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Die Wirtin der Rocker-Kneipe beauftragt John Dietz mit seinem zweiten großen Fall. Er soll ihren vermissten Sohn aufspüren - ohne dabei zu viel Staub aufzuwirbeln. Für John kommt der Auftrag genau zu richtigen Zeit, lenkt er ihn doch davon ab, dass Laura ihn verlassen hat und nach Stuttgart gezogen ist. Aber dann überschlagen sich die Ereignisse: Ein junger Asiate dringt in die Detektei ein, John stolpert über eine Kiste Schmuggelware, sein Freund Egon Hufnagel verschwindet spurlos und das chinesische Zeichen des Drachens zieht eine Spur der Gewalt durch Freiburg ... Wie hängen diese Ereignisse miteinander zusammen? Und wird John das Rätsel lösen, bevor weitere Menschen verschwinden?
"Drachenspur" ist der zweite Roman der Krimi-Serie um Privatermittler John Dietz. Der Autor Oliver Becker führt seine Leser an Originalschauplätze in Freiburg und schildert gekonnt die Idylle einer Stadt, in die unvermittelt das Verbrechen einfällt.
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Seitenzahl: 386
Cover
Über dieses Buch
Über den Autor
Titel
Impressum
Prolog
1. Helldorado
2. Hannas kleiner Rocker
3. Geheimnisvolle dunkle Augen
4. Dinh Dong Tran
5. Fehlanzeige
6. Hüttenzauber
7. Streiter des Drachen
8. Noch mehr Veilchen, noch mehr Ärger
9. Fingerabdrücke
10. Frühlingsspaziergang mit Knarre
11. Familienzusammenführung
12. Brot für den Willy
13. Der Duft von gekochtem Reis
Epilog
Die Wirtin der Rocker-Kneipe Helldorado beauftragt John Dietz damit, ihren Sohn aufzuspüren. Unauffällig und ohne viel Aufhebens natürlich. Aber immer wieder lenken andere Vorfälle den Privatermittler von seiner Suche ab: Wie der junge Asiate, der Johns Detektei als Nachtquartier missbraucht. Oder sein Liebeskummer, weil Laura ihn verlassen hat und nach Stuttgart abgehauen ist. Als John auch noch über eine Kiste mit geschmuggelten Zigaretten stolpert, sein langjähriger Kumpel Egon Hufnagel verschwindet und das chinesische Zeichen des Drachens eine Spur der Gewalt durch Freiburg zieht, steckt er auch schon mitten drin in seinem zweiten großen Fall – tatkräftig unterstützt von Elvis, dem sprechenden Papagei und Tante Ju, der kettenrauchenden Zeitungsjournalistin.
»Drachenspur« ist der zweite Roman der Krimi-Serie um Privatermittler John Dietz – flott erzählt mit einem spannenden Plot zum Miträtseln und Freiburger Atmosphäre. Denn auch in den schönsten Städten schläft das Verbrechen nie.
Oliver Becker stammt aus Blumberg im Schwarzwald und lebt mit seiner Familie in Frankfurt am Main. Er schreibt Historische Romane und Kriminalromane. Zu seinen bekanntesten Veröffentlichungen zählt die Trilogie um die »Krähentochter«. Bei beTHRILLED ist neben den John-Dietz-Romanen auch der Kriminalroman »Der dritte Mord« erschienen.
Oliver Becker
DRACHENSPUR
Ein Fall für Privatdetektiv John Dietz
Kriminalroman
beTHRILLED
Digitale Originalausgabe
»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment
Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion/Lektorat: Charlotte Inden
Covergestaltung: Kirstin Osenau unter Verwendung von Motiven © shutterstock/evannovostro, © shutterstock/Jaromir Chalabala, © shutterstock/9Tiw, © shutterstock/takiwa
eBook-Erstellung: Urban SatzKonzept, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-4505-6
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Der weiße Kleintransporter war voll beladen, der rote hingegen leer. Eine halbe Stunde zuvor war es noch umgekehrt gewesen.
Der Mann stand zwischen den beiden Fahrzeugen und blinzelte in der Dunkelheit seinem Partner hinterher, der die letzten Kartons verstaute. Trotz der klirrenden Kälte tropften ihm Schweißperlen von der Nasenspitze. Er wandte sich dem roten Wagen zu. Durch die offene Beifahrertür starrte er auf den Fahrer, der der Länge nach auf der Sitzbank lag, geknebelt mit einem Stoffstreifen, gefesselt an Händen und Füßen mit abgeschnittenen Kabelstücken. Keine Regung war zu erkennen.
Atmete der Kerl überhaupt noch? Konnte man diesem Elektroschock-Dingsbums, mit dem sie ihn in die Bewusstlosigkeit geschickt hatten, wirklich trauen?
Hoffentlich war der Fahrer auch tatsächlich nur bewusstlos und nicht etwa …
»Komm schon!«, schreckte ihn die Stimme seines Partners aus den Gedanken.
»Ja, ja«, murmelte er nur, darauf bedacht, sich seine Befürchtungen nicht anmerken zu lassen.
Erst jetzt fiel ihm die Tasche im Fußraum der Fahrerkabine auf. Er ließ den Flammenschein seines Feuerzeugs kurz über das Etikett und das Leder flattern. Das war eine gute Tasche, eine teure Tasche. Gucci. Schwer zu widerstehen.
Er griff nach den Schlaufen, und schon war es passiert, zehn Sekunden, länger hatte es nicht gedauert.
»Was hast du gemacht?« Sein Partner, der gerade die hintere Doppeltür ihres Transporters geschlossen hatte, huschte heran wie ein Schatten, flink wie immer.
»Gar nix«, grummelte er kaum hörbar und setzte sich hinters Steuer des weißen Fahrzeugs, während sich der andere, wie schon bei der in schweigsamer Anspannung verlaufenen Hinfahrt, auf den Beifahrerplatz schwang.
Der Motor startete, es war ein unwirklich laut erscheinendes Geräusch angesichts der geisterhaften Stille ringsum, und das Licht der Scheinwerfer stach in die dunklen Wälder.
»Was ist denn das?«, kam die überraschte Stimme von rechts.
»Das ist eine Tasche«, murmelte er und drückte das Gaspedal durch.
»Die war doch vorher noch nicht da.«
»Na und?«
»Was soll das? Die gehört wahrscheinlich dem Fahrer. Willst du dir eine Zahnbürste und Ersatzklamotten unter den Nagel reißen?«
»Scheiß drauf.«
Der Wagen rumpelte schwerfällig auf die Landstraße, die Reifen wirbelten Dreck und Schnee auf.
»Du und dein ewiges ‚Scheiß drauf’. Wir haben doch, was wir wollten. Wir brauchen keinen Kleinkram …«
»Scheiß drauf«, unterbrach er seinen Partner, während er im Rückspiegel den kleiner werdenden roten Transporter betrachtete.
Dieses blöde Elektroschock-Dingsbums, dachte er und fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen. Er konnte bloß hoffen, dass in dem Ding nicht zu viel Saft steckte. Wach bloß wieder auf!, hätte er dem Fahrer am liebsten mit aller Kraft ins Ohr gebrüllt.
Schneematsch und eisige Luft, das Münster und das historische Kaufhaus verschneit: Jedes Jahr kam der Winter und dennoch gelang es ihm jedes Mal, John Dietz zu überraschen. In Sportschuhen, Jeans, Kapuzenpullover und abgewetzter Lederjacke geriet er gehörig ins Schlottern.
Nein, John mochte Freiburg im Winter nicht.
Er stapfte durch den schmierigen Schnee, der das Kopfsteinpflaster gefährlich rutschig machte, und fluchte in sich hinein. Seine Nikes trieften, und es wurde wirklich Zeit, dass er sich festeres Schuhwerk besorgte. Was er wohl mal wie jedes Jahr so lange vor sich herschieben würde, bis der Frühling nahte. Um die Sache dann guten Gewissens erneut zu vertagen. Mittlerweile war es ja auch schon wieder Februar.
»Warum hast du eigentlich immer das Gleiche an? Wirklich immer: bei glühender Hitze genauso wie bei Eiseskälte. Liegt das an deinem unglaublichen Dickschädel oder einfach nur an deiner Faulheit?« Diese Frage hatte Laura Winter ihm gestellt. Und sich gleich selbst die Antwort gegeben: »Ich vermute stark, an Letzterem.«
John vergrub die Hände in den Hosentaschen und malträtierte mit den Zähnen seinen Kaugummi, als wollte er den Pfefferminzklumpen zermalmen. Dabei hätte er durchaus besserer Laune sein können. Es lief doch recht gut für ihn. Verglichen mit früheren Zeiten geradezu hervorragend. Ein einziger Fall hatte ausgereicht, um Johns Ein-Mann-Privatdetektei auf Touren zu bringen. Natürlich war es nicht einfach nur irgendein Fall gewesen, sondern eine Riesengeschichte, wie er nicht müde wurde zu betonen. Immerhin war es John Dietz zu verdanken, dass im vergangenen Herbst ein paar ziemlich üble Gangster verhaftet worden waren, die mit Zwangsprostitution und Drogengeschäften zu tun hatten.
In der Tat, die Festnahmen hatten im sonst beschaulichen Freiburg Staub aufgewirbelt und der Detektei, die zuvor nur belächelt worden und dazu so gut wie pleite gewesen war, einen gewissen Namen beschert. Weitere Fälle waren seitdem an John herangetragen worden. Keine spektakulären, aber immerhin konnte er damit genügend Geld verdienen, um seine Rechnungen zu begleichen und die Träume von einer Zukunft als Freiburgs berühmtester Privatschnüffler zu nähren.
Also alles bestens. Wäre da nicht die Sache mit Laura gewesen.
Der große Fall mit den Gangstern hatte John nicht nur Renommee eingebracht, sondern – nach langer trostloser Zeit – endlich mal wieder eine Frau, die es länger mit ihm aushielt als bloß ein paar Nächte. Eine tolle Frau zudem, wunderschön, intelligent, überlegt. Und trotz dieser stets überlegten Art hatte sie sich ausgerechnet in John Dietz, Detektiv und Chaot, verliebt: Es war das mit Sicherheit noch größere Wunder als der mit Glück erfolgreich zu Ende gebrachte Fall.
Bis irgendwie Sand ins Getriebe ihrer eben noch herrlich knisternden Beziehung gekommen war. So viel Sand, dass Laura, die erst im Dezember seinetwegen nach Freiburg gezogen war, sich vorhin von John verabschiedet hatte. Um ihre Eltern in Stuttgart zu besuchen, um für ein bisschen Luftveränderung zu sorgen, um alte Freunde zu treffen. So die stillschweigend zwischen ihnen beiden vereinbarten, offiziellen Begründungen. Die weniger offizielle wollte John sich lieber nicht ausmalen.
Hoffentlich hast du’s dir mit ihr nicht versaut, schimpfte er stumm in sich hinein, als er die Kaiser-Joseph-Straße entlangstiefelte. Es war früher Sonntagnachmittag, die Innenstadt präsentierte sich ziemlich leer. Selbst von den Touristengruppen, die normalerweise auch die frostige Jahreszeit nicht abschreckte, war nichts zu sehen. Ein paar Minuten und einige Ausrutscher im Matsch später erreichte John das Gebäude, in dem sich sein Büro mit dem kleinen Nebenraum befand. Es bestand gar kein Grund, hierherzukommen, er hatte nichts zu tun, aber es war der erste Sonntag seit Langem ohne Laura – und John kam sich ein wenig verloren vor, wie er mit einigem Erstaunen festgestellt hatte.
Auf dem Weg durchs Treppenhaus, nach oben in die dritte Etage, hörte John den Gesang von Elvis. Aber Love Me Tender, gekrächzt von einem Papageienschnabel, war auch nicht gerade das, was John fröhlicher machte. Mit den Gedanken noch bei der Frau, die ihn stärker anzog als jede zuvor, schloss er die Tür zum Büro auf – nur, dass sie gar nicht abgeschlossen war.
»Mensch, du wirst wirklich immer vergesslicher«, murmelte er und schlüpfte hinein, wo er von einem Schwall kühler Luft überrascht wurde. Auch nicht mehr daran gedacht, das Fenster zuzumachen?, fragte John sich – und im nächsten Moment huschte ein Schatten an ihm vorbei, so flink, dass ihm kaum Zeit blieb, auch nur zusammenzuzucken.
»Hey!«, blaffte John und wirbelte herum.
Eine schlanke Gestalt überwand das Treppengeländer mit elegantem Schwung und landete geschmeidig auf den Stufen.
»Hiergeblieben!« John nahm die Verfolgung auf, weitaus weniger geschmeidig, aber Wut im Bauch ließ ihn schneller werden.
Sie rannten nach unten, das Klatschen der Sohlen von vier Sportschuhen hallte im Treppenhaus in rasendem Rhythmus wider. Und da war etwas unter Johns Füßen. Wiederum reichlich verblüfft, erkannte John, dass der Flüchtende etwas verlor, offenbar bei jedem Schritt. Es fiel auf die Bodenplatten: Körner, Kügelchen, was auch immer – John konnte sich nicht darum kümmern, wenn er den Kerl kriegen wollte.
Schnell war der, verdammt schnell, und Johns Lungen pumpten. Wann hast du eigentlich zuletzt ein bisschen trainiert, du Faulpelz?, fragte er sich.
Der Flüchtende spähte über die Schulter zurück, nur für einen Sekundenbruchteil, aber alles, was John von ihm wahrnehmen konnte, waren zwei dunkle Augen. Dann war der Bursche an der Eingangstür. Er rannte hinaus auf die Straße, John hinterher, ohne aufgeholt zu haben.
Sein Blick heftete sich verbissen auf die Gestalt vor ihm. Eine halbe Portion, wie er feststellte. Schmal, beinahe grazil, mindestens einen Kopf kleiner als John, eine schwarze Mütze tief über den Schädel gezogen, eine weite Sportjacke, noch weiter geschnittene Kakihosen, die sich um die anscheinend ziemlich dünnen Beinchen bauschten.
»Hey!«, rief John noch einmal, jetzt auch darüber wütend, dass der Abstand einfach nicht geringer, sondern eher größer wurde. Er schlitterte durch den grau gewordenen Schnee, landete auf dem glitschigen Kopfsteinpflaster, die Jeans im Nu getränkt, und war schon wieder auf den Beinen. »Hey!«
Die halbe Portion schien seltsamerweise überhaupt nicht ins Rutschen zu geraten, sondern flog förmlich über den tückischen Untergrund dahin. Mit nach wie vor hohem Tempo stürmte der Kerl direkt in eine Gruppe von Touristen – wohl die einzige auf der langen, großen, breiten Kaiser-Joseph-Straße. Er glitt mühelos durch die schwatzende Menge und war schon unter dem Bogen des Martinstores angekommen, als er aus Johns Blickfeld verschwand. Was an der Touristin lag, in deren pralle Üppigkeit John mit voller Wucht hineinrauschte. Wieder landete er auf dem Boden, ebenso wie die ahnungslose Dame, die sofort auf ihn einschimpfte. John rappelte sich auf, den Blick nach vorn gerichtet, ohne auf das berechtigte Gezeter zu achten. Aber von dem Flüchtenden war nichts mehr zu entdecken. Rein gar nichts. Oder?
Doch. Eine Sache schon.
John ging weiter, stoppte dann unter dem Bogen des Martinstores und kämpfte heftig mit dem eigenen Atem. Er betrachtete die Kügelchen, die der Unbekannte schon im Treppenhaus verloren hatte und von denen auch einige in den Schneeresten zu Johns Füßen lagen. Sie bildeten eine Art Fährte, sogar eine recht zuverlässige, und John zeigte ein grimmiges Lächeln.
Er folgte der Spur, Schritt für Schritt, und einmal bückte er sich, um ein paar von den Kügelchen aufzuheben. Nein, es waren keine Kügelchen, sondern tatsächlich Körner, und zwar aus den Futtervorräten für Elvis. John schüttelte den Kopf. Warum steckt sich jemand Vogelfutter in die Tasche?, fragte er sich.
Einige Meter hinter dem großen Tor führten die Körner ihn nach rechts, geradewegs in eine schmale Gasse, die ansonsten selten betreten wurde, wie der noch weiße, kaum von Fußspuren verzierte Schnee bewies. Umso klarer stach der Weg des Unbekannten heraus, die Abdrücke der Sportschuhe. Linker Hand verlief die lang gezogene Seitenfront eines Gebäudes, ein paar Meter weiter rechts versperrte einer der Universitätsblöcke den Weg. Also weiter geradeaus, wohin sonst?
Und dann sah John, dass er sich zu früh gefreut hatte. Die Spur der Körner endete – einfach so. Ein letztes Korn ruhte im Schnee. Gut, damit war zu rechnen gewesen, merkwürdig allerdings fand John die Tatsache, dass offenbar auch die Fußabdrücke ein abruptes Ende nahmen. Eine letzte Spur, und das war’s.
John stand da und kratzte sich verwundert das Kinn. Da war keine Tür in der Nähe, kein Fenster. Zumindest keines, durch das man rasch hätte verschwinden können. Auch nicht in dem Haus auf der linken Seite, dessen Parterrefenster waren allesamt mit Jalousien verschlossen. Ein paar Mülltonnen aus Kunststoff standen herum, ansonsten nichts, die Gasse war leer.
»Hm«, murmelte John. »Bist du plötzlich geflogen?«
Als halte er diese Möglichkeit tatsächlich für denkbar, richtete er den Blick nach oben. Über den Dächern der Stadt klebte ein fahler grauer Himmel, aus dem sich neuerlicher Schneeregen löste. Von den Stürzen in die Pfützen klebte der Jeansstoff an Johns Beinen, seine Socken, seine Füße waren klatschnass, eine seiner Handflächen war aufgeschürft. Nein, John Dietz mochte Freiburg im Winter nicht.
*
Er wartete. Nun schon fast eine Stunde. Genau wie am Vortag kaute er griesgrämig auf einem Kaugummi herum. Über ein halbes Jahr war er ohne eine einzige Zigarette ausgekommen. Nicht schlecht. Aber auch verdammt hart.
Lustlos spielte er mit seinem Handy. Kein Anruf von Laura, nicht einmal eine kurze Nachricht, die ihn etwas aufgemuntert hätte. Ein Blick zu der Wanduhr in Gitarrenform zeigte: Jetzt war es bereits mehr als eine Stunde über der Zeit, für die er sich mit Egon Hufnagel verabredet hatte. Wirklich ein toller Tag. Genau wie der gestrige. John Dietz legte die Beine auf die Schreibtischplatte. Im Nebenzimmer krächzte Elvis einen Song seines Namensvetters, während ein Moderator im Radio neue Schneefälle ankündigte.
John betrachtete den Computer, das Telefon, das nahezu leere Regal. Nichts hatte gefehlt. Abgesehen von Kartoffelchips und Keksen, von denen nur noch die verkrümelten Packungen übrig waren. Und dann natürlich der kleine Karton mit Vogelfutter, der in der Tasche einer Kakihose gelandet war. Sonderbar, diese Sache, wirklich sonderbar.
John war brummig. Umso ärgerlicher fand er es, dass Egon Hufnagel sich immer mehr verspätete. Gestern schon hatte John ihn etliche Male ohne Erfolg zu erreichen versucht. Erst am Morgen hatte Egon zurückgerufen und zugesagt, nachmittags in Johns Büro vorbeizukommen. An seiner Stimme war nicht festzustellen gewesen, ob er ahnte, warum John ihn sprechen wollte.
Es dauerte noch eine weitere halbe Stunde, bis sich der gute Egon Hufnagel schließlich in den Stuhl vor dem Schreibtisch plumpsen ließ. Wie für John gab es auch für Egon keine Winter- und Sommerkleidung, er war stets in Stoffhosen in seltsamen Farben, wallende indische Hemden und zu große Wolljacken gehüllt. Er gehörte zu der Sorte Alt-Hippie mit vagen Idealen und kuriosen Lebensentwürfen, von der einem in Freiburg immer noch recht viele Exemplare über den Weg liefen.
Und Egon war ein ganz besonderer Vertreter dieser Spezies. Ein knapp fünfzigjähriger, äußerst windiger Bursche, der seine ungeschickten Finger in alle möglichen Unternehmungen steckte und sich allen Ernstes als Alternativ-Geschäftsmann bezeichnete, was immer das bedeuten mochte. Vor Jahren, als es noch den Kartoffelmarkt am Rande der Kaiser-Joseph-Straße gegeben hatte, war Egon dort mit zwei Ständen vertreten gewesen. Kleidung und Kunsthandwerk aus Indien, Wasserpfeifen, CDs mit Meditationsmusik und sonstiger Schnickschnack wurden angeboten, mal mit mehr, meistens mit weniger Verkaufserfolg.
Inzwischen verdiente Egon sein Geld als Gitarrenlehrer, Ratgeber in allen Lebenslagen und seit Neuestem als Chef eines Reinigungstrupps, zu dessen Aufgaben es gehörte, die Büroräumlichkeiten von Privatdetektiv John Dietz in Ordnung zu halten.
»Puuh«, schnaufte Egon Hufnagel. »Was für ein Sauwetter.« Sein langes, grau durchsetztes Haar war zu einem Pferdeschwanz gebunden und wurde zusätzlich von einem bunten Stirnband gebändigt. »Ich habe eine tolle Überraschung für dich.«
»Erst gestern habe ich eine tolle Überraschung erlebt«, erwiderte John trocken.
»Ehrlich, du wirst Augen machen.«
John lächelte säuerlich. »Gestern bin ich hier nämlich über einen blinden Passagier gestolpert.«
»Hä?« Auch Egon lächelte. Ob unschuldig oder alarmiert, hätte John allerdings nicht sagen können. »Blinder Passagier?«
»Ein Typ, gekleidet wie ein Möchtegern-Rapper. Wahrscheinlich nicht älter als achtzehn, schätze ich.« Johns Stimme gewann an Lautstärke. »Ja, Egon. Der ist problemlos hier eingedrungen. Offenbar mit einem Schlüssel, da das Schloss nicht beschädigt ist und wir im dritten Stock sitzen, also das Fenster als Einstiegsoption ausscheidet. Fällt dir dazu irgendetwas ein?« Dieses Paar dunkler Augen unter der Mütze schimmerte in Johns Erinnerung kurz auf.
Egon lächelte immer noch. »Warum sollte mir dazu etwas einfallen?«
»Weil du der Einzige bist«, sagte John gepresst, »dem ich einen Schlüssel zu dem Gebäude und meinem Büro gegeben habe.« Nicht einmal Laura besaß einen, nur zu Johns Wohnung – und sie hatte, wie ihm nebenbei bewusst wurde, immer noch nicht angerufen.
»Ist denn etwas gestohlen worden?«, fragte Egon mit beflissenem Tonfall.
»Nichts außer Chips und Keksen.«
»Klingt ja nach einem Kapitalverbrechen.«
John beugte sich vor. »Gib mir lieber den Schlüssel wieder.«
»Aber den brauche ich doch. Schließlich lautet mein Auftrag, hier jeden zweiten Samstag für Reinlichkeit zu sorgen.«
»Vergiss deinen Auftrag, wie du es nennst, Egon. Seit du mit deiner komischen Truppe hier aufgeschlagen bist, ist es noch schmutziger als sonst. Und da fehlten schon vor dem gestrigen Vorfall immer wieder Kekse.«
»Du und deine Kekse.«
John seufzte. Laura hatte diese Sache von Anfang an nicht verstanden. »John, wie kannst du nur?«, hatte sie gesagt. »Unnötiger hat noch keiner sein Geld aus dem Fenster geworfen. Du hast doch in einer Viertelstunde selbst dein Büro gesaugt und ein bisschen Staub gewischt. Warum, um alles in der Welt, eine Putzkolonne, die du auch noch bezahlen musst?«
Natürlich hatte sie recht gehabt. Wie immer. Aber für John war das ja auch eher ein Freundschaftsdienst. Er kannte Egon eine Ewigkeit. Sie hatten dieselbe Stammkneipe, das Krügle, und so manche lange Nacht am Tresen über Gott und die Welt philosophiert. Als es mit Johns Detektei überhaupt nicht vorangehen wollte, hatte Egon ihm mehr als ein Bier spendiert. Ja, ein Freundschaftsdienst. Frauen verstanden so was ja nie.
Doch Egon hatte es vermasselt. So simpel war das. »Also, Kumpel. Her mit dem Schlüssel.«
»Schon gut, schon gut. Aber bevor du voreilige Schlüsse ziehst, John, hab ich erst mal was für dich.« Aus einer fleckigen Jutetasche zog Egon zwei Stangen Zigaretten und setzte sie behutsam, als wären sie zerbrechliche Kostbarkeiten, auf dem Tisch ab. »Na, was sagst du?«
»Dass ich Nichtraucher bin.«
»Normalerweise fünfzig Euro pro Stange. Für dich lumpige zwanzig Euro. Weil du mein Freund bist.«
»Und das soll die Überraschung sein? Vergiss es. Du weißt, dass ich nicht mehr rauche.«
»Da muss man doch einfach zuschlagen. Zwanzig Mäuse.«
»Heiliger Ameisenbär.« John schlug sich auf die Schenkel. »Lies es von meinen Lippen ab: Ich. Bin. Nichtraucher.«
»Okay, wie du willst. Aber wenn du mal wieder Lust auf eine …«
»Danke«, unterbrach ihn John. »Und jetzt den Schlüssel.«
Egon Hufnagel durchwählte seine sämtlichen Taschen, bis er irgendwann einen riesigen Schlüsselbund in der Hand hielt. Mit bekümmertem Gesicht ließ er schließlich den Schlüssel über den Tisch rutschen. »Dann bekomme ich aber noch einiges an Geld von dir, John. Immerhin war mein Trupp schon mehrere Male …«
»Du meinst«, fiel John ihm erneut ins Wort, »ich bekomme noch einiges von dir. Falls du dich erinnerst: Ich habe im Voraus bezahlt. Auch für den nächsten Monat.«
»Ach?« Egons Denkerstirn legte sich in Falten. »Ist das wahr?«
»Ja.« John lächelte wieder ziemlich säuerlich. »Ist es.«
»Na gut, ich werde das in meinen Papieren überprüfen.«
»Sicher, mach das. Nur, dass wir nie ein Papier oder was auch immer aufgesetzt haben.«
»Halten wir uns nicht mit Details auf, John. Eins ist für mich Ehrensache: Wenn du nicht mehr wegen ein paar Keksen sauer bist und meine Dienste wieder in Anspruch nehmen willst, wende dich vertrauensvoll an mich.«
»Das werde ich tun. Vertrauensvoll.«
»Was dagegen, wenn ich mir eine anstecke?«
»Und ob!« John ließ sich zurücksinken. »Jetzt erzähl mir endlich, was das gestern für ein verdammter Kerl war.«
Ein generöses Abwinken. »Ach, John, ein armer Junge, der keine Ahnung hatte, wo er die Nacht über bleiben sollte. Ich gab ihm den Schlüssel und sagte, er dürfe Sonntagnacht dort schlafen und müsse Montagmorgen, also heute Morgen, wieder verschwunden sein.«
»Montagmorgen«, wiederholte John reichlich perplex.
»Ja, klar. Wusste doch, dass du sonntags nachmittags und abends so gut nie in deinem Büro bist.«
»Ich fass es nicht.«
»John, das ist echt ein toller Junge. Fleißig, gescheit, ehrlich. Er hilft manchmal in meiner Truppe aus. Ein Asiat. Er spricht kaum Deutsch. Er hatte keine Ahnung, wohin er sollte. Ich weiß, ich hätt’s dir sagen sollen. Aber er hat mir verdammt leidgetan.«
»Du bist echt eine Nummer, Egon!«
»Ich hab einfach ein zu weiches Herz.«
»Nicht weich genug«, bemerkte John, »um unseren kleinen Asiaten bei dir unterzubringen.«
Wiederum das Abwinken. »Ach, John, du weißt doch genau, wie es bei mir aussieht. Das totale Chaos. Da ist kaum noch ein Eckchen frei. Nicht mal für ein so schmales Figürchen.«
»Egon, Egon.« John schüttelte den Kopf. »Übrigens, der Kleine hat Vogelfutter gegessen.«
»Da siehst du mal, wie dreckig es ihm geht.« Egon nickte feierlich. »Aber zurück zu den erfreulichen Dingen des Lebens. Zu meiner Überraschung für dich.«
»Ich dachte, das wären deine Schnäppchen-Zigaretten. Von denen ich lieber nicht wissen will, woher du sie hast.«
»Quatsch, John, ich sagte doch, du wirst Augen machen.«
»Das befürchte ich auch.«
»Ich habe einen Auftrag. Für dich. Für den besten Privatdetektiv der Stadt.«
»Du?« Blanke Skepsis in Johns Blick.
»Also, nicht ich. Jedenfalls nicht direkt.«
»Wer dann?«
»Meine Ex. Sie braucht Hilfe.«
»Hanna?« Ach du Schande!, dachte John. Ausgerechnet Hanna. Zwar ging es ihm im Moment recht gut, doch von vornherein einen möglichen Klienten abzulehnen, diesen Luxus konnte er sich kaum leisten. Nicht einmal dann, wenn es sich um Hanna Kallinsky handelte, Egon Hufnagels ehemalige Halbjahres-Vermählte.
»Es geht anscheinend um eine heikle Sache, bei der ihr nur ein absoluter Profi helfen kann«, erklärte Egon. »Und da bin ich natürlich sofort auf dich gekommen.«
»Was für eine Sache?«, wollte John wissen, ohne gegen seinen Argwohn anzukommen.
»Sie hat bloß Andeutungen gemacht.« Egons Stimme war eine Spur leiser geworden. »Alles, was ich weiß, ist, dass die Polizei nicht eingeweiht werden darf.«
»Die Polizei? Nicht eingeweiht? In was denn, um Himmels willen?«
»Hanna sagt, du sollst heute Nachmittag zu ihr in die Kneipe kommen.«
»Ich? Zu ihr? Egon, ich hab ein Büro. Sie kann zu mir kommen. Oder mich anrufen.«
»John, du kennst sie ja. Und du weißt auch, was man in Freiburg über Hanna Kallinsky sagt: Was Hanna will …«
»… das kriegt Hanna auch«, beendete John den Satz.
»Gibt dir einen Ruck, John. Du hast doch bestimmt eine halbe Stunde Zeit. Hör dir an, was sie zu erzählen hat.«
»Heiliges Ofenrohr«, murmelte John und blickte auf den schwarzen Schirm seines Monitors.
Als Egon Hufnagel kurz darauf verschwunden war, überprüfte John seinen E-Mail-Eingang, ohne auf etwas Interessantes zu stoßen. Dann säuberte er in aller Ruhe Elvis’ Käfig.
Unter einem ähnlich unfreundlichen Himmel wie am Vortag ging John später in Richtung Schwabentor und erst jetzt dachte er wieder an Hanna Kallinsky. Falls der Spruch von den sich anziehenden Gegensätzen tatsächlich zutraf, dann waren sie und Egon Hufnagel ein Paradebeispiel dafür. Unterschiedlicher hätte ein Paar kaum sein können: Egon ein Chaot, weich wie Butter, der den Träumen der 60er-Jahre hinterherhing, und Hanna, härter als ein Hollywood-Film-Bulle, die schon in jungen Jahren wegen diverser Straftaten mit den Vertretern des Gesetzes aneinandergeraten war und sich mit knallharten Rockern herumgetrieben hatte. Was ausgerechnet diese beiden in dem jeweils anderen gesucht haben mochten, würde wohl niemals jemand erkennen, sie eingeschlossen. Nach einer ebenso kurzen wie zerstrittenen Ehe folgte die Scheidung. Den Kontakt allerdings verloren Egon und Hanna nicht. Nach der Trennung verstanden sie sich sogar besser als zuvor und wurden so etwas wie Freunde.
Inzwischen führte Hanna Kallinsky eine Kneipe im Stadtteil Wiehre, das einzigartige Helldorado. Immer wieder gab es mit den Anwohnern Ärger wegen Lärm und zwielichtigen Gesindels, das auf knatternden Harley-Davidson-Maschinen vorfuhr – gern auch bis direkt vor den Tresen. John Dietz war bloß ein- oder zweimal zu Gast gewesen und er bereute es gewiss nicht, dass er den Weg hierher nicht öfter suchte. Jetzt stand er unter dem großen Kneipenschild und war immer noch unentschlossen, ob es sich für ihn lohnen würde, ein Gespräch mit der in ganz Freiburg berüchtigten Wirtin zu führen.
Gerade als er sich entschieden hatte, sich wieder stillschweigend zu verdünnisieren, wurde die Eingangstür aufgestoßen. Hannas grimmige Miene kam zum Vorschein. »Nur keine Angst, Schnüffler«, rief sie. »Ich beiß dich schon nicht. Beweg deinen kleinen Arsch hier rein.«
Na denn mal los, sagte sich John und tauchte ein ins schummrige, scheinbar seit Ewigkeiten ungelüftete Dunkel des Helldorado. Es gab dicke Vorhänge an den staubverkrusteten Fenstern, flackernde Kerzen auf den wenigen Tischen, ein paar abgeschirmte Glühbirnen irgendwo hinter dem Tresen. Poster von Harley-Bikes und Heavy-Metal-Bands hingen an den Wänden. Von der tiefen Decke baumelten Motorradhelme und BHs herab. Aus einer Stereoanlage wummerte Rockmusik, aber nicht allzu laut. Hier könnten sich Egons Putzteufel mal so richtig austoben, dachte John flüchtig.
Es war nachmittags, keine Gäste waren zu sehen, wenn man von einem in schwarzes Leder gehüllten Etwas absah, das auf einem Barhocker eingeschlafen war, Unterarme und Kopf auf die Theke gebettet.
»Willst du ein Bier, Dietz?«, fragte Hanna mit ihrer rauen Stimme und der Herzlichkeit eines Profikillers.
»Ein Kaffee wäre mir lieber.«
»Dann muss ich erst die blöde Maschine anschmeißen. Bier ist besser, Dietz.«
»Okay«, gab er sich geschlagen.
Sie saßen sich an einem der Tische gegenüber, jeder hinter einer Biertulpe. Hanna war gute zehn Jahre jünger als Egon Hufnagel. Und nicht einmal ihre ruppige Art konnte den Umstand verbergen, dass sie attraktiv war – auf ihre Weise. Sie wusste, wie man sich bewegte und sich in engen Jeans und zu knappen Oberteilen präsentierte. Ihre Augen waren von einem durchdringenden Blau, das lange Haar, blond nachgefärbt, fiel auf ihre Schultern, die sie selbst im kältesten Freiburger Februar frei ließ. Das Trägertop hatte ein Leopardenmuster, die Oberarme waren tätowiert. Die Verwandlung in eine Rockerbraut war also endgültig vollzogen, noch konsequenter als ein oder zwei Jahre zuvor, als John sie zuletzt gesehen hatte.
»Hab schon gedacht, du kommst nicht mehr, Dietz.« Sie zündete sich eine Zigarette an.
Nicht etwa ein Dankeschön dafür, dass er überhaupt erschien. Aber Hanna Kallinsky war nicht berühmt für ihre ausgesuchte Höflichkeit.
»Egon sagte irgendetwas von einer heiklen Sache«, meinte John.
»Heikle Sache? Kann sein, kann auch nicht sein.« Sie blies eine Qualmwolke zur Decke. »Und du bist also tatsächlich eine Schnüffelnase geworden. Ein richtiger Detektiv, was? Wie die im Fernsehen?« Spöttisch richtete sie ihre Augen auf ihn.
»Ein richtiger schon. Aber nicht wie die im Fernsehen. Also, Hanna, gibt es etwas, bei dem ich dir helfen kann?«
Die Wirtin des Helldorado ließ ein paar Sekunden verstreichen. »Es geht um meinen kleinen Rocker.«
»Um was? Äh, um wen?«
»Meinen Sohn.«
Ronny Kallinsky!, dachte John Dietz, das wird ja immer besser. Er erinnerte sich daran, Ronny hier und da gesehen zu haben, nicht oft, und er hatte auch nie ein Wort mit ihm gewechselt.
»Hat er etwas angestellt?«, fragte John, obwohl er es eigentlich lieber nicht wissen wollte. Ronny war ganz der Sohn seiner Mami, ein Früchtchen mit ausgeprägten Erfahrungen im Jugendknast und mittlerweile auch in Anstalten für erwachsene Ganoven. Obwohl nicht viel älter als zwanzig, konnte er langjährige Berufsschläger in Furcht versetzen. Breit wie ein Grizzlybär, eiskalte Augen, durch nichts zu beeindrucken. In Freiburg gab es kaum jemanden, der verrückt genug war, ein freches Wort an Ronny Kallinsky zu richten. Er stammte aus einer frühen Liebschaft Hannas. Seinen Vater kannte niemand außer ihr, nicht einmal Ronny. John wusste das alles von ausufernden Tresengesprächen mit Egon Hufnagel.
»Etwas angestellt?«, wiederholte Hanna empört. »Mein Ronny?« Sie betonte das, als ginge es um einen braven Ministranten. »Natürlich nicht.«
»Natürlich nicht.« John konnte sich einen süffisanten Ton nicht verkneifen.
»Also, Dietz. Bist du jetzt ein richtiger Schnüffler, oder nicht?« Hannas Blick wurde stechender.
»Was ist mit Ronny?«
»Er ist verschwunden.«
»Seit wann?«
»Seit gut zwei Wochen. Kein Anruf mehr, auch kein Besuch in der Kneipe. Das hat es noch nie gegeben. Er kam sonst fast jeden Abend auf ein Bier vorbei.« Sie zog eine Schnute. »Da ist irgendetwas faul, das weiß ich genau.«
»Wohnt er nicht mehr bei dir?« Hannas Wohnung befand sich direkt über dem Helldorado.
»Schon seit letztem Jahr nicht mehr.« Sie drückte die Zigarette in einem Plastikaschenbecher in Totenkopfform aus. »Wollte auf eigenen Füßen stehen, mein kleiner Rocker. Hat jetzt eine Bude im Stühlinger.« Sie nannte die genaue Adresse. Offenbar handelte es sich bei der Bleibe um nicht viel mehr als eine Dachkammer.
»Ich nehme an, du warst bereits dort?«
»Zunächst nicht. Ich habe Egon erzählt, dass ich mir Sorgen mache, und er hat sich angeboten, mal nachzusehen. Ich gab ihm also meinen Schlüssel.«
»Und?«
»Nichts ‚undʽ.« Sie zuckte mit den Achseln. »Ronnys Bude war wie immer. Nur, dass er nicht drin war. Es sah aus wie sonst, es roch wie sonst. Egon hatte den Eindruck, Ronny hätte noch Minuten vorher da gewesen sein können. War er aber nicht. Egon ist danach nämlich mehrmals hingefahren. Kein Staubkorn war verändert. Egon ist sich sicher, dass Ronny schon länger keinen Fuß mehr in seine vier Wände gesetzt hat. Ich bin dann doch selbst hingegangen, aber auch mir ist nichts aufgefallen.«
»Ronnys Freunde oder Kumpels?«
»Jeder sagt das Gleiche: Wo steckt Ronny? Der meldet sich nicht, den sieht man nicht.«
»Besteht die Möglichkeit, dass er einfach die Biege gemacht hat? Dass es Ärger gab, von dem er dir nichts erzählen wollte, und er für eine Weile abgetaucht ist?«
»Selbst wenn: Mir hätte er auf jeden Fall eine Nachricht zukommen lassen. Damit ich weiß, das alles okay ist.«
»Also gab’s auch keinen Streit zwischen euch? Ich meine, kurz bevor er …«
»Nein«, unterbrach Hanna ihn schroff.
»Du hast seitdem sicher öfter bei Ronny angerufen.«
»Schätzungsweise vier Millionen Mal. Sein Handy ist immer eingeschaltet. Aber er geht nicht ran. Und ruft nie zurück.«
»Hast du seinen Arbeitgeber angerufen?« John konnte nicht verhindern, wieder süffisant zu klingen. »Was arbeitet dein Ronny denn überhaupt? Und wo?«
Ihr Blick spießte ihn erneut auf. »Willst du Ärger mit mir, Dietz?«
»Wer will das schon, Hanna?«
»Hör bloß auf, dich lustig über mich zu machen. Oder über meinen Jungen.«
»Hanna, sag mir lieber, wo Ronny arbeitet.«
»Im Moment ist er auf der Suche nach einem Job.«
»Und wie bezahlt er seine Miete? Oder hilfst du ihm aus?«
»Hey!« Ihr Zeigefinger schoss blitzschnell auf ihn zu. »Wenn Ronny oder ich einen Finanzberater brauchen, dann sicher nicht dich, Aushilfsschnüffler.«
»Schon gut, Hanna.« Er nahm einen ersten Schluck von dem schal werdenden Bier, während ihr Glas schon halb leer war. »Apropos Finanzen. Wenn ich versuche, Ronny aufzuspüren, kostet es dich etwas. Ich mache das nicht umsonst, Hanna. Das ist dir doch klar, oder?«
»Nicht, wenn du es bloß versuchst, Dietz.« Herausfordernd lächelte sie ihn an. »Wenn du ihn findest.« Sie betonte das letzte Wort und fügte an: »Dann kostet es mich etwas.«
»Nein, so läuft das nicht.«
»Nimm dich nicht so wichtig, Dietz.«
»Hör zu, Hanna …«
»Okay, okay. Wenn’s sein muss: Was kriegst du denn normalerweise fürs Rumschnüffeln?«
John nannte seine Konditionen, ließ sich dann aber doch herunterhandeln auf ein ausschließlich im Erfolgsfall zu zahlendes Honorar. Und er bekam noch als zusätzlichen Anreiz, wie Hanna sich ausdrückte, Freibier auf Lebenszeit im Helldorado in Aussicht gestellt.
Sie einigten sich mit einem Handschlag, und John stellte noch ein paar Fragen, während Hanna hinter den Tresen marschierte, um sich ein zweites Bier zu zapfen. Doch nach was John sich auch erkundigte, ihre Antworten waren mehr als vage. Als er die Kneipe verließ, wusste er nicht so richtig, was er von der Sache halten sollte. Aber er hatte sich breitschlagen lassen, also musste er auch ein bisschen in Ronny Kallinskys Leben herumstochern. Im Gehen blätterte er die Notizen durch, die er während des Gesprächs mit Hanna gemacht hatte. Namen von Kumpels, Namen von Kneipen, in denen Ronny verkehrte. Das war nicht viel, und John bekam auf einmal ein ungutes Gefühl. Du hättest dich nicht darauf einlassen sollen, sagte er sich. Tja. Zu spät.
Als das rasselnde Geräusch der Türklingel erklang, blickte Ulli Rohwein leicht verärgert auf. Es klingelte so gut wie nie bei ihm – und dann ausgerechnet jetzt. Er brummte. Gerade hatte er sich zu seiner Lieblingskrimiserie vor das kleine, altersschwache Fernsehgerät gekauert. Ulli stemmte sich aus dem durchgehockten Sessel hoch, und die Federn quietschten.
Die Wohnung bestand aus nicht viel mehr als zwei engen Zimmern, und doch dauerte es eine Weile, bis sich Ulli zwischen alten, auf dem Sperrmüll gesammelten Kommoden und Schränkchen hindurchgearbeitet hatte. Staubmäuschen wurden von seinen schlurfenden Schritten aufgewirbelt. Die Anfangsmelodie der Serie im Ohr, kämpfte er sich an dem Kleiderschrank auf dem Flur vorbei. Der Schrank erhielt das Einzige in der gesamten Behausung, das von gewissem Wert war. Oder zumindest sein könnte. Wenn Ulli es richtig anstellte. Ein paar zusätzliche Scheinchen wären wirklich nicht schlecht.
Noch war kein zweites Mal geläutet worden. Hatte sich da jemand einfach nur geirrt? Und er war umsonst aufgestanden?
Ulli blieb im dunklen Flur vor der Wohnungstür stehen und betätigte die Taste, um unten den Hauseingang zu öffnen.
Genau da drückte jemand zum zweiten Mal auf den Klingelknopf.
Also war derjenige bereits oben in Ullis Stockwerk.
Ulli spähte kurz durch den Spion und starrte dann ein paar Momente auf das rissig gewordene Holz der Tür.
Erneut das Klingeln.
Und noch einmal blinzelte Ulli durch den Spion.
Zwei Männer. Er kannte sie nicht, da war er sich sicher. Sie sahen irgendwie vornehm aus. Jedenfalls kam er beim dritten zögerlichen Blick zu diesem Eindruck. Akkurat geschnittenes Haar, glatt rasierte Gesichter. Und sie waren in elegante Anzüge gehüllt, trugen sogar weiße Hemden und Krawatten.
Ulli Rohwein machte die Tür auf.
»Ja?«, sagte er.
Die Männer betrachteten ihn, und ihre Mienen wirkten seltsam emotionslos. Nicht freundlich, nicht unfreundlich. Nicht überrascht, nicht sonst irgendetwas. Nur emotionslos.
»Ja?«, wiederholte Ulli, da sie nichts äußerten. Erst jetzt bemerkte er, dass es sich bei den beiden nicht um Deutsche handelte. Und er kam endgültig zu dem Schluss, dass sie schlicht und einfach an der falschen Wohnung geklingelt haben mussten.
Einer der Fremden trat einen Schritt nach vorn. »Herr Rohwein?«, fragte er mit ausländischem Akzent.
»Der bin ich«, antwortete Ulli Rohwein.
Die Faust des Mannes schoss so blitzartig nach vorn, dass Ulli nicht einmal die Bewegung wahrzunehmen vermochte. Die Wucht, mit der er auf dem rechten Auge getroffen wurde, schleuderte ihn nach hinten in seinen engen, dunklen Flur.
Er war derart erschrocken, dass er keinerlei Schmerz verspürte. Gar nichts verspürte er. Bloß diese Hilflosigkeit, die ihn auf den staubigen Boden drückte und nach oben starren ließ. Direkt auf die Fremden, die nun seine Wohnung betraten und die Tür hinter sich schlossen.
Ulli Rohwein wollte etwas sagen, wollte seinem Ärger Luft machen, wollte um Hilfe rufen, wollte … Was auch immer. In seiner Kehle jedenfalls war alles trocken. Die Fremden blickten auf ihn herab. Noch immer so verwirrend emotionslos.
*
Vier Tage lang hatte sich der hartnäckige Winter noch einmal richtig ausgetobt. Schneefälle, eisige Windböen, graue Wolken, die so tief hingen, dass der Turm des Münsters in ihnen unterzugehen schien. Wenn John Dietz nicht damit beschäftigt gewesen war, sich warm zu halten, hatte er versucht, Informationen über Ronny Kallinsky zu sammeln. Was sich als schwierig erwies. Niemand schien Ronny in letzter Zeit über den Weg gelaufen zu sein.
Am Freitagnachmittag, dem ersten nicht ganz so frostigen Tag der Woche, saß John in einem staubigen, heillos mit allerlei Kleinkram und Stapeln alter Zeitungsausgaben vollgestellten Kellerbüro in der Geschäftsstelle der Badischen Zeitung. Das Büro war die berufliche Heimat seiner Nachbarin, Juliane Butzenberg, von allen Tante Ju genannt. Sie war ein Unikum, eine herzliche, unberechenbare, höchst eigenwillige ältere Dame mit einem Dschungel aus grauem Haar über dem faltigen, verschmitzten Gesicht. Und sie war schon immer Johns Anlaufstelle gewesen, wenn er mal wieder nicht vorankam.
In knappen Sätzen hatte er ihr seine Begegnung mit Hanna Kallinsky geschildert. Tante Ju kannte die halbe Stadt, und es war keine Überraschung, dass sie auch vom berüchtigten Helldorado und dessen Besitzerin gehört hatte. Doch das war auch schon alles. Zu Ronny Kallinsky hatte sie nämlich gar nichts zu sagen.
Der Raum war so stark von dicken Wolken aus Zigarettenqualm durchzogen, dass John, der wie immer auf einem Hocker saß, seine wichtigste, weil einzige, Informantin kaum noch zu sehen vermochte. Tante Ju rauchte wie ein Schlot. »Also, nach allem, was du mir erzählt hast«, drang ihre Stimme durch den Nebel zu ihm, »scheint dieser Ronny ein ähnliches Früchtchen zu sein wie seine Mama. Wahrscheinlich hat er gerade neuen Dreck am Stecken und sich Luftveränderung verordnet.«
»Das war auch mein Gedanke.«
Tante Ju schlürfte geräuschvoll aus ihrer Tasse Kaffee. »Hast du die Verwandtschaft abgeklopft?«
»Da gibt es laut Hanna kaum jemanden. Nur ein paar Leute in Norddeutschland, mit denen sie und ihr Sohn aber keinen Kontakt haben. Ronny ist seinen Verwandten nie begegnet.«
»Freunde oder Kumpels?«
»Das sagte ich ja vorhin schon. Soweit es mir möglich war, hab ich bei denen nachgefragt. Hab sie zu Hause besucht, hab seine Stammkneipen aufgesucht.«
»Und?«
»Ach, die haben den Mund kaum aufbekommen. Das sind alles Rocker oder Schmalspurganoven oder beides. Die haben mir erst mal angedroht, mir eine Gesichtsmassage zu verpassen, wenn du verstehst. Und trotzdem kommt es mir nicht so vor, als hätten die irgendetwas zu verbergen.«
»Hast du noch einen Punkt, an dem du ansetzen kannst?«
»Hm. Heute Abend gehe ich ins Cräsh.«
»Ach du liebes Gottchen. Diese Lasterhöhle.«
John fand es lustig, wenn Tante Ju manchmal solch altmodische Begriffe einstreute. Das Cräsh war ein finsteres Kellerloch, in dem so laut Punkmusik gespielt wurde, dass nach einem Besuch eigentlich der Ohrenarzt konsultiert werden müsste. »Na ja, angeblich hat sich Ronny dort regelmäßig aufgehalten. Ich werde mal mit dem Besitzer sprechen. Ansonsten bleibt mir nicht viel.«
»Was hast du gesagt: Vor zwei Wochen ist Ronny verschwunden?« Tante Ju machte ein nachdenkliches Gesicht.
»Ja, so in etwa. Inzwischen wohl schon vor fast drei Wochen. Auf den Tag genau lässt sich das nicht bestimmen. Warum fragst du?«
»Einfach so, Johnny. Ich habe nebenbei nachgegrübelt, ob vor zwei, drei oder vielleicht auch vier Wochen irgendetwas in der Zeitung stand, das nicht gerade alltäglich war.«
»Nicht gerade alltäglich?«, wiederholte er skeptisch.
»Du weißt schon. Ob in der Zeit etwas passiert ist, über das man beim Zeitunglesen gestolpert sein könnte …« Tante Ju winkte unwirsch ab. »Ist ja auch egal.«
»Du meinst zum Beispiel einen Banküberfall, bei dem seither von dem Räuber jede Spur fehlt, oder etwas in der Art?«
»Ach, war bloß ein Gedanke.« Sie kratzte sich in den verschlungenen Tiefen ihres Haarschopfes. »Was ist mit diesem Hufnagel, von dem du erzählt hast?«
»Egon? Was soll mit ihm sein?«
Tante Ju zündete sich die nächste Zigarette an. »Magst du eine?«
»Nein, ich bin Nichtraucher«, meinte John roboterhaft. »Seit einem halben Jahr.« In diesem halben Jahr hatte er es ihr schon mindestens tausend Mal mitgeteilt. Leider war Tante Ju zwar ein wahres menschliches Nachschlagewerk, aber trotzdem auch ziemlich vergesslich.
»Na los, Junge, sag schon. Hast du mit Egon über Ronny geredet?«
»Eigentlich nicht«, murmelte John.
»Warum nicht?«
»Nun ja.« Ihm selbst war es überhaupt nicht aufgefallen, aber mit Egon hatte er seit dessen Besuch in der Detektei kein Wort gewechselt. »Ich denke, das wäre sowieso nutzlos. Egon und Ronny hatten nie sonderlich viel miteinander zu tun. Ein Alt-Hippie und ein verbrecherischer Nachwuchs-Rocker – denen würde schnell der Gesprächsstoff ausgehen, um es mal so zu sagen.«
»Aber trotzdem hat Hanna ausgerechnet Egon in Ronnys Wohnung geschickt, um nach dem Rechten zu sehen?«, gab Tante Ju zu bedenken. »Sie ist nicht selbst da gewesen? Ist das nicht komisch?«
»Später war sie schon dort. Na ja, Hanna steht praktisch die ganze Zeit hinterm Tresen. Und Egon hat sowieso nie richtig was zu tun. Da hat sie ihn kurzerhand in ihrer gewohnt uncharmanten Art in die Wohnung befohlen. Kein Grund, misstrauisch zu werden.«
»Egon hat dir das allerdings nicht bestätigt?«
»Nein, Tante Ju hat er nicht. Doch wenn er etwas wüsste, hätte er Hanna längst Bescheid gesagt.«
»Schon gut, Junge. Kein Grund, gleich einen so gereizten Ton anzuschlagen. Hab ja nur gefragt.« Sie wedelte ein paar Rauchwolken fort und lachte ihm aufmunternd zu. »Hast du selbst die Wohnung gesehen?«
»Ronnys Wohnung? Nein«, gab er zu. Auch daran hatte er gar keinen Gedanken verschwendet.
»Du nimmst die Geschichte ziemlich lässig, kann das sein?«
»Schon möglich«, murmelte John in sich hinein.
»Ich will nicht belehrend oder von oben herab klingen, Junge. Aber egal, was für ein Fall es ist, egal, um was für Leute es sich handelt: Wenn du nicht hundertprozentig dabei bist, wird nix draus.« Sie musterte ihn. »Oder beschäftigt dich etwas anderes?«
»Nein, nichts.«
»Nicht etwa eine blonde Frau, die ich schon vor einiger Zeit kennenlernen durfte und die bei dir ein und aus geht? Na, Johnny, wie läuft es mit Laura? Wenn ich dich das fragen darf.«
»Du darfst mich alles fragen.« Er seufzte. »Ehrlich gesagt: Sie ist zurzeit in Stuttgart.«
»Knatsch?«
»Eigentlich nicht.« Wiederum ein Seufzer. »Oder vielleicht doch. Ach, ich weiß auch nicht.«
»Um einige Leute lohnt es sich zu kämpfen, Johnny. Ich glaube, sie gehört dazu. Und auch das meine ich nicht von oben herab.«
»Ich weiß, wie du es meinst, Tante Ju. Danke.« Er straffte seinen Oberkörper. »Na ja, jetzt kümmere ich mich erst einmal wieder um Ronny Knalltüte Kallinsky.«
»Was sagt denn dein berühmter Riecher? Hat der sich irgendwie bemerkbar gemacht?«
Johns Riecher war alles andere als berühmt, aber Tante Ju hatte immer fest an ihn geglaubt und John praktisch eingeredet, überhaupt so etwas wie eine Spürnase zu besitzen.
»Mein Riecher? Tja. Der sagt leider gar nichts. Als wäre ihm unser Freund Ronny ziemlich schnuppe.«
»Häng dich trotzdem rein, Junge. Du machst schon was draus, da bin ich mir sicher. Moment mal, hab ich dir eigentlich schon eine angeboten?« Sie hielt die Zigarettenschachtel hoch. »Möchtest du eine oder nicht?«
»Nein danke«, meinte er schmunzelnd. »Ich wollte sowieso gehen.«
Als er später im Büro saß, tat John das, wogegen er sich seit Tagen wehrte. Er griff zu seinem Handy und rief Laura an. Es war wie ein Ringkampf gewesen. Wer zuerst nachgab, war der Verlierer. Und es war wohl klar gewesen, dass das nicht Laura sein würde.
»Hallo, John«, erklang ihre Stimme, ruhig und beherrscht, wie er sie kannte. Nichts war aus dem Tonfall herauszuhören, schon gar nicht eine gewisse Sehnsucht nach ihm.
»Wie geht’s dir?«, fragte er.
Laura erklärte, sie wolle noch ein wenig länger in Stuttgart bleiben. »Du bist doch nicht böse, oder?«
»Natürlich nicht«, hörte er sich antworten. »Ganz wie du meinst.«
»Dann bis bald, John. Ich melde mich. Versprochen.«
Sie hatten sich kaum fünf Minuten miteinander unterhalten. Während er sich erhob und eine Elvis-CD einlegte, hörte er wieder und wieder, wie Laura »versprochen« gesagt hatte. Liebevoll? Oder eher etwas mitleidig? Er hatte sich um einen sachlichen Ton bemüht, aber wahrscheinlich hatte sie durchschaut, dass es ihm mehr als recht wäre, sie würde schon am nächsten Tag nach Freiburg zurückkehren.
Er lauschte der Stimme des King of Rock ’n’ Roll, in dessen Gesang sich die unvermeidliche Begleitung des Papageis im Nebenraum mischte. John ging nach drüben, stellte sich an den Käfig und beglückte die Blaustirnamazone mit einem Nackenkraulen. Der verrückte Vogel, der Johns verstorbener Mutter gehört hatte, konnte gar nicht genug davon bekommen.
Abends fand John sich im Cräsh wieder, fast umgerissen von Wellen höllisch lauter Musik aus riesigen Boxen. Es war kurz nach zehn, also noch recht früh für eine solche Location, die wilden Gestalten der Nacht waren bestimmt noch auf dem Weg hierher. Umwabert von altmodischen Trockeneis-Schwaden und abgrundtief schlechter Luft stand John am Ende des langen Tresens. Er hatte einen Plastikbecher schales Bier vor sich und versuchte, ein Gespräch mit dem Besitzer oder Pächter dieses Wohlfühlpalastes in Gang zu setzen. Dabei handelte es sich um einen Ehrfurcht einflößenden Burschen mit beachtlichen Muskelpaketen und neogrünem Irokesenhaarschnitt. In der vorspringenden Nase glänzte ein goldener Ring, der bis zur Oberlippe reichte.
John schrie gegen die Rockmusik an, und die Augen des Irokesenmannes wurden zu schmalen Schlitzen.
»Wer?«, schrie er zurück. »Ronny? Ronny Kallinsