Dr. Norden Bestseller 161 – Arztroman - Patricia Vandenberg - E-Book

Dr. Norden Bestseller 161 – Arztroman E-Book

Patricia Vandenberg

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Beschreibung

Für Dr. Norden ist kein Mensch nur ein 'Fall', er sieht immer den ganzen Menschen in seinem Patienten. Er gibt nicht auf, wenn er auf schwierige Fälle stößt, bei denen kein sichtbarer Erfolg der Heilung zu erkennen ist. Immer an seiner Seite ist seine Frau Fee, selbst eine großartige Ärztin, die ihn mit feinem, häufig detektivischem Spürsinn unterstützt. Dr. Norden ist die erfolgreichste Arztromanserie Deutschlands, und das schon seit Jahrzehnten. Mehr als 1.000 Romane wurden bereits geschrieben. Die Serie von Patricia Vandenberg befindet sich inzwischen in der zweiten Autoren- und auch Arztgeneration. »Jetzt hat es wieder gekracht«, sagte Loni erschrocken, und daraufhin eilte Dr. Norden zum Fenster. Er sah ein Taxi, in das ein Lieferwagen hineingefahren war. Und er sah nur gestikulierende Passanten, die anscheinend nicht wußten, was zu tun war. Wie er ging und stand griff er nach seinem Arztkoffer. »Legen Sie sich hin, Frau Müller«, rief er der Patientin zu, die eben eine Spritze bekommen hatte. »Ein Notfall.« Dr. Norden war noch vor der Funkstreife bei der Unfallstelle, und was er dann sah, trieb ihm den Angstschweiß auf die Stirn, denn eine junge hochschwangere Frau lag bewußtlos und blutend auf dem Rücksitz. »Sie wollte zum Krankenhaus«, stammelte der verstörte Taxifahrer. »Dieser verrückte Kerl…« Dr. Norden hörte nicht darauf. Es lähmte ihn augenblicklich, daß er hier auch nichts ausrichten konnte, und er atmete auf, als der Notarztwagen eintraf. »Sofort ins Krankenhaus, dort scheint die Patientin bekannt zu sein«, sagte er. »Es besteht höchste Gefahr.« Er kannte den Notarzt. Dr. Wolff war ein erfahrener Arzt. »Schlimm«, sagte er nur und nickte Dr. Norden zu. Die junge Frau wurde behutsam auf die Trage gelegt und in den Wagen geschoben. Dr. Wolff setzte sich zu ihr und begann sofort mit der ersten Versorgung. Dr. Norden kehrte blaß in seine Praxis zurück. Loni wußte, daß sie ihm jetzt keine Frage stellen durfte. Sie ahnte, daß etwas Schreckliches passiert war. Ja, es war schrecklich für diese junge Frau, die sich auf ihr Kind gefreut hatte, für ihren Mann, der in die Klinik gerufen worden war. Dirk Heymann war fassungslos, keines Wortes fähig und suchte nach einem

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Dr. Norden Bestseller – 161 –

Sie wollte Mutter sein

Patricia Vandenberg

»Jetzt hat es wieder gekracht«, sagte Loni erschrocken, und daraufhin eilte Dr. Norden zum Fenster. Er sah ein Taxi, in das ein Lieferwagen hineingefahren war. Und er sah nur gestikulierende Passanten, die anscheinend nicht wußten, was zu tun war.

Wie er ging und stand griff er nach seinem Arztkoffer. »Legen Sie sich hin, Frau Müller«, rief er der Patientin zu, die eben eine Spritze bekommen hatte. »Ein Notfall.«

Dr. Norden war noch vor der Funkstreife bei der Unfallstelle, und was er dann sah, trieb ihm den Angstschweiß auf die Stirn, denn eine junge hochschwangere Frau lag bewußtlos und blutend auf dem Rücksitz.

»Sie wollte zum Krankenhaus«, stammelte der verstörte Taxifahrer. »Dieser verrückte Kerl…«

Dr. Norden hörte nicht darauf. Es lähmte ihn augenblicklich, daß er hier auch nichts ausrichten konnte, und er atmete auf, als der Notarztwagen eintraf.

»Sofort ins Krankenhaus, dort scheint die Patientin bekannt zu sein«, sagte er. »Es besteht höchste Gefahr.«

Er kannte den Notarzt. Dr. Wolff war ein erfahrener Arzt. »Schlimm«, sagte er nur und nickte Dr. Norden zu.

