Dr. Norden Bestseller 173 – Arztroman - Patricia Vandenberg - E-Book

Dr. Norden Bestseller 173 – Arztroman E-Book

Patricia Vandenberg

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Beschreibung

Dr. Norden ist die erfolgreichste Arztromanserie Deutschlands, und das schon seit Jahrzehnten. Mehr als 1.000 Romane wurden bereits geschrieben. Deutlich über 200 Millionen Exemplare verkauft! Die Serie von Patricia Vandenberg befindet sich inzwischen in der zweiten Autoren- und auch Arztgeneration. Patricia Vandenberg ist die Begründerin von "Dr. Norden", der erfolgreichsten Arztromanserie deutscher Sprache, von "Dr. Laurin", "Sophienlust" und "Im Sonnenwinkel". Sie hat allein im Martin Kelter Verlag fast 1.300 Romane veröffentlicht, Hunderte Millionen Exemplare wurden bereits verkauft. In allen Romangenres ist sie zu Hause, ob es um Arzt, Adel, Familie oder auch Romantic Thriller geht. Ihre breitgefächerten, virtuosen Einfälle begeistern ihre Leser. Geniales Einfühlungsvermögen, der Blick in die Herzen der Menschen zeichnet Patricia Vandenberg aus. Sie kennt die Sorgen und Sehnsüchte ihrer Leser und beeindruckt immer wieder mit ihrer unnachahmlichen Erzählweise. Ohne ihre Pionierarbeit wäre der Roman nicht das geworden, was er heute ist. »Jessi…«, flüsterte die Kranke kaum vernehmbar. »Ich bin da, Mutti, ich bin ja da!« Jessica konnte nur mühsam die Tränen zurückhalten. Sie wußte, daß sie ihre Mutti verlieren würde. »Die Papiere, alles, Kommode am Speicher. Nicht traurig sein – mein Kind – mein Liebstes...« Und dann folgte nur noch ein schwerer Seufzer. Jessica Stavenow wußte, daß ihre geliebte Mutti nicht mehr erwachen würde. Heiße Tränen rollten über ihre Wangen, als sie die wächsernen Hände streichelte. Lange saß sie noch so da, bis der Moment kam, da dies liebevolle Mutterherz seinen letzten Schlag tat. »Liebste Mutti«, schluchzte Jessica, als Dr. Behnisch eintrat, »ich wollte doch jetzt so gern für dich sorgen.« Dr. Dieter Behnisch blieb noch an der Tür stehen. Ein cleveres Mädchen, so hatten sie Jessica eingeschätzt, kühl bis in die Fingerspitzen, so ganz geschaffen für den Beruf der Reporterin. Doch jetzt war sie nur ein verzweifeltes Mädchen, das ihre Mutter verloren hatte, den einzigen Menschen, der ihrem Herzen nahestand. Als Dr. Behnisch tröstend seine Hand auf ihre Schulter legte, fuhr sie sich rasch mit dem Taschentuch über die Augen. Jäh wirkte ihr Gesicht wie versteinert. »Ich weiß, daß Sie alles Menschenmögliche getan haben«, sagte sie tonlos. »Es ist gut, daß meine Mutter nicht lange leiden mußte. Ich muß wohl nun tun, was noch zu tun bleibt.« »Wir hätten so gern mehr getan«, sagte er leise. »Ich weiß, aber Ärzte sind eben auch nur Menschen, und wenn ich an etwas glaube, dann daran, daß uns die Stunde unseres Todes schon bei der Geburt bestimmt ist.« »Sie mögen recht haben, Fräulein

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Dr. Norden Bestseller – 173 –

Auf der Suche nach der Wahrheit

Patricia Vandenberg

»Jessi…«, flüsterte die Kranke kaum vernehmbar.

»Ich bin da, Mutti, ich bin ja da!« Jessica konnte nur mühsam die Tränen zurückhalten. Sie wußte, daß sie ihre Mutti verlieren würde.

»Die Papiere, alles, Kommode am Speicher. Nicht traurig sein – mein Kind – mein Liebstes...« Und dann folgte nur noch ein schwerer Seufzer.

