Dr. Norden Bestseller 172 – Arztroman - Patricia Vandenberg - E-Book

Dr. Norden Bestseller 172 – Arztroman E-Book

Patricia Vandenberg

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Beschreibung

Dr. Norden ist die erfolgreichste Arztromanserie Deutschlands, und das schon seit Jahrzehnten. Mehr als 1.000 Romane wurden bereits geschrieben. Deutlich über 200 Millionen Exemplare verkauft! Die Serie von Patricia Vandenberg befindet sich inzwischen in der zweiten Autoren- und auch Arztgeneration. Patricia Vandenberg ist die Begründerin von "Dr. Norden", der erfolgreichsten Arztromanserie deutscher Sprache, von "Dr. Laurin", "Sophienlust" und "Im Sonnenwinkel". Sie hat allein im Martin Kelter Verlag fast 1.300 Romane veröffentlicht, Hunderte Millionen Exemplare wurden bereits verkauft. In allen Romangenres ist sie zu Hause, ob es um Arzt, Adel, Familie oder auch Romantic Thriller geht. Ihre breitgefächerten, virtuosen Einfälle begeistern ihre Leser. Geniales Einfühlungsvermögen, der Blick in die Herzen der Menschen zeichnet Patricia Vandenberg aus. Sie kennt die Sorgen und Sehnsüchte ihrer Leser und beeindruckt immer wieder mit ihrer unnachahmlichen Erzählweise. Ohne ihre Pionierarbeit wäre der Roman nicht das geworden, was er heute ist. Schwester Henrike verabschiedete sich von Dr. Jenny Behnisch, da sie nun endlich mal einen wohlverdienten Urlaub antreten sollte. »Passen Sie nur gut auf sich auf, Henrike«, sagte die Ärztin, »und auch auf den Geldbeutel.« »Ich fahre doch zu meiner Freundin«, erwiderte die hübsche Henrike. »Allein wäre es mir schon ein bißchen bange und auch zu langweilig. Und verloren gehen werde ich schon nicht. Bis Ventimiglia habe ich einen durchgehenden Zug, und dort werde ich abgeholt.« Aber ein bißchen aufgeregt war sie doch, denn es war ihre erste weite Reise, und sie war gerade einundzwanzig Jahre geworden. »Und wenn Sie faul am Strand in der Sonne liegen, denken Sie mal an uns und schreiben eine Karte«, sagte Jenny Behnisch lächelnd. »Erholen Sie sich gut, Henrike. Wir werden Sie vermissen.« Das Mädchen errötete. »Ich komme ja gern zurück, Frau Doktor.« Henrike gehörte zu jenen jungen Menschen, die keine schöne Kindheit und Jugend hatten. Ihre Eltern hatten sich scheiden lassen, als sie sechs Jahre alt war, ihre Mutter hatte das Sorgerecht bekommen und lebte mit einem anderen Mann zusammen. Der Vater war ausgewandert und hatte nichts mehr von sich hören lassen. Zeitweise hatte Henrike bei der Großmutter gelebt, und die hatte es auch ermöglicht, daß sie sich zur Krankenschwester hatte ausbilden lassen können, während die Mutter es lieber gesehen hätte, wenn sie als Bedienung in dem Restaurant ihres Partners gearbeitet hätte. Aber das wäre für Henrike nun gewiß nicht das Richtige gewesen. Sie war überglücklich, als sie die Stellung in der Behnisch-Klinik bekam, ein hübsches Appartement im Schwesternhaus und

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Dr. Norden Bestseller – 172 –

Sag mir, wer ich bin

Patricia Vandenberg

Schwester Henrike verabschiedete sich von Dr. Jenny Behnisch, da sie nun endlich mal einen wohlverdienten Urlaub antreten sollte.

»Passen Sie nur gut auf sich auf, Henrike«, sagte die Ärztin, »und auch auf den Geldbeutel.«

»Ich fahre doch zu meiner Freundin«, erwiderte die hübsche Henrike. »Allein wäre es mir schon ein bißchen bange und auch zu langweilig. Und verloren gehen werde ich schon nicht. Bis Ventimiglia habe ich einen durchgehenden Zug, und dort werde ich abgeholt.«

Aber ein bißchen aufgeregt war sie doch, denn es war ihre erste weite Reise, und sie war gerade einundzwanzig Jahre geworden.

»Und wenn Sie faul am Strand in der Sonne liegen, denken Sie mal an uns und schreiben eine Karte«, sagte Jenny Behnisch lächelnd. »Erholen Sie sich gut, Henrike. Wir werden Sie vermissen.«

Das Mädchen errötete. »Ich komme ja gern zurück, Frau Doktor.«

Henrike gehörte zu jenen jungen Menschen, die keine schöne Kindheit und Jugend hatten. Ihre Eltern hatten sich scheiden lassen, als sie sechs Jahre alt war, ihre Mutter hatte das Sorgerecht bekommen und lebte mit einem anderen Mann zusammen. Der Vater war ausgewandert und hatte nichts mehr von sich hören lassen. Zeitweise hatte Henrike bei der Großmutter gelebt, und die hatte es auch ermöglicht, daß sie sich zur Krankenschwester hatte ausbilden lassen können, während die Mutter es lieber gesehen hätte, wenn sie als Bedienung in dem Restaurant ihres Partners gearbeitet hätte. Aber das wäre für Henrike nun gewiß nicht das Richtige gewesen. Sie war überglücklich, als sie die Stellung in der Behnisch-Klinik bekam, ein hübsches Appartement im Schwesternhaus und nette Kolleginnen, die ihr den Anfang leichtmachten.

Henrike war fleißig und immer zur Stelle, wenn sie auch während ihrer Freizeit mal gebraucht wurde. So mancher männliche Patient hätte gern mit ihr angebandelt, aber dafür war sie nun überhaupt nicht zu haben.

Sie ging ganz selten mal aus, und dann höchstens zu einer kulturellen Veranstaltung, und in ihrer Freizeit tat sie alles, um sich weiterzubilden, um das nachzuholen, was man ihr bisher versagt hatte. Sie verdiente gut. Sie kaufte sich Bücher und Zeitschriften, ab und zu auch etwas Hübsches zum Anziehen, und für die Reise hatte sie sich einen neuen Koffer gekauft.

Den packte sie jetzt, und Schwester Ursula, mit der sie sich sehr gut verstand, schaute ihr zu. Ulli, wie sie gerufen wurde, war zwei Jahre älter als Henrike und schon um einiges erfahrener, denn sie hatte bereits eine mißglückte Verlobung hinter sich.

»Mach es bloß nicht wie ich, Ricky«, sagte sie warnend. »Verlieb dich nicht in einen Urlaubsflirt. Ich habe dir ja erzählt, wie es mir ergangen ist. Erst himmelhochjauchzend, dann zu Tode betrübt. Der Kerl hat mich um meine ganzen Ersparnisse gebracht.«

»Ich habe ja noch keine«, sagte Henrike lächelnd, »und außerdem bin ich zu Gast bei Nadjas Eltern. Sie sind sehr großzügig, aber auch sehr vornehm. Ich könnte mir solchen Urlaub doch gar nicht leisten. Sie haben mir sogar eine Fahrkarte Erster Klasse geschickt und einen Platz reservieren lassen.«

»Ich hätte auch gern eine Freundin, deren Eltern stinkreich sind«, sagte Ulli. »Wie bist du eigentlich dazu gekommen?«

»Ganz zufällig. Ich war Lernschwester in so einem kleinen Provinzkrankenhaus. Die Schönfelds hatten einen Autounfall, bei dem Nadja schwer verletzt wurde, am schwersten von allen. Sie hatte sehr viel Blut verloren, und zufällig war ich die einzige, die die gleiche Blutgruppe hatte, weil eine Konserve so schnell nicht herbeigeschafft werden konnte. Damit wurde sie gerettet.«

»Mit deinem Blut«, sagte Ulli andächtig.

»Ja, und dann hat Nadja auch gesagt, daß wir jetzt Blutsschwestern wären. Aber für sie ist es dennoch schlimm, weil sie seither nur mit Krücken gehen kann.«

»Wie ich dich kenne, hättest du ihr auch noch deine heilen Knochen gegeben, wenn das möglich gewesen wäre«, sagte Ulli.

»Vielleicht kann man ihr doch helfen«, sagte Henrike leise. »Ich habe mit Dr. Behnisch darüber gesprochen und werde das auch mit ihren Eltern tun. Aber Nadja hat Angst, daß es eher noch schlimmer werden könnte. Na, ich werde ihr schon Mut machen.«

»Und ich werde dich mächtig vermissen, Ricky, aber ich gönne es dir, daß du es mal schön hast. Du bist ein prima Mädchen, fast eine kleine Heilige.«

»Nun übertreib aber nicht«, widersprach Henrike errötend. »Ich bin nur dankbar, weil es mir jetzt so gut geht.«

*

Am nächsten Morgen war Henrike früh am Bahnhof. Sie hatte vor Aufregung kaum geschlafen.

Der Zug stand noch gar nicht bereit, als sie ihren Koffer bis zum Bahnsteig geschleppt hatte. Das war ganz schön anstrengend gewesen. Sich einen Kofferkuli zu nehmen, daran hatte sie gar nicht gedacht.

Obgleich der Morgen recht kühl war, war es ihr jetzt heiß geworden. Ihr blondes Haar kräuselte sich feucht über der Stirn. Sie knöpfte den dunkelblauen Trenchcoat auf, in dem sie wie ein Schulmädchen wirkte, aber da merkte sie gleich, daß der Wind recht kalt war. Schnell knöpfte sie ihn wieder zu und schlug den Mantelkragen hoch. Sie wollte keinesfalls erkältet nach Antibes kommen, denn sie wußte ja, wie anfällig Nadja für Infektionskrankheiten war.

Langweilig wurde ihr das Warten auf dem Bahnsteig nicht. Sie konnte die Menschen beobachten, und das tat sie gern. In ihrer Tasche befand sich ein Buch über Menschenkunde.

»Wenn jemand eine Reise tut, dann kann er was erleben«, hatte Dr. Behnisch scherzhaft zum Abschied gesagt, »und es ist immer gut, wenn man seine Nase in ein Buch stecken kann, um dummem Geschwätz aus dem Weg zu gehen.«

Henrike hatte sich ein paar Bücher mitgenommen, für die sie noch keine Zeit gefunden hatte.

Auf einem Bahnsteig aber konnte man Studien an Menschen machen. Da kam eine Dame im kostbaren Nerz, die einen Gepäckträger zu einem Zug dirigierte, der nach Norden fuhr. Sie hielt nervös nach jemandem Ausschau. Endlich schien sie diesen Jemand entdeckt zu haben. Er kam eilends daher, wirkte fahrig und gereizt.

»Ich kann nicht mitkommen, das mußt du einsehen«, hörte Henrike ihn sagen. »Du mußt Geduld haben, Liebling.«

»Ich hatte lange genug Geduld. Wenn du dich nicht scheiden läßt, ist es aus, merk dir das, und nun geh mir aus der Augen«, erwiderte die Dame zornig.

Du liebe Güte, so was gibt es auch, dachte Henrike. Ich werde noch viel lernen müssen.

Für die Kranken hatte sie immer Mitgefühl und Verständnis aufgebracht, auch wenn es da mal Unstimmigkeiten mit den Partnern gab, aber wenn Menschen anscheinend alles hatten, konnte sie es nicht verstehen, daß sie undankbar waren und noch mehr haben wollten. Sie sah, wie der Mann der Dame ein Bündel Geldscheine in die Handtasche steckte, und plötzlich schämte sie sich für diese fremde Frau, weil sie nun lächelte und dem Mann einen Kuß auf die Wange drückte.

Aber dann kam ein junges Paar mit einem kleinen Jungen. Henrike liebte Kinder, und das war ein besonders reizendes Kind.

»Papi nicht wegfahren, bei Kiki bleiben«, schluchzte der Kleine. »Omi kann doch kommen.«

»Du mußt es ihm erklären, daß Omi nie mehr kommen kann, Susi«, sagte der Mann traurig.

»Aber wie, Jo?« fragte die junge Frau, der man ansah, daß sie geweint hatte. »Ich wäre so gern mitgekommen.«

»Das wäre zu aufregend für Kiki«, murmelte er. »Geht jetzt lieber. Sei brav, Kiki, ärgere Mami nicht.«

»Will aber mit«, jammerte der Kleine. »Will zu Omi.«

Henrike hatte begriffen. Die Omi war gestorben. Sie zog fröstelnd die Schultern zusammen. Es war bisher auch ihr größter Schmerz gewesen, als sie am Grab ihrer Großmutter gestanden hatte, da diese der einzige Mensch gewesen war, den sie wirklich geliebt und von dem sie Liebe empfangen hatte.