Die junge Frau wurde behutsam auf die Trage gelegt und in den Wagen geschoben. Dr. Wolff setzte sich zu ihr und begann sofort mit der ersten Versorgung.

Dr. Norden kehrte blaß in seine Praxis zurück. Loni wußte, daß sie ihm jetzt keine Frage stellen durfte. Sie ahnte, daß etwas Schreckliches passiert war.

Ja, es war schrecklich für diese junge Frau, die sich auf ihr Kind gefreut hatte, für ihren Mann, der in die Klinik gerufen worden war.

Dirk Heymann war fassungslos, keines Wortes fähig und suchte nach einem Halt, als der Arzt ihm die grausame Eröffnung gemacht hatte, daß das Baby nicht gerettet werden konnte.

»Wir hoffen, das Leben Ihrer Frau erhalten zu können«, sagte der Arzt, »sie hatte einen beträchtlichen Blutverlust.«

»O Gott, oh, mein Gott«, stammelte Dirk Heymann. »Carry! Sie hat sich doch so auf das Kind gefreut. Und sie ist doch so sensibel, so zart.«

»Wir haben getan, was wir konnten, Herr Heymann, aber vielleicht ist es doch besser so. Das Kind hätte einen Gehirnschaden behalten.«

*

Dr. Norden erfuhr die näheren Umstände am Abend dieses Tages. Unentwegt hatte es ihn beschäftigt, ob dieser jungen Frau, deren Namen er nicht kannte, zu helfen gewesen war.

»Der Fahrer war betrunken«, verkündete Loni, als der letzte Patient abgefertigt worden war. »Der mit dem Lieferwagen. Diese Kerle müßten gleich aus dem Verkehr gezogen werden. Aber dem ist natürlich nichts passiert.«

»Dem wird noch allerhand passieren«, sagte Dr. Norden rauh. »Ich frage jetzt im Krankenhaus nach, wie es der Patientin geht.«

Er kannte den Chefarzt Dr. Wilhelm. Mit ihm konnte man auch reden. Er saß nicht so auf dem hohen Roß wie sein Vorgänger, der praktische Ärzte stets mit Herablassung behandelt hatte.

»Ein tragischer Fall, Herr Kollege«, sagte Dr. Wilhelm. »In solchen Augenblicken steht man mit hängenden Armen da. Das Kind hatte sich ohnehin zu schnell gesenkt. Die Nabelschnur hat die Sauerstoffzufuhr unterbrochen. So entsetzlich es für die junge Frau sein mag, die traurige Tatsache, ein gehirngeschädigtes Kind am Leben zu erhalten, wäre noch schlimmer gewesen. Mit einiger Wahrscheinlichkeit wäre dieses auch ohne den Unfall eingetreten.«

»Das braucht man ihr doch aber nicht zu sagen«, meinte Dr. Norden.

»Nein, natürlich nicht. Wir werden froh sein, wenn sie am Leben bleibt. Der Ehemann ist völlig down. Dort sitzt er.«

»Ich konnte nichts tun, gar nichts in dieser Situation«, murmelte Dr. Norden.

»Dann verstehen Sie, wie mir zumute ist«, sagte Dr. Wilhelm. »Eine reizende Frau, eine glückliche Ehe, sie hat sich unendlich auf das Kind gefreut. Sie kam regelmäßig zur Kontrolluntersuchung. Ich kenne sie seit dem ersten Tag, an dem ich die Schwangerschaft festgestellt hatte. Sie hatte schon Sorge, daß sie keine Kinder bekommen könne, weil sie schon drei Jahre verheiratet war. Warum muß es gerade solche Frauen treffen?«

»Das frage ich mich auch«, sagte Dr. Norden leise. »Ich hoffe, daß sie darüber hinwegkommt.«

Als er ging, ahnte er nicht, daß er nach Monaten dieser Carolin Hey­mann wieder begegnen sollte, um mit den Folgen dieses tragischen Unfalls konfrontiert zu werden.

*

Fee Norden spürte sofort, daß ihr Mann deprimiert war. Lustlos stocherte er in dem Essen herum, obgleich sie wußte, daß er hungrig sein mußte nach diesem langen Arbeitstag.

