einen Leidensgenossen aus ihrer Krankenhauszeit, der Frank Röttges hieß, der bei einem unverschuldeten Autounfall schwer verletzt worden, inzwischen aber völlig genesen war.

Er war ein sehr netter, ernsthafter junger Mann, Verlagskaufmann von Beruf. Er war im Verlag seines Onkels tätig, sein Vater besaß eine Druckerei. Die Freundschaft zwischen ihm und Andrea schien beständig zu wachsen. Von mehr wollte niemand reden, an mehr niemand denken, obgleich Gustav und Annemarie Horn sicher wünschten, dass ihr so sehr geplagtes und so liebenswertes Kind doch ein privates Glück erleben könnte und auch ganz genesen würde.

Was menschenmöglich war, wurde für Andrea getan, und die Freude war groß, als Andrea von ihrer Kindheitsfreundin Margit Kayser die Nachricht bekam, dass sie für ein paar Wochen nach München kommen würde.

Vor drei Jahren war Margit mit ihren Eltern nach Madrid gegangen, wo ihr Vater die Niederlassung einer großen deutschen Firma leitete. Brieflichen Kontakt hatten die beiden Mäd­chen immer gehalten. Margits Bruder Jörg hatte in Heidelberg Jura studiert und jetzt seinen Doktor gemacht. Auch er war von einer befreundeten Familie nach München eingeladen worden, und deshalb hatte Margit von ihren Eltern auch die Erlaubnis zu dieser Reise bekommen.

Das alles hatte Dr. Norden bei seinem letzten Besuch im Hause Horn erfahren, und er freute sich, weil An­drea in der Vorfreude richtig auflebte.

Dr. Norden sollte Margit Kayser bald kennenlernen, aber da war er nicht mehr so sicher, dass sie die richtige Gesellschaft für Andrea sein könnte.

*

Margit war früher in München als ihr Bruder Jörg, der von seinen Kommillitonen noch eine große Abschiedsfeier geschenkt bekommen sollte.

Margits Vater hatte jedoch mit Annemarie Horn telefoniert und ihr gesagt, mit welcher Maschine seine Tochter ankommen würde.

Man kannte sich von früher. Die beiden Familien waren sogar befreundet gewesen. Umso mehr hatte sich Annemarie schon gewundert, dass Lilo Kayser kaum noch geschrieben hatte.

Noch mehr wunderte sie sich, als Dr. Benno Kayser sie bat, ob sie Margit bei sich aufnehmen würden.

Das hätten sie ohnehin vorgehabt, meinte sie. Erst im Nachhinein wurde sie sich bewusst, dass er etwas merkwürdig gesprochen hatte, so, als wäre Margit die Leidende und nicht An­drea.

Annemarie fuhr mit Andrea zum Flughafen. Auf den Arm ihrer Mutter gestützt und mit einem Stock in der anderen Hand, konnte sich Andrea schon ganz gut vorwärtsbewegen. Sie gab sich auch die erdenklichste Mühe, sich so wenig wie nur möglich von ihrer Behinderung anmerken zu lassen, obgleich sie manchmal arge Schmerzen hatte, die durch die Rückgratverletzung hervorgerufen wurden. Diese konnte jedoch nur durch eine sehr komplizierte Operation behoben werden, die man aber noch nicht riskieren wollte. Auch Dr. Norden war dafür, dass sich Andreas Allgemeinzustand bessern müsse.

Andreas Geist hatte glücklicherweise durch die Schädelverletzung und die lange Bewusstlosigkeit nicht gelitten. Das Gegenteil war in jüngster Zeit festzustellen. Da sie keinen Sport mehr treiben konnte, las und lernte sie, was nur möglich war. Da sie am normalen Schulunterricht nicht teilnehmen wollte, wurde sie von Hauslehrern unterrichtet. Ihre Eltern waren ja in der glücklichen Lage, ihr alles zu ermöglichen, aber man konnte es An­drea auch bescheinigen, dass sie jederzeit die Reifeprüfung ablegen könnte. Allerdings meinte Dr. Horn, dass dies nicht nötig wäre, da sie ihr auch so ermöglichen könnten, ihre Neigungen zu verwirklichen.

Aus dem quirligen Mädchen, das früher nur Interesse für Sport gezeigt hatte und auch Sportlehrerin hatte werden wollen, war ein »Fräulein Professor« geworden. So wurde sie jedenfalls liebevoll scherzhaft von ihrem Vater genannt. Annemarie wäre es freilich lieber, wenn Andrea wieder so quicklebendig wie früher wäre und ihre Jugend so richtig genießen könne.

Als dann Margit daherkam, schlank und schick, sehr attraktiv, sehr erwachsen wirkend, wie Annemarie feststellen konnte, zog es ihr das Herz zusammen, denn ihre Andrea wirkte dagegen wie eine zarte, kränkliche Fünfzehnjährige.

Aber dann war Margit auch das Mäd­­chen von ehemals, als sie die Freundin umarmte und unter den getönten Brillengläsern Tränen hervorrollten.

»Antschilein, ich bin so froh, dich zu sehen«, flüsterte sie. »So froh, dass ich bei euch sein darf.«

Annemarie, die leidgeprüfte Mutter, war sofort hellhörig, aber sie zeigte sich der Situation gewachsen.

»Wir freuen uns, dass du gekommen bist, Margit«, sagte sie.

Noch konnte sie nicht ahnen, dass mit diesem Tage weitere, größere Sorgen über sie hereinbrechen würden.

Margit war ein bildschönes Mäd­chen geworden, aber sie wirkte älter als sie war, und der Ausdruck ihrer Augen, der Zug um ihren vollen Mund gaben Annemarie zu denken.

Andrea war viel zu glücklich, ihre beste Freundin bei sich zu haben, als negative Züge an ihr festellen zu können. Sie merkte auch nicht, dass Margit sich forciert fröhlich zeigte. Erst ein paar Tage später begann sie, sich Gedanken zu machen. Sie hatten am Abend ziemlich lange beisammen gesessen. Am nächsten Tag sollte Jörg, Margits Bruder, kommen.

»Vielleicht sucht er sich eine Stellung in München, dann bleibe ich auch für immer hier«, hatte Margit beiläufig bemerkt.

»Das wäre schön«, sagte Andrea. »Du könntest doch bei uns wohnen. Nicht wahr, Mami, das ist möglich.«

»Aber gewiss«, erwiderte Annemarie.

Dr. Horn war ziemlich spät heimgekommen. »Arbeiten Sie immer so lange?«, hatte Margit gefragt. Spöttisch hatte ihr Ton geklungen. »So hat es bei meinem Vater auch angefangen!«

Gustav Horn lachte. »Manchmal ist es nicht zu ändern, Margit«, sagte er.

Annemarie war eine kluge Frau. Sie kannte ihren Mann, und sie fragte sich, was der spöttische Zug in Margits Gesicht bedeuten könnte. Aber auch Andrea blickte ihre Freundin nachdenklich an.

»Bereut dein Vater, nach Madrid gegangen zu sein, Margit?«, fragte Annemarie Horn.

»Er bereut es bestimmt nicht«, erwiderte das Mädchen. »Darf ich mich zurückziehen?«

Höflich war sie immer, sogar fast unterwürfig.

»Ich bin auch müde«, sagte Andrea schnell.

Margit war sofort bei ihr und legte den Arm um sie. »Ich bringe dich zu Bett, Antschi«, sagte sie zärtlich.

Eigentlich schien alles normal. Die innige Freundschaft, auch die Höflichkeit Andreas Eltern gegenüber.

Gustav Horn meinte, dass Margit besonders taktvoll sei. »Ich weiß nicht, es ist alles ein bisschen unnatürlich«, sagte Annemarie.

»Wieso unnatürlich?«, fragte er kons­terniert.

»Margit passt sich an, aber sie fühlt sich nicht wohl.«

»Wieso denkst du das?«

»Sie sucht jede Gelegenheit, allein zu sein.«

»Sie ist sehr lieb zu Andrea.«

»Aber aufmunternd ist sie nicht. Manchmal habe ich das Gefühl, dass Andrea sie aufmuntert, so absurd das erscheinen mag.«

»Ob Margit Liebeskummer hat?«, meinte Dr. Horn nachdenklich.

Dieser Gedanke kam auch Andrea, als Margit ihr einen Gutenachtkuss gegeben hatte. Umso mehr, weil Margit sagte: »Wären wir doch nur hiergeblieben.«

Aber obgleich Andrea fragte, wie sie das meine, erwiderte Margit: »Nur so. In Madrid hatte ich keine Freundin. Mir wäre es lieber, mich hätte es getroffen, als dich, Antschi. Aber ich kann dich nur bewundern.«

Dann hatte sie sich rasch in ihr Zimmer zurückgezogen, und Andrea hatte nachgedacht.

Sie raffte sich dann auf, nahm ihre Stöcke und ging zu Margits Zimmer. Sie fand zu ihrem Erschrecken die Tür verschlossen. Auf ihr Klopfen meldete sich Margit nicht.

Andrea ging zurück und versuchte es über den Balkon, der über die ganze Hausfront verlief.

Sie konnte in den Schlafraum blicken. Die Nachttischlampe brannte. Das Bett und auch das Zimmer war leer.

Dann sah Andrea, dass Margit aus dem Bad kam, gehüllt in einen weinroten Bademantel. Sie wollte sich schon bemerkbar machen, als sie bemerkte, dass Margit aus dem Schrank eine Flasche holte, und sie sah, dass es eine Whiskyflasche war.

Andrea verabscheute Whisky. Sie stand wie erstarrt. Ihre Hand, schon erhoben, um an die Balkontür zu klopfen, sank herab. Sie sah, wie Margit ein Glas trank und ein zweites gleich einschenkte.

Völlig benommen, zog sich Andrea zurück. Sie konnte nicht mehr sehen, dass Margit auf ihr Bett sank und aufschluchzend ihr Gesicht in den Kissen vergrub.

Sie selbst legte sich nieder und starrte zur Decke. Was mag mit Margit los sein, dachte sie. Hat sie Liebeskummer? Aber warum sagt sie nichts? Woher hat sie den Whisky? Warum trinkt sie? Warum trinkt sie heimlich? Bei Tisch trinkt sie doch nur Tafelwasser.

Andrea hatte sich viel mit Psychologie befasst, aber Margit war doch ihre Freundin. Und sie war nur ein knappes Jahr älter als sie.

Andrea konnte in dieser Nacht lange nicht einschlafen, und dann schlief sie unruhig: »Jetzt machen wir unseren Morgenspaziergang, Antschi!«

Ich habe es nur geträumt, dachte Andrea. Man merkt ihr doch gar nichts an. Ich habe mir alles nur eingebildet, wenn es kein Traum war.

Sie machten den Morgenspaziergang. Margit war besonders fürsorglich. »Leg deinen Arm um mich, dann versuchen wir es ohne Stock, Liebes«, sagte sie. »Ich bringe dich schon wieder hin. Dieser verfluchte Bursche, ich könnte ihn umbringen. Hoffentlich hat er seine Strafe bekommen.«

»Er war leichtsinnig, Maggi«, sagte Andrea. »Er hat sich gar nichts dabei gedacht. Ich war ihm einfach im Wege.«

»Ach was. Sei nicht so tolerant. Jeder denkt sich was dabei, wenn er etwas tut, aber wer denkt schon an andere. Ihm würde ich es wünschen, dass er so herumkrebsen müsste wie du. Immer trifft es die Unschuldigen. Reden wir nicht mehr darüber.«

»Immer dasselbe. Reden wir nicht mehr darüber.« Margit sagte es mehr zu sich selbst. »Heute kommt Jörg. Ich bin gespannt, ob er sich verändert hat. Ich habe meinen Bruder fast zwei Jahre nicht gesehen.«

»Wieso nicht?«, fragte Andrea, die etwas verschreckt war durch Margits seltsame Bemerkungen.

»Er hat uns nicht mehr besucht. Er hat sich von den Familienbanden befreit. Vielleicht ist da auch eine Frau im Spiel. Man kann es sich leicht machen, Antschi. Man schüttelt sich einfach. Ich habe gedacht …«, sie unterbrach sich und starrte in die Ferne, dorthin, wo die Sonne aufging.

»Sprich doch weiter, Maggi. Mir kannst du doch alles sagen«, flüsterte Andrea.

Noch fester legte sich Margits Arm um sie. »Du bist geplagt genug, Antschi. Und du bist der einzige Mensch, den ich lieb habe, so richtig lieb. Wären wir doch nur nie nach Madrid gegangen. Wären wir doch immer zusammengeblieben, dann wären wir auch zusammen zum Skifahren gegangen, und dann hätte es vielleicht mich erwischt.«

»Sag das doch nicht«, flüsterte An­drea. »Du weißt nicht, wie schwer es ist, damit zu leben.«

Margit blieb stehen. Beide Arme legten sich um Andreas schmale, kindliche Gestalt. »Ich brauche dich doch nur anzuschauen«, schluchzte sie auf. »Ausgerechnet dir muss das passieren. Ich weiß doch, was du für Pläne hattest. Ich habe noch nie an die Zukunft gedacht. Ich war auch nie so gut wie du.«

»Red nicht solchen Unsinn«, sagte Andrea. »Du hattest immer bessere Zeugnisse als ich. Hast du Kummer, Maggi? Ist es ein Mann?«

»Quatsch, was könnte mich ein Mann interessieren. Ich …« Da wurde sie unterbrochen, denn ein junger Mann kam über die Wiese gelaufen.

»Hallo, Andrea«, rief er, »ich wollte dich abholen.«

»Das ist Frank, mein Freund«, sagte Andrea zu Margit. »Ich habe ihn im Krankenhaus kennengelernt, aber das habe ich dir doch schon geschrieben.« Dann schöpfte sie tief Atem. »Frank Röttges – Margit Kayser«, stellte sie vor.

Frank Röttges streckte Margit die Hand entgegen. Vielleicht war es diese Geste, die manches, was dann ge­schah, beeinflusste. »Das ist also Frank«, sagte Margit leise. »Ja, Andrea hat mir geschrieben, wie ihr euch kennengelernt habt. Aber du bist wieder okay, Frank.« Sie sagte einfach Du. Andrea ging es unter die Haut, denn bei ihr hatte es lange gedauert, bis sie »Du« zu Frank sagte.

»Es ist Samstag«, sagte Frank. »Da fahre ich immer mit Andrea ein bisschen hinaus, wenn schönes Wetter ist.«

»Heute kommt Maggis Bruder«, sagte Andrea. »Wann wird er kommen, Maggi?«

»Vor Mittag kaum, wenn er überhaupt rechtzeitig aus den Federn kommt. Es kommt darauf an, wie lange sie Abschied gefeiert haben«, erwiderte Margit, »es tut mir leid, Antschi, aber ich weiß von Jörg nicht mehr viel.«

»Jörg feiert den bestandenen Doktor«, warf Andrea ein.

»Ihr kennt euch schon lange?«, fragte Frank.

»Sehr lange«, erwiderte Margit rasch. »Wir waren fast noch Babys, als wir uns kennenlernten. Jörg war natürlich schon ein Junge. Er ging aufs Gymnasium, stimmt es, Antschi?«

»Er war elf und ich vier«, erwiderte Andrea, »und du warst schon fünf, Maggi.«

»Und wir haben da drüben gewohnt«, sagte Margit, auf das gegen­überliegende Haus deutend. »Wer wohnt eigentlich jetzt dort, Antschi?«

»Ein älteres Ehepaar. Sie leben sehr zurückgezogen. Aber du irrst dich, Maggi, wir wohnten früher nicht hier. Wir sind erst vor einem Jahr hierhergezogen.«

Margit wandte sich um. »Ich habe es vergessen«, sagte sie leise. »Ich denke immer an früher. Entschuldigt mich bitte.« Und schon eilte sie davon.

»Ob sie jetzt wieder Whisky trinkt?«, sagte Andrea leise.

»Wie kommst du denn darauf, An­drea?«, fragte Frank Röttges.

»Es ist wie ein böser Traum, Frank. Aber es war kein Traum.« Sie erzählte, was sie am gestrigen Abend gesehen hatte.

»Ich kann das nicht verstehen«, flüsterte sie.

»Verurteilst du sie, Andrea?«, fragte er.

»Sie ist doch nicht viel älter als ich«, sagte Andrea leise.

»Aber vielleicht hat sie einen größeren Kummer als du und nicht so nette Eltern«, sagte er ruhig.

»Sie hat sehr nette Eltern«, sagte Andrea trotzig. »Ich kenne sie doch lange.«

»Margit kann sich nicht mehr an ihr Haus erinnern, und du vielleicht nicht mehr so ganz deutlich an ihre Eltern«, sagte er. »Und was ist mit ihrem Bruder? Kannst du dich an den noch deutlich erinnern?«

»Er war schon viel größer, und mit uns kleinen Mädchen hat er sich nie abgegeben.«

»Aber vor drei Jahren warst du schon fünfzehn«, sagte Frank.

»Und er hat schon studiert. Was willst du überhaupt?«

Er sah sie forschend an. »Drei Jahre können viel verändern, Andrea. Für manche Menschen ist das nur ein Hauch in der Ewigkeit, den sie vergessen. Für andere kann es eine unendliche Ewigkeit sein. Margit ist viel älter als du!«

»Aber dir gefällt sie. Du willst sie verteidigen, wenn sie auch trinkt«, sagte Andrea aggressiv. »Wie kann man mit neunzehn Jahren Whisky in sich hineinschütten?«