Aber dieser kleine Junge hatte liebevolle Eltern. Er würde seinen Schmerz vergessen.

Nun fuhr ihr Zug ein. Sie suchte ihr Abteil. Und dann staunte sie. So bequem konnte sie fahren, in weichen Polstern, mit Fußstützen. Es fiel ihr nur ein bißchen schwer, ihren Koffer in das Gepäcknetz zu bugsieren, denn sie war von recht zierlicher Gestalt.

Sie war froh, daß ihr niemand zusehen konnte, wie sie sich abmühte, wie ihr das Blut in den Kopf stieg vor lauter Anstrengung. Aber sie blieb noch eine ganze Weile allein und konnte sich verschnaufen.

Dann kam ein älteres Paar. Von einer schmuckbehängten, üppigen Frau wurde Henrike mürrisch, von dem dazugehörenden Mann wohlwollend gemustert.

»Du hättest die Platzkarten früher bestellen sollen, Hubert«, nörgelte die Frau. »Ich sitze nicht gern am Gang.«

»Mach doch nicht gleich wieder Theater, Gretchen, wir fahren doch nicht weit, und du hast dich erst in letzter Minute für diesen Zug entschieden.«

»Du sollst nicht immer Gretchen zu mir sagen«, fuhr sie ihn an. Er ließ sich stöhnend nieder. Henrike nahm schnell ihr Buch aus der Tasche und vertiefte sich darin.

»Menschenkunde für jedermann«, lautete der Titel. Aber sie konnte sich noch nicht konzentrieren.

Auf den letzten Drücker kam dann ein junger Mann ins Abteil gestürzt, der in den anderen Fensterplatz niedersank, was die üppige Dame wiederum mürrisch zur Kenntnis nahm. Henrike hatte nur kurz aufgeblickt, weil er über ihre Fußstütze gestolpert war und sich höflich entschuldigte.

»Macht doch nichts«, sagte sie nur.

Auf der nächsten Station wurden auch die Mittelplätze besetzt. Ein dicker Mann, der asthmatisch keuchte, machte sich neben Henrike breit. Sie drückte sich enger in die Ecke und nahm wieder ihr Buch vor das Gesicht.

Dann kam der Kontrolleur, und eine Hosteß, die ihm folgte, fragte, wann die Herrschaften zu speisen wünschten.

Henrike wünschte gar nicht zu speisen. Sie hätte auch gar nicht gewußt, wie sie sich im Speisewagen zu bewegen hätte. Sie hatte ihren Reiseproviant in der Tasche, ein paar Wurstbrote und Obst und eine Tafel Schokolade.

Eine Weile schaute sie zum Fenster hinaus, aber das Rattern des Zuges machte sie müde. Da sie in der Nacht kaum geschlafen hatte, schlief sie nun rasch ein. Sie merkte nicht, wann die Mitreisenden zum Speisewagen gingen, auch nicht, daß der junge Mann ihr gegenüber das Buch aufhob, das ihren Händen entglitten war. Sie sah nicht, daß er dieses sehr erstaunt betrachtete, und dann sogar darin las.

Sie wachte erst an der Grenze auf und da war sie mit diesem jungen Mann allein im Abteil.

Noch schlaftrunken, blickte sie sich um. »Liebe Güte, sind wir schon da?« fragte sie. Der junge Mann lächelte.

»Grenzkontrolle, gnädiges Fräulein«, erwiderte er, »unsere reizenden Mitreisenden sind bereits ausgestiegen.«

»Wir hatten doch schon eine Kontrolle«, sagte sie.

»Die zur Schweiz. Jetzt kommt die nach Italien.«

»Ich fahre zum ersten Mal in diesem Zug«, sagte Henrike verlegen.

»Ich auch«, erwiderte er seufzend. »Ihr Ziel ist auch Ventimiglia?«

»Cap Antibes«, erwiderte sie geistesabwesend. »Aber ich werde in Ventimiglia abgeholt.«

»Sie sind Studentin?« fragte er. Aber dann kamen die Zollbeamten. Die Pässe wurden aufmerksam betrachtet, aber dann ließen sie sich nur die Reisetasche des jungen Mannes zeigen.

»Das ist Ihr Gepäck?« wurde Henrike gefragt, mit einem Blick zum Gepäcknetz.

Sie nickte zustimmend, aber erst später wurde ihr bewußt, daß neben ihrem Koffer noch ein anderer lag.

»Ist das Ihr Koffer?« fragte sie den Fremden bestürzt.

»Nein, nicht direkt, ich habe ihn nur für einen Freund mitgenommen, aber Sie brauchen nicht zu erschrecken, es ist bestimmt nichts drin, was verzollt werden müßte.«

»Ich habe mir die Kontrollen viel schlimmer vorgestellt«, sagte Henrike.

»Sie sehen eben sehr anständig aus«, stellte er lächelnd fest. »Darf ich Sie jetzt zum Kaffee oder Tee in den Speisewagen bitten, oder haben Sie gar keinen Hunger und Durst?«

»O doch, plötzlich schon, aber ich habe etwas zu essen dabei.«

»Zu trinken auch?« fragte er.

»Nein.« Sie errötete. »Ich bin übrigens keine Studentin, sondern Krankenschwester. Und diese Reise mache ich auf eine Einladung.«

»Dann geht es uns ja ähnlich«, stellte er lächelnd fest, aber ihr schien das Lächeln erzwungen. Sie befaßte sich ja mit Menschenkunde.

»Gehen wir?« fragte er.

»Aber wer paßt auf das Gepäck auf?« fragte Henrike ängstlich.

»Jetzt kann doch nichts mehr passieren. Der Zug hält erst in zwei Stunden wieder.«

Der Speisewagen war schnell erreicht. Henrike war wieder aufgeregt. Nun lernte sie auch das kennen, und es machte ihr Spaß. Es saßen nur ein paar Leute im Speisewagen. Es gab auch nur Kaffee oder Tee, Wasser oder alkoholische Getränke. Gebäck oder eine kalte Platte und diverse Salate wurden angeboten.

»Die Salate können wir uns schenken, da wird einem nur schlecht«, sagte der junge Mann. Henrike bestellte Kaffee und Apfelkuchen, und zum ersten Mal in ihrem jungen Leben fühlte sie sich richtig erwachsen.

Er bestellte sich die kalte Platte und Tee. Henrike blickte auf seine Hände. Sie waren schmal und sehr gepflegt, Hände, die bestimmt noch keine schwere Arbeit geleistet hatten.

»Ich heiße Christoph und Sie?« sagte er.

»Henrike.«

Mit einem nachdenklichen Ausdruck betrachtete er sie. »Und Sie lesen gescheite Bücher«, stellte er fest. »Sind Sie wirklich nur Krankenschwester?«

Das »nur« störte Henriette, und sie erinnerte sich all der Warnungen, die man ihr mit auf den Weg gegeben hatte. Dieser Christoph war ein gutaussehender junger Mann, sehr gut gekleidet, sehr gepflegt.

»Ich bin Krankenschwester«, sagte sie mit fester Stimme, »darf ich nach Ihrem Beruf fragen?«

Sie fand sich sehr mutig, aber plötzlich war sie auch wieder sehr vorsichtig geworden, obgleich er ihr nicht unsympathisch war.

»Raten Sie doch mal«, sagte er leichthin.

Henrike blickte wieder auf seine Hände. »Künstler?« fragte sie.

»Nicht schlecht«, erwiderte er, aber plötzlich war ein Ausdruck in seinen Augen, der ihr nicht gefiel. »Raten Sie weiter.«

»Soweit bin ich mit meiner Menschenkunde für jedermann noch nicht gediehen«, erwiderte Henrike zurückhaltend.

»Erzählen Sie doch ein bißchen von sich«, sagte er.

»Wozu? Ich bin eine kleine Krankenschwester, die zu einem Urlaub eingeladen ist und nach vierzehn Tagen wieder an die Arbeit geht. Wir werden uns bestimmt nicht wiedersehen.«

»Sie haben Grundsätze«, sagte er.

»Genau«, erwiderte Henrike.

Als sie zum Abteil zurückgingen, wanderte ihr Blick unwillkürlich zum Gepäcknetz. Da lagen die beiden Koffer dicht nebeneinander, und sie fragte sich, warum er seinen nicht über seinen Sitz gelegt hätte. Aber sie fragte ihn nicht danach. Plötzlich verspürte sie ein Gefühl der Angst.

Er blätterte in ihrem Buch.

»Glauben Sie wirklich, daß man aus gewissen Äußerlichkeiten auf den Charakter eines Menschen schließen kann?« fragte er.

»Doch, daran glaube ich. Man muß nur auch entsprechende Erfahrungen sammeln.«

Da er darauf bedacht schien, das Gespräch nicht abreißen lassen zu wollen, war sie bemüht, dieses in sachliche Bahnen zu lenken, und das hatte sie im Umgang mit Patienten schon gelernt. Sie sagte aber nicht, daß sie sich einige Besonderheiten merkte, die sie an ihm feststellte. Und als der Zug Ventimiglia erreichte, hatte er es plötzlich sehr eilig.

»Schade, daß wir uns nicht näher kennenlernen konnten, Henrike, aber ich werde jetzt einige Jahre im Ausland leben, und da soll man sich keinen Träumen hingeben.«

»Ich wünsche Ihnen viel Erfolg«, sagte sie mit einem Anflug von Spott. »Würden Sie mir bitte etwas behilflich sein, meinen Koffer herabzuheben?«

»Verzeihung, ich bin unhöflich«, stotterte er. Er hob den Koffer herab und machte eine kleine Verbeugung.

»Schade«, sagte er, sie noch mit einem Blick umfassend.

Wohl bedauerlich, daß ich nur eine Krankenschwester bin, schoß es Henrike durch den Sinn. Nur keine Angst, Ulli, so schnell falle ich nicht auf einen Mann herein.

Und dann sah sie Herbert Schönfeld, Nadjas Vater. Er winkte ihr schon zu, und er war nicht zu übersehen in seiner imponierenden Erscheinung.

»Herzlich willkommen, Ricky«, sagte er warm. »War es eine gute Reise?«

»Sehr komfortabel. Ich kam mir wie eine Prinzessin vor. Wie geht es Nadja?«

»Sie wartet im Wagen«, erwiderte er. »Sie kann es kaum erwarten, ihre Ricky wiederzusehen.«

Und dann gab es Tränen der Freude bei beiden. Nadja, durchsichtig zart, ließ Henrikes Hände gar nicht mehr los.

»Ich bin ja so glücklich, daß du gekommen bist, Blutsschwester«, flüsterte sie.

Der Wagen glitt schon lautlos dahin und ohne Stop über die italienische Grenze nach Frankreich hinüber, an der Küste entlang nach Cap Antibes. Vor einem wunderschönen Haus wurden sie von Irene Schönfeld empfangen.

»Jetzt wird es unserer Kleinen wieder besser gehen«, sagte sie herzlich, »und du hast dir auch einen Urlaub verdient, Ricky. Vielleicht können wir es dir schmackhaft machen, daß du doch immer bei uns bleibst.«

»Vielleicht kann ich Ihnen etwas anderes schmackhaft machen«, erwiderte Henrike mit einer Selbstsicherheit, über die sie selbst nur staunen konnte.

»Was meinst du, Ricky?« fragte Nadja.

»Darüber werden wir in allen Einzelheiten sprechen. Dr. Behnisch, mit dem ich lange gesprochen habe, ist nämlich der Meinung, daß dir nach den neuesten Erkenntnissen durch eine Operation geholfen werden kann. Nun schüttele nicht gleich wieder den Kopf, Nadja, ich werde dir alles ganz genau erklären.«

»Uns aber auch, Ricky«, sagte Irene Schönfeld.

*

Ein wunderschönes Zimmer wartete auf Henrike, mit Blick zum Meer, mit einer Verbindungstür zu Nadjas Zimmer. Eine geräumige Sonnenterrasse breitete sich vor diesen Räumen aus.

»Hier können wir auch abends noch sitzen, Ricky«, sagte Nadja. »Die Nächte sind schon herrlich warm.«