»Hast du etwa auch von diesem Mädchen gelesen, das ihr Baby in einer Tasche in der Scheune versteckt hat, Daniel?« fragte sie. »Es ist gerettet. Es wird am Leben bleiben. Ich habe es vorhin im Radio gehört.«

»Hör damit auf«, stieß er heftig hervor. »Das fehlt mir gerade noch.«

Fee war es nicht gewohnt, daß ihr Mann so heftig wurde.

»Entschuldige, Daniel, ich kann nicht ahnen, daß du ein schlimmes Erlebnis hattest«, sagte sie einfühlsam.

»Von dem Unfall hast du wohl nichts gehört, der unter meinem Fenster passiert ist. So ein Besoffener hat wieder mal ein Leben, vielleicht auch zwei, auf dem Gewissen.«

»Davon haben sie nichts gesagt im Radio«, murmelte Fee.

»Wieso denn auch«, sagte er bitter. »Der Verkehr wurde nicht lange aufgehalten, und es ging ja nur um ein Baby, das sterben mußte. Um ein Baby, auf das sich die Mutter freute. Und andere setzen ihre Kinder aus oder bringen sie gar um. Zum Verzweifeln ist das. Wo gibt es da denn noch eine göttliche Gerechtigkeit? Und ich stand da wie ein Depp und konnte nichts tun. Ich ahnte, daß es irgendwie schlimm ausgehen würde. Aber ich kann doch nicht mitten unter gaffenden Leuten einen Kaiserschnitt ausführen.«

Er preßte seinen Kopf auf die verschränkten Hände. Fee konnte kein tröstendes Wort über die Lippen bringen. Sie trat hinter ihn und legte behutsam ihre Hände auf seine Schultern. Er war völlig verkrampft, das spürte sie.

»Was ist das nur für eine Welt«, flüsterte sie. »Aber dich trifft doch keine Schuld, Liebster.«

»Sich das vorzustellen«, stöhnte Daniel, »da rast einer, der mindestens zwei Maß Bier getrunken haben muß, durch die Gegend und fährt ein Taxi über den Haufen, das eine werdende Mutter zum Krankenhaus bringen will. Und er zerstört alles, worauf man sich neun Monate gefreut hat. Es kann mich nicht kalt lassen, Fee.«

Das ließ selbst Liane Heymann nicht kalt, die Mutter von Dirk, obgleich sie sich mit ihrer Schwiegertochter nie sonderlich gut verstanden hatte.

Sie lebten unter einem Dach, aber Carolin hatte von Anfang an gewisse Grenzen gesetzt. Sie ließ sich von ihrer überaus peniblen Schwiegermutter keine Vorschriften machen und hatte schnell begriffen, daß Liane nicht schuldlos war an dem Fiasko ihrer eigenen Ehe, nachdem sie diese Frau besser kennengelernt hatte. Zuerst war ja alles in bester Ordnung gewesen.

Carolin hatte ein ganz hübsches Vermögen mit in die Ehe gebracht. Mit diesem hatte der Anteil, den Dirks Vater an dem Haus hatte, ausgezahlt werden können. Aber Carolin hatte dann auf getrennte Wohnungen bestanden, und auch Dirk war damit einverstanden gewesen, denn er verstand sich, trotz allen Vorfällen, gut mit seinem Vater

Als Dirk am Boden zerstört an diesem Abend heimkam, schwieg seine Mutter auch erst geraume Zeit, dann äber raffte sie sich auf.

»Es ist wahrhaft schlimm, Dirk«, sagte sie, »aber stell dir doch mal vor, was alles auf euch zugekommen wäre, wenn ihr ein gehirngeschädigtes Kind aufziehen müßtet. Das ist doch erst recht nicht auszudenken. Carolin wird das begreifen und einsehen.«

»Sie hat sich so gefreut, so sehr gefreut. Schau dir doch das Kinderzimnler an, mit wieviel Liebe sie alles hergerichtet hat, Mutter.«

»Ja, ich weiß es ja«, murmelte sie. »Aber jetzt ist ihre Gesundheit wichtiger. Es ist doch nicht ausgeschlossen, daß sie wieder ein Kind bekommt.«

Er starrte blicklos zum Fenster hinaus. »Sie muß den Schock überwinden, aber wird sie das? Die Angst wird bleiben. Ich wage nicht, an später zu denken, Mutter.«

»Sie ist doch eine intelligente Frau. Die Zeit wird helfen, Dirk«, sagte Liane Heymann.

»Ich möchte jetzt allein sein«, sagte er heiser.

»Lenk dich doch lieber ab«, sagte sie. »Dein Vater hat vorhin übrigens angerufen. Ich wollte es ihm sagen, aber mit mir redet er ja nicht.«

»Bitte, fang jetzt nicht wieder damit an, Mutter«, sagte Dirk. »Gute Nacht.«

Nun zog sie sich doch in ihre Wohnung zurück, die im oberen Stockwerk lag. Es war ein hübsches Haus, das leicht hatte umgebaut werden können, um zwei abgetrennte Wohnungen einzurichten. Liane war das freilich nicht recht gewesen, doch darauf hatte Carolin bestanden. Michael Heymann, Dirks Vater, hatte indessen eine Wohnung am anderen Ende der Stadt bezogen. Die Trennung von seiner Frau, die endgültige Trennung, mußte man wohl sagen, hatte er Monate vor der Heirat seines Sohnes vollzogen, als Dirk sich auf Wohnungssuche begeben hatte. Es schien dann, als sei das Gerangel beendet, doch Carolin mußte sich dann Tag für Tag anhören, was ihre Schwiegermutter darüber dachte.

Dies war auch der Grund gewesen, daß sie wieder ganztags statt halbtags arbeiten wollte, und sie hatte auch in einem großen Verlag eine entsprechende Stellung als Übersetzerin gefunden.

Ganz recht war es Dirk nicht. Er war Studienrat und kam mittags nach Hause. Es pendelte sich so ein, daß er dann wieder von seiner Mutter versorgt wurde, und seine Toleranz ihr gegenüber hatte auch seine Grenzen. Es hatte dadurch auch in der jungen Ehe manche Probleme gegeben, aber als Carolin dann die Gewißheit hatte, Mutter zu werden, herrschte nur noch Harmonie in dieser Ehe. Es war eine ganz normale Schwangerschaft, ohne Beschwerden für Carolin. Im sechsten Monat gab sie ihre Stellung dann aber doch schon auf, und man mußte es ­Liane nachsagen, daß sie sich sehr diplomatisch verhielt.

Nach einer unruhigen Nacht wachte Dirk wie gerädert auf. Dann fiel ihm ein, daß an diesem Tag eine Englischschulaufgabe angesetzt war. Er duschte kalt, bis sein Kopf klarer wurde, konnte es dann aber nicht verhindem, daß er fror.

Es läutete dreimal kurz an der Wohnungstür. Seine Mutter sagte ihm, daß sie das Frühstück für ihn bereits zubereitet hätte.

Nach dem Kaffee wurde es ihm heiß. »Ich muß in der Klinik anrufen«, sagte er tonlos.

»Da ist das Telefon, mein Junge«, sagte Liane. »Wenn etwas mit Carolin wäre, hätten sie dich schon benachrichtigt.«

Er sah sie mit leeren Augen an. Seine Hand zitterte, als er nach dem Hörer griff.

Das Gespräch war kurz. Er konnte nur mit dem Stationsarzt sprechen, der Nachtdienst gehabt hatte.

»Es geht ihr den Umständen entsprechend«, sagte er heiser. »Sie ist noch nicht bei Bewußtsein. Ich werde mit dem Direx sprechen.«

*

Dr. Norden griff gleich nach der Zeitung, als er sich an den Frühstücks­tisch setzte.

»Du brauchst nicht lange zu suchen«, sagte Fee. »Es steht eine kurze Notiz darin. Der schuldige Fahrer wurde verhaftet, weil er nicht mal im Besitz einer gültigen Fahrerlaubnis war. Der Taxifahrer konnte nach ambulanter Behandlung entlassen werden. Die werdende Mutter wurde in die Klinik eingeliefert. Sonst nichts, auch kein Name.«

»Sie heißt Heymann«, sagte Daniel gedankenlos.

»Es ist ja leider nicht zu ändern, Daniel«, sagte Fee leise.

»Nein, es ist nicht mehr zu ändern. Ich glaube, ich würde den Kerl umbringen, wenn dir so was widerfahren wäre.«

Fee sagte lieber nichts mehr. Sie wußte genau, wann es besser war zu schweigen. Sie wußte auch, daß solch ein Fall ihren Mann noch lange beschäftigen würde, obgleich er die Pa­tientin nicht persönlich kannte.

Als Dr. Daniel Norden zu seiner Praxis fuhr, sprach Dirk Heymann schon mit dem Direktor des Gymnasiums.

»Das ist allerdings eine böse Geschichte, Herr Heymann«, sagte der, »aber Sie wissen ja, unter welchem Druck wir stehen. Ich habe keine Vertretung für Sie. Die Eltern regen sich schon auf, weil wegen des Lehrermangels so viele Stunden ausfallen müssen. Bitte, nehmen Sie sich zusammen. Sie haben dann ja eine Freistunde und können Ihre Frau in der Klinik besuchen.«

Dirk nickte müde.

Er hatte nun jedoch das Gefühl, ein beliebter Lehrer zu sein. Und ihm wurde eine tröstliche Überraschung von den Vierzehnjährigen bereitet, die er zu unterrichten hatte. Der Klassensprecher kam zu ihm, ein netter Junge, dessen Vater ein Geschäft am Hauptplatz besaß, wo das Unglück geschehen war.

»Wir haben gehört, was mit Ihrer Frau gestern passiert ist, Herr Studienrat«, sagte er leise. »Es tut uns sehr leid. Wir werden uns Mühe gehen, daß wir Ihnen keinen Ärger bereiten.«

»Danke, Klaus«, sagte Dirk leise. Dann herrschte eine Ruhe und Disziplin wie noch nie, und Dirk verteilte die Zettel mit der Schulaufgabe. Mit gesenkten Köpfen saßen sie da. Ab und zu traf ihn mal ein hilfloser Blick, aber niemand murrte. Und pünktlich gaben alle ihre Hefte ab.

Dirk hatte es eilig, in die Klinik zu kommen. Sein Herz klopfte schmerzhaft, als er sich zu Carolin ans Bett setzte. Wie klein und blaß ihr Gesicht war! Seine Kehle war wie zugeschnürt.

Er streichelte ihre blutleeren Hände, aber gleichzeitig hatte er Angst, daß sie die Augen aufschlagen und ihn ansehen könnte. Was sollte er nur sagen? Nein, er konnte es ihr nicht sagen, nicht er.

Er meinte, sie vor sich zu sehen, als sie vom Arzt kam. »Wir bekommen ein Baby, Dirk«, hatte sie jubelnd ausgerufen. »Endlich ist es soweit!«

Und nun drang es wie ein Hauch an sein Ohr: »Mein Baby, was ist mit meinem Baby?«

»Es wird alles gut, Carry«, hörte er sich mit fremder Stimme sagen, »es wird alles gut, mein Liebes.« Hatte er es wirklich gesagt? Wie konnte er es sagen? Wie konnte es wieder gut werden?

Aber Carolin schwieg, und ihre Augen blieben geschlossen. Hatte er ihre vernehmen gemeint, weil er Angst vor dieser Frage hatte? Weil es ihm nicht aus dem Sinn ging, daß es ihre erste Frage sein würde, wie es ihm auch nicht aus dem Sinn gehen konnte, daß es nicht ungeschehen gemacht werden konnte.

Wenn er doch ein Kind herbeizaubern könnte, irgendein Kind, das er ihr in den Arm legen konnte. Aber nein, seine Mutter würde diese Täuschung niemals mitmachen, und dann würde alles noch schlimmer.

Dann kam der Arzt. Es war der Oberarzt, ein noch junger Mann. Mitfühlend sah er Dirk an.

»Es geht schon etwas besser, Herr Heymann. Ich denke, Ihre Frau wird gegen Abend ansprechbar sein.«

»Ansprechbar?« wiederholte Dirk tonlos. »Sie wird es nie begreifen, gar nicht begreifen wollen. Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll.«

»Ich kann Sie verstehen, sehr gut verstehen. Wir haben unser erstes Kind auch verloren, Herr Heymann, aber die Zeit heilt auch solche Wunden.«

»Ich muß jetzt wieder in die Schule«, sagte Dirk tonlos.

Und als er ging, traf er seinen Vater. Michael Heymann stand da, bewegungslos und grau im Gesicht.

»Sie hat es mir gesagt, es mir ins Gesicht geschleudert«, murmelte er. »Mir ist elend zumute, mein Junge.«

»Was meinst du, wie mir zumute ist, Paps. Ich muß jetzt wieder zum Unterricht.«

»Kann ich etwas für Carry tun oder für dich?« fragte der Ältere.

