Dr. Norden Bestseller 142 – Arztroman - Patricia Vandenberg - E-Book

Dr. Norden Bestseller 142 – Arztroman E-Book

Patricia Vandenberg

0,0

Beschreibung

Dr. Norden ist die erfolgreichste Arztromanserie Deutschlands, und das schon seit Jahrzehnten. Mehr als 1.000 Romane wurden bereits geschrieben. Deutlich über 200 Millionen Exemplare verkauft! Die Serie von Patricia Vandenberg befindet sich inzwischen in der zweiten Autoren- und auch Arztgeneration. Patricia Vandenberg ist die Begründerin von "Dr. Norden", der erfolgreichsten Arztromanserie deutscher Sprache, von "Dr. Laurin", "Sophienlust" und "Im Sonnenwinkel". Sie hat allein im Martin Kelter Verlag fast 1.300 Romane veröffentlicht, Hunderte Millionen Exemplare wurden bereits verkauft. In allen Romangenres ist sie zu Hause, ob es um Arzt, Adel, Familie oder auch Romantic Thriller geht. Ihre breitgefächerten, virtuosen Einfälle begeistern ihre Leser. Geniales Einfühlungsvermögen, der Blick in die Herzen der Menschen zeichnet Patricia Vandenberg aus. Sie kennt die Sorgen und Sehnsüchte ihrer Leser und beeindruckt immer wieder mit ihrer unnachahmlichen Erzählweise. Ohne ihre Pionierarbeit wäre der Roman nicht das geworden, was er heute ist. »Es ist ein glücklicher Tag in meinem Leben«, sagte Professor Felix Hartenstein mit seiner warmen dunk­len Stimme, »aber ich hoffe, daß wir nun gemeinsam noch viele glückliche Tage erleben werden. Meine liebe Hanna«, er umfaßte die schlanke blonde Frau mit einem liebevollen Blick, »du hast mir einen Sohn geschenkt, wie ich ihn mir immer gewünscht habe.« »Und du bist der Vater, den ich mir immer gewünscht habe«, sagte Florian Gerstein. Er war ein schlanker junger Mann von fünfundzwanzig Jahren, so blond wie seine Mutter, mit den gleichen schönen grauen Augen, die auch ihrem Gesicht diese besondere Anziehungskraft verliehen. »Dir habe ich es zu verdanken, daß wir nun eine Familie sind, Florian«, sagte Professor Hartenstein herzlich. »Wie hätte ich auf meine alten Tage noch solches Glück erhoffen können!« »Alte Tage«, lachte Florian, »du stellst doch manchen jungen Mann in den Schatten.« Hanna, seit einer Stunde Frau Hartenstein, ließ ihre Blicke zwischen den beiden hin und her schweifen. Wer es nicht anders wußte, hätte meinen können, daß Florian tatsächlich sein Sohn sei, ging es ihr durch den Sinn. Es mochte doch wohl stimmen, daß eine tiefe Zuneigung die Menschen einander ähnlich machte. Felix war achtundvierzig, sie sechs­undvierzig, aber beide sahen sie weitaus jünger aus. Seit zwei Jahren kannten sie sich bereits, denn als Felix Hartenstein diesen hochbegabten jungen Studenten Florian unter seine Fittiche genommen hatte, hatte er auch seine privaten Verhältnisse kennenlernen wollen. Diese waren nicht rosig, was die Finanzen anbetraf, das hatte er feststellen können. Hanna arbeitete als Bibliothekarin, und mit dieser Tätigkeit hatte sie auch den Lebensunterhalt für sich und ihren Sohn finanziert. Ihre Ehe hatte nur ein Jahr gehalten, dann war ihr Mann auf und davon, Abenteuern nachjagend, allerdings mit ernstem Hintergrund, denn er war Umweltforscher, aber ruhe- und rastlos und schließlich mehr seiner Assistentin Ursula verbunden als seiner Frau und seinem Kind.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 148

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Dr. Norden Bestseller – 142 –

Die unbekannte Tochter

Patricia Vandenberg

»Es ist ein glücklicher Tag in meinem Leben«, sagte Professor Felix Hartenstein mit seiner warmen dunk­len Stimme, »aber ich hoffe, daß wir nun gemeinsam noch viele glückliche Tage erleben werden. Meine liebe Hanna«, er umfaßte die schlanke blonde Frau mit einem liebevollen Blick, »du hast mir einen Sohn geschenkt, wie ich ihn mir immer gewünscht habe.«

»Und du bist der Vater, den ich mir immer gewünscht habe«, sagte Florian Gerstein. Er war ein schlanker junger Mann von fünfundzwanzig Jahren, so blond wie seine Mutter, mit den gleichen schönen grauen Augen, die auch ihrem Gesicht diese besondere Anziehungskraft verliehen.

»Dir habe ich es zu verdanken, daß wir nun eine Familie sind, Florian«, sagte Professor Hartenstein herzlich. »Wie hätte ich auf meine alten Tage noch solches Glück erhoffen können!«

»Alte Tage«, lachte Florian, »du stellst doch manchen jungen Mann in den Schatten.«

Hanna, seit einer Stunde Frau Hartenstein, ließ ihre Blicke zwischen den beiden hin und her schweifen. Wer es nicht anders wußte, hätte meinen können, daß Florian tatsächlich sein Sohn sei, ging es ihr durch den Sinn. Es mochte doch wohl stimmen, daß eine tiefe Zuneigung die Menschen einander ähnlich machte.

Felix war achtundvierzig, sie sechs­undvierzig, aber beide sahen sie weitaus jünger aus. Seit zwei Jahren kannten sie sich bereits, denn als Felix Hartenstein diesen hochbegabten jungen Studenten Florian unter seine Fittiche genommen hatte, hatte er auch seine privaten Verhältnisse kennenlernen wollen.

Diese waren nicht rosig, was die Finanzen anbetraf, das hatte er feststellen können. Hanna arbeitete als Bibliothekarin, und mit dieser Tätigkeit hatte sie auch den Lebensunterhalt für sich und ihren Sohn finanziert.

Ihre Ehe hatte nur ein Jahr gehalten, dann war ihr Mann auf und davon, Abenteuern nachjagend, allerdings mit ernstem Hintergrund, denn er war Umweltforscher, aber ruhe- und rastlos und schließlich mehr seiner Assistentin Ursula verbunden als seiner Frau und seinem Kind.

Ohne viel Federlesens hatte Hanna ihr Leben in die eigenen Hände genommen. Als Florian zehn Jahre alt war, hatte sein Vater im südamerikanischen Urwald den Tod gefunden.

Sie hatte sich mit Felix angefreundet. Finanzielle Sicherheit hatte sie nicht gesucht. Gemeinsame Interessen, aus denen dann eine tiefe Zuneigung erwuchs, verbanden sie.

Er hätte nie Zeit gefunden zum Heiraten, hatte Professor Hartenstein erklärt, als sie ihn einmal fragte, warum er Junggeselle geblieben sei. Und verschmitzt hatte er dann hinzugefügt, daß ihn eben keine Frau so zu fesseln verstand wie sie.

An diesem Tage wurde die Hochzeit gefeiert. Zwei Kollegen von Felix waren Trauzeugen gewesen, aber sie mußten danach sofort wieder zur Uni, um ihre Vorlesungen abzuhalten. Felix war es recht, daß er mit Hanna und Florian allein feiern konnte. Ein kleines Fest wollten sie später geben.

Dennoch blieben sie nicht allzulange ungestört. Am frühen Nachmittag läutete das Telefon. Florian nahm den Hörer ab.

Sein Gesicht überschattete sich. »Die Behnisch-Klinik, Paps, man möchte dich dringend sprechen. Ein Unfall.«

»Ich bin doch Physiker und nicht Arzt«, meinte Felix konsterniert.

»Vielleicht handelt es sich um einen Reaktorunfall«, sagte Hanna.

Felix nahm das Telefon ans Ohr. Sein Gesicht war ein einziges Fragezeichen.

»Ja, ich komme«, sagte er, und als er den Hörer aufgelegt hatte, fuhr er nachdenklich fort: »Ein seltsamer Fall. Es handelt sich um ein junges Mädchen, das einen Brief bei sich hat, der an mich gerichtet ist. Sie ist angefahren worden und verletzt. Da werde ich wohl doch mal hinfahren müssen.«

»Ich komme mit«, sagte Hanna sofort.

»Aber nein, ich werde bald wieder hier sein«, erwiderte er. »Tut mir leid, meine Lieben.«

»Ich möchte nicht wissen, wie oft Ärzte aus einer fröhlichen Feier herausgerissen werden«, sagte Florian. »Ein bißchen besser haben wir es doch.«

»Aber gerade heute«, murmelte Hanna, als Felix gegangen war.

»Du hast ihn ja jetzt für immer, Mutti«, sagte Florian. »Und eine Hochzeitsreise war sowieso nicht eingeplant.«

*

Man hatte Professor Hartenstein den Namen des verletzten Mädchens am Telefon genannt. Carina Lorenzo. Ja, der Name Lorenzo hatte eine ferne Erinnerung in ihm geweckt, aber viele Jahre trennten ihn von dieser, und gerade an diesem Tage wollte er sich ungern an diesen Namen erinnern.

Mit sehr gemischten Gefühlen betrat Professor Hartenstein die Behnisch-

Klinik. Dr. Dieter Behnisch kannte er persönlich, ebenso dessen Frau Jenny, da er in der Behnisch-Klinik vor zwei Jahren einige Wochen mit einem gebrochenen Bein hier zugebracht hatte.

Und Dr. Behnisch wußte auch, daß Professor Hartenstein an diesem Tag geheiratet hatte.

»Tut mir leid, daß ich Sie gerade heute stören mußte, aber anscheinend hat das Mädchen keine Angehörigen. Wir haben in Bozen schon zurückgefragt.«

»Ist sie schwer verletzt?« fragte Professor Hartenstein heiser.

»Es sah anfangs schlimmer aus. Gehirnerschütterung, einige Prellungen, aber das Mädchen war total erschöpft und ausgehungert.«

»Wie ist es passiert?«

»Beim Überqueren einer Straße. Es war ein Junge auf einem Mofa. Er war nicht schuld und hat auch einen schweren Schock. Der Vorgang muß noch geklärt werden.«

»Sie hat einen Brief bei sich, der an mich gerichtet ist?«

»Ja, deshalb rief ich sie an. Vielleicht handelt es sich um eine Bewerbung, um ein Empfehlungsschreiben. Ich werde Ihnen diesen Brief geben. Vielleicht vermittelt er uns mehr Aufschluß über die Person des Mädchens und die Angehörigen.«

»Kann ich das Mädchen sehen?« fragte Felix.

»Selbstverständlich. Sie ist noch nicht bei Bewußtsein.«

Sie lag in einem kleinen Raum, ein halbes Kind, wie es schien, bleich, schmal. Das reine Gesicht von langem blondem Haar umrahmt.

Professor Hartenstein schloß für eine Sekunde die Augen, denn eine Vi­sion wurde lebendig.

»Ich habe sie nie gesehen«, sagte er leise. »Hatte sie einen Ausweis bei sich?«

»Ja, ausgestellt in Bozen. Carina Lorenzo, achtzehn Jahre. Das Bild zeigt dieses Mädchen.«

»Ja, dann werde ich wohl den Brief lesen müssen, um zu erfahren, was sie von mir wollte«, sagte der Professor.

In Dr. Behnischs Zimmer war er dann allein. Der Arzt mußte auf die Station, und das war gut so, denn in diesen Minuten hätte Professor Hartenstein keinen Menschen ertragen.

Liebster Felix, einzige Liebe meines Lebens, wenn Du diese Zeilen ließt, ist alles vorbei, alle Sehnsucht, alle Schuldgefühle, aber die nehme ich mit ins Grab, denn es bleibt Carina, mein Kind – Dein Kind. Doch sie wußte nicht einmal, daß sie eine Mutter hatte, nicht einmal diesen Mut brachte ich auf, ihr dies zu sagen. Zwei Wochen meines Lebens war ich glücklich, aber als Du von mir gingst, wußte ich, daß wir uns niemals wiedersehen würden. Es hat Dich gekränkt, daß Du von Claudio beleidigt wurdest. Ich habe ihn geheiratet, aber als das Kind kam, wußte er, daß es nicht sein Kind war. Auch er verließ mich. Und ich gab Carina in ein Heim, weil ich glaubte, daß er dann zu mir zurückkehren würde. Ich hatte ja niemanden, aber er kehrte auch nicht mehr zurück, und so mußte ich arbeiten, um das Heim zu bezahlen. Dort hatte ich gesagt, daß Carina das Kind meiner Cousine sei. Diese war bei der Geburt ihres Kindes gestorben. Ich habe für Carina gesorgt, so gut ich konnte. Ich wollte nicht, daß sie mit dem Wissen belastet wird, wer ihr Vater ist. Aber da ich nun weiß, daß ich nicht mehr lange zu leben habe, will ich ihr nicht das ganze Leben verbauen. Sie ist sehr intelligent, das hat sie von Dir, denn ich war immer töricht und untauglich, mein Leben zielstrebig zu leben. Ein schwankendes Rohr im Wind, so nanntest Du mich, als Du gingst. Ich war nicht die Frau für einen so klugen Mann, wie Du es bist. Es wäre niemals gutgegangen, ich weiß es. Aber ich weiß, daß Du ein gutes Herz hast, daß Du Carina nicht im Stich lassen wirst. Gib ihr eine Möglichkeit, sich weiterzubilden, sich weiterzuentwickeln, damit sie nicht so endet wie ich. Am Ende dieses Lebens weiß ich, wieviel Schuld ich auf mich geladen habe, aber alles, was gut in mir war, wird zum heißen Wunsch, daß Carina Dir ähnlich wird. Und auch Dir wünsche ich alles Glück.

Dorina Lorenzo

Ein Sommer vor neunzehn Jahren in der Toscana wurde vor Felix’ Augen lebendig. Ein bezauberndes Mädchen mit blauschwarzem Haar und nachtdunklen Augen, das ihn aus seiner wissenschaftlichen Arbeit herausgerissen und betört hatte. Eine Sommerliebe! Er hatte damals schon gewußt, daß es nicht mehr sein würde, denn Dorina wollte das Leben genießen. Sie hatte kein Verständnis für seine Arbeit. Sie war umschwärmt und flatterhaft, aber er hatte nicht gewußt, daß sie ein Kind erwartete, als er von ihr fortging, angegriffen von diesem Claudio, der ältere Rechte an Dorina hatte. Er war nach Amerika gegangen und hatte diesen Sommer bald vergessen.

Aber nun war alles lebendig, weil Carina ein lebendiger Mensch war. Ein achtzehnjähriges Mädchen, das in einem Heim aufwachsen mußte, weil die Mutter nicht den Mut hatte, sich zu ihrer Tochter zu bekennen. Weil sie auch nicht den Mut hatte, dem Vater mitzuteilen, daß er ein Kind hatte.

Oder war es mehr Angst davor gewesen, daß er dies hohnlachend zu­rückweisen würde?

Felix Hartensteins Gedanken wechselten sprunghaft. Er dachte an Hanna die heute seine Frau geworden war, die er liebte und nicht verlieren wollte. Würde sie all das verstehen?

Es blieb die Frage, ob Carina die ganze Wahrheit wußte. Seine Gedanken überstürzten sich.

Nein, er wollte dieses Mädchen nicht im Stich lassen. Er wollte ihr helfen, aber als ihr Vater wollte er sich nicht bekennen. Er dachte jetzt an Florian, an diesen jungen Mann, den er als Sohn akzeptiert hatte.

Dr. Behnisch trat leise ein. Felix schrak zusammen. »Das Mädchen ist bei Bewußtsein«, sagte er. »Ich habe ihr gesagt, daß Sie hier sind.«

Professor Hartenstein steckte Dorinas Brief in die Brusttasche seines Anzuges.

»Eine tragische Geschichte«, sagte er heiser, »sie ist die uneheliche Tochter eines alten Freundes. Ich werde für das Mädchen sorgen.«

*

Ein Eisenring schien seine Brust zusammenzuschnüren, als er an das Bett des Mädchens trat, das ihn jetzt mit traurigen Augen anblickte.

»Ich bin Felix Hartenstein«, sagte er tonlos.

»Ich sollte Ihnen einen Brief bringen«, sagte Carina in gutem Deutsch mit leisem fremdländischem Akzent. Er war erstaunt, er hätte sie auch verstanden, wenn sie italienisch gesprochen hätte.

»Du kennst den Inhalt?« fragte er, unfähig, sie mit unpersönlichem Sie anzusprechen.

»Nein, ich weiß nichts. Es ist mir alles so unbegreiflich. Ich bekam die Mitteilung, daß meine Mutter gestorben sei, aber ich wußte gar nicht, daß Dorina meine Mutter war.«

»Sie hat dir dafür keine Erklärung hinterlassen?« fragte er.

»Nur, daß sie meinen Vater sehr lieb hatte und ich mich an einen Professor Hartenstein wenden solle. An dem Unfall bin ich selber schuld. Ich war so müde.«

»Es ist gut, Kind, schlaf dich aus. Hier wirst du gut versorgt, und wenn du dich besser fühlst, besprechen wir alles. Man hat mir den Brief gegeben.«

»Und was steht darin?« fragte sie.

»Dein Vater war ein guter Freund von mir. Ich erkläre dir das später. Mache dir keine Gedanken, Carina, du wirst ein Zuhause finden«, sagte er leise. Und dabei schämte er sich.

»Ich kann arbeiten«, flüsterte sie. »Ich wollte nur weg, weg von da.«

Aber mehr konnte sie nicht sagen, sie war noch zu schwach.

Wie soll ich das Hanna beibringen und Florian, dachte er, als er heimwärts fuhr. Es sei der glücklichste Tag seines Lebens, hatte er ihnen gesagt.

*

»Paps bleibt lange aus«, sagte Flo­rian.

»Es ist sicher eine sehr wichtige Angelegenheit, Florian«, erklärte Hanna. »Er gehört uns nicht allein, das dürfen wir nicht vergessen.«

»Ich mache ihm ja auch keinen Vorwurf, Mutti. Niemals könnte ich ihm einen machen. Er ist ein wunderbarer Mann. Ein besseres Vorbild als ihn kann man gar nicht haben.«

»Für mich ist es am wichtigsten, daß er ein guter Mensch ist«, sagte Hanna. »Daß er ein Vorbild für dich ist, beruhigt mich natürlich auch. Aber da kommt er ja«, sagte sie dann und eilte Felix entgegen.

»Verzeih, Hanni«, murmelte er, »es ist eine Angelegenheit, die mich nicht kalt läßt. Es handelt sich um die uneheliche Tochter eines früheren Freundes, der nicht mehr lebt.«

Ich lüge, dachte er, und ich werde immer weiter lügen müssen, weil ich nicht den Mut habe, Hanna alles zu sagen.

»Oh, das ist schlimm«, sagte sie mitfühlend, und ihm wäre es lieber gewesen, wenn sie gleichgültig geblieben wäre.

»Ich möchte nicht, daß dieser Tag getrübt wird«, sagte er rauh.

»Wir schweben doch nicht auf rosaroten Wolken«, sagte sie. »Wir beide haben doch schon genug erlebt, um nicht so egoistisch zu sein. Vielleicht ist es sogar gut, wenn man an einem solchen Tag an das Leid anderer erinnert wird. Dann ist man doppelt dankbar.«

Warum sage ich nicht die Wahrheit, fragte er sich. Warum will ich Märchen erzählen?

Er sah das Mädchen vor sich, so jung, so zart, so hilflos und unwissend. Und er hielt an dieser Geschichte fest.

»Es war so eine Sommerliebe«, erzählte er. »Eine Südtirolerin, lebenslustig, sehr hübsch und temperamentvoll.«

»Du hast von deinem Freund noch nichts erzählt«, warf Hanna ein.

»Er ist schon lange tot«, sagte Felix. Und dann kam ihm ein Name in den Sinn von einem, der früh gestorben war.

»Er hieß Arnold Pratt«, sagte er, »aber davon soll Carina anscheinend nichts wissen. Ich möchte dem Mädchen helfen, einen anständigen Beruf zu finden.«

»Wir könnten sie bei uns aufnehmen, Felix«, sagte Hanna spontan. »Wir haben doch Platz genug.«

»Man müßte doch erstmal in Erfahrung bringen, ob alles stimmt, was sie angibt«, warf Florian ein.

»Ich bin davon überzeugt«, sagte Felix mit erzwungener Ruhe. »Hannas Vorschlag ist gut gemeint, aber wir werden sicher einen anderen Weg finden.«

»Ich werde das in die Hand nehmen, Felix«, sagte sie energisch. »Eine Frau kann das besser als ein Mann, noch dazu, wenn es um einen jungen Menschen geht, der Hilfe braucht. Ich werde Carina morgen besuchen.«

»Und wenn Mutti sich was vornimmt, führt sie es auch durch, mit letzter Konsequenz«, sagte Florian.

*

Als Carina aufwachte, fand sie sich in einem großen hellen Zimmer wieder, und eine Frau saß an ihrem Bett, die sie mit gütigem, mütterlichem Blick betrachtete.

»Wer sind Sie?« fragte Carina.

»Hanna Hartenstein. Mein Mann war gestern bei Ihnen.«

»Ja, ich erinnere mich«, sagte Ca­rina stockend. »Manchmal weiß ich nämlich nicht, was Traum oder was Wirklichkeit ist.«

»Sie können mich anfassen, ich bin kein Geist und schon recht kein Traum­bild«, sagte Hanna munter.

So ein liebes Dingerl, dachte sie, so hübsch und so hilflos. Da müssen wir doch etwas tun.

Dann hielt sie die kleine, feinglied­rige und doch so rauhe Hand umschlossen, die ihr verriet, daß das Mädchen schwere Arbeit geleistet hatte.

»Geht es schon ein bißchen besser?« fragte sie.

»Ja, ja, der Junge war nicht schuld. Ich habe ihn noch gesehen, aber ich bin hingefallen, einfach hingefallen. So war es. Ich will nicht, daß er bestraft wird.«

Worum es eigentlich ging, wußte Hanna noch gar nicht. Sie wollte sich auch lieber selbst ein Bild machen.

»Erzähl mir etwas von dir, Carina«, bat sie. »Möchtest du bei uns bleiben, oder besser gesagt, zu uns kommen?«

»Ich weiß gar nichts«, flüsterte das Mädchen. »Der Mann ist gekommen und hat mir den Koffer gebracht und Geld und auch den Brief und…«, sie geriet ins Stocken, »ich wollte schon lange weg. Ich habe einfach gesagt, daß ich gehe.«

»Zu wem hast du es gesagt?«

»Zu Coppis. Ich habe nicht geschafft, was sie verlangten. Und Signore Coppi war so unverschämt.«

»Möchtest du mir mehr erzählen, Carina?« fragte Hanna sanft.

»Sie glauben mir ja doch nicht. Niemand glaubt mir, alle lächeln nur mitleidig oder boshaft.«

Hanna horchte auf. »Warum meinst du das?« fragte sie.

»Ich fühle es«, sagte Carina leise. »Es sind die Vorurteile, daß Waisenkinder drittklassig sind, daß sie froh sein müssen, wenn sie jemand überhaupt aufnimmt.«

»Ich kenne die Vorurteile, die man auch anderen entgegenbringt, Carina«, sagte Hanna ruhig. »Ich habe solche nicht. Ich möchte gern deine Geschichte kennenlernen.«

Und das war Carinas Geschichte: Schon als Baby war sie ins Waisenhaus gebracht worden, von ihrer Tante Dorina, wie sie sagte. »So hat es mir die Oberin erklärt. Tante Dorina hat mich dann in ein anderes Heim gebracht, als ich sechs Jahre alt war. Sie hat mich auch immer besucht, nicht oft, aber jedes Jahr wenigstens zweimal. Und dann hat sie mir auch etwas geschenkt. Als ich sechzehn war, bin ich zu den Coppis gekommen, als Kindermäd­chen. Luigi war schon vierzehn, die anderen drei waren kleiner. Die Coppis haben sich geärgert, daß ich vieles besser wußte als Luigi und aus seinen Schulbüchern schneller lernte als er. Das wollten sie nicht. Ich sollte mehr in der Küche und bei der Hausarbeit helfen, das habe ich dann auch getan, aber Luigi hat selbst gesagt, daß ich woanders mehr Geld verdienen kann. Er war sehr nett. Ich habe ihm oft heimlich bei den Schulaufgaben geholfen. Vor zwei Wochen kam dann ein Herr und sagte mir, daß Tante Dorina gestorben ist, nein, er sagte, daß meine Mutter gestorben sei. Ich wußte doch gar nicht, daß Tante Dorina eigentlich meine Mutter ist. Er brachte mir einen Koffer und auch Geld. Fast tausend Euro in deutscher Währung. Verstehen Sie, daß ich das zuerst nicht begreifen konnte? Ich hätte meine Mutter doch liebgehabt. Warum hat sie immer gesagt, daß sie meine Tante ist?«

»Das weiß ich nicht, Carina«, erwiderte Hanna erschüttert.

»Ich bin dann weggegangen von den Coppis. Luigi hat geweint. Wer soll ihm jetzt bei den Schulaufgaben helfen? Seine Eltern sind primitiv. Sein Vater ist Metzger, aber er will, daß der Junge studiert. Sie haben ja Geld, viel Geld.«

»Dir tut der Junge leid, Carina«, sagte Hanna erstaunt.