Drachenblut 2 - Lindsay Buroker - E-Book

Drachenblut 2 E-Book

Lindsay Buroker

4,0

Beschreibung

Die Drachenblut Saga - die Bestseller Fantasy Serie aus den USA! Vom ersten Moment an fühlt Colonel Grat Zirkander eine magische Anziehung zur geheimnisvollen Ardelle. Doch er ist ihr Aufseher – und sie seine Gefangene. Kann er ihr trauen, wenn die Zukunft seines Landes auf dem Spiel steht? Zirkander ist nicht gerade ein Musterbeispiel militärischen Gehorsams – in seiner Akte sind genug Verweise, um damit den Ballon eines Luftschiffs zu tapezieren. Weil er der beste Kampfpilot des Landes ist, lassen seine Vorgesetzten ihm vieles durchgehen. Doch dann bricht er dem falschen Diplomaten die Nase und wird in eine abgelegene Mine in den Bergen strafversetzt, um Gefangene zu überwachen. Grat ist alles andere als begeistert. Bis unter den Gefangenen die geheimnisvolle, schöne Ardelle auftaucht ... Die Magierin Ardelle erwacht in einem verschütteten Berg - nach dreihundert Jahren magischen Schlafs. Ihr Volk wurde ausgelöscht und Jaxi, ihr sprechendes Schwert, liegt tief in den Trümmern begraben. Wo einst die stolze Hochburg der Magier stand, ist heute ein Bergwerk voller Sträflinge. Ardelle braucht Hilfe, um ihr sprechendes Schwert zu bergen. Ihre einzige Hoffnung besteht darin, sich als Gefangene auszugeben. Aber Lügen sind nicht ihre Spezialität. Vor allem, wenn der Aufseher ein so charmanter und attraktiver Mann ist wie Grat Zirkander. Atemlose Abenteuer, eine verbotene Liebe und ein sprechendes Schwert halten in Lindsay Burokers fulminanter Drachenblut Saga die Spannung bis zur letzten Seite. Für alle, die epische Fantasy für Erwachsene mit Romantik und einer Prise Humor lieben! Über die Drachenblut Saga Tausend Jahre sind vergangen, seit zuletzt ein Drache gesichtet wurde. Wissenschaft und Technologie haben die alte Magie verdrängt. Doch es gibt Menschen, durch deren Adern noch immer Drachenblut fließt, entfernte Nachfahren der mächtigen Kreaturen von einst. Diese Menschen haben die Macht, Magie zu wirken, zu heilen und Waffen herzustellen, die Kriege entscheiden können. Wegen dieser Kräfte sind sie gefürchtet, und in den letzten Jahrhunderten wurden sie fast bis zur Ausrottung gejagt. Die wenigen Überlebenden müssen einen Weg finden, die Magie von einst wieder aufleben zu lassen, oder sie werden für immer aus der Welt verschwinden.

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DRACHENBLUT

Band zweiSpiel unter Feinden

von Lindsay Buroker

Zuerst 2014 erschienen unter dem Titel Deathmaker (Dragon Blood Book 2).

Titel: Drachenblut Band zwei – Spiel unter Feinden

Autorin: Lindsay Buroker

Übersetzung: Jenny-Mai Nuyen

Von Morgen Verlag

Cover: Maria Spada

Deutsche Erstveröffentlichung: Berlin 2021

© 2021 Von Morgen Verlag, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

INHALTSVERZEICHNIS

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

EPILOG

NACHWORT DES VERLAGS

Lindsay Buroker

KAPITEL 1

C

as gefiel ihre neue Zelle nicht. Nachdem sie zwei Wochen lang in einem dunklen Schrank auf einem Cofah-Kriegsschiff eingesperrt gewesen war, in dem sie nicht einmal hatte aufstehen und sich strecken können, hätte sie ihre neue Unterkunft wohl als eine Verbesserung betrachten sollen. Aber sie gehörte nicht zur dankbaren Sorte von Gefangenen. Ihr letztes Gefängnis hatte ihr nicht gefallen und dieses hier gefiel ihr auch nicht. Das Fenster ließ zwar die Meeresbrise herein, aber es war zu klein für eine Flucht, ganz zu schweigen davon, dass es vergittert war.

Sie ließ den Kopf auf ihre Knie sinken. Die Schreie von Papageien und das Gebrüll von Affen hinter ihr erinnerten sie daran, dass sie sich in einem fremden Land befand, weit weg von zu Hause und ohne Hoffnung auf Rettung.

Im Flur ertönten schwere Schritte und das Geklirr von Waffen.

Cas fletschte die Zähne und hoffte, dass die Wachen auf dem Weg zu einem anderen Gefangenen waren und an ihrer Zelle vorbeigehen würden. Ihre Ankunft lag keine Stunde zurück, und schon hatte sie sich eine Tracht Prügel eingefangen, was wohl so eine Art Willkommensgruß im Kerker des Drachenrachens war. Sie kauerte immer noch auf dem Boden, zitternd von den Schlägen, deshalb entsetzte sie der Gedanken an eine weitere Runde mit den Knochenknüppeln der Wachen.

Aber sie war stark geblieben. Hatte sich in einer Kugel zusammengerollt, ihren Kopf geschützt und ihr Bestes getan, um nicht zu wimmern. Wimmern war zwar einer Soldatin nicht ausdrücklich verboten, aber die Zeile über den „inhärenten Stoizismus der Soldaten“ im Kapitel „Überleben, Ausweichen und Genesung“ des Feldhandbuchs der Armee von Iskandia schien zumindest nahezulegen, dass Wimmern nicht gern gesehen war.

Die Schritte hielten inne und die Tür öffnete sich. Gelbes Laternenlicht strömte aus dem Flur.

Einer der Wachen huschte mit einem Hocker herein. Er setzte ihn ab, wobei die Hockerbeine über den harten Sandsteinboden kratzten, dann stellte er sich neben die Tür. Dank des rasierten Kopfes, des vernarbten Gesichts und der breiten Schultern wäre er auch ohne den Knochenknüppel und das kurze Schwert, die zu beiden Seiten an seinen Hüften befestigt waren, und auch ohne die Schrotflinte, die er in den Händen hielt, eine beängstigende Erscheinung gewesen.

Ein weiterer Mann mit rasiertem Kopf kam herein. Er war älter und trug einen Tigerfellmantel über seiner braunen Uniform. Keine Waffen, jedenfalls keine sichtbaren. Aber Cas nahm an, dass er das Kommando hatte. Wenn das Cofah-Militär ähnliche Regeln wie das Militär von Iskandia zu Hause befolgte, durften nur wichtige Leute sich mit so etwas wie einem Tigerfellmantel über die Kleiderordnung hinwegsetzen. Einen Moment lang dachte sie an ihren eigenen Kommandeur, Oberst Grat Zirkander, dessen Mütze immer in einem verwegenen, nicht vorschriftsmäßigen Winkel auf seinem Kopf saß. Cas beeilte sich, das Bild wegzuschieben, damit sich keine Tränen in ihre Augen schlichen. Sie konnte in Verhören hart bleiben, solange sie sich nicht erlaubte, an ihre Kameraden zu Hause zu denken … und ob sie sie jemals wiedersehen würde.

„Leutnantin Caslin ‚Raptor‘ Ahn“, sagte der Mann und setzte sich auf den Hocker. „Vom Wolfsgeschwader, richtig?“

Cas suchte nach einer bissigen Erwiderung, einer, die klarstellte, dass sie sich weder von ihm noch von dieser Situation eingeschüchtert fühlte. Zirkander wäre bestimmt eine geistreiche Bemerkung eingefallen. Aber alles, was sie herausbekam, war ein gedämpftes: „Ja?“

Ihre Lippen waren von den Schlägen aufgeplatzt und begannen anzuschwellen. Selbst diese eine Silbe hatte wehgetan.

„Raptor?“, wiederholte der Kommandant genüsslich ihren Spitznamen und musterte sie von oben bis unten – oder besser gesagt, da sie auf dem Boden lag, von vorne bis hinten. Dann lächelte er. „Wirklich?“

Cas wäre am liebsten aufgestanden und hätte ihn bedrohlich überragt, aber sie musste ihre dicksohligen Kampfstiefel tragen, um überhaupt 1,50 Meter zu erreichen. Bislang hatte sie es nie geschafft, jemanden zu überragen, der älter als zehn Jahre war. Ihre Stiefel hatte sie beim Absturz ihres Drachenfliegers verloren. Es hätte ohnehin zu sehr wehgetan, auf die Füße zu kommen.

„Ich habe mir diesen Spitznamen nicht gegeben“, murmelte sie. Er machte ihr aber auch nichts aus. Jeder Pilot im Wolfsgeschwader hatte einen peinlichen Spitznamen. Immerhin war sie nicht diejenige, die von ihren Kameraden ‚Pickel‘ getauft worden war.

„Nun, Raptor, ich bin Kommandant Searson. Unsere neuesten Erkenntnisse bestätigen, dass Ihre Leute wissen, dass Ihr beschädigter Flieger während des Gefechts in der Meerenge Sieben Gezeiten versunken ist. Sie halten Sie für genauso mausetot wie den anderen Piloten.“

Der andere Pilot – das war Dash gewesen. Ihre Augen drohten wieder zu tränen. Sie hatte das Feuer in Dashs Cockpit gesehen, hatte ihn brennen sehen. Wie seine Haut verkohlte, sein Mund sich in einem Schmerzensschrei öffnete, kurz bevor sein Flieger in den Ozean stürzte. Es gab keine Chance, dass er überlebt hatte. Sie war weggeschwommen und hatte sich an einem Bruchstück eines Flügels festgehalten, bis jemand sie Stunden später aus dem Wasser gezogen hatte. Der falsche Jemand.

Searson lehnte sich vor, die Ellbogen auf den Knien, die Hände gefaltet. „Das bedeutet, dass niemand Sie suchen kommen wird.“

Ein Affe kreischte irgendwo jenseits des Fensters, und Cas hätte am liebsten einen ähnlichen Schrei ausgestoßen. Stattdessen murmelte sie: „Ach, ja?“

Vielleicht sollte sie gar nichts sagen. Aber wenn sie mit ihm redete, könnte sie vielleicht mehr Informationen erhalten. Obwohl ihre Priorität jetzt nicht Spionage, sondern Flucht sein sollte. Das wurde im Feldhandbuch ausdrücklich erwähnt. Fliehen, dann Bericht erstatten, das war ihre Pflicht.

„Das heißt, niemand wird Sie suchen kommen. Wir haben alle Zeit der Welt mit Ihnen.“ Searson lächelte. Er war offenbar jemand, der Freude an seiner Arbeit hatte.

„Oh, gut“, sagte Cas. „Dieses tropische Klima hier gefällt mir ganz gut. Ist mal was anderes.“

„Wir werden Sie natürlich verhören“, fuhr der Mann fort, als ob sie nichts gesagt hätte. Vielleicht war er es gewohnt, Selbstgespräche zu führen. „Ich bezweifle, dass Sie viel wissen. Wie alt sind Sie, ist es Ihr erstes Jahr nach der Akademie?“

Ein Jahr und drei Monate, danke, dachte sie, aber sie sagte nichts. Es war nicht nötig, vor Beginn des Verhörs etwas preiszugeben, auch wenn sie bereits mehr über sie zu wissen schienen, als ihr lieb war.

„Aber Sie gehören zum Wolfsgeschwader“, fuhr Searson fort. „Wenn Sie ein Jahr lang unter Zirkander gedient haben, wird mein Kaiser alle Informationen über ihn haben wollen, die Sie ihm geben können.”

Cas war mehr als stolz gewesen, als sie direkt aus der Akademie für das Wolfsgeschwader ausgewählt worden war – sie hatte ihr Bestes getan, um dem Ruf der angesehensten Einheit der Kampfpiloten gerecht zu werden –, und sie würde diese Wahl niemals bereuen. Aber zum ersten Mal wurde ihr klar, dass ihre Position ihr zum Verhängnis werden könnte. Alles, was ihren Kommandeur in Iskandia zu einem gefeierten Helden machte, machte ihn hier zu einem verhassten Feind.

„Zirkander?“, fragte sie und leckte sich die Lippen. Ungeachtet der feuchten Luft war ihr Mund plötzlich trocken geworden. „Seine Lieblingsfarbe ist grün. Sei Lieblingsessen ist Schmorbraten. Er zieht Bier Schnaps vor. Und wenn der Winter kommt, wirft er einen Schneeball auf jeden, sogar auf Offiziere, die ihm den Rang abgelaufen haben. Wollen Sie noch mehr wissen? Ich kann versuchen, mich daran zu erinnern, ob er auf der linken oder auf der rechten Hand eine kleine Narbe hat.“

Weder der Wachmann noch Searson schienen ihren Sarkasmus amüsant zu finden. Dabei hatte sie extra die Schmerzen in Kauf genommen, die das Reden ihr bereitete.

Searson zog einen Dolch unter seinem Pelzmantel hervor. Cas versuchte zurückzuweichen oder zumindest eine sitzende Position einzunehmen, aber er bewegte sich schnell für einen alten Gefängniskommandanten. Die Klinge tauchte unter ihrem Kinn auf, die scharfe Spitze bohrte sich in ihre Haut. Sie erstarrte. Ein Tropfen Blut quoll hervor und rann an ihrer Kehle hinab.

„Ich habe den Kaiser informiert, dass wir Sie in Gewahrsam genommen haben“, sagte Searson. „Es ist möglich, dass er Zirkander Ihren Kopf schicken wird. Als nonverbalen Gruß.“

Cas kämpfte gegen den Drang an, zu schlucken. „Der Oberst hatte nicht einmal das Kommando beim Einsatz über Sieben Gezeiten.“ Nein, Cas trug die Verantwortung für alles, was dort passiert war. Sie war schuld daran, dass der Oberst an diesem Tag nicht mit dem Geschwader geflogen war. Am Abend davor hatte der Cofah-Diplomat sie in der Kneipe bedrängt, und sie war zu perplex gewesen, um sich zu verteidigen, also war Oberst Zirkander eingeschritten und hatte den Mann geschlagen. Das hatte zu Disziplinarmaßnahmen geführt: Zirkander war kurzerhand versetzt worden. Major Pennith, der das Kommando übernommen hatte, war zwar ein guter Offizier, aber Zirkander hätte die Mission niemals genehmigt. Eine Mission, die das Geschwader letztendlich vier Flieger und Dash das Leben gekostet hatte. Der Oberst hätte gewusst, dass die Chancen zu schlecht standen, und hätte sich dem General, vielleicht sogar dem König widersetzt. Oder er hätte die Situation, die Taktik irgendwie geändert. Wie er es immer tat. Wie Cas es hätte tun sollen, als dieser Diplomat sie angegraben hatte. Sie hätte sich nicht von Zirkander retten lassen sollen. Ihr Vater hätte sich für sie geschämt.

„Ja“, schnurrte Searson, „wir haben gehört, dass Zirkander in letzter Zeit nicht mehr geflogen ist. Würden Sie mir verraten, wo er ist?“

„Keine Ahnung. Leutnants, die frisch von der Akademie kommen, erzählt man nicht so viel.“

Zirkander hatte kaum Zeit für mehr als einen Abschiedswink an alle gehabt, bevor er nach, wer wusste schon wohin, verschwunden war. „Neu zugeteilt“ hatte er gesagt, sein Gesicht aschfahl. Diesen Gesichtsausdruck hatte Cas noch nie zuvor an ihm gesehen, und das hatte sie beunruhigt. Aber er hatte einfach allen auf die Schulter geklopft, seinen Glücksbringer aus seinem Flieger geholt und den Hangar verlassen.

„Sind Sie sicher, dass Sie niemandes Schlafzimmer-Vertraute sind? Sie sind jung und hübsch genug. Unter all dem Blut.“ Searson folgte der Kontur ihres Kiefers mit dem Dolch, seine dunklen Augen wurden nachdenklich.

Für einen Moment verdrängte Wut ihre Angst, und Cas spuckte ihm ins Gesicht. Es war dumm, aber es fühlte sich gut an. Sie fand auch die Kraft, sich ein Stück weit von ihm wegzuschieben. Nicht, dass sie viel Platz dafür gehabt hätte.

Searson schnaubte und wischte sein Gesicht ab. „Es ist bedauerlich, dass es Vorschriften gegen die Vergewaltigung von Gefangenen durch Gefängniswärter gibt. Wenn die Iskandier dumm genug sind, Frauen in ihr Militär aufzunehmen, dann fordern sie es schließlich geradezu heraus.“ Searson warf dem Soldaten, der neben der Tür stand, ein flackerndes Grinsen zu.

Cas umklammerte die Sandsteinbank, die an der Wand befestigt war, und hievte sich trotz Prellungen und Schmerzen auf die Beine. Wenn Searson ihr etwas antun wollte, wollte sie sich ihm zumindest entgegenstellen.

„Ich kann die Tür schließen und werde nichts sehen, Sir“, sagte der Wächter.

Wie loyal seinem Kommandanten gegenüber.

Mit nachdenklichem Ausdruck blickte Searson sie an. Cas starrte finster zurück und suchte fieberhaft nach einem Ausweg aus diesem Schlamassel.

„Da Sie anscheinend eine ganze Menge über mich wissen, haben Sie vielleicht von meinem Vater gehört“, begann sie. „Er wird sich nicht so schnell damit abfinden, dass ich für tot erklärt wurde. Er könnte bereits auf dem Weg hierher sein.“

„Ja, ich habe von Ihrem Vater gehört, und meine Nachforschungen haben ergeben, dass er seit drei Jahren nicht mehr mit Ihnen gesprochen hat. Soweit ich weiß, hat er Ihre Entscheidung, in die Armee einzutreten und dem König zu dienen, anstatt ins Familiengeschäft einzusteigen, nicht gebilligt.“

Cas biss die Zähne zusammen. Verdammt. Woher wussten die Cofah so viel?

„Dass er nach Ihnen suchen wird, bezweifle ich“, fuhr Searson fort. „Nein, Sie bleiben eine Weile hier bei uns. Wir werden Sie brechen und jedes Wort aus Ihnen herausholen, bis der Kaiser entschieden hat, was er mit Ihnen machen will.“

Sie brechen. Das klang nicht vielversprechend.

Auf dem Flur ertönten weitere Schritte.

„Besteht die Möglichkeit, dass das mein Abendessen ist?“, fragte Cas, um das Thema zu wechseln. „Auf dem Schlepper habe ich eher unregelmäßig gegessen.“

„Sie haben das Abendessen verpasst. Ich werde Kapitän Trivolt sagen, dass Sie sein Kriegsschiff einen ‚Schlepper‘ genannt haben. Beim nächsten Gefangenen gibt er sich dann sicher mehr Mühe, einen guten Eindruck zu machen.“

Eine Wache kam in die Zelle gerannt und flüsterte Searson etwas ins Ohr. Diese Gelegenheit nutzte Cas, um sich weiter von ihm und seinem Dolch zu entfernen. Sie stellte sich mit dem Rücken an die Fensterwand, ihr leinener Gefängniskittel isolierte nur wenig von dem kühlen, groben Stein gegen ihre Schulterblätter.

„Ja, ich habe von seiner Gefangennahme gehört“, erwiderte Searson, als der Mann sich aufrichtete. „Ich werde ihn sofort verhören.“

Als er aufstand, erlaubte sich Cas einen Hauch von Erleichterung. Es gab offenbar jemand anderen, den der Kommandant schikanieren konnte.

Searson hielt jedoch inne, bevor er zur Tür hinausging. Er blickte sie nachdenklich an, dann warf er den Kopf zurück und lachte. Es war ein tiefes, hohles Lachen, das sie an die große Glocke erinnerte, die zu Hause im Himmelsturm läutete.

„Sir?“, murmelte die Wache und gaffte den Kommandanten an. Offenbar lachte Searson nicht oft so.

Cas betete, dass das, was ihn so amüsierte, nichts mit Foltermethoden zu tun hatte.

„Bringen Sie ihn hierher, Korporal“, sagte Searson. „Ich glaube, wir sparen Platz, wenn sich unsere beiden neuen Gefangenen eine Zelle teilen.“

Der Wächter runzelte die Stirn. „Aber es gibt viele leere Zellen, Sir.“

„Aber niemand hasst Zirkander und das Wolfsgeschwader mehr als der Todesbringer.“

Cas starrte ihn einen Moment lang fassungslos an, als die Worte zu ihr durchsickerten. Der Todesbringer. Cas schloss ihre Augen. Sie hätte sich gern über den allzu dramatischen Namen lustig gemacht – Piraten konnten sich ja nie einfach Thon oder Jed nennen, nicht wahr? –, aber sie war auf der Halbinsel Tanglewood gewesen, hatte das Denkmal dort gesehen, die Gräber. Sechs Jahre zuvor war das ganze Dorf – jeder Mann, jede Frau und jedes Kind – durch ein schreckliches Gas aus dem Labor des Todesbringers getötet worden, das ihre Lungen und andere Organe hatte schmelzen lassen. Sie waren von innen heraus verbrannt. Es gab nichts zum Schmunzeln über den Todesbringer. Er war ein Wissenschaftler, der dem Fliegenden Fluch angehörte, einer der größten Piratentruppen der Welt. Das Wolfsgeschwader hatte gerade im vergangenen Sommer mit ihnen gekämpft und ein paar Kristalle, mit denen ihre Drachenflieger betrieben wurden, zurückerobert, die die Piraten bei einem Überfall gestohlen hatten. Cas war bei dieser Mission dabei gewesen. Sie hatte geholfen, das Flaggschiff der Piraten zu zerstören. Sie war aber nicht überrascht, dass der Todesbringer entkommen war. Er war einer der wenigen Piraten, die einen noch schrecklicheren Ruf hatten als sein blutrünstiger Kapitän, der ‚Schlachter‘.

Aber was hatte der Todesbringer hier zu suchen? Wie war ein so ruchloser Pirat seinen Feinden in die Hände gefallen?

„Wird er die Kleine nicht töten, Sir?“, fragte der Wächter und kratzte sich am Kopf. Er hatte sich nicht einmal die Mühe gegeben, die Stimme zu senken, damit sie ihn nicht hörte.

„Möglicherweise, obwohl ich denke, dass er es nicht gleich tun wird.“ Searson wandte sein unfreundliches Lächeln wieder Cas zu. „Wenn sie morgen früh noch lebt, wird sie sicher weniger frech sein.“

„Ich hole ihn, Sir.“

Cas starrte auf den Boden, bemüht, sich ihr Entsetzen nicht anmerken zu lassen.

Der Todesbringer. Als sie zur Flugschule gegangen war und sich dem Wolfsgeschwader angeschlossen hatte, hatte sie gewusst, dass sie sich Feinde machen würde. Auch wenn Iskandia lediglich seine Grenzen verteidigte und sich nur selten auf Gefechte in der Fremde einließ, glaubten die Cofah, dass Iskandia ein Rebellenstaat war, dessen Gebiete zurückerobert werden mussten. Obwohl Hunderte von Jahren vergangen waren, seit Cas’ Vorfahren die fremden Herrscher von ihrem Kontinent vertrieben hatten, dauerte der zähe Kampf um Iskandia an. Als Cas begonnen hatte, die Luftschiffe der Cofah abzuschießen und ihre Meereskriegsschiffe anzugreifen, hatte sie gewusst, auf welches Risiko sie sich einließ. Sie hatte gewusst, dass sie getötet oder gefangengenommen werden konnte.

Aber mit dem Todesbringer allein in eine Zelle gesteckt zu werden …

Nun, sie würde sich nicht kampflos ergeben.

Searson und die neue Garde waren verschwunden. Cas beäugte die verbliebene Wache. Der Mann hielt eine Schrotflinte in den Händen. Ihn zu überraschen und zu entkommen, würde schwierig werden, aber die Tür stand immer noch offen, und er war allein. Dies könnte die einzige Chance sein, die ihr blieb.

Heimlich glitt sie mit den Händen über die Wand, in der Hoffnung, ein zerbröckeltes Mauerstück zu finden, das sie als Waffe werfen könnte. Passende Brocken gab es in den Ecken auf dem Boden, aber er würde bemerken, wenn sie sich bückte, um einen davon aufzuheben. Oh, was würde sie für die Kräfte der Magier von einst geben. Hätte sie magische Fähigkeiten, würde sie einen dieser lauten Papageien da draußen überzeugen, durch das Fenster zu flattern und diesem Mann die Augen auszukratzen.

Sie verlagerte ihr Gewicht und erreichte mit ihren Zehen einen geeigneten Stein. Sie stieß ihn leise von der Wand weg und dachte daran, ihn durch den Raum zu treten. Wenn sie ihren Wächter überrumpelte, könnte sie ihm eventuell die Schrotflinte abnehmen. Mit ihren fünfzig Kilo Körpergewicht hatte sie in einem Kampf gegen den Mann keine Chance, aber mit einer Projektilwaffe in der Hand sollten sich die Chancen zu ihren Gunsten verschieben.

Im Flur erklangen erneut Schritte. Ihre Chance war vorbei. Sie fluchte leise.

Die Wache blickte zum Eingang. Cas trat gegen den Stein.

Er flog durch den Raum und schlug dem Wachmann auf den Zeh. Keine große Attacke, aber er sah nach unten, und sie sprang. Ihre Wunden protestierten gegen die plötzliche Bewegung. Sie ignorierte den Schmerz, packte den Lauf des Gewehrs und versuchte es dem Mann zu entreißen.

Er schnaubte. Seine Augen musterten sie ohne einen Hauch von Besorgnis. Er griff sie am Kragen und warf sie so heftig gegen die Seitenwand, dass ihr die Luft wegblieb. Erneut stürzte sie auf ihn, aber er stieß sie wieder gegen die Wand, diesmal schlug ihr Hinterkopf gegen den Stein. Schwarze Risse durchzogen ihre Sicht, und Lichtpunkte begannen vor ihr zu tanzen. Vage registrierte sie, dass ihre Füße mehrere Zentimeter über dem Boden schwebten.

„Frauen sind erbärmliche Soldaten“, sagte der Wächter. „Dass du hier bist, ist ein Zeichen dafür, wie verzweifelt die Iskandier sind.“ Er rammte sie wieder gegen die Wand.

„Das ist genug, Sergeant“, sagte Searson vom Flur aus.

Er war zurückgekehrt, zusammen mit mehr Wachen, viel mehr Wachen. Und einem Gefangenen.

Cas blinzelte und versuchte, wieder klar zu sehen. Der Mann, der in der Tür stand, schien um die dreißig zu sein, hatte lange schwarze Locken, die ihm in verfilzten Strähnen über den Rücken fielen, und gefesselte Hände. Im Gegensatz zu den wirren Haaren waren sein Schnurrbart und sein Spitzbart gestutzt und seine bronzefarbene Cofahhaut frei von Schmutz, aber nichts an den dunklen, finsteren Augen, der Haifischzahnhalskette oder den gespickten Lederarmbändern an den Handgelenken lud dazu ein, ihm näherzukommen. Erstaunlich, dass es den Wachen gelungen war, Fesseln über all das spitze Metall zu legen. Mit seiner Lederweste, die seine muskulösen Arme und einen Teil seiner Brust entblößt ließ, wirkte er eher wie ein Krieger als ein Wissenschaftler. Sie schluckte schwer. Sie hatte einen verrückten alten Mann mit Brille und in alle Richtungen abstehenden weißen Haaren erwartet.

Die Wachen beobachteten ihn viel angespannter, als sie Cas beobachtet hatten. Nicht weniger als vier Pistolen waren auf den Piraten gerichtet.

„Der Todesbringer“, sagte Searson und streckte eine Hand nach Cas aus, die immer noch von der Wache festgehalten wurde. „Erlauben Sie mir, Ihnen Ihren neuen Mitbewohner vorzustellen.“

Die Wache trat zurück und ließ Cas auf den Boden fallen. Sie stemmte sich gegen die Wand. Ihr Herz hämmerte schwer. So viel zu ihrem Fluchtversuch.

Der Pirat starrte sie an. Er trat nicht ein.

Aus einem Gefühl heraus, dass sie ihn nicht wissen lassen sollte, dass sie ihn fürchtete oder dass er irgendeine Macht über sie hatte, sagte sie: „Wie kommt es, dass du deine modischen Piratenkleider behalten durftest und sie mich gezwungen haben, diesen Kartoffelsack anzuziehen?”

Wie um zu zeigen, dass sie tatsächlich in einem solchen Kleidungsstück steckte, nahm Searson eine Laterne von der Wand im Flur und hängte sie in der Zelle auf. Inzwischen wurde es draußen dunkel, kaum Licht fiel mehr durch das kleine Fenster. Cas drängte sich in den Schatten, weg vom Laternenschein.

„Todesbringer, das ist Leutnantin Cas. Vom Wolfsgeschwader der iskandischen Armee“, stellte Searson sie liebenswürdig vor.

Das rief eine Reaktion hervor. Der Pirat blähte die Nasenflügel und funkelte sie an.

Searson winkte einem der Wachmänner zu. Dieser trat vorsichtig vor und löste die Fesseln des Piraten. Das Metall fiel klirrend auf den Steinboden. Der Pirat stürzte auf Cas zu wie ein Löwe auf seine Beute.

Sie versuchte sich zu ducken und auszuweichen, aber selbst im trüben Lampenschein sah er ihr klägliches Manöver und hielt sie fest. Wie schon der Wächter zuvor stieß er sie mit dem Rücken gegen die Wand. Sie keuchte vor Schmerz auf. Sie wollte kämpfen, ihn zumindest beleidigen, wenn schon nichts anderes möglich war, aber eine schwielige Hand legte sich um ihre Kehle.

Searsons Glucksen hallte aus dem Flur, dann schlug die Tür zu. Cas war allein mit dem Piraten.

Die Hand um ihren Hals drückte zu.

KAPITEL 2

T

olemek stand regungslos da, die Hand um den Hals der Frau gelegt, und lauschte, wie sich die Schritte im Flur entfernten. Draußen stand noch immer eine Wache, dessen war er sich sicher, aber Kommandant Searson marschierte mit seiner Truppe von haarigen Barbaren ab. Er bezweifelte, dass sie wussten, wer er war – wer er gewesen war, bevor er sich den Piraten angeschlossen hatte. Falls doch, hatte sie das jedenfalls nicht davon abgehalten, ihn mit Knüppeln zu verprügeln.

Während er wartete, strich eine Brise durch das kleine Fenster und wirbelte die schwülwarme Luft auf. Er warf einen Blick hinaus und sah den Gefängniswall. Das war gut. Wenn der Junge durchkam, könnte sein Plan vielleicht doch klappen … Wer auch immer seine „Zimmergenossin“ war, diese Zelle zog er dem fensterlosen Kerker vor, in dem er ursprünglich untergebracht worden war.

Er ließ die Frau los. Obwohl er nichts dagegen hatte, wenn es einen dieser verfluchten iskandischen Kampfflieger weniger auf der Welt gab, hatte er den Angriff auf sie nur vorgetäuscht, damit Searson und seine Männer zufrieden abzogen.

Die Frau zeigte sich nicht gerade dankbar. Überraschend drehte sie sich zur Seite und versuchte ihm ein Knie in die Leiste zu rammen. Als er auswich, krallte sie ihre Hände in sein Gesicht. Glücklicherweise war sie nicht sehr groß, und er konnte ihre Handgelenke packen und zu beiden Seiten festhalten.

„Genug“, sagte er. „Wenn du mich in Ruhe lässt, erweise ich dir dieselbe Freundlichkeit.“

Er ließ sie frei, trat einen Schritt zurück und wartete in kämpferischer Haltung, für den Fall, dass sie sich auf ihn stürzte – sie schien wütend genug, um es mit bloßen Händen mit einem Rudel Wölfe aufzunehmen –, aber auch sie wich zurück und blieb nicht stehen, bis ihre Schulterblätter gegen die Tür stießen.

Ihr kurzes Haar hing in Strähnen über einem Gesicht, das wahrscheinlich niedlich und schelmisch aussah, wenn es nicht voller Platzwunden und Prellungen war. Auch sie hatte also mindestens eine Runde mit den Wachen und ihren Knüppeln ausgehalten. Die geschwollenen Wangenknochen und das Blut, das ihr Kinn und ihre Oberlippe verschmierte, taten ihm weh, als wären es seine eigenen Wunden. Er musste sich daran erinnern, dass sie eine Feindin war. Ihre blasse, sommersprossige Haut und ihr rotblondes Haar konnten nichts anderes als iskandisch sein. Allerdings sah sie kaum alt genug aus, um aus ihrer militärischen Grundausbildung heraus zu sein. Dass sie schon viele Flugeinsätze gehabt hatte, war kaum vorstellbar. Und nur weil Searson sagte, dass sie im Wolfsgeschwader flog, bedeutete das nicht, dass das stimmte; der Kommandant hatte Tolemek eindeutig manipulieren wollen. Aber warum? Wenn Tolemek eine Gefangene ermordete, hatten sie vielleicht einen Vorwand, ihn ohne ein Tribunal zu erschießen.

Er schüttelte den Kopf. Darüber konnte er ein anderes Mal nachdenken, nachdem er aus dieser Zelle geflohen war.

Er stützte einen Stiefel auf die Steinbank und riss ein Stück seines Hosenbeins ab. Der Stoff war nicht hell, sodass er darauf vertrauen musste, dass sein Helfer da draußen gute Augen hatte. Den Streifen band er um zwei Eisenstangen im Fensterrahmen. Damit war fürs Erste alles getan, was er tun konnte.

Tolemek ließ sich auf die Bank sinken und wartete. Er zog ein Bein hoch und stützte seinen Arm auf sein Knie. Die Frau kauerte in einer Ecke und rührte sich nicht, nur ihr Blick hatte jede seiner Bewegungen verfolgt. Ihre Augen waren rund und grün. Unschuldig war das Wort, das ihm in den Sinn kam, und er wunderte sich wieder über Searsons Behauptung, sie sei eine Kampfpilotin. Soweit er wusste, gab es in Oberst Zirkanders Geschwader keine Anfänger. Nach dem letzten Sommer konnte Tolemek das mit einiger Sicherheit sagen. Er rieb sich die Narben auf seinem unteren Rücken, die immer noch juckten – drei Kugeln waren ihm aus dem Fleisch gepult worden. Der Arzt hatte behauptet, dass es ein Wunder sei, dass er noch lebte, und dass seine Organe wohl aus Gummi sein müssten. Ein zweifelhaftes Kompliment, aber es schadete seinem Ruf nicht.

Das Mädchen – Leutnantin Cas – betrachtete den Stoffstreifen im Fenster. Dann blickte sie zur Laterne, und er fragte sich, ob sie daran dachte, seine kleine Fahne zu verbrennen. Nun, sie würde nicht viel Glück damit haben, wenn sie es versuchen sollte.

„Wartest du auf Freunde?“, fragte sie sanft, ihr iskandischer Akzent beschwingt, fast wie ein Gesang in seinen Cofah-Ohren.

Er antwortete nicht. Das Letzte, was er brauchte, war, dass sie ihn verpfiff. Zumindest hatte sie leise gesprochen, sodass die Wache vor der Tür sie nicht gehört haben dürfte. Er wollte sie eigentlich ignorieren, aber seine Neugierde überwältigte ihn. „Bist du wirklich eine Kampfpilotin?“

Wenn es stimmte, würde er bei seiner Flucht dafür sorgen, dass sie in der Zelle blieb. Obwohl er nach seiner Ausweisung aus der Armee nicht mehr zu den Cofah hielt, hatte er immer noch Familie auf dem Festland. Von Zeit zu Zeit befürchtete er, dass die Iskandier eines Tages von der Defensive in die Offensive übergehen würden. Die Größe der iskandischen Armee und ihrer Bevölkerung insgesamt mochte im Vergleich zu der des Cofah-Reiches lächerlich sein, aber mit diesen Fliegern konnten sie flink um kaiserliche Luftschiffe kreisen und Guerilla-Angriffe auf das Festland unternehmen.

Die Frau antwortete nicht. Tolemek behielt sein amüsiertes Schnauben für sich. Es würde nicht viel Gesprächsstoff geben, wenn keiner von beiden Fragen beantwortete. Das war auch gut so. Er betrachtete den Sternenhimmel hinter dem Fenster und lauschte auf Schritte auf der Mauer, die schneller und leichter wären als die der Wachen. Doch die Brüllaffen übertönten alles. Sollten die Tiere nicht längst schlafen? Vielleicht hatte irgendein Raubtier da draußen sie aufgeweckt.

Dann hörte er einen Kieselstein, der gegen die Wand geworfen wurde. Tolemek sprang auf die Füße und war im nächsten Augenblick am Fenster. Sobald er sein Gesicht gegen das Gitter presste, schwebte ein kleiner, unregelmäßig geformter Gegenstand über die Außenwand und segelte in seine Richtung. Sofort wusste er, dass die Flugbahn falsch war. Es würde nirgendwo in der Nähe seines Fensters landen.

Obwohl es vergeblich war, schob er seinen Arm zwischen den Gitterstäben hindurch. Er würde nur eine Chance bekommen.

Das kleine Bündel landete auf dem Dach zwanzig Fuß über der Zelle. Tolemek streckte den Arm so weit wie möglich aus, in der Hoffnung, es aufzufangen, wenn es herunterfiel. Das Bündel schien dem Geräusch nach herab zu rutschen, verfing sich aber an einer Spalte oder einer Regenrinne. Er verzog das Gesicht. Das passierte, wenn man einen zwölfjährigen Jungen zu seinem Komplizen machte.

Auf dem Wall ertönte eine Pfeife, dann fielen zwei Schüsse. Affengeheul erhob sich aus dem nahen Dschungel. Tolemek fluchte und hoffte, dass sein Helfer schnell weggeklettert war oder schwimmen konnte und in das tiefe Wasser hinter den Felsen getaucht war. Der Junge hatte das Risiko gekannt und sich trotzdem bereit erklärt, ihm zu helfen. Seine Augen hatten geglänzt bei dem Versprechen einer silbernen Münze davor und einer goldenen danach. Tolemek hatte nicht erwartet, dass die Wachen auf ein Kind schießen würden. Das war der Grund, warum er ihn angeworben hatte, anstatt Kapitän Schlachter um Hilfe zu bitten. Das und die Tatsache, dass er seinen Fund nicht mit anderen Piraten teilen wollte.

„Probleme?“, fragte die Frau.

„Nein“, sagte er und klopfte am Fensterbrett entlang, in der Hoffnung, er könnte ein rissiges Stück Sandstein herausziehen, um es als Wurfgeschoss zu verwenden.

„Da sind einige Steine auf dem Boden.“

Er beäugte sie. Sie hatte offenbar begriffen, was hier los war. Ohne etwas zu sagen, tastete er auf dem Boden herum, fand ein paar Brocken und streckte dann seinen Arm wieder aus dem Fenster. Lächerlicher Winkel, aber er musste es versuchen.

Er warf den ersten Stein nach oben. Er sprang von der Dachtraufe weg und schien den Beutel nicht getroffen zu haben. Zum Glück beschwerten sich die Affen immer noch über die Schüsse, sodass er bezweifelte, dass jemand den Stein gehört hatte. Dennoch machte er sich Sorgen, als er es noch dreimal versuchte – ohne Erfolg. Die Stangen machten es unmöglich, einen anständigen Wurf nach dem Beutel zu machen, und er hatte nur begrenzt Steine zur Verfügung.

„Brauchst du Hilfe?“, fragte die Frau.

Tolemek schnaubte. „Was würdest du tun?“

„Treffen, was auch immer du treffen willst.“

„Mhm.“ Er kniete sich hin, um nach weiteren Steinen zu tasten. „Kannst du überhaupt das Fenster erreichen?“

„So klein bin ich auch wieder nicht.“

Obwohl er nicht bereit war, auch nur einen Stein zu verschwenden, hatte er selbst nicht viel Glück gehabt. Und sie klang seltsam selbstbewusst. Vielleicht hatte sie eine geheime Steinwurf-Fähigkeit. Wer konnte das schon wissen?

Tolemek hielt ihr einen Stein hin. Sie zögerte einen Moment, bevor sie näher kam, dann spannte sie sich sichtlich an und schnappte sich den Stein. Er machte ihr vor dem Fenster Platz. Sie war wirklich klein – reichte ihm knapp bis an die Brust. Hatte die iskandische Armee keine Anforderungen an eine Mindestkörpergröße?

Den Stein in der Hand schaute sie aus dem Fenster und verdrehte sich, um halbwegs ihr Ziel zu erkennen. Um ihren Arm zwischen den Gitterstäben hindurchzustecken, musste sie auf Zehenspitzen stehen. Er schnaubte wieder. Wenn der Winkel schon für ihn ungünstig gewesen war …

Sie streckte ihre Zunge aus dem Mundwinkel und warf den Stein nach oben. Eine Sekunde verging. Dann sprang sie und streckte ihren Arm so weit wie möglich aus.

Tolemeks Mund klappte auf, als sie seinen Beutel auffing und wieder auf dem Boden landete. Er hatte seinen üblichen grimmigen Gesichtsausdruck wieder aufgesetzt, als sie sich zu ihm umdrehte und ihm den Beutel zuwarf.

„Hast du Drachenblut oder so etwas?“, fragte er.

Der Blitz des Entsetzens, der ihr Gesicht durchzog, verriet, dass der Vorwurf, Magie wirken zu können, in Iskandia genauso unerhört war wie in Cofahre. Er hob eine Hand, um sich zu entschuldigen, aber sie sprach zuerst.

„Ich schieße den ganzen Tag auf Dinge. Ein Ziel zu treffen, das so nah ist, ist keine große Herausforderung.“ Sie kehrte vor die Tür zurück, verschränkte die Arme über der Brust und beobachtete ihn weiter.

„Auch wenn du blutest?“

Irgendwann hatte ihre Nase wieder zu tröpfeln begonnen. Sie musste es spüren, aber sie schniefte nur kurz. „Es ist nicht das erste Mal.“

Tolemek begann, der Behauptung des Kommandanten Glauben zu schenken. Zirkander war nicht sein Ziel, nicht jetzt, aber er hätte nichts dagegen gehabt, sich für die militärische Karriere, die er Tolemek ruiniert hatte, zu rächen.

Tolemek spreizte die Finger und blickte auf seine Hand hinunter, eine Hand, die einst ein Schwert für die Cofah-Armee gehalten hatte, eine Hand, die sein Vater einst mit Zustimmung ergriffen hatte. Wenn er einen von Zirkanders Leuten zu Kapitän Schlachter brächte, könnte der Fliegende Fluch sie vielleicht dazu benutzen, um die Piraten zu Zirkander zu führen und ihm eine Falle zu stellen. Goroth – Kapitän Schlachter – verabscheute Zirkander noch mehr als Tolemek.

Er hob den Kopf und traf den Blick der Frau. Er lächelte nicht, denn er wollte nicht zu offensichtlich zeigen, dass er etwas von ihr wollte. Als er den Beutel in seine andere Hand nahm, sagte er in einem möglichst beiläufigen Ton: „Ich kenne den Grundriss vom Drachenrachen über und unter der Erde. Und ich habe vor, zu entkommen. Willst du mit?“

„Warum, denkst du, habe ich dir mit dem Beutel geholfen? Ich hoffe, du hast darin etwas, um die Tür zu öffnen.“

„Nicht nur das. Ich habe auch ein Schiff, das im Hafen wartet. Du hilfst mir, zu bekommen, was ich hier suche, und ich bringe dich vor den Cofah in Sicherheit.“

„Sicher, Todesbringer. Ich hüpfe direkt auf dein Schiff. Weil du so ritterlich bist, nicht wahr?“

Während er über eine Antwort nachdachte – sein Ruf mochte nicht gerade vertrauenserweckend sein, aber das sagte nichts darüber aus, ob er ritterlich gegenüber Damen war –, überraschte sie ihn mit einem Achselzucken und fügte hinzu: „Ich werde mit dir aus diesem Kerker ausbrechen. Den Rest sehen wir dann.“

Selbst wenn sie seine Hintergedanken nicht erraten konnte, musste sie doch davon ausgehen, dass sie bestenfalls eine Gefangenschaft gegen eine andere eintauschen würde. Aber er hätte ebenso entschieden wie sie. Wie sie später von ihm freikam, konnte sie sich dann überlegen, wenn sie aus dem Drachenrachen entkommen war. Sobald sie den Dschungel erreichten, musste er sich überlegen, wie er sie festhielt. Aber das war etwas, worüber auch er sich später sorgen konnte.

Und bevor sie die alte Festung verließen, musste er noch einen Zwischenstopp einlegen.

Cas trat zur Seite, damit sich der Pirat der Tür widmen konnte. Er beäugte die Scharniere und öffnete seinen Beutel.

„Du kannst mich Tolemek nennen“, sagte er.

Sie zog eine Augenbraue hoch. Jetzt plauderte er also mit ihr. Gut, sie würde ihn beim Namen nennen, wenn er meinte, dass das ein Zeichen des Vertrauens war.

„Ahn“, gab sie zurück. Er wusste ohnehin von Searson, wer sie war, und er musste das Gleiche denken wie Searson und seine Leute: dass sie einen ziemlich guten Köder abgab, um an Zirkander ranzukommen. Solange er sie aus diesem Kerker brachte, sollte er denken, was immer er wollte.

Sie lehnte sich an die Wand und beobachtete, wie er ein paar Geräte aus dem Beutel auspackte. Sie konnte sein Gesicht nicht sehen, weil das ganze zottelige Haar davor hing. Was für ein Tier. Dabei war der Todesbringer ein Wissenschaftler, der schreckliche, furchtbare Waffen herstellte, die Tausende unschuldige Menschen töten konnten. Welche Art von Belohnung bekäme sie wohl dafür, wenn sie ihn in Ketten nach Iskandia zurückbrächte? Vielleicht reichte es, einfach seinen Kopf mitzubringen. Aber sie war nicht sicher, ob sie zu einer Enthauptung fähig war. Als Schülerin ihres Vaters war sie an den Tod gewöhnt, aber es gab Abgründe, in die ein Mensch niemals hinabsteigen sollte. Nicht mal eine Soldatin.

Tolemek öffnete ein Glasfläschchen und benutzte einen Pinsel, um dunklen Schleim auf die Scharniere aufzutragen. Er entfernte die Laterne von der Wand. „Ich habe Streichhölzer, aber ich kann sie ebenso gut aufbewahren, da unsere Wachen so aufmerksam waren, uns für unseren gemeinsamen Abend eine Beleuchtung zu hinterlassen.“

Dass er plötzlich so gesprächig war, passte weder zu seinem Aussehen noch zu seinem Ruf. Er wolle sie für sich gewinnen. Wie ein Jäger, der im Wald Salz auslegte, damit sich die Rehe daran erfreuen konnten, während er mit einem Gewehr hinter den Bäumen lauerte. Sie beschloss, dass sie nicht in der Nähe sein würde, wenn mit seinem Schiff den Hafen verließ. Sie würde für ihren weiteren Weg schon irgendein Frachtschiff finden.

Tolemek hob die Laterne an die Scharniere. Cas dachte, er wolle die Substanz anzünden, aber er betrachtete nur seine Arbeit. Kurz darauf explodierte der Schleim in einem Feuerblitz.

Cas kniff die Augen zusammen. Etwas klirrte zu Boden. Als sie aufblickte, riss Tolemek die Tür ab und rammte die Türkante der überraschten Wache in die Brust. Obwohl der Mann seine Waffe gezückt hatte, blieb ihm keine Zeit, einen Schuss abzufeuern. Er ließ seiner Waffe fallen und stolperte zurück.

Cas sprang nach draußen, schnappte sich das Gewehr und richtete es auf die Wache. Doch Tolemek war schneller und schlug ihn bereits bewusstlos. Cas wartete einen Herzschlag lang ab, ob er versuchen würde, ihr die Waffe wegzunehmen. Er beäugte sie zwar kurz, nahm aber einfach den Schwertgürtel der Wache, komplett mit Schwert und Knüppel, und zog ihn an seiner eigenen Taille ein paar Löcher enger. Als ob er Waffen bräuchte, um noch wilder auszusehen. Cas schenkte ihm ein unaufrichtiges Lächeln und riskierte, nahe genug heranzukommen, um die zusätzlichen Kugeln aus dem Munitionsbeutel herauszuholen. Sie blieb auf Zehenspitzen, fühlte sich wie das Reh, das den Jäger beobachtete, bereit, jeden Augenblick davonzuspringen. Tolemeks Augen flackerten, aber er sagte nichts. Nachdem sie die Kugeln herausgefischt hatte, ging er den Flur hinunter. Nicht in die Richtung, die zur Treppe und zu den Wachräumen führte.

Sie warf einen Blick zurück auf die Laterne, die im Handgemenge auf den Boden gefallen war. Aus ihrem verbeulten Speicher lief Öl aus. Die Gaslampen an der Wand konnten nicht entfernt werden, also hoffte sie, dass er sie nicht irgendwo hinbrachte, wo es dunkel war. Rasch holte sie ihn ein.

Sie waren nicht mehr als zwanzig Schritte weit gekommen, als er vor einer Kreuzung Halt machte und eine Hand hob. „Schieß nur, wenn es sich um einen Notfall handelt“, flüsterte er. „Es wird zu laut sein. Du wirst einen Alarm auslösen, und es wird keine Zeit zur … Flucht geben.“

Sie unterdrückte einen Hinweis, dass er das Offensichtliche aussprach. Außerdem war sie damit beschäftigt, auf dieses kleine Zögern zu achten. Die Flucht war nicht das Erste, was ihm durch den Kopf gegangen war.

Das Geräusch raschelnder Kleidung irgendwo in der Nähe erinnerte sie daran, sich zu konzentrieren. Ohne Vorwarnung brach Tolemek in einen Sprint aus und verschwand blitzschnell um die Ecke.

Erschrocken eilte Cas hinterher. In dem Gang, den er betreten hatte, standen drei Wachmänner. Nein, einer lag bereits auf dem Boden und umklammerte seinen Bauch; ein anderer taumelte nach hinten und tastete mit beiden Händen nach seinem Gesicht. Etwas Dunkles bedeckte seine Nase und die Augen. Tolemek versuchte, den Letzten zu erledigen, aber dieser zog sein Schwert.

Obwohl Schießen ein schneller Weg gewesen wäre, den Kampf zu beenden, war der Lärm ein Argument dagegen. Cas zog eine Grimasse, als Tolemeks Schwert gegen das des Wachmanns klirrte. Sie rannte zu dem Mann auf dem Boden, der sich genug erholt hatte, um sich auf Hände und Knie aufzurichten. Sie gab ihm einen Fußtritt ins Gesicht. Sein Kopf schlug hart gegen die Steinwand. Zirkander hätte sicher einen Weg gefunden, diese Männer mit mehr Ehre auszuschalten, zumindest ohne sie zu treten, während sie am Boden lagen – aber ihre Größe brachte sie in Handgreiflichkeiten nicht weit. Glücklicherweise betäubte der Aufprall an der Wand den Mann so sehr, dass sie ihm seine Waffen abnehmen konnte, ohne ihn weiter verletzen zu müssen. Neben dem Knüppel und dem Kurzschwert hatte er einen Beutel mit Cofah-Wurfsternen an seiner Taille. Sie riss ihn ab, froh über eine Projektilwaffe, die keiner Schießpulverexplosionen bedurfte.

Sie nahm einen der Sterne und stand auf, um zu sehen, ob der Pirat Hilfe brauchte. Aber die Wache, mit der er Schwerthiebe ausgetauscht hatte, lag bereits am Boden. Der andere Wachmann hatte nicht herausgefunden, wie er das, was an seinen Augen klebte, entfernen konnte, sodass er nur hilflos mit seinem Schwert um sich schlug. Tolemek wich den Schlägen aus, duckte sich unter seinem Arm hindurch, packte ihn und verdrehte sein Handgelenk, bis der Mann die Klinge fallen ließ. Nachdem er ihn gegen die Wand gestoßen hatte, griff Tolemek nach einem Schlüsselring am Gürtel der Wache. Er trat eine Tür auf und stieß den Mann hinein. Dann verschloss er die Tür, bevor sich sein Feind erholen konnte. Auch den bewusstlosen Schwertkämpfer stieß er in eine Zelle. Es kam Cas in den Sinn, ihm mit der letzten Wache zu helfen, aber sie konnte keinen dieser großen Männer heben. Außerdem kam Tolemek mit der Situation gut zurecht. Er hievte auch den letzten Mann in eine Zelle und schloss die Tür ab.

Interessant, dass er niemanden getötet hatte. Auch wenn er ein Cofah war und dies seine Landsleute, hatten Piraten normalerweise nicht so viel Rücksicht.

Als die letzte Tür verschlossen war, standen sie sich einen Moment lang gegenüber. Cas hatte das Gewehr in der einen Hand und den Wurfstern in der anderen. Gut fünfzehn Meter trennten sie. Genug, um einen der Sterne zu werfen. Wenn sie es tat, könnte sie dann alleine ausbrechen?

Sie vermutete, dass er genau wusste, was ihr durch den Kopf ging. In seiner Haltung war eine Vorsicht zu spüren, als wäre er bereit, in Deckung zu gehen, aber er sah nicht sehr besorgt aus. Er hielt sie wahrscheinlich mit einer Waffe, die auf seinem Kontinent beheimatet war und nicht auf ihrem, für recht ungefährlich. Sie dachte darüber nach, ihm zu zeigen, wie gefährlich sie wirklich war, aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt für Affekthandlungen.

Cas deutete den Flur hinunter. „Was ist der Plan? Gibt es einen Weg nach draußen in dieser Richtung?“

„Ja.“ Tolemek hielt ihren Blick noch einen Moment fest, bevor er ihr den Rücken zudrehte, um voranzugehen.

Mehrere Sekunden lang beobachtete sie das Zielgebiet zwischen seinen Schulterblättern, bevor sie ihm folgte. Sie hoffte, dass nicht der Moment kommen würde, in dem sie bedauerte, die Gelegenheit nicht genutzt zu haben, dort einen Wurfstern zu platzieren.

Eine weitere Abbiegung brachte sie in einen neuen Gang mit Zellentüren. Positiv gesehen war er frei von Wachen, negativ gesehen war es eine Sackgasse. Das hielt den Piraten allerdings nicht davon ab, den Gang bis zum Ende hinunterzuschreiten. Vor der Mauer blieb er stehen. Es gab keinen interessanten Wandteppich, keinen dekorativen Pflanzenständer oder einen raffiniert angebrachten Hebel, der auf eine Geheimtür hindeutete, aber er legte sein Ohr an den Stein und klopfte mit der stumpfen Spitze des Knüppels dagegen. Was auch immer er hörte, befriedigte ihn, denn er zog das Fläschchen wieder aus seinem Beutel. Er tupfte den Glibber kreisförmig auf den Sandstein.

Cas lehnte sich an eine Wand, sodass sie ihn ebenso gut im Blick behalten konnte wie den Weg, den sie gekommen waren.

„Was ist das für ein Zeug?“, fragte sie. Das Verätzen der Metallscharniere war praktisch gewesen, und wenn es auch noch Löcher in eine sechs Zoll dicke Sandsteinwand brennen konnte, würde sie das wirklich beeindrucken.

„Es hat nicht wirklich einen Namen.“ Tolemek tupfte weiter an der Wand herum und bemühte sich, das bisschen Kleister, das er hatte, zu dehnen, um seinen Kreis zu schließen. Er schien jedenfalls nicht genug für einen weiteren Satz Scharniere zu haben.

„Wie kann es keinen Namen haben?“ Cas versuchte sich vorzustellen, wie er den Schleim auf einem exotischen Markt kaufte, indem er einfach seine Eigenschaften beschrieb.

„Der Schöpfer ist auf keinen Namen gekommen. Obwohl ich gehört habe, dass es als brauner Glibber Nummer drei in seinem Tagebuch verzeichnet ist.“

Es war also etwas, was er selbst erfunden hatte. Auch wenn es sich bisher nur als praktisch erwiesen hatte, ließ die Vorstellung sie frösteln. Sie wusste, dass er auch tödlichere Substanzen erfunden hatte.

„Chastor?“, rief jemand aus der Richtung, in der die Wachen in Zellen eingesperrt waren. „Ponst?“

„Beeile dich besser“, murmelte Cas.

„Die Mauer ist dick. Das wird einen Augenblick dauern.“

Cas nestelte am Gewehr herum und entschied sich dann für einen Wurfstern. Sie beugte die Knie und machte sich für den Fall bereit, dass eine Wache um die Ecke kam.

Ein beißender Geruch erfüllte die Luft. Beim letzten Mal war sie zu sehr damit beschäftigt gewesen, nach der Waffe des Wachmannes vor der Zellentür zu greifen, um den Geruch des brennenden Schleims zu bemerken. Als sie zurückblickte, qualmte die Wand, aber sie war intakt. Brauner Glibber Nummer drei war vielleicht dieses Mal nicht stark genug, um ihnen erneut zur Flucht zu verhelfen.

Der Wachmann rief nicht noch einmal, aber seine Schritte hallten durch den Gang. Er kam näher.

Ein Knirschen ertönte hinter Cas, gefolgt von ein paar Grunzlauten, dann krachte es so laut wie ein Gewehrschuss. So viel dazu, nicht die ganze Festung aufzuschrecken.

Schon kam der Wachmann um die Ecke gerannt, das Gewehr in den Händen. Cas schleuderte den Wurfstern. Sie vertraute auf ihre Zielfertigkeit und wusste, dass sie treffen würde, duckte sich aber trotzdem vor möglichen Schüssen.

Doch dem Wachmann blieb keine Zeit, den Abzug zu drücken. Der Wurfstern flog in die Kehle des Mannes. Blut spritzte aus der durchtrennten Arterie, das Gewehr stürzte aus seinen Fingern und prallte auf den Boden. Er sackte in sich zusammen.

Cas bemerkte, dass Staub aufwölkte, und wandte sich ihrem Piraten zu. Er stand in einem kreisrunden Loch in der Wand. Dahinter lag völlige Schwärze. Dennoch trat er zur Seite und machte eine Geste wie ein Mann, der einer Frau in einem Café die Tür aufhielt.

„Nein, nein, du zuerst.“ Cas wedelte den Staub in der Luft weg und hüstelte.

Tolemek schlüpfte durch das Loch und verschwand. Sie nahm an, dass in der Dunkelheit keine schönen, vergessenen Tunnel an einen Strand unterhalb der Festung führten. Sie wünschte, sie hätte die Laterne aus ihrer Zelle mitgenommen.

Sie spähte ins Loch. Die Mauer maß mindestens dreißig Zentimeter. Dieser braune Glibber war mächtig. Die Ränder des Lochs rauchten noch immer, und sie hätte sich davor gehütet, damit in Kontakt zu geraten, wenn sie nicht beobachtet hätte, wie Tolemek sie unbesorgt angefasst hatte.

„Wie tief geht es rein?“, flüsterte sie. Sie hatte eigentlich keine Zeit zu verlieren – jemand musste den Lärm gehört haben und die tote Wache würde auch bald vermisst werden –, aber sie konnte nicht mehr als zwei Meter weit in das Loch hineinsehen. Sie hatte das Gefühl, dass ein vertikaler Schacht vor ihr abfiel.