Dirk schüttelte den Kopf. »Das müssen wir allein schaffen, Paps«, sagte er heiser.

»Wissen Carrys Eltern Bescheid?«

»Nein, sie sind in Japan. Sie haben ja nicht mal gefragt, wann das Kind kommt. Sie leben ihr eigenes Leben, sie haben ihre eigene Religion, Paps. Und ich weiß nicht mehr, an welchen Gott ich noch glauben soll.«

»Sag mir Bescheid, wenn du mich brauchst«, sagte Michael Heymann.

*

Dann, noch an diesem Tag, wurde Dirk daran erinnert, daß das Kind bestattet werden mußte, das Kind, das nie außerhalb des Mutterleibes gelebt hatte. Und er erfuhr auch erst jetzt, daß es ein Mädchen gewesen war.

Auch diese Formalitäten mußten erledigt werden. Dirk meinte, sein Kopf würde zerspringen, als er dann wieder in der Klinik war.

Diesmal wurde er zum Chefarzt geführt. »Wir mußten es Ihrer Frau sagen, Herr Heymann. Sie hat immer wieder nach dem Kind gefragt.«

»Und?« fragte Dirk tonlos.

»Sie sagt nichts, gar nichts. Wir haben sie in die chirurgische Abteilung verlegt, damit sie das Weinen der Säuglinge nicht hört.«

Carolin weinte nicht, als er zu ihr ging. Sie hatte ihre Hände unter der Bettdecke versteckt und sah ihn nicht an.

»Mir tut es doch auch weh, Carry«, flüsterte er.

»Laßt mich doch in Ruh!« stieß sie hervor. »Ich will niemanden sehen. Geh zu deiner Mutter, die mir mit ihrem Geschwafel auf die Nerven fällt.«

»Sie war schon hier?«

»Du hattest ja keine Zeit und keinen Mut, es mir zu sagen.«

»Ich mußte einiges erledigen, Carry«, murmelte er hilflos.

Sie drehte ihr Gesicht zur Wand. »Geh«, sagte sie wieder.

»Ich liebe dich doch, Carry«, flüsterte Dirk. »Laß dir helfen. Ich bin daran doch nicht schuld.«

Sie begann jammervoll zu schluchzen. »Ihr könnt das doch nicht verstehen, niemand kann das. Mein Baby, wie sehr habe ich es geliebt!«

Dr. Wilhelm trat ein. Er hatte die Injektion schon in der Hand. Er warf Dirk einen bezeichnenden Blick zu, und er trat vom Bett zurück.

Dirk wartete dann draußen auf dem Korridor auf ihn. »Sie werden viel Verständnis für Ihre Frau aufbringen müssen«, sagte Dr. Wilhelm.

Sie will es doch nicht, dachte Dirk. Ich durfte nicht mal ihre Hand nehmen.

Daheim wartete seine Mutter.

»Hast du es nicht erwarten können, auf Carry einzuschwatzen?« stieß er zwischen den blassen Lippen hervor. »Was hättest du denn getan, wenn dir das passiert wäre?«

Sie wich zurück.

»Ich habe es doch nur gut gemeint«, sagte sie klagend.

Er ging an ihr vorbei und schlug die Wohnungstür hinter sich zu und starrte auf den Kalender. In vierzehn Tagen beginnen die Ferien, ging es ihm durch den Sinn. Dann werde ich mit Carry wegfahren. Wir werden die ­Loire-

Schlösser besuchen, das hat sie sich doch schon lange gewünscht. Aber er wußte schon, daß ihr dies auch nicht helfen würde.

*

Die Tage bis zu den Ferien waren zur Ewigkeit geworden und einer so schwer wie der andere. An eine Reise war nicht zu denken. Carolin wollte davon auch nichts wissen.

Dünn wie ein Strich war sie, als Dirk sie nach achtzehn Tagen aus der Klinik holte.

»Bitte, verliere keine Worte mehr«, sagte sie, und dann war wieder großes Schweigen. Die Tür des Kinderzimmers blieb geschlossen, und Dirk hatte das Gefühl, daß sie nie mehr geöffnet würde. Eine Mauer hatte sich zwischen ihnen aufgerichtet, die unüberwindlich schien.