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Die Drachenblut Saga - die Bestseller Fantasy Serie aus den USA! Band eins Vom ersten Moment an fühlt Colonel Grat Zirkander eine magische Anziehung zur geheimnisvollen Ardelle. Doch er ist ihr Aufseher – und sie seine Gefangene. Kann er ihr trauen, wenn die Zukunft seines Landes auf dem Spiel steht? Colonel Grat Zirkander ist nicht gerade ein Musterbeispiel militärischen Gehorsams – in seiner Akte sind genug Verweise, um damit den Ballon eines Luftschiffs zu tapezieren. Weil er der beste Kampfpilot des Landes ist, lassen seine Vorgesetzten ihm vieles durchgehen. Doch dann bricht er dem falschen Diplomaten die Nase und wird in eine abgelegene Mine in den Bergen strafversetzt, um Gefangene zu überwachen. Grat ist alles andere als begeistert. Bis unter den Gefangenen die geheimnisvolle, schöne Ardelle auftaucht ... Die Magierin Ardelle erwacht in einem verschütteten Berg - nach dreihundert Jahren magischen Schlafs. Ihr Volk wurde ausgelöscht und Jaxi, ihr sprechendes Schwert, liegt tief in den Trümmern begraben. Wo einst die stolze Hochburg der Magier stand, ist heute ein Bergwerk voller Sträflinge. Ardelle braucht Hilfe, um ihr sprechendes Schwert zu bergen. Ihre einzige Hoffnung besteht darin, sich als Gefangene auszugeben. Aber Lügen sind nicht ihre Spezialität. Vor allem, wenn der Aufseher ein so charmanter und attraktiver Mann ist wie Grat Zirkander. Atemlose Abenteuer, eine verbotene Liebe und ein sprechendes Schwert halten in Lindsay Burokers fulminanter Drachenblut Saga die Spannung bis zur letzten Seite. Für alle, die epische Fantasy für Erwachsene mit Romantik und einer Prise Humor lieben! Über die Drachenblut Saga Tausend Jahre sind vergangen, seit zuletzt ein Drache gesichtet wurde. Wissenschaft und Technologie haben die alte Magie verdrängt. Doch es gibt Menschen, durch deren Adern noch immer Drachenblut fließt, entfernte Nachfahren der mächtigen Kreaturen von einst. Diese Menschen haben die Macht, Magie zu wirken, zu heilen und Waffen herzustellen, die Kriege entscheiden können. Wegen dieser Kräfte sind sie gefürchtet, und in den letzten Jahrhunderten wurden sie fast bis zur Ausrottung gejagt. Die wenigen Überlebenden müssen einen Weg finden, die Magie von einst wieder aufleben zu lassen, oder sie werden für immer aus der Welt verschwinden.
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Seitenzahl: 373
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DRACHENBLUT
Band einsTanz am Abgrund
von Lindsay Buroker
Zuerst 2014 erschienen unter dem Titel Balanced on the Blade’s Edge
(Dragon Blood Book 1).
Titel: Drachenblut Band eins – Tanz am Abgrund
Autorin: Lindsay Buroker
Übersetzung: Jenny-Mai Nuyen
Von Morgen Verlag
Cover: Maria Spada
Deutsche Erstveröffentlichung: Berlin 2021
© 2021 Von Morgen Verlag, Berlin
Alle Rechte vorbehalten.
Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Epilog
Nachwort des Verlags
Oberst ‚Gratwanderer‘ Zirkander war den Flur zu General Orts Büro schon so oft hinuntergegangen, dass man seine Stiefel für den fadenscheinigen Zustand des grauen Teppichläufers mitverantwortlich machen konnte. Die beiden Gefreiten, die links und rechts der Tür Wache standen, sahen ihn ausdruckslos an. Aber davon ließ er sich nicht trügen: Sie würden bis zum Mittag in der ganzen Zitadelle bekannt gemacht haben, dass der berühmte Pilot Gratwanderer eine Strafpredigt vom General erhalten hatte. Schon wieder.
Glücklicherweise wurden Uniformen nur mit Auszeichnungen und nicht mit Verweisen versehen.
„Guten Morgen, meine Herren.“ Grat blieb vor der Tür stehen. Er betrachtete die Gewehre der Soldaten – sie hatten die neuen Repetiergewehre mit Hebelwirkung –, aber keiner der beiden Männer sah aus, als hätte man ihnen befohlen, Besucher fernzuhalten. Leider. „Wie ist die Stimmung des Generals heute?“
„Angespannt, Sir“, antwortete der linke Soldat.
„Das gilt für die meisten Tage, nicht wahr?“ Er erwartete keine Antwort – Gefreite wurden schließlich nicht ermutigt, über Offiziere zu plaudern, zumindest nicht dort, wo besagte Offiziere mithören konnten –, aber der Jüngere grinste und erwiderte: „Vor einer Woche, letzten Donnerstag, wurde es ungemütlich, Sir.“
„Ich bin froh, dass ich an diesem Tag in der Luft war.“ Grat klopfte dem Burschen auf die Schulter und griff nach der Türklinke.
Das Grinsen des Gefreiten wurde breiter. „Wir haben von dem Schlachtkreuzer gehört, Sir. Das war sagenhaft. Ich wünschte, ich hätte es sehen können.“
„Der Abschuss des Versorgungsfliegers war ein größerer Sieg für uns, nur wurde ich dabei nicht von Kanonen beschossen. Ich sehe also ein, warum darüber nicht so viel geredet wird.“
„Vom Abschuss des Versorgungsfliegers würde ich gern mehr erfahren, Sir.“ Die Augen des Gefreiten leuchteten auf.
„Vielleicht später bei Ruttys“, sagte Grat, „wenn der General mich nicht in die Küche schickt, um mit den Rekruten Gemüse zu schälen.“
Er ging hinein, ohne anzuklopfen. Auf dem Schreibtisch von General Ort lagen Berge von Papierkram, aber der Mann blickte aus dem Fenster auf den Hafen, seine verwitterten Hände hinter dem Rücken verschränkt. Handels-, Fischerei- und Militärschiffe steuerten die Docks an und verließen sie wieder, aber wie immer wurde Grats Blick magisch von den Drachenfliegern angezogen, die am südlichen Ende des Hafens in einer Reihe auf der Landebahn standen. Ihre schlanken Bronzerümpfe, Propeller und Geschütze glänzten in der Morgensonne. Grats Geschwader war da draußen, überwachte Wartungen und Reparaturen und wartete darauf, dass er Neuigkeiten brachte. Er hoffte, dass die Selbstgeißelung, die ihm bevorstand, ihnen neue Aufträge einbringen würde.
Als der General sich nicht sofort umdrehte, ließ Grat sich in einem Ledersessel vor dem Schreibtisch nieder, ein Bein über die Armlehne geschwungen.
„Guten Morgen, General. Ich habe Ihre Nachricht erhalten. Was kann ich an diesem schönen Tag für Sie tun?“ Grat nickte in Richtung des blauen Himmels über dem Hafen, einem Himmel ganz ohne Wolken und feindliche Luftschiffe.
Ort drehte sich um, sein Blick verdunkelte sich, als er Grats baumelndes Bein sah. „Nur zu, setzen Sie sich. Ich bestehe darauf.“
„Vielen Dank, Sir. Diese Sessel laden regelrecht zum gemütlichen Fläzen ein.“ Grat tätschelte das weiche Leder. „Wenn ich irgendwann aus unerfindlichen Gründen ein Bürohengst werden sollte, werde ich mich genauso klug einrichten wie Sie.“
„Bei den sieben Göttern, Grat. Jedes Mal, wenn ich Sie sehe, frage ich mich aufs Neue, wie Sie so viele Auszeichnungen bekommen konnten.“
„Es ist auch für mich ein Rätsel, Sir.“
Ort fuhr sich mit einer Hand durch sein kurzes graues Haar, setzte sich hin und holte eine Akte heraus – Grats Akte, obwohl er sie inzwischen bis auf das letzte Blatt auswendigkennen musste. „Sie sind vierzig Jahre alt, Oberst. Werden Sie jemals erwachsen?“
„Mir wurde einmal gesagt, dass es wahrscheinlicher ist, dass ich zuerst abgeschossen werde.“
Ort faltete seine Hände über der Akte, ohne sie zu öffnen. „Erzählen Sie mir, was passiert ist.“
„In Bezug auf was, Sir?“, fragte Grat. Er wusste sehr gut, was der General hören wollte, aber er hatte schon vor langer Zeit gelernt, keine Informationen freiwillig preiszugeben, die ihn belasten könnten.
„Das wissen Sie nicht?“ Orts Blick verfinsterte sich immer weiter, seine Mundwinkel sanken tiefer.
„Nun, meine Truppe ist seit vier Tagen im Einsatz. Könnte vieles sein.“
„Meinem Bericht zufolge haben Sie Diplomat Serenson die Nase gebrochen, ihm seine Rippen geprellt und gedroht, ihm … den Penis abzuscheiden. Kommt Ihnen irgendwas davon bekannt vor?“
„Oh“, sagte Grat und nickte. „Ja, das tut es. Obwohl ich glaube, dass ich gedroht habe, seine ‚Fleischrübe‘ abzuschneiden. Es waren Damen anwesend.“
Der Kiefer des Generals mahlte mehrmals hin und her, bevor er antworten konnte. „Erklären Sie das.“
„Dieser schleimige Arschkriecher Serenson hat Leutnantin Ahn in die Enge getrieben, sie befummelt und versucht, sie nach draußen zu locken. Sie war kurz davor, ihm selbst ihre Faust ins Gesicht zu schlagen, aber ich kam ihr zuvor, weil ich dachte, dass sie Ihre Plüschledersessel vielleicht nicht so schätzen würde wie ich.“ Tatsächlich hatte seine Star-Leutnantin, die fast ebenso viele Erfolge als Fliegerin verbuchen konnte wie er, einen höchst widersprüchlichen Gesichtsausdruck gehabt, als hätte sie sich vielleicht doch freiwillig von Serenson nach draußen ziehen und befummeln lassen, da er ein so wichtiger Delegierter war. Zum Donner damit – niemandes Uniform erforderte diese Art von Opfer.
„Grat, verdammt nochmal. Hätten Sie Leutnantin Ahn nicht verteidigen können, ohne eine internationale Krise auszulösen?“
Möglicherweise, aber er hätte es nicht annähernd so befriedigend gefunden. Außerdem ... „Internationale Krise? Wir befinden uns bereits im Krieg mit den Cofah, und das war nur eine Erinnerung daran, warum wir uns überhaupt von ihrer Herrschaft befreien wollten. Die Cofah glauben, sie könnten sich einfach alles nehmen. Nun, das können sie nicht. Nicht mein Land und nicht meine Leute.“
Ort seufzte und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Es ist gut zu wissen, dass Sie sich unter all Ihrer unbändigen Unverschämtheit Sorgen machen, aber der König ist mir heute Morgen wie ein Kampfhund an die Kehle gegangen. Das hier ist kein Scherz, Grat. Serenson will, dass Sie nach Magroth geschickt werden.“
Grat schnaubte. Sein Verbrechen war nicht so schwer gewesen. Nur Sträflinge gingen in die Magroth-Kristallminen, Sträflinge, die ansonsten vors Erschießungskommando geschickt würden. Sehr wenige hielten die lebenslange Haftstrafe in den Minen, ohne Aussicht auf Bewährung, für eine bessere Wahl.
Der General zog ein Blatt Papier aus dem oberen Teil von Grats Akte und legte es auf den Schreibtisch. „Sie reisen morgen früh ab.“
„Ich – was?“ Zum ersten Mal verspürte er wirklich ein Zittern in seiner Magengegend. Instinktiv fasste er in seine Hosentasche. Doch er hatte seinen Glücksbringer, eine kleine geschnitzte Drachenfigur, offenbar im Cockpit seines Fliegers gelassen, denn seine Hosentasche war leer. Vielleicht hätte er ihn mitnehmen oder zumindest vorhin den winzigen Drachenbauch reiben sollen, um an diesem Morgen mehr Glück zu haben. „Das ist verdammt nochmal nicht lustig, Sir.“
Die humorlosen grauen Augen des Generals fixierten ihn. „Der König hat zugestimmt.“
Der König? Der König würde ihn nicht in den Tod schicken. Er war zu wertvoll für ihren Krieg. Grat begann den Kopf zu schütteln, hielt aber inne, als sein Blick auf das Papier auf seiner Akte fiel. Befehle. Sie schickten ihn nicht als Verbrecher, sondern als Offizier. Das Militär bewachte die geheimen Magroth-Minen, deren Standort nur den hohen Befehlshabern und denjenigen, die dort stationiert waren, bekannt war.
„Sie wollen, dass ich Bergarbeiter bewache, Sir? Das ist die Aufgabe von Infanteristen. Von Unteroffizieren.“ Sicher, es mussten ein paar Offiziere vor Ort sein, um die Verwaltung zu leiten, aber es konnte unmöglich eine Stelle für einen Oberst geben. „Oder degradieren Sie mich?“ An dem Wort wäre er beinahe erstickt.
„Degradierung? Nein, keine Degradierung. Lesen Sie die Befehle, Grat.“ Das erste Mal bei diesem Treffen lächelte Ort, die Art Lächeln, die ein Tyrann zeigt, wenn er einen Leibeigenen verprügeln lässt. „Der König und ich haben das heute Morgen sehr ausführlich besprochen.“
Grat nahm das Blatt und studierte es. Versetzt! Er? Alles, was er konnte, war zu fliegen und schießen; das war alles, was er seit seinem Abschluss an der Flugschule getan hatte. Und jetzt sollte er in die Magroth-Minen? Dem Blatt entnahm er, dass sie in den Eisklingen lagen, einem Gebirge Hunderte von Meilen von der Küste und den Frontlinien entfernt.
Er senkte das Blatt. „Festungskommandant?“
„Ich glaube, das steht da, ja.“ Ort lächelte immer noch. Grat war der finstere Blick lieber gewesen.
„Das ist ... das ist eine Position für einen General.“ Oder zumindest jemanden mit Erfahrung in der Führung von Truppenbataillonen, ganz zu schweigen von dem administrativen Hintergrund, den ein Mann dafür benötigte. Alles, was Grat befehligt hatte, waren Schwadronen kluger, großspuriger Offiziere, die ihm nicht unähnlich waren. Was sollte er mit einem Haufen Infanteristen anfangen, die den Erdboden nie verlassen hatten? Und mit den Gefangenen erst, die in den Minen schufteten?
„In Kriegszeiten ist es nicht ungewöhnlich, dass weniger erfahrene Offiziere in Positionen oberhalb ihrer Gehaltsklasse kommen.“
„Was ist mit dem derzeitigen Kommandanten passiert?“, murmelte Grat und stellte sich einen armen General vor, dem die Spitzhacke eines Bergarbeiters in die Stirn gerammt worden war.
„General Bockenhaimer wird diesen Winter in den Ruhestand gehen. Er wird sehr dankbar sein, frühzeitig abgelöst zu werden.“
„Darauf wette ich.“ Grat starrte auf die Befehle auf dem Blatt und seine Sicht verschwamm. Es gelang ihm kaum, das Datum zu prüfen. Ein einjähriger Auftrag. Wer würde sein Geschwader befehligen, während er weg war? Wer würde seinen Flieger fliegen? Er hatte immer gedacht ... man hatte ihn zu der Annahme verleitet – nein, man hatte ihm gesagt, verdammt, er sei dort draußen unentbehrlich. Der Krieg war nicht zu Ende – wenn überhaupt, dann war in diesem Jahr mehr gekämpft worden als in den vier vorangegangenen Jahren. Wie konnten sie ihn zu irgendeinem abgelegenen, von den Göttern vergessenen Außenposten in den Bergen schicken?
„Ich weiß, dass das für Sie schwer zu verdauen ist, Grat, aber ich glaube, dass es das Beste ist.“
Grat schüttelte den Kopf. Das war alles, was er tun konnte. Ausnahmsweise fehlten ihm die Worte. Ihm fiel kein Witz ein, keine schlaue Bemerkung.
„Sie sind ein erstaunlicher Pilot, Grat. Das wissen Sie. Jeder weiß das. Aber es gehört mehr dazu, Offizier zu sein, als nur auf Dinge zu schießen. Dies wird Sie dazu bringen, als Soldat und als Mensch zu wachsen.“ Ort zuckte mit der Schulter. „Oder es wird Sie umbringen.“
Grat schnaubte.
Ort machte eine wegwerfende Handbewegung. „Sie haben Ihre Befehle. Weggetreten.“
Grat warf einen langen Blick auf den Hafen hinter dem Fenster, bevor er zur Tür ging. Weggesperrt. Ein Jahr lang. Wie sollte er das überleben?
„Oh, und Oberst?“, sagte der General, als Grat zur Tür ging.
Grat hielt inne und hoffte, dass alles ein Witz gewesen war, der ihm eine Lektion erteilen sollte. „Ja?“
„Packen Sie warme Kleidung ein. Der Herbst ist in den Eisklingen fast vorüber.“ Das Lächeln des Generals kehrte zurück. „Und Magroth liegt auf zwölftausend Fuß.“
Ardelle erwachte schlagartig, mit hämmerndem Herzen. Undurchdringliche Finsternis umgab sie. Irgendwo erklangen Kratzgeräusche und das Schrammen von Metall über Stein. Erinnerungen überrannten sie. Es hatte eine Explosion gegeben, als sie in die Sicherheitskammer beordert worden war. Wie der Berg gebebt hatte. Wie der Fels um sie herum herabstürzte. Wie die Welt erlosch.
Sie tastete durch das Dunkel. Alles, worauf ihre Finger trafen, war rauer, kalter Stein. Das Kratzen wurde immer lauter. Kam ihr jemand zu Hilfe? Aber warum brannten sie den Stein nicht weg oder bewegten ihn mit Magie? Warum klang es, als würde da jemand mit Spitzhacken zu ihr durchzubrechen versuchen? Vielleicht waren die Magier des Zirkels zu sehr damit beschäftigt, ihre Angreifer zu bekämpfen, und wer sie da retten wollte, waren gewöhnliche Arbeiter.
Ardelle?
Die Stimme in ihrem Kopf ließ sie vor Erleichterung aufatmen. Jaxi. War ihr magisches Schwert auch von den Felsen begraben worden? Sie hatte keine Zeit gehabt, um ihr Schwert zu holen, als der Berg zu beben begonnen hatte.
Ich bin hier, antwortete sie in Gedanken.
Den Göttern sei Dank! Du hast so lange Winterschlaf gehalten. Du kannst dir nicht vorstellen, wie einsam es war. Die Konversationen, die man mit Steinen führen kann, sind sehr begrenzt.
Ich nehme an, dass du auch begraben bist?
Tiefer als Du. Du hast mich in den Trainingsräumen im Keller zurückgelassen, erinnerst du dich?
Natürlich erinnere ich mich. Soweit ich weiß, hast du heute Morgen genossen, wie dieser hübsche, junge Lehrling deine Klinge ölte. Ardelle wartete auf eine Erwiderung, doch ein langes Schweigen erfüllte ihren Geist. Das Kratzen kam immer näher, bis ein kleiner Lichtblitz die Dunkelheit durchdrang.
Als Jaxi schließlich antwortete, war es ein sanftes: Ardelle?
Ja ...?
Das war nicht heute Morgen.
Wann dann?
Vor dreihundert Jahren.
Sie schnaubte. Sehr komisch. Wie lange ist es wirklich her?
Die Feinde waren ausgesprochen gründlich darin, den Berg zum Einsturz zu bringen. Sie waren irgendwie magisch abgeschirmt, sodass unser Volk ihre Ankunft nicht bemerkt hat, ehe es zu spät war. Ardelle ... viele sind gestorben. Viele. Die Referatu gibt es heute nicht mehr. Es hat dir das Leben gerettet, dass du gerade in der Sicherheitskammer warst. Sie ist nicht nur nicht eingestürzt, sondern hat dich in Schlaf versetzt, bis draußen wieder günstige Lebensbedingungen herrschten: Sauerstoff und die Möglichkeit, aus den Trümmern zu kommen.
Diesen Teil glaubte Ardelle. Sie erinnerte sich daran, wie Jetia eine telepathische Botschaft – eher einen mentalen Angstschrei – über die Pioniere ausgesandt hatte, Sekunden bevor die Explosionen losgegangen waren und die Felsen zu bröckeln begannen. Aber ... dreihundertJahre?!
Jaxi fuhr fort: Ich war all die Jahre bei Bewusstsein, habe über den Trümmern gewacht und gehofft, dass jemand mit magischen Kräften vorbeikommt, damit ich ihn kontaktieren kann und er uns rettet. Es gelang mir zwar, mich mit ein paar Hirten und Goldgräbern in Verbindung zu setzen, aber sie fanden meine Präsenz in ihren Köpfen alarmierend, wie du dir vorstellen kannst. Sie rannten schreiend weg. Kaum der Rede wert. Ich schätze, ich bin unter tausend Metern festem Gestein begraben. Es gäbe keine Möglichkeit für einen normalen Menschen, mich zu erreichen. Selbst für dich wird es schwer ... Aber ich wäre dir dankbar, wenn du einen Weg finden würdest, mich herauszuholen.
Normalerweise konterte Ardelle Jaxis trockenen Humor mit ebenso spröden Sprüchen, aber jetzt war ihre Kehle wie zugeschnürt. Sie versuchte sich vorzustellen, wie Jaxi da unten bei vollem Bewusstsein begraben lag … seit dreihundert Jahren. Jaxi war einst eine Magierin gewesen wie Ardelle, jedoch jung an einer seltenen Krankheit gestorben. Wie es unter Magierin üblich war, hatte Jaxi sich mit ihrem letzten Atemzug dafür entschieden, ihre Seele einem Schwert einzuflößen: Sie war eine Seelenklinge geworden. Obwohl ihr Leben als Magierin schon vor vielen Jahrhunderten geendet hatte und sie an ihr neues Dasein gewöhnt war, musste die lange Isolationshaft unter tonnenschweren Trümmern auch für sie hart gewesen sein.
Die Welt da draußen hat sich verändert, fuhr Jaxi ungewohnt sanft fort. Unser Volk wurde vernichtet. Diejenigen, die heute an der Macht sind, fürchten alles, was nach Magie riecht. Vor einiger Zeit sah ich am Fuße des Berges ein Mädchen, das beschuldigt wurde, eine Hexe zu sein. Sie wurde mit Steinen beschwert und in einem See ertränkt. Niemand darf erfahren, dass du eine Referatu bist.
Ardelle spürte ein Lachen im Hals kitzeln. Sie wollte Jaxi gratulieren, ihr einen so überzeugenden Streich zu spielen. Aber würde Jaxi wirklich Witze darüber machen, dass alle ihre Freunde, Verwandten und Bekannten tot waren? All ihre Freunde. Ihre Verwandten. Ihr ganzes Volk.
Das Flackern von Laternen sickerte in ihre Nische. Ardelle konnte noch nicht erkennen, wer dort draußen war, also sandte sie ihre Sinne aus ... und wusste sofort, dass die beiden Männer, die mit Hacken und Schaufeln den Fels bearbeiteten, Fremde waren. Sie redeten miteinander. Ihre Stimmen waren rau und hatten einen leichten Akzent.
„ ... siehst du was, Tace?“
„Weiß nicht. Könnte ein Raum sein. Hier oben ist eine Lücke in den Felsen.“
„Siehst du einen Kristall?“ Geröll bewegte sich, Kieselsteine kullerten einen Abhang hinunter. „Stell dir vor, wir finden den ersten Kristall in über einem Jahr, Mann! Dann kriegen wir eine Pulle Schnaps nur für uns allein. Und der General lädt uns zum Abendessen ein! Ich hab gehört, der isst jeden Abend Leberpastete und Hefekuchen …“
Bei dieser Vorstellung glucksten beide.
Einige der Wörter und die Aussprache haben sich im Laufe der Generationen verändert, aber sie sprechen unsere Sprache. Du wirst mit ihnen kommunizieren können, ohne in ihren Verstand eindringen zu müssen. Jaxi schwieg einen Moment lang, aber Ardelle spürte das Unbehagen durch ihre mentale Verbindung. Eigentlich würde ich mich an deiner Stelle ganz aus ihren Köpfen fernhalten.
Telepathisches Eindringen ohne Einladung ist außer in Notfällen ohnehin verboten, erinnerte Ardelle ihre Seelenklinge. Das Mantra war eines der ersten der Referatu, etwas, das Jaxi sicherlich genauso gut wusste wie sie.
Wir sind seit Jahrhunderten eingeschlossen. Wenn das hier kein Notfall ist, was dann?
Wo sie recht hatte, hatte sie recht. Ardelle seufzte. Ich werde meine Fähigkeiten für mich behalten.
Endlich fiel so viel von dem Stein ab, dass Ardelle die Männer ausmachen konnte – ihre Retter, ob sie es wussten oder nicht.
Sie wissen es nicht. Überleg dir eine gute Ausrede, wie du hier unten reingekommen bist!
Vorschläge?
Lass mich nachdenken. Da kommen sie!
Eine Laterne wurde vor das Loch gehoben. Kurz darauf kam das Gesicht eines Mannes zum Vorschein, oder besser gesagt ein verfilzter Bart, hinter dem ein schmutziges Gesicht verborgen zu liegen schien. Sein fettiges dunkles Haar wurde von einem Tuch zurückgehalten.
„Hier drinnen ist etwas“, sagte er zu seinem Kameraden. „Ich sehe Stoff und, ähm ...“
„Ich grüße Sie“, sagte Ardelle. „Tace, richtig?“
Vor Überraschung weiteten sich die Augen des Mannes und er stolperte aus Ardelles Blickfeld. Nun, immerhin hatte er nicht „Hexe“ geschrien.
„Was ist da?“, fragte sein Kamerad.
„Da ist ein Mädchen in der Höhle“, stammelte Tace.
„Du zerrst wohl an meiner Schaufel? Hier unten gibt es keine Mädchen.“
„Ich bin eine Frau“, sagte Ardelle höflich, „und ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich ausgraben würden.“ Sie spähte durch das Loch und sah einen Tunnel hinter den Männern. Sie könnte die Felsen auf ihre eigene Weise aus dem Weg räumen, aber sie nahm Jaxis Warnung ernst: Sie fürchten alles, was nach Magie riecht.
„Eine Frau“, flüsterte Tace. „Eine Frau hier unten.“
„Wie ist sie da reingekommen?“
Die Öffnung weitete sich, als die Männer mit neuem Elan auf den Fels einschlugen. „Die Soldaten sind alle zurück bei der Grubenbahn“, schnaufte Tace. „Sie werden nichts hören. Sie gehört uns allein.“
Mit diesen Worten – und dem Aufwallen von Lust, die wie eine Hitzewelle von Tace ausschlug – verstand Ardelle, warum die Männer so eifrig nach ihr gruben.
„Was, wenn sie hässlicher ist als deine Großmutter?“
„Ist mir egal. Als ich das letzte Mal versucht hab, zum Stich zu kommen, hat mich Bretta, das Mannsweib, aus der Frauenbaracke geschubst, als wäre ich ein Aussätziger. Aber jetzt wurden meine Gebete erhört, haha!“
Seine Gebete? Welcher Mann betete zu welchem Gott, dass er eine Frau vergewaltigen durfte? Oder dachte der Bergarbeiter allen Ernstes, sie würde ihm freiwillig in die Arme springen? Nein, darüber dachte er gewiss nicht nach – er war einfach blind von Gier wie ein Mann, der nach einer Goldader grub. Ardelle war nicht in seine Gedanken eingedrungen – und war ohnehin nicht begabt genug als Telepathin, um es zu tun, ohne dass er es spürte –, aber seine Emotionen brodelten so heftig an der Oberfläche, dass sie eine Barriere um sich herum hätte errichten müssen, um sie nicht zu lesen.
Dicke Steine bröckelten aus der Wand. Ardelle hätte vortreten und sich von den Männern aus der Öffnung helfen lassen können, aber sie drängte sich ans andere Ende der Nische und wog ihre Möglichkeiten ab. Mit einem Möchtegern-Vergewaltiger fertigzuwerden war keine schwierige Angelegenheit, wenn sie Magie einsetze, aber genau davor hatte Jaxi sie gewarnt. Es schienen nur die beiden Männer im Tunnel zu sein. Als sie ihre Sinne weiter ausstreckte, spürte sie in einiger Entfernung andere Menschen in einem Labyrinth von Minen, die sich durch das Innere des Berges zogen. Ardelle biss die Zähne zusammen. Besser wäre es, niemand würde erfahren, dass sie hier war. Aber sie würde die beiden Männer nicht töten, um sich geheim zu halten. Das wäre genau die Art von Machtmissbrauch, die den normalen Leuten Angst vor Magiern machte.
Ardelles Sinne schwammen um die überwältigenden Emotionen von Tace herum. Sie versuchte, ein Gefühl für den Geisteszustand des anderen Mannes zu bekommen. Könnte er vernünftiger sein? Jemand, an den sie sich wenden könnte? Ihre Hoffnung wurde durch ihre erste mentale Begegnung mit ihm zunichte gemacht: Eine Dunkelheit schwebte über ihm, eine andere Art von Lust. Er schien jemand zu sein, der gern anderen wehtat. Der gern mit Messern schnitt und Schmerzen in Gesichtern sah. Er würde seinen Genossen Tace leichtfertig töten, wenn er damit durchkäme, und er würde auch sie ohne Gewissensbisse töten.
Ardelle zog sich zurück, ihr Herz raste von dem schaurig kalten Kontakt. Sie fuhr ihre mentalen Barrieren hoch, um weitere Berührungen mit den Emotionen der beiden zu verhindern.
Ich habe es dir gesagt. Jaxi klang eher traurig als triumphierend.
Es waren genug Steine abgetragen worden, sodass die Männer sie jetzt erreichen konnten. Sie erhoben ihre Laternen, um besser sehen zu können. Ardelle trat ins Licht, jedoch nicht, um den beiden näherzukommen, sondern um den Tunnel und damit ihren Fluchtweg auszukundschaften. Die Männer rochen nach Schweiß und Dreck und selbst ohne magische Fähigkeiten hätte man die Lüsternheit auf ihren Gesichtern lesen können. Es waren beides große Männer, stark durch harte körperliche Arbeit. Zufällig oder absichtlich blockierten sie den engen Tunnel.
„Es ist ein Mädchen“, flüsterte Tace und gaffte sie von Kopf bis Fuß an.
Ardelle war an diesem Morgen für die Geburtstagsfeier des Präsidenten zurecht gemacht worden – nein, nicht an diesem Morgen, korrigierte sie sich, sondern an einem Morgen, der Hunderte von Jahren zurücklag. Ihr schwarzes Haar fiel offen über ihre Schultern, anstatt wie sonst in einem praktischen Zopf zu stecken. Sie trug Sandalen und ein Kleid, das für einen Ball angemessen war, nicht für die Besichtigung eines Bergwerks. Die grüne Seide zeigte nicht viel Haut, passte sich aber den Konturen ihres Körpers an. Ihr wurde klar, dass der zarte Kragen irgendwann zerrissen war. Die Augen der beiden Männer richteten sich auf ihr blasses, entblößtes Dekolleté.
Tace grinste, trat vor und griff nach ihrem Arm. Ardelle spürte, dass Jaxi sich bereit machte wie ein Panther vor dem Sprung. Die Seelenklinge würde den Geist der beiden angreifen, wenn sie selbst keinen Weg fand, sich zu verteidigen.
Schnell wandte Ardelle einen einfachen Trick an, den sie von einer Feldheilerin gelernt und schon einmal in einer schwierigen Situation angewendet hatte: Sie verpasste ihnen Ausschläge.
Es dauerte einen Moment, bis der Ausschlag sich bemerkbar machte. Ardelle befürchtete schon, sie müsste doch zu einem härteren Angriff übergehen. Tace zerrte sie zwischen den Felsen hervor und drückte sie gegen die kalte Steinwand, wobei er seinen Körper gegen ihren drängte. Sein Geruch umhüllte sie wie eine Gaswolke und sie hielt angewidert die Luft an. Er griff nach seinem Gürtel, doch dann stutzte er, einen verwirrten Ausdruck auf dem Gesicht. Hinter ihm stützte sein Kamerad sich mit der einen Hand auf seine Spitzhacke und kratzte sich mit der anderen an den Eiern.
Ardelle wollte vermeiden, dass Taces heißer Atem über ihr Gesicht strich, doch sie bewahrte die Fassung und hob lediglich eine Augenbraue. Seine Hüften bewegten sich zur Seite und anstatt seinen Gürtel zu lösen, griff er nun tiefer, um sich ebenfalls zwischen den Beinen zu kratzen.
Der andere Mann ließ seine Spitzhacke klirrend zu Boden fallen, verdrehte sich und bäumte sich auf, beide Hände im Schritt. Auch Tace trat vor Ardelle zurück, um sich heftig zu kratzen. Als er jetzt seinen Gürtel öffnete und die Hose runterließ, hatte er sicher nicht mehr vor, sich an ihr zu vergehen. Er krümmte sich, um zu sehen, was da unten vor sich ging. Beide Männer humpelten zur nächsten Laterne, die Hosen um die Knöchel schlotternd.
Ardelle schlich ein paar Schritte an der Wand entlang, langsam und lautlos. Da die Männer zu sehr damit beschäftigt waren, die Köpfe zwischen ihre eigenen Beine zu stecken, um sie zu beachten, begann sie schneller zu laufen. Hätte sie doch bloß ihre lederne Arbeitskleidung zum Geburtstag des Präsidenten getragen. Der Tunnel war dunkel und uneben, und sie stolperte in ihren Sandalen. Doch sie zauberte kein Licht, sondern ließ sich nur von ihren magischen Sinnen leiten. Sie hatte keine Lust, weiteren Bergarbeitern zu begegnen.
Was ist das für ein Ort geworden, Jaxi? Ardelle konnte mit ein paar Rüpeln umgehen, aber was wäre, wenn ... wenn die ganze Welt so geworden war? Die Gemeinschaft ihres Volkes zerstört, um durch das hier ersetzt zu werden – Höhlengänge voller verlotterter, verdreckter Verbrecher? Ihr Volk ... Ihre Freunde. Waren sie alle bei dem Angriff gestorben? Tedzu, Malik, Yewlith? Ihr Bruder? Ihre Eltern? Hatten sie die Explosion überlebt, hatten sie irgendwo in der Ferne eine neue Heimat gefunden? Oder war sie jetzt ganz allein auf der Welt, die Letzte Referatu?
Ich bin noch hier. Jaxi sandte eine Woge des Mitgefühls aus. Ardelle wusste das zu schätzen, aber es reichte nicht, um sie zu trösten. In der Dunkelheit des Tunnels ließ sie zu, dass ihr Tränen über ihre Wangen liefen und von ihrem Kinn tropften.
Dieser Ort ist seit etwa fünfzig Jahren ein Bergwerk. Und auch ein Gefängnis, denn die Arbeiter sind Gefangene, erklärte Jaxi.
Und jenseits der Eisklingen? Was ist aus der Welt hinter den Bergen geworden?
Das weiß ich nicht. Ich kann nur die nähere Umgebung spüren.
Wenn es sich hier um ein Gefängnis handelte, bedeutete das vielleicht, dass ein zurechnungsfähiger Mensch das Sagen hatte, jemand, der ihr helfen konnte. Wie genau, wusste sie noch nicht so recht. Aber sie musste Jaxi unter Tonnen von Felsen befreien. Und dann musste sie herausfinden, ob noch jemand von ihrem Volk überlebt hatte. Ob es noch Kindeskinder ihrer Freunde gab, die etwas von der Vergangenheit bewahrt hatten. Dass dies das Beste war, worauf sie hoffen konnte, trieb ihr noch mehr Tränen in die Augen. Oder vielleicht waren doch noch Leute von damals in einem Schutzraum begraben und schliefen, so wie sie bis vorhin? Vielleicht konnte Jaxi sie nur nicht spüren, weil sie in den Schutzräumen vollkommen abgeschieden von jeglicher Magie waren. Ardelle musste irgendwie bewerkstelligen, dass nach ihnen gesucht wurde.
Ich habe überprüft, ob es Überlebende in den Schutzräumen gibt, sagte Jaxi erschöpft. Hunderte Male. Glaube mir, ich habe gründlich gesucht. Es waren lange, langweilige drei Jahrhunderte. Ich habe auch all die Bücher in der sehr staubigen, sehr selten genutzten Gefängnisbibliothek gelesen. Wenn du jemals eine Zusammenfassung der Titel brauchen solltest, lass es mich wissen.
Ardelle wusste Jaxis Humor nicht zu schätzen, nicht jetzt. Als ich im Schutzraum lag, konntest du da spüren, dass ich noch am Leben war?
Ja.
Ardelle suchte nach einem Grund, weshalb Jaxi andere Überlebende übersehen haben könnte. Sie wollte ihre Hoffnung nicht aufgeben. Wir sind verbunden. Vielleicht konntest du mich deshalb spüren und ...
Nein.
Licht erschien vor ihr. Laternen hingen an den Holzbalken. Auf dem Boden verliefen Eisenschienen, auf denen hier und da kleine Waggons voller Erz standen. Unverbaute Schienenteile reihten sich an einer Wand auf, offenbar, um neue Strecken zu legen. Ardelle verlangsamte ihr Tempo und spürte mit ihren magischen Sinnen, dass sich mehrere Menschen in der Nähe aufhielten. Bald schon hörte sie das Quietschen von Karren und das Kratzen von Schaufeln. Der Laternenschein machte es nahezu unmöglich, sich unbemerkt an den Bergarbeitern vorbeizuschleichen.
Ardelle verlangsamte ihren Schritt. Wenn hier Gefangene arbeiteten, müsste sie doch auch jemand beaufsichtigen. Eine Wache könnte Ardelle zu demjenigen bringen, der hier das Sagen hatte.
Ein Mann huschte vor ihr durch den Tunnel und war schon wieder verschwunden – dort musste ein anderer Tunnel diesen kreuzen. Ardelle drückte sich in den Schatten eines Holzbalkens, um sich zu verbergen, falls noch jemand kam. Vielleicht sollte sie ein Versteck suchen und abwarten, bis die Schicht der Bergarbeiter zu Ende war? Unsicher schlich sie weiter. Der Lärm der Bergarbeiten endete abrupt. Die Stille sirrte in ihren Ohren. Legten die Gefangenen eine Pause ein oder war ihre Schicht etwa gerade vorbei?
Ardelle erreichte die Ecke der Kreuzung und spähte zur Seite. Es handelte sich nicht um einen Gang, sondern um einen offenen Raum mit Laternen, die sowohl von der hohen Decke als auch von den Wänden hingen. Zwei Männer bewachten einen vergitterten Waggon mit einem an der Oberseite befestigten Kabel. Sowohl das Kabel als auch die Schienen, auf denen der Waggon stand, führten in einem steilen Schacht nach oben.
Die beiden Männer wirkten mit ihren ordentlichen Frisuren, rasierten Gesichtern und sauberen Uniformen – graue Hosen mit silbernen Paspeln und marineblaue Jacken –etwas vertrauenswürdiger als die Gefangenen, denen Ardelle vorhin entwischt war, allerdings hieß das nicht viel. Und es machte sie nervös, dass sie diese Uniformen nicht kannte. Es waren nicht die dunkelgrünen Uniformen der iskandischen Garde, die einst mit Hilfe der Referatu den Kontinent befreit und verteidigt hatte. Und sie kannte auch ihre Waffen nicht. Die Dolche und mit Nieten besetzten Streitkolben, die mit kurzen Ketten an ihren Werkzeuggürteln befestigt waren, wirkten noch halbwegs vertraut, aber ihre Schusswaffen hatte es zu Ardelles Zeiten nicht gegeben. Es waren keine Musketen mit Luntenschloss – Waffen, auf die viele Soldaten zu Gunsten von Langbögen oder Armbrüsten verzichteten –, sondern schlichte schwarze Waffen, wie Ardelle sie noch nie gesehen hatte. An der Spitze war kein Ladestock befestigt, und die Männer trugen scheinbar auch keine Pulverbehälter.
Sie haben Pulver- und Musketenkugeln durch Patronen ersetzt, in welchen bereits Ladung enthalten ist, teilte Jaxi ihr mit. Jedes Gewehr kann sechs Patronen aufnehmen, und der Hebel an der Unterseite dient dazu, sie in die Kammer zu laden. Sie können schnell feuern, etwa einen Schuss pro halbe Sekunde.
Selbst ohne Jaxis Erklärung hätten die Schusswaffen – die Gewehre – Ardelle bewusst gemacht, was sie nicht hatte glauben wollen: Dies war nicht mehr ihr Jahrhundert.
Es tut mir leid.
Schon in Ordnung. Ardelle blinzelte und kämpfte wieder gegen die Tränen an. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um zu trauern. Sie holte zittrig Luft und beruhigte sich.
Gerade als sie den Tunnel verlassen und sich den Wachen zeigen wollte, tauchte eine Horde von Männern aus einem anderen Tunnel auf. Donner erscholl. Der Boden bebte unter Ardelles Füßen. Schwarzer Rauch qualmte aus einem weiteren Tunnel, dann stürmte die wilde Horde in den Raum und griff die Wachen an.
Diese suchten im Bahnschacht Deckung und legten ihre Gewehre auf die Angreifer an. Ohne Vorwarnung begannen die Wachen zu schießen. Schreie hallten von den Wänden wider. Ardelle spürte beinah selbst die Schmerzen der Getroffenen, die zusammenbrachen. Trotzdem erreichten drei der Angreifer die Wachen, und das Gefecht ging in den Nahkampf über. Die Gefangenen schwangen ihre Spitzhacken und Schaufeln mit der Kraft der Verzweiflung, aber es zeigte sich schnell, dass die Soldaten gut ausgebildet waren. Sie sorgten dafür, dass der Bahnschacht in ihrem Rücken blieb, sodass die Angreifer sie nicht umzingeln konnten. Kaum waren ihnen die Gewehre aus den Händen geschlagen worden, hatten sie auch schon ihre Streitkolben gezogen und ließen die mit Nieten besetzten Metallköpfe gegen Rippen und Kiefer sausen. Die drei Bergarbeiter lagen schon bald bewegungslos auf dem Boden.
Weitere Gefangene hatten sich aus den anderen Tunneln in die Nähe der Kammer geschlichen, aber sie schienen eher schaulustig als kampfbereit. Oder? Nein, sie waren nichtalle harmlose Zuschauer.
„Vorsicht“, rief Ardelle, um auf einen neuen Angreifer aufmerksam zu machen, der um den rauchenden Tunnel schlich – vermutlich derjenige, der auch den ersten Satz Sprengstoff gezündet hatte. Er warf einen langen Zylinder, an dessen Zündschnur Flammen tanzten. Er landete vor dem Gitterwaggon. Einer der Soldaten schoss mit dem Gewehr, das er wieder aufgehoben hatte, auf den Werfer, während der andere die knisternde Zündschnur so ruhig austrat, als wäre sie nur ein glühender Zigarrenstummel.
Ardelles Warnung war wohl überflüssig gewesen.
Dafür waren die beiden nun endlich auf sie aufmerksam geworden. Blinzelnd starrten sie sie an. Und nicht nur sie – auch die Gefangenen in den anderen Tunneln stießen sich an und zeigten auf sie. Ardelle widerstand dem Drang, zurückzuweichen. Sie richtete sich auf, ihrer dürftigen Kleidung peinlich bewusst.
„Was machst du hier unten, Frau?“
Es gab also kein Dankeschön für die Warnung.
Ardelle öffnete den Mund, brachte aber nichts hervor, als sie sah, wie einer der Soldaten niederkniete und mit seinem Dolch seelenruhig einem Angreifer, der stöhnend auf dem Boden lag, die Kehle durchschnitt.
„Was tun Sie da?“, platzte es aus Ardelle heraus. „Diese Männer stellen keine Bedrohung mehr dar. Warum töten Sie sie?“
Der Soldat schwang gelangweilt den blutigen Dolch und antwortete nicht.
Der andere ging in die Mitte des Raums und richtete sein Gewehr auf die versammelten Gefangenen. „Ihr habt eure Wahl getroffen, als ihr euch für ein verbrecherisches Leben entschieden habt. Und diese Idioten“, er blickte auf die Toten herab, „haben ihre Entscheidung gerade endgültig besiegelt. Hier gibt es keine Nachsicht.“ Er spuckte auf die Toten. Im Gegensatz zu Tace und seinem Kumpel waren diese armen Gestalten klapperdürr, mit hageren Gesichtern und ausgehöhlten Wangenknochen. Kein Wunder, dass ihr Angriff misslungen war.
Der Soldat wandte sich wieder Ardelle zu, den Lauf seiner Waffe auf sie gerichtet. Sie schluckte schwer. Hielt er sie ebenfalls für eine Gefangene? Sie streckte ihre Sinne nach ihm aus und spürte keine freundlichen Gedanken, aber sie hatte auch nicht das Gefühl, dass er sie verletzen wollte.
„Komm, Frau. Du solltest nicht hier unten sein.“ Er war in wenigen Schritten bei ihr, ergriff ihren Arm und zog sie hinter sich her, doch als sie ins Licht des Raums stolperte und er ihr Kleid sah, hielt er inne. Er runzelte die Stirn. „Bist du gestern mit den neuen Gefangenen angekommen? Hast du keine Einweisung erhalten?“
Ardelle schluckte. Wenn das ihre Anwesenheit hier unten erklärte, dann würde sie mitspielen. „Nein. Keine Einweisung.“
Er schüttelte den Kopf und packte ihren Arm fester. „Hier entlang. Randask, ich bringe die hier hoch in den Frauenbereich. Dann melde ich auch gleich diese Schweinerei dem Hauptmann, damit der sie dem General melden kann, der einen Yakfurz drauf geben wird. Kommst du hier unten zurecht?“
„Ja.“ Der Soldat wischte seinen blutigen Dolch am Toten sauber und spähte in die Tunnel, in die sich die Schaulustigen wieder zurückgezogen hatten. Hacken waren zu hören, die auf Stein schlugen. Als hätte der Kampf nie stattgefunden.
Das kommt immer wieder vor, meinte Jaxi resigniert. Die Gefangenen haben nichts zu verlieren.
Haben wir etwas zu verlieren?
Ich kann nicht für dich sprechen, aber ich lebe in der Hoffnung, dass sich meine Situation verbessern wird. Zumindest wird die Gefängnisbibliothek vielleicht irgendwann mit neuen Büchern bestückt.
„Hier entlang.“ Der Wächter führte Ardelle in den Gitterwagen. Er stieg hinter ihr ein und ließ ihren Arm selbst dann nicht los, als er die Tür hinter ihnen abschloss. Als ob sie weglaufen und in diese schrecklichen Tunnel zurückkehren würde. Sie musste daran denken, dass gestern – nein, vor dreihundert Jahren – nur wenige Männer oder Frauen gewagt hätten, sie ungefragt zu berühren. Ganz zu schweigen davon, sie einzusperren. Magier wurden immer mit Respekt behandelt, wenn nicht gar mit Ehrfurcht. Aber sie durfte sich nicht zu erkennen geben.
Der Soldat zog an einem Hebel vorne am Wagen. Das Kabel über ihnen begann zu surren, das Gefährt schnurrte und ratterte los. Ächzend rollte es die Schienen hinauf in die Dunkelheit. Ardelle verdrehte den Kopf, um hinaufblicken zu können. In der Ferne wartete Licht, kaum größer als ein Nadelkopf. Während der Gitterwagen sich mit einer bedenklich steilen Neigung dem Licht näherte, konnte Ardelle fühlen, wie sie sich immer weiter von Jaxi entfernte. Ihre Verbindung war stark genug, dass sie über viele Meilen hinweg kommunizieren konnten, auch wenn sie nie wirklich so weit von ihrer Seelenklinge fort gewesen war. Nun kam ihr die Trennung schmerzlich zu Bewusstsein: Sie auf dem Weg ins Unbekannte dort oben, Jaxi in der Finsternis dort unten ... Sie hatte das Gefühl, die einzige Freundin, die ihr auf der Welt geblieben war, im Stich zu lassen.
Keine Sorge, kam die trockene Antwort. Du wirst nicht weit kommen.
Richtig, Jaxi hatte gesagt, dies sei ein Gefängnis. Sie vertraute darauf, dass sie jemanden finden würde, der ihr half, Jaxi auszugraben. Wenn nicht, musste sie es auf eigene Faust schaffen. Und dann würden sie zusammen fliehen.
Nur falls du gelernt hast zu fliegen. Die Eisklingen sind so hoch wie eh und je und die Straße über den Pass wurde zerstört. Außerdem ist der erste Schnee des Winters schon gefallen.
Ardelle kaute auf ihrer Lippe. Aber die Wache hat die Ankunft neuer Gefangener erwähnt. Wie kommen diese Leute rein und raus?
Wenn das Wetter es zulässt, fliegen sie.
Siefliegen?
Sie haben Schiffe, die von riesigen Ballons gehalten werden. Sie haben auch kleine, manövrierfähige mechanische Fahrzeuge, die nach dem Vorbild der Drachen von Eld entworfen wurden. Wie ich dir schon gesagt habe: Die Welt hat sich verändert.
„Wie bist du überhaupt hier runtergekommen?“, fragte der Soldat und unterbrach Ardelles Versuch, sich ein Bild von alledem zu machen. Sie zuckte mit den Achseln. „Bin einfach hinunter gegangen.“
„Hm.“
Sie bemerkte Argwohn in diesem kleinen Laut. Es spielte keine Rolle, solange er sie nicht verdächtigte, eine Magierin zu sein. Der Gitterwagen nahm ordentlich Tempo auf und kalte frische Luft wehte ihnen entgegen, obwohl das Licht noch sehr weit weg schien. Ardelle fragte sich, wie tief die Tunnel in den Berg hinein reichten. Vielleicht gab es eine Möglichkeit, die Bergarbeiten in Jaxis Richtung zu lotsen. Mit Spitzhacken und Schaufeln würde es wahrscheinlich ewig dauern, aber es war eine Möglichkeit.
„Sie haben erwähnt, dass Sie mich in einen Frauenbereich bringen würden“, sagte Ardelle, „aber eigentlich muss ich den Gefängnisleiter sehen.“ Sie hoffte, dass das nicht der General war, über den der Soldat gesagt hatte, er würde sich wohl einen „Yakfurz“ um den Aufstand scheren. „Können Sie mich zu ihm oder ihr bringen?“
Der Soldat schnaubte. „Der General empfängt keine Gefangenen.“
Quietschend rollte der Gitterwagen aus dem Schacht und kam abrupt zum Stehen. Ein eisiger Wind blies Ardelle entgegen und überzog ihre nackten Arme mit einer Gänsehaut. Sie starrte an den schwarzen Steinwällen empor, die sie umgaben. Dann erkannte sie die Umgebung wieder. Das düstere Fort war in einem kleinen Tal errichtet worden, in dem einst Kaufleute Käse, Trockenfrüchte und Gewürze verkauft hatten. Damals war eine breite Straße durch das Tal verlaufen und eine Brücke hatte über den Fluss geführt, der vom Berg Galmok herabfloss. Der Fluss war immer noch da, halb vereist, und schlängelte sich durch den Hof. Früher war er malerisch gewesen. Heute konnte man das nicht mehr sagen. Die Mauern mit ihren spitzen Zinnen und Kanonen waren ebenso abweisend wie die Eisklingen, die sich rings um das Tal erhoben und den Himmel mit ihren schroffen Gipfeln zu durchbohren schienen. Sie ragten fünftausend Meter über das ohnehin schon erhabene Tal hinaus. Abgesehen von Galmok ... Sie starrte den Berg voller Entsetzen an. Er hatte seinen majestätischen Gipfel verloren und war nur noch ein buckeliger Schatten seiner selbst, von der Form her eher ein Vulkan als der stattlichste Berg der Eisklingen.
Der Soldat schubste sie aus der geöffneten Gittertür. „Mach schon, Mädchen.“
Ardelle riss ihren Blick vom eingestürzten Berg los, der einst ihre Heimat gewesen war, und kletterte aus dem Wagen. Fröstelnd wollte sie die Arme um sich schlingen, doch der Soldat packte sie wieder am Ellenbogen und zog sie unsanft weiter, vorbei an anderen Schächten wie dem, aus dem sie gekommen waren. Was wurde hier abgetragen? Hatte nicht Tace oder sein Kumpel gesagt, dass sie nach Kristallen suchten? Sie konnte sich nicht vorstellen, welche Art von Kristall in Galmok sein sollte. Es gab Gold- und Silberadern in der Gegend. Sie entdeckte am anderen Ende des Festungshofs eine Schmelzhütte. Vielleicht wurde hier also doch Edelmetall abgebaut.
Sie stolperte mit ihren Sandalen im Schnee und der Soldat riss sie rücksichtslos weiter. „Schlaf nicht ein!“
Er führte sie zu einem großen Steingebäude, vor dem Wäsche an einer Leine im Wind peitschte, um in der kläglichen Sonne zu trocknen.
Ein paar Frauen, die Körbe voller Wäsche trugen, gingen ebenfalls auf das Haus zu. Sie trugen Umhänge, Röcke und Socken aus grober Wolle und dicke Schals um die Köpfe geschlungen. Ardelle empfand Erleichterung. Sie wollte lieber bei diesen Frauen sein als unten bei den Bergarbeitern. Dann würde sie sich in Ruhe überlegen, wie sie Kontakt zum General aufnehmen konnte, der hier das Sagen hatte.
Sie merkte, dass der Soldat in den Himmel aufblickte. Ein seltsames Flugobjekt segelte im Westen um den Berg herum und näherte sich der Festung. Ardelle klappte der Mund auf. Sie hatte es nicht ganz geglaubt, als Jaxi es gesagt hatte, aber der bronzene Metallapparat war eindeutig kein Vogel. Menschen hatten tatsächlich den Himmel erobert – sie flogen. Die Flügel waren steif und reglos, dennoch erinnerte ihre Form sie vage an einen Drachen. Oder, besser gesagt, an die Bilder von Drachen, die Ardelle in Büchern gesehen hatte. Die Geschöpfe waren seit über tausend Jahren ausgestorben. Runde Objekte waren unter den Flügeln befestigt und schienen einen summenden Lärm zu verursachen.
Das sind Propeller, sagte Jaxi.
Propeller? Was bezwecken sie?
Dass das Ding in der Luft bleibt, natürlich!
Ah, wie klug du bist, Jaxi.
„Wer zum Geier ist das?“, knurrte der Soldat. „Vorräte und Gefangene kamen doch gestern erst an.“
Was auch immer es ist, es könnte eine Fluchtmöglichkeit für dich sein, sagte Jaxi mit kaum verhohlener Sorge.
Ich gehe nicht ohne dich, Jaxi.
Ich werde hier weder ersticken noch sterben. Du kannst zurückkommen, wenn du die Chance dazu hast.
Ardelle wollte nicht ohne Jaxi gehen. Und wohin auch? Das hier war ihr Zuhause. Gewesen.
Jaxi stieß einen mentalen Seufzer aus.
Der fliegende Apparat geriet ins Schaukeln. Er umkreiste das Fort wie ein Fischadler einen See. Doch der Soldat an Ardelles Seite schlug nicht Alarm, und auch keiner der Soldaten auf den Wällen rannte zu den Kanonen. Es musste sich also um ein freundliches Luftfahrzeug handeln. Es neigte sich mit seinem zweistöckigen Bau dem breiten, flachen Dach des größten Gebäudes im Fort zu. Ein Flachdach war ungewöhnlich für eine bergige Gegend, in der jedes Jahr mehrere Meter Schnee fielen. Die anderen Gebäude hatten genau die steil abfallenden Spitzdächer, die man hier erwarten würde, aber als sich das Flugzeug senkte, wurde Ardelle klar, dass diese bestimmte Stelle für die Landung vorgesehen war. Ein Fischadler konnte seine Flügel einklappen und auf einer Stange landen, aber die von Menschenhand geschaffene Maschine schien diese Fähigkeit nicht zu haben. Das Flugzeug musste weite Steilkurven ziehen. Eine Art Schubdüse drehte sich unter den Flügeln und ermöglichte es dem bronzenen Apparat, langsamer zu werden, ohne vom Himmel zu fallen. Bald schon schwebte er über dem Gebäude, dann senkte er sich ab und die untere Hälfte verschwand aus Ardelles Blickfeld.
Und ich dachte, die Gewehre seien beeindruckend.
Jaxi antwortete nicht. Vielleicht untersuchte sie die Maschine.
Ein paar Soldaten eilten aus dem großen Gebäude und liefen eine Außentreppe zum Dach hinauf. Ardelles Führer schien sich an seine Pflicht zu erinnern, griff Ardelle fester am Arm und zog sie weiter.
Als sie das Gebäude betraten, strömte ihnen der Geruch von Seife und Stärke entgegen. Eine Frau drehte sich zu ihnen um, die einen Korb auf ihrer Hüfte balancierte. Sie war so groß und stämmig, dass sie ein Mann hätte sein können.
„Eins-Vierzig-Drei, nicht wahr?“, fragte der Soldat sie.
Die Frau nickte grimmig. „Ja.“
„Sieht aus, als hättest du jemanden verloren.“ Der Soldat schubste Ardelle auf die hünenhafte Frau zu.
Diese musterte sie. „Ich habe sie noch nie zuvor gesehen.“
„Ich glaube, sie kam gestern an“, sagte der Soldat.
„Warum war sie dann nicht eine Stunde vor Sonnenaufgang hier, um sich wie alle anderen zur Arbeit zu melden?“
„Keine Ahnung“, sagte der Soldat. „Ich habe sie auf der untersten Ebene der Mine aufgegabelt.“
Die Frau schnaubte verärgert. „Bei den sieben Göttern, Mädchen, willst du dich umbringen lassen?“
Ardelle dachte an Tace und seinen Kumpel und begriff, was die Frau meinte.
„Was ist das?“ Die Frau zupfte an Ardelles Ärmel. „Wo ist deine Arbeitskleidung? Du musst ja fast erfrieren. Wie lautet deine Nummer?“
Ardelle fühlte sich plötzlich so verloren und verwirrt, dass sie keinen Ton herausbrachte. Sie beschloss, ihren Eid als Magierin zu brechen: Sie tastete nach den Gedanken der Frau und spionierte sie aus.
Zahlen. Die Menschen wurden mit Zahlen und nicht mit Namen gerufen. Aber die Frau hatte einen Namen: Dhasi. Zumindest hatte sie früher so geheißen. Ardelle musste nicht tief graben, um eine Erinnerung zu finden, wie Dhasi mit zwei anderen Frauen und zwei Dutzend Männern ein Flugzeug verlassen und ihre Nummer zugewiesen bekommen hatte.