Jessica Stavenow wußte, daß ihre geliebte Mutti nicht mehr erwachen würde. Heiße Tränen rollten über ihre Wangen, als sie die wächsernen Hände streichelte. Lange saß sie noch so da, bis der Moment kam, da dies liebevolle Mutterherz seinen letzten Schlag tat.

»Liebste Mutti«, schluchzte Jessica, als Dr. Behnisch eintrat, »ich wollte doch jetzt so gern für dich sorgen.«

Dr. Dieter Behnisch blieb noch an der Tür stehen. Ein cleveres Mädchen, so hatten sie Jessica eingeschätzt, kühl bis in die Fingerspitzen, so ganz geschaffen für den Beruf der Reporterin. Doch jetzt war sie nur ein verzweifeltes Mädchen, das ihre Mutter verloren hatte, den einzigen Menschen, der ihrem Herzen nahestand.

Als Dr. Behnisch tröstend seine Hand auf ihre Schulter legte, fuhr sie sich rasch mit dem Taschentuch über die Augen. Jäh wirkte ihr Gesicht wie versteinert.

»Ich weiß, daß Sie alles Menschenmögliche getan haben«, sagte sie tonlos. »Es ist gut, daß meine Mutter nicht lange leiden mußte. Ich muß wohl nun tun, was noch zu tun bleibt.«

»Wir hätten so gern mehr getan«, sagte er leise.

»Ich weiß, aber Ärzte sind eben auch nur Menschen, und wenn ich an etwas glaube, dann daran, daß uns die Stunde unseres Todes schon bei der Geburt bestimmt ist.«

»Sie mögen recht haben, Fräulein Stavenow«, sagte Dr. Behnisch.

»Aber sagen Sie nicht, daß es Got-tes Wille ist. Wie könnte es sonst sein, daß manche alles bekommen und alles behalten und anderen auch das Letzte genommen wird!«

Er konnte und wollte darauf nichts sagen. Sie wandte sich ab und streichelte noch einmal die Hände, die nun ineinander verschlungen auf der Bettdecke lagen.

»Adieu, liebe Mutti«, sagte sie leise, »du hast an Gott geglaubt und auf ihn vertraut.«

Dann ging sie schnell hinaus, schaute nicht rechts noch links und eilte zu ihrem Wagen.

»Reiß dich zusammen, Jessica«, sagte sie vor sich hin. »Es ist nichts mehr zu ändern. Das Haus wird leer sein. Nie mehr wird sie zurückkehren.«

Und wieder stiegen ihr heiße Tränen in die Augen. Und erst viel später sollten ihr die letzten Worte ihrer Mutter in die Erinnerung kommen.

*

Das kleine Haus lag am Rande des Vorortes, dort, wo Wiesen und Felder noch verrieten, daß vor gar nicht langer Zeit die städtischen Bauten noch weit entfernt lagen. Wie oft waren ihnen schon immense Summen geboten worden für diese dreitausend Quadratmeter, in die das Häuschen gebettet war.

Nun stand Jessica davor und ließ ihren Blick zum Himmel schweifen. »Sie bekommen es nie, Mutti, ich schwöre es dir«, sagte sie. »Es bleibt alles, wie es ist.«

Ein scharfer Ostwind wehte und rüttelte an den Fensterläden, aber drinnen war es warm und gemütlich. Und doch war mit diesem Tage alles anders geworden für Jessica. Alle Hoffnung, an die sie sich geklammert hatte, war vernichtet.

Dreiundzwanzig Jahre jung war sie, und nie hatte ihr ein Mensch nähergestanden als ihre Mutti. Den Vater hatte sie nicht gekannt. Robert Stavenow war schon zwei Monate, bevor sie geboren wurde, bei einer Explosion ums Leben gekommen. Jung verheiratet waren sie gewesen, und nun nach dreiundzwanzig Jahren sollte Hedi Stavenow ihre letzte Ruhe im Grab ihres Mannes finden.

Das Grab hatten sie oft besucht, und Jessica erinnerte sich noch gut daran, daß sie als Kind manchmal gesagt hatte, daß sie ihren Vati wenigstens gern einmal gesehen hätte.

»Ich bin froh, daß ich dich bekommen habe und behalten durfte«, hatte ihre Mutti dann gesagt.

Nie hatte sie einem anderen Mann Beachtung geschenkt, nie hatte es einen Streit zwischen Mutter und Tochter gegeben. So kühl und distanziert Jessica anderen Menschen gegenüber war, so liebevoll und zärtlich war sie zu ihrer Mutti. Und nun hatte sie, erst fünfundvierzig Jahre, sterben müssen. Diagnose: Leukämie. Diese schleichende, so schwer erkennbare Krankheit, gegen die es noch kein Mittel gab, hatte sie weggerafft aus diesem harmonischen Zusammenleben.

Nun, da sie allein war, ließ Jessica ihren Tränen freien Lauf, bis das Läuten des Telefons sie aufschreckte und auch daran erinnerte, daß es für sie noch manches zu tun gab.

Björn Hauswald, der Polizeireporter, war am Telefon. In Eile wie immer.

»Ich bräuchte ein paar Auskünfte, Jessica«, sagte er hastig. »In der feinen Gesellschaft weißt du doch besser Bescheid als ich.«

»Tut mir leid, Björn, ich kann dir augenblicklich nicht helfen«, erwiderte sie. »Meine Mutter ist heute gestorben.«

Ein schneller Atemzug, dann sagte er stockend: »Oh, das tut mir entsetzlich leid, Jessi, wirklich. Ich kann es nicht fassen. Warum hast du nicht wenigstens angedeutet…«

»Reden wir jetzt nicht davon«, fiel sie ihm ins Wort.

»Kann ich dir irgendwie helfen«, fragte er zögernd. »Etwas für dich erledigen, dich wohin fahren?«

»Du hast doch zu tun«, sagte sie. »Ich schaffe das schon. Aber du könntest in der Redaktion Bescheid sagen, dann bleibt mir das erspart.«

»Okay, Jessi, und wenn etwas ist, du weißt, wo ich zu erreichen bin. Ich weiß, daß es schrecklich für dich sein muß.«

Er meinte es ehrlich. Es waren keine leeren Worte, Jessica fühlte es. Aber helfen konnte es ihr jetzt auch nicht in dieser trostlosen inneren Einsamkeit und Trauer. Sie mußte die Formalitäten regeln.

Und als sie die Papiere zusammensuchte, die sie vorlegen mußte für die Bestattung, fielen ihr die letzten Worte ihrer Mutti ein. Was für Papiere konnte sie denn gemeint haben, die sich auf dem Speicher in der alten Kommode befinden sollten? Alle wichtigen Papiere hatte sie doch bei ihren Akten, denn diese hatte sie für das Studium und auch für ihre Anstellung gebraucht.

Als sie am Steuer saß, schaltete sie alle bedrückenden Gedanken aus und konzentrierte sich nur auf den Verkehr. Sie war von ihrer Mutter zu Verantwortungsbewußtsein erzogen worden. Sie war vorsichtig im Verkehr und auch vorsichtig im Umgang mit Menschen.

Als sie dann im Beerdigungsinstitut den Sarg aussuchen sollte, war es ihr, als schnüre ein eiserner Ring ihre Brust zusammen. Ihr wurde es schwarz vor Augen.

»Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten?« fragte die freundliche Dame mitfühlend.

Jessica nahm sich zusammen. Das hier wollte sie nun so schnell wie möglich hinter sich bringen. Dabei einen Kaffee zu trinken, dieser Gedanke ließ sie erschauern.

Dann stand sie wieder auf der Straße, und alles schien sich um sie zu drehen. Da endlich wurde ihr bewußt, daß sie den ganzen Tag noch keinen Bissen gegessen hatte. Und es war der Duft frischen Brotes, der aus einer nahen Bäckerei kam, und sie daran erinnerte.

Sie kaufte ein paar Brötchen und Frühstückshörnchen, ein Stück Butter und einen Liter Milch. Bei ihrem Wagen angelangt, biß sie gleich in ein knuspriges Brötchen. Er wurde ihr ein bißchen wohler, und während der Heimfahrt aß sie das Brötchen auf.

Während sie den Tee aufbrühte, den sie jetzt zum Aufwärmen brauchte, fiel ihr ein Satz aus dem Zauberberg von Thomas Mann ein. Ich will dem Tod keine Gedanken einräumen, die Liebe ist stärker als er.

Und wieder läutete das Telefon. Es war ihr Chef. Er drückte ihr sein Mitgefühl aus und fragte, wann die Beerdigung stattfände.

Danach rief ihre Kollegin Nanette an.

»Wenn du nicht allein sein willst, Jessi, kannst du gern zu mir kommen, oder ich komme zu dir«, sagte sie herzlich.

Es war gut gemeint, aber Jessica wollte allein sein.

Drei Tage später wurde Hedi Stavenow auf dem Waldfriedhof beerdigt. Mit roten und weißen Rosen war der Sarg bedeckt und viele Kränze waren gebracht worden. Von den Behnischs, von Dr. Norden und seiner Frau, von den Kollegen und Nachbarn, und die waren auch selbst gekommen, selbst Jessicas Chef, Dr. Busse.

Björn Hauswald im schwarzen Anzug und schwarzer Krawatte, so hatte Jessica ihn noch nie gesehen, und er kam ihr merkwürdig erwachsen vor, aber dann kam Fee Norden und ergriff Jessicas beide Hände.

»Wir fühlen mit Ihnen, Jessica«, sagte sie weich. »Kommen Sie zu uns, wenn Ihnen danach zumute ist.«

Aber dann, als alles vorbei war, ging plötzlich Björn neben Jessica zum Ausgang.

»Laß uns noch irgendwo miteinander reden, Jessi«, sagte er leise. »Es ist nicht gut, wenn du jetzt allein bist, ich weiß das. Ich habe doch auch keine Mutter mehr.«

Er hatte nie darüber gesprochen. Sie hatten eigentlich nie über private Dinge miteinander geredet.

»Ich war achtzehn«, fuhr er stockend fort. »Mein Vater hat bald wieder geheiratet, und seither lebe ich allein.«

»Ich mag jetzt nicht unter Menschen sein«, sagte Jessica, »aber du kannst ja mit zu mir kommen, dann trinken wir zusammen Kaffee.«

»Björn wird Jessi schon aufmuntern«, sagte Nanette Bielitz zu Dr. Busse. »Oder wollten Sie das lieber übernehmen?«

»Damit Björn Sie nach Hause fährt?« konterte Dr. Busse ironisch. »Ihr Karren ist doch schon mal wieder in der Reparatur, wie ich hörte.«

»Sagen Sie zu meinem Muckerl nicht Karr’n«, ereiferte sich Nanette. »Außerdem soll man nach einer Beerdigung nicht gleich wieder streiten.«

»Das meine ich auch, aber Sie sind nun mal streitsüchtig, Nanette.«

»Mich hat das mitgenommen«, sagte sie leise. »Jessica hat wahnsinnig an ihrer Mutter gehangen. Sie war ja auch so eine goldige Frau, niemand hat ihr angemerkt, daß sie todkrank ist. Meine Mutter macht um jedes Wehwechen ein Mordstheater.«

»Da können wir uns ja die Hand geben«, seufzte er. »Steigen Sie ein, ich bringe Sie nach Hause.«

»Ich will aber nicht nach Hause. Ich gehe in die Redaktion und mache Überstunden.«

»Na schön, dann machen wir eben beide Überstunden«, sagte er. »Aber vorher werden wir einen Happen essen.«

*

»Was wolltest du neulich von mir wissen, Björn?« fragte Jessica, als sie Tee tranken und belegte Brote aßen. »Es lenkt am besten ab, wenn wir über den Beruf reden.«

Er atmete insgeheim auf, denn traurig genug war auch ihm zumute gewesen, als der Pfarrer gesagt hatte, daß Jessica nun ganz allein dastünde und ehrliche Freunde brauchen würde.

»Es ging um die Öttels«, erwiderte er. »Der Sohn ist in der Haschszene aktiv geworden. Du hast doch mit Frau Öttel schon zu tun gehabt.«

»Du willst doch nicht sagen, daß sie das nicht auch mit Geld vertuscht haben«, sagte Jessica.

»Das konnten sie nicht. Er wurde auf frischer Tat ertappt, als er sich als Dealer betätigte.«

»Ja, vielleicht erwischen sie den Vater auch mal bei einem zwielichtigen Geschäft. Es ist doch kein Wunder, daß der Junge auf die schiefe Bahn gerät, er hat doch die besten Beispiele. Aber diese Großkopfeten machen sich ihre eigenen Gesetze, bis sie sich mal selbst darin fangen.«

»Das müßte man doch aufdecken«, sagte Björn.

Jessica lachte blechern auf. »Da bleiben wir auf der Strecke, Björn, wenn wir nicht stichhaltige Beweise bringen können, und Leute wie Öttel sitzen doch überall drin und haben ihre Verbindungen.«

»Ich werde dennoch nachgrasen.«

Jessica runzelte die Stirn. »Dann wirst du bald mit der sehr hübschen Gudrun Öttel bekannt werden, und wenn du ins Horn bläst, wird sie lauthals kundtun, von dir belästigt worden zu sein. Und ich garantiere dir, daß du nicht beweisen kannst, daß dies nicht der Fall ist, denn in irgendeiner zweideutigen Situation wirst du mit ihr bestimmt abgelichtet worden sein. Rein zufällig natürlich.«

»Du hältst mich doch nicht etwa für so blöd, Jessi?« fragte er bestürzt.

»Ich werde mal mit Busse darüber reden«, sagte Björn.

»Lieber nicht. Er hat sich mit Mühe und Not aus so einer Situation gerettet.«

»Du weißt ziemlich viel, Jessi.«

»Ich plaudere mit vielen Leuten, so ganz nebenbei. Aber es dauert lange, bis man irgendwo einhaken kann, und dann so fest, daß man den Fisch an der Angel hat. Aber beim Angeln muß man sehr viel Geduld haben und lange Zeit ganz ruhig sitzen, Björn. Vielleicht packt Peter Öttel aus, wenn sein Vater ihn nicht freikriegt. Er hat einen Haß auf seinen ›Alten‹ und seine Meinung über seine Mutter ist auch nicht gerade schmeichelhaft. Aber wenn du keine Geduld hast, wirst du in ein Wespennest stechen und völlig vergiftet von einem Abgrund verschlungen werden.«

»Das klingt schlimm, Jessica.«

»Es ist schlimm, Björn.«

»Und woher nimmst du solche Überzeugung?«

»Meine Mutter war eine sehr kluge Frau. Sie war Graphologin. Ich habe nie darüber gesprochen, weil so Supergescheite auch darüber blöde Sprüche loslassen. Ich hoffe, daß du diese Wissenschaft jetzt nicht auch mit einem Achselzucken abtust, sonst müßte ich dich bitten, dich zu verabschieden.«

»Ich darf wohl annehmen, daß deine Mutter auch meine Handschrift beurteilt hat«, sagte Björn mit einem flüchtigen Lächeln. »Und ich bin so vermessen anzunehmen, daß die Beurteilung nicht negativ ausfiel, sonst hätte ich diese Schwelle wohl kaum übertreten dürfen.«

»So ist es«, gab Jessica zu. »Du bist sehr impulsiv, aber sehr zuverlässig, überdurchschnittlich intelligent, zielstrebig, vielseitig interessiert und treu.«

»Danke«, sagte er leise, »alles ein bißchen übertrieben.«

»Ja, bescheiden bist du auch«, sagte Jessica.

»Und sonst noch?« fragte er verlegen.

»Du bist ein feiner Kumpel, das sage ich.«

»Du auch, und ein ganz gescheites Mädchen. Du kannst dich immer auf mich verlassen, Jessi. Denk daran, daß die, die wir liebten, auch in uns weiterleben.«

»Bist du auch ganz allein, Björn?« fragte Jessica leise.

»Davon abgesehen, daß mein Vater mir zum Geburtstag und zu Weihnachten einen Scheck schickt, ja«, erwiderte er.

»Du kannst mich ja ab und zu mal besuchen, wenn du Zeit hast und es dir nicht zu abgelegen ist.«

»Sehr gern, Jessi. Du hast wenigstens noch das Glück, der Natur nahe zu sein. Aber du solltest dir wenigstens einen Hund anschaffen, der dich bewacht.«

»Er wäre ja den ganzen Tag allein«, sagte sie. »Es war gut, daß ich mit dir reden konnte, Björn. Morgen sehen wir uns ja.«

»Schlaf gut, Jessi, grüble nicht.«

»Das wünsch ich dir auch.« Sie begleitete ihn zum Wagen. »Ich muß ja wohl noch sagen, daß ich dich zum ersten Mal in einem Anzug gesehen habe, aber du hast doch bestimmt gefroren.«

»Einen dunklen Mantel habe ich leider nicht«, sagte er, »aber jetzt ist es mir ganz warm.«

Und warm waren auch seine dunklen Augen auf sie gerichtet, als er sich ans Steuer setzte. Sie hob grüßend die Hand, und ganz so einsam fühlte sie sich nicht mehr.

*

Die Kommode auf dem Speicher, von Papieren hatte die Mutti gesprochen, das kam ihr nun wieder in den Sinn.

Die Kommode hatte eine rätselhafte Anziehungskraft auf sie ausgeübt, als sie ein Kind war, aber sie hatte nie die Schubladen aufbekommen. Und als die Mutti einmal bemerkte, wie sie sich daran zu schaffen gemacht hatte, hatte sie ruhig und liebevoll, wie es ihre Art war, gesagt, daß da gar nichts drin sei, was ein Kind interessieren könnte.

Als sie älter wurde, war die Kommode verstaubt und von Spinnweben umgeben, und da hatte sie gar nicht mehr drangehen wollen, weil ihr dann mal eine große Spinne über den Fuß gelaufen war.

Jetzt hatte sie keine Angst mehr vor Spinnen, auch nicht vor der Dunkelheit, die da oben herrschte. Gewisse Papiere schienen sehr wichtig zu sein, da die Mutti sogar in ihrer Todesstunde daran gedacht hatte.

Mit einer Taschenlampe stieg Jessica die schmale knarrende Treppe empor. Der Wind war zum Sturm geworden und pfiff um das Haus.

Jessica wußte genau, wo die Kommode stand, aber im Schein der Taschenlampe sah sie, daß sie nur von leichtem Staub bedeckt und von Spinnweben befreit war.

Mutti muß doch hier gewesen sein, bevor sie in die Klinik kam, dachte sie. Das war vor drei Wochen gewesen, und sie war schon sehr schwach, obgleich Jessica da noch nicht gewußt hatte, daß sie eine tödliche Krankheit in sich trug. Und jetzt steckten auch Schlüssel an den Schubläden.

Zwei glänzende Schlüssel, die sich jetzt auch leicht drehen ließen.

Jessicas Herz hämmerte, als sie den oberen so weit gedreht hatte, daß sich die Schublade aufziehen ließ. Es ging ziemlich schwer. Sie war gefüllt mit Babykleidung, aber Papiere konnte Jessica nicht entdecken. Fein säuberlich waren die winzigen Sachen dort eingeordnet. Kleidung, die sie vor dreiundzwanzig Jahren und noch einige Jahre danach wohl getragen hatte.

Die zweite Schublade ließ sich leichter öffnen. Sie enthielt auch nur eine Schreibmappe aus Leder. Und jetzt pfiff derWind so stark, als würde er das Dach herunterreißen wollen. Plötzlich fror es Jessica wieder. Schnell nahm sie die Schreibmappe heraus und eilte die knarrende Treppe hinunter.

Die wohlige Wärme im Wohnraum trieb ihr heiße Glut in die Wangen. Sie setzte sich und legte die Mappe auf ihre hochgezogenen Beine. Ihre Hand zitterte, als sie die lederne Hülle hob. Und schon sah sie die klare Handschrift ihrer Mutti auf schon vergilbtem Papier.