Dr. Norden Bestseller 120 – Arztroman - Patricia Vandenberg - E-Book

Dr. Norden Bestseller 120 – Arztroman E-Book

Patricia Vandenberg

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Beschreibung

Dr. Norden ist die erfolgreichste Arztromanserie Deutschlands, und das schon seit Jahrzehnten. Mehr als 1.000 Romane wurden bereits geschrieben. Deutlich über 200 Millionen Exemplare verkauft! Die Serie von Patricia Vandenberg befindet sich inzwischen in der zweiten Autoren- und auch Arztgeneration. Patricia Vandenberg ist die Begründerin von "Dr. Norden", der erfolgreichsten Arztromanserie deutscher Sprache, von "Dr. Laurin", "Sophienlust" und "Im Sonnenwinkel". Sie hat allein im Martin Kelter Verlag fast 1.300 Romane veröffentlicht, Hunderte Millionen Exemplare wurden bereits verkauft. In allen Romangenres ist sie zu Hause, ob es um Arzt, Adel, Familie oder auch Romantic Thriller geht. Ihre breitgefächerten, virtuosen Einfälle begeistern ihre Leser. Geniales Einfühlungsvermögen, der Blick in die Herzen der Menschen zeichnet Patricia Vandenberg aus. Sie kennt die Sorgen und Sehnsüchte ihrer Leser und beeindruckt immer wieder mit ihrer unnachahmlichen Erzählweise. Ohne ihre Pionierarbeit wäre der Roman nicht das geworden, was er heute ist. Es war sieben Uhr vorbei, als Dr. Norden seine letzten Patienten ins Sprechzimmer bat. Es war Ulrich Hellmer, ein noch junger Mann. Er litt an einem Magengeschwür. Die Röntgenaufnahme hatte Dr. Nordens Diagnose bestätigt, und nun musste der Arzt dem jungen Mann klarmachen, dass nur eine strenge Diät ihn von diesem Übel befreien könnte. Er tat es vorsichtig. Ulrich Hellmer reagierte sarkastisch. »Da hat mir ja mein Vater zu allen Sorgen ein lästiges, persönliches Erbe hinterlassen«, sagte er. Dr. Norden horchte auf. »Sie haben Sorgen?«, fragte er. »Hat sich das noch nicht herumgesprochen? Ich muss den Konkurs anmelden«, erwiderte er bitter. »Meine Geschwister haben sich gleich nach Vaters Tod auszahlen lassen. Da sind dann für mich nur noch Schulden geblieben, aber ich habe ja die Firma geerbt. Und natürlich die Magengeschwüre.«

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Dr. Norden Bestseller – 120 –

Das trügerische Glück

Patricia Vandenberg

Es war sieben Uhr vorbei, als Dr. Norden seine letzten Patienten ins Sprechzimmer bat. Es war Ulrich Hellmer, ein noch junger Mann.

Er litt an einem Magengeschwür. Die Röntgenaufnahme hatte Dr. Nordens Diagnose bestätigt, und nun musste der Arzt dem jungen Mann klarmachen, dass nur eine strenge Diät ihn von diesem Übel befreien könnte.

Er tat es vorsichtig. Ulrich Hellmer reagierte sarkastisch. »Da hat mir ja mein Vater zu allen Sorgen ein lästiges, persönliches Erbe hinterlassen«, sagte er.

Dr. Norden horchte auf. »Sie haben Sorgen?«, fragte er.

»Hat sich das noch nicht herumgesprochen? Ich muss den Konkurs anmelden«, erwiderte er bitter. »Meine Geschwister haben sich gleich nach Vaters Tod auszahlen lassen. Da sind dann für mich nur noch Schulden geblieben, aber ich habe ja die Firma geerbt. Und natürlich die Magengeschwüre.«

»Es ist nur eins, Herr Hellmer«, sagte Dr. Norden, »und Sie werden davon befreit sein, wenn Sie jetzt drei bis vier Wochen in die Klinik gehen.«

»Damit man sagen kann, ich drücke mich«, sagte der junge Mann ironisch. »An mir bleibt doch alles hängen.«

Sorgen, dachte Dr. Norden, und die Folgen davon sind Magengeschwüre. Doch bevor er noch etwas sagen konnte, läutete es Sturm.

Loni war schon gegangen. Sie hatte von einer alten Patientin eine Karte für die Oper geschenkt bekommen. Dr. Norden ging schnell hinaus und drückte auf den Türöffner.

Die Tür tat sich auf. Ein junger Mann trug ein Mädchen herein, dessen Gesicht blutüberströmt war. Dr. Norden kannte beide.

»O Gott«, sagte er erschrocken. »Was ist geschehen?«

»Ich erkläre es später«, sagte der junge Mann. »Helfen Sie Claudia.«

Ulrich hatte die Stimme erkannt und kam heraus. »Achim«, rief er aus, »was ist denn geschehen?«

Noch konnte Dr. Norden nicht ahnen, dass er in diesen Minuten in ein Drama verstrickt werden sollte, das weite Kreise ziehen würde.

Achim und Claudia Roesch waren Geschwister, die beiden ältesten Kinder von Professor Armin Roesch, der als Chemiker einen bekannten Namen hatte.

Aber jetzt musste jede Überlegung warten. Claudia brauchte dringend Erste Hilfe. Sie hatte schon einen starken Blutverlust erlitten und war bewusstlos.

»Warum haben Sie nicht den Notarzt gerufen?«, fragte Dr. Norden den jungen Achim Roesch.

»Muttis wegen«, erwiderte er kurz. »Ich erkläre es Ihnen später.«

Er hatte vergessen, dass auch Ulrich Hellmer zugegen war, und er schrak zusammen, als der ihn fragte, was denn geschehen sei.

»Claudia ist in eine Glastür gefallen«, erwiderte er. »Lass mich jetzt in Ruhe, Ulli.« Er starrte den Älteren an. »Was machst du denn hier?«, fragte er tonlos.

»Ich habe ein Magengeschwür«, erwiderte Ulrich sarkastisch. »Ich wusste gar nicht, dass Claudia schon aus dem Internat zurück ist.«

»Schon drei Monate. Sie hat das Abi nicht geschafft«, erwiderte Achim ­Roesch geistesabwesend. »Hoffentlich kann ihr Dr. Norden helfen.«

»Du hättest sie gleich in die Klinik bringen sollen«, sagte Ulrich.

»Lass mich in Ruhe«, schrie ihn Achim unbeherrscht an. »Spar dir deine Belehrungen!«

*

Ulrich Hellmer war gegangen. Dr. Norden versorgte die recht schlimmen Schnittwunden der Achtzehnjährigen, eines nicht besonders hübschen aber zarten Mädchens. Der Blutverlust war wohl das Schlimmste, der hatte auch zu der Bewusstlosigkeit geführt.

Noch wusste Dr. Norden nicht, wie es zu den Verletzungen gekommen war, die das Gesicht, und den Rücken des Mädchens betrafen. Ein Autounfall konnte es kaum sein, nach den Erfahrungen, die Dr. Norden in seiner langen Praxis gesammelt hatte.

Claudia Roesch erwachte aus der Bewusstlosigkeit. Aus blicklosen Augen starrte sie Dr. Norden an.

»Nichts Mutti sagen«, flüsterte sie. Dann sanken ihre Augenlider wieder herab.

Dr. Norden ging ins Wartezimmer. Achim Roesch lief wie ein gefangener Tiger auf und ab.

»Wie ist das passiert, Achim?«, fragte der Arzt.

Er kannte Achim seit sieben Jahren. Damals waren die Roeschs in das Villenviertel gezogen, und Achim war sein erster Patient aus der Familie Roesch gewesen. Ihm war beim Einzug eine Eichentruhe auf den Fuß gefallen, weil er den Packern unbedingt hatte helfen wollen.

»Ich kann’s nicht sagen, Dr. Norden«, flüsterte Achim.

»Hast du den Unfall verschuldet?«, fragte der Arzt ruhig. »Mir kannst du alles sagen, Achim. Wir kennen uns doch ewig.«

»Es ist alles so irre. Es glaubt ja doch keiner«, murmelte der junge Mann. »Und für Mutti ist es am schlimmsten. Wie geht es Claudi?«

»Es wird schon wieder«, sagte Dr. Norden. »Sag mir lieber die Wahrheit. Ich kann dir helfen …«

»Uns kann niemand helfen«, murmelte Achim dumpf. »Es glaubt doch keiner. Vater ist doch ein Ehrenmann, eine Leuchte der Wissenschaft, geschlagen mit geistig minderbemittelten Kindern!«

»Wer sagt das?«, fragte Dr. Norden.

»Er.«

»Wer – er?«

»Vater!«, stieß Achim hervor. »Er hat Claudi durch die Terrassentür gestoßen. – Gott im Himmel, nun habe ich es doch gesagt, aber wenn Sie es nicht für sich behalten, haben wir erst recht die Hölle.«

Dr. Norden straffte sich. »Ich sage nichts, Achim. Erzähl mir alles.« Er umschloss die schmalen Schultern des jungen Mannes und schüttelte ihn. »Du kennst mich doch, Junge. Rede! Ich helfe dir.«

*

Zur gleichen Zeit kam Ingeborg ­Roesch nach Hause. Sie arbeitete dreimal wöchentlich drei Stunden in einem Heim für behinderte Kinder als Heilgymnastin. Von vier Uhr bis sieben Uhr. Eine halbe Stunde brauchte sie für den Heimweg.

Fabian, der Vierzehnjährige, empfing sie an der Tür. »Reg dich nicht auf, Mutti«, sagte er. »Die Terrassentür ist kaputt.«

Ingeborg wurde noch blasser. »Wieso? Habt ihr was angestellt?«

»Wir sind doch gerade erst heimgekommen«, sagte Fabian. »Es war niemand da.«

»Nur die Terrassentür war kaputt«, warf die zehnjährige Simone ein. »Das war sicher ein Einbrecher. Wir waren doch bei Omi, wie immer.«

Wie immer, es dröhnte in Ingeborgs Ohren. Es klang wie ein Vorwurf.

Montags, mittwochs, freitags war sie von halb vier bis acht Uhr abwesend, und da waren Fabian und Simone bei der Omi, die eine Viertelstunde entfernt wohnte. Sie nahm die Kinder gern zu sich, wenn sie auch nicht begriff, warum ihre Tochter sich um behinderte Kinder kümmerte, da sie doch vier eigene hatte. Ingeborg hatte es noch nicht fertiggebracht, ihrer Mutter zu sagen, dass sie dadurch achthundert Euro monatlich verdiente. Ihre Mutter hätte es nicht begriffen, dass sie als Ehefrau eines bekannten, ja, berühmten Mannes Geld für den Unterhalt dazuverdienen musste.

*

Dr. Daniel Norden erfuhr zu dieser Stunde von dem versteckten Elend der Familie Roesch aus Achims Mund. Er hatte den Jungen zum Reden gebracht.

Joachim Roesch war zweiundzwanzig. Er hatte bereits vier Semester Chemie studiert, weil es sein Vater so wollte. Aber Achim hatte nichts übrig für Chemie. Er wollte überhaupt nicht studieren. Und Dr. Norden erfuhr, warum das so war.

»Mutti bekommt nur wenig Geld von Vater«, erzählte er leise. »Er braucht alles für eine Erfindung. Jedenfalls sagt er das. Aber er hat schon lange ein Verhältnis mit der Clemens, mit seiner Assistentin. Ich weiß es, und Mutti weiß es wohl inzwischen auch. Mutti hat eine Stellung angenommen, und ich arbeite auch, damit nicht alles an ihr hängen bleibt. Aber nach außenhin muss das Gesicht gewahrt bleiben. Nach außenhin ist Vater der große Mann. Und weil Claudi sich mit dem Maxl angefreundet hat, gab es heute den Krach. Vater kam gerade dazu, wie Maxl Claudi heimbrachte. Er hat sich aufgeführt wie ein Irrer. Und als Claudi gesagt hat, dass Maxls Vater wenigstens ein anständiger Mensch ist, hat er sie gepackt und durch die Tür geworfen.«

»Achim«, sagte Dr. Norden heiser.

»Sie glauben es auch nicht«, sagte Achim mit einem trockenen Aufschluchzen, »und ich will auf der Stelle tot umfallen, wenn ein Wort gelogen ist. Wenn Mutti nur den Mut hätte, einen Schlussstrich zu ziehen.«

Dr. Norden musste schlucken und das, was er gehört hatte, erst verdauen.

»Setz dich hin«, sagte er. »Bei euch stimmt also gar nichts.«

»Nur noch nach außen. Mutti will es ja so. Und für die zwei Kleinen wäre es schrecklich. Ich verstehe Mutti ja in dieser Beziehung, aber ich kann es nicht mehr mitmachen. Ich kann es nicht, Dr. Norden. Seit heute ist bei mir Sense. Er hätte Claudi umbringen können. Ich kann doch solchen Vater nicht respektieren. Und er verlangt nur Respekt. Er ist doch der Größte! Wir sind alle Nullen, weil keiner von uns ein Einserschüler ist. Und alles geht an Mutti hinaus, weil sie nicht studiert hat, weil ihr Vater nur ein Angestellter war. Und was war er denn vor fünfundzwanzig Jahren, als sie geheiratet haben? Ich drehe durch, ich schaff es nicht mehr!«

Er bot ein Bild des Jammers, und Dr. Norden waren auch solche Bilder nicht unbekannt. Es traf ihn tief, was er eben vernommen hatte. Es ging ihm unter die Haut, weil er selbst bisher noch kein Gespür dafür gehabt hatte, was sich innerhalb dieser Familie abspielte.

»Jetzt sei mal ganz ruhig, Achim«, sagte er. »Ich bringe Claudi in die Behnisch-Klinik. Es wird so besser sein. Ich spreche mit eurer Mutter, wenn du es nicht kannst. Aber ich möchte dir noch ein paar Fragen stellen.«

»Fragen Sie nur«, sagte Achim bebend.

*

»Ich verstehe nicht, dass Claudia nicht zu Hause ist«, sagte Ingeborg ­Roesch indessen zu ihren beiden Jüngsten, während sie die zerbrochene Scheibe betrachtete. »Und Achim müsste doch eigentlich auch schon da sein.«

»Vielleicht sind sie bei der Polizei«, sagte Fabian.

»Oder bei Onkel Will«, sagte Simone. »Claudi wollte ihm doch ein bisschen helfen, Mutti. Ich gehe mal rüber.«

Ingeborg nickte geistesabwesend. Sie war im Augenblick völlig benommen. Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen.

Dr. Wilhelm Sandmann, für die Kinder der Onkel Will, war ihr nächster Nachbar.

Tierarzt von Beruf, seit sechs Jahren verwitwet. Ingeborg war mit seiner Frau befreundet gewesen, einer schon todkranken Frau, als sie selbst dies Haus bezogen hatten. Aber Anneliese Sandmann war auch in ihrer schweren Leidenszeit eine tapfere Frau gewesen, die anderen Halt zu geben vermochte, und Ingeborg hatte solchen Halt gebraucht. Sie hatte tief um Anneliese getrauert und war dann zutiefst dankbar gewesen, als Dr. Sandmann sich ihren Kindern als ein so gütiger, verstehender Freund erwiesen hatte.

Die kleine Simone lief zum Nachbarhaus, und schon wenig später kam sie mit Dr. Sandmann zurück.

»Ich bin selbst erst gerade zurückgekommen, Ingeborg«, sagte er. »Was ist denn hier passiert?«

»Ich weiß es auch nicht. Auf dem Teppich ist Blut. Weder Claudi noch Achim sind da«, erwiderte Ingeborg bebend.

»Armin auch nicht?«, fragte Dr. Sand­mann. »Er kam doch, als ich nach Höhenried gerufen wurde. Ich habe seinen Wagen noch kommen sehen, als ich wegfuhr.«

»Er ist gekommen? Um diese Zeit?«, fragte Ingeborg erregt. »Wann war das genau, Will?«

»Zehn oder fünfzehn Minuten vor sieben Uhr. Genau weiß ich es nicht mehr, Inge. Jetzt beruhige dich mal. Am besten wird es sein, wenn wir die Polizei rufen.«

»Nein, keine Polizei«, sagte sie leise. »Ich will warten, bis Claudi und Achim kommen. Es ist ja nichts gestohlen worden.«

*

»Wie war es, Achim?«, fragte Dr. Norden. »Erinnere dich bitte genau.«

»Ich kam nach Hause. Ich hörte, wie Vater Claudi anschrie, wie er sie eine Niete nannte, die sich mit dem

Maxl einlässt und die Familie in Verruf brächte. Sie sagte, dass er erst den Schmutz vor seiner Tür wegkehren solle, und dann krachte und klirrte es. Ich rein ins Wohnzimmer, und da lag Claudi blutend. Und Vater …«, er geriet ins Stocken.

»Was sagte er?«, fragte Dr. Norden.

Achim ballte seine Hände zu Fäusten. »Er sagte, dass sie zu dämlich sei, um auf eigenen Füßen zu stehen, und dann ging er. Er ging einfach weg, verstehen Sie das? Claudi lag blutend am Boden, und er ging! Ich bringe ihn um. Ich mache das nicht mehr mit!«

»Reiß dich zusammen. Damit hilfst du deiner Mutter nicht«, sagte Dr. Norden energisch. »Damit schadest du ihr noch mehr, Achim. Wir bringen Claudia jetzt in die Klinik, und dann fahren wir zu euch. Achim, du bist kein Kind mehr. Du musst den Tatsachen ins Auge sehen, auch wenn sie hart sind. Du bist der Älteste und schon ein Mann. Du musst deiner Mutter beistehen.«

Achim sah ihn aus trüben Augen an. »Ich habe Angst vor ihm, Dr. Norden«, stammelte er. »Ich habe Angst vor meinem Vater. Es ist schrecklich.«

Daniel Norden sah ihn vor sich, diesen jungen Mann, der jetzt nur wie ein verängstigter Junge wirkte, und dann sah er vor seinen geistigen Augen den Professor Dr. Dr. Armin Roesch, diesen hochgeehrten Mann, von dem jeder fast mit Ehrfurcht sprach. Konnte das ein so charakterloser Mensch sein, der seine Tochter so schlug? Konnte sich ein genialer Mann so gehen lassen?

Er hörte Claudias Stimme aus dem Behandlungsraum. »Ich will nach Hause zu Mutti«, sagte sie.

Er ging zu ihr. »Ich bringe dich in die Klinik, Claudia«, sagte er.

»Nein!« Sie richtete sich auf. »Ich will nach Hause. Ich habe gehört, was Achim gesagt hat. Es stimmt nicht. Ich war selbst schuld. Ich bin gestolpert und durch die Tür gefallen.«

»Rückwärts?«, fragte Dr. Norden ruhig.

»Ich kann mich an nichts mehr erinnern«, flüsterte Claudia.

»Gut«, sagte Dr. Norden. »Achim kann sich erinnern, du nicht, aber die Hauptsache ist ja, dass du wieder okay bist. Was eure Mutter ausbaden muss, scheint dir nicht so wichtig zu sein, Claudia. Wir fahren jetzt zu euch.«

»Achim kann mich heimbringen«, sagte Claudia.

»Das kann ich nicht verantworten« erklärte Dr. Norden. »Oder wollt ihr mich auch noch in Schwierigkeiten bringen?«

»Was werden Sie Vater sagen, wenn er zu Hause ist?«, fragte Claudia leise.

»Dass ich Sie wegen schwerster Schnittverletzungen behandelt habe, und dass Sie sich weigern, in eine Klinik gebracht zu werden.«

»Und sonst nichts?«, fragte Achim.

»Ich weiß sonst nichts«, erwiderte Dr. Norden. »Ärzte unterliegen der Schweigepflicht, wenn ihnen etwas anvertraut wird. Aber ich möchte klar und deutlich sagen, dass ich euch helfen will.«

»Nein, wir müssen das allein abmachen«, sagte Claudia. »Es geht doch um die Kinder!«

Und sie sind selbst noch Kinder, dachte Dr. Norden. Sie machen sich stark für etwas, was sie nicht bewältigen können. Sie wollen um jeden Preis den Schein gewahrt wissen.

*

Es war fast halb neun Uhr, als sie vor dem Hause Roesch ankamen.

Ingeborg stand schon in der Tür. »Endlich«, rief sie aus, als Achim aus seinem klapprigen Wagen stieg. »Wo warst du so lange? Wo ist Claudi?«

»Dr. Norden bringt sie. Reg dich nicht auf, Mutti. Sie hat sich verletzt. Sie ist im Wohnzimmer gestolpert und gegen die Terrassentür gefallen.«

Diese Version wollte er aufrechterhalten. Dr. Norden nahm es den Atem. Aber er sah es Ingeborgs Gesichtsausdruck an, dass sie den Worten ihres Sohnes keinen Glauben schenkte.

»Du brauchst mich nicht zu schonen, Achim«, sagte Ingeborg. »Was ist geschehen?«

»Nichts weiter, Mutti«, sagte Claudia. »Ein paar Schrammen. Es hat nur ein bisschen geblutet. Es tut mir leid, wenn der Teppich Flecken bekommen hat.«

Ingeborg sah Dr. Norden an. Er sah in ihren Augen die Angst.

»Wir haben schon gedacht, es wären Einbrecher hier gewesen«, sagte Fabian, völlig ahnungs- und arglos.

»Vielen Dank, Herr Dr. Norden«, sagte Ingeborg tonlos. »Was kann ich für Claudi tun?«

»Sie soll morgen bei mir vorbeischauen«, erwiderte er. »Es sind nur Schnittwunden und ein Schock.«

»Na, dann können wir ja beruhigt sein«, ließ sich nun Dr. Sandmann vernehmen. »Auf Sie kann man sich wirklich verlassen, Herr Kollege von der anderen Fakultät. Ich begleite Sie hinaus.« Er drehte sich zu Ingeborg um. »Wenn ihr mich braucht, ich bin drüben«, sagte er.

Dr. Norden spürte, dass Dr. Sandmann mit ihm sprechen wollte. »Ich bin auch jederzeit zu erreichen«, sagte er. »Leg dich jetzt hin, Claudia.«

Ihm fiel es immer schwer, zu den jungen Menschen, die er schon von Kindheit her kannte, plötzlich Sie zu sagen. Achim und Claudia hätten das auch gar nicht gewollt. Für sie war er jetzt ein guter Freund, der ihnen Schweigen gelobt hatte. Doch Dr. Sandmann gegenüber hätte Daniel Norden dieses Schweigen nicht zu wahren brauchen.

»Da stimmt doch etwas nicht«, sagte der Tierarzt. »Ich verstehe mich zwar besser auf die Viecherl als auf die Menschen, aber Inge und die Kinder kenne ich sehr gut.«

»Und wie ist es mit dem Professor?«, fragte Dr. Norden.

»Man sieht sich selten«, erwiderte Dr. Sandmann ausweichend. »Er hat sich seit einiger Zeit sehr verändert. Jähzornig war er schon immer, aber in letzter Zeit scheint es auch andere Differenzen zu geben. Inge spricht sich ja nicht aus. Ich mache mir meine Gedanken. Aus bloßer Langeweile hat sie diese Stellung bestimmt nicht angenommen. Mit dem Haushalt und den Kindern wäre sie ausgelastet.«

»Sind es finanzielle Sorgen?«, fragte Dr. Norden.

»Eigentlich dürfte es die ja nicht geben bei seinem Einkommen, aber vielleicht hat er kostspielige Hobbys. Jedenfalls war er vorhin nach Hause gekommen, und deshalb mache ich mir Gedanken über Claudias Verletzungen. Ich habe sie mit dem Maxl Pfeifer gesehen. Es hat darum schon mal Krach gegeben.«

»Warum? Sie ist achtzehn und darf doch wohl einen Freund haben«, meinte Dr. Norden.

»Sein Vater ist Schlosser, seine Mutter Verkäuferin in einer Metzgerei. Das passt dem Herrn Professor nicht.«

»Aber dass seine Frau arbeitet, akzeptiert er. Seltsam!«

»Es treibt einem Drama zu«, sagte Dr. Sandmann leise. »Wenn man doch nur mit Inge reden könnte! Würden Sie mir sagen, ob Claudia von ihrem Vater angegriffen wurde? Ich mache keinen Gebrauch davon. Ich möchte nur helfen.«

»Ja, es gab eine Auseinandersetzung«, sagte Dr. Norden. »Ich bin auch sehr bestürzt.«

*

»Ihr müsst mir die Wahrheit sagen«, bat Inge mit zitternder Stimme, nachdem sie Fabian und Simone aus dem Zimmer geschickt hatte. »Es geht nicht mehr so weiter. Wir müssen gemeinsam eine Lösung finden.«

»Dann lass dich scheiden, Mutti«, stieß Achim hervor.

Inge verschlang die Hände ineinander. »Ich habe es ihm angeboten«, sagte sie leise. »Es kommt für ihn nicht infrage. Er müsste dann ja tüchtig zahlen, und außerdem würde es seinem Pres­tige schaden.«

»Sein Verhältnis mit der Clemens schadet ihm wohl nicht«, sagte Achim zornig.

Inge war zutiefst erschrocken. Das wusste der Junge also auch.

»Frau Dr. Clemens ist seine Mitarbeiterin«, sagte sie bitter. »Eine so enge Zusammenarbeit schafft ein Vertrauensverhältnis. Das sind seine Worte. Es ist eine so sonderbare Veränderung mit ihm vor sich gegangen«, fuhr sie leise fort.

»Na, den Himmel auf Erden hattest du in dieser Ehe nie«, stellte Achim fest.

»Wir wollen nicht darüber reden«, sagte sie. »Es wird besser sein, wenn ich mit Omi spreche. Ihr könntet sicher bei ihr wohnen.«

»Damit du ihm hier ausgeliefert bist? Das kommt nicht infrage«, sagte Achim. »Claudia ja, ich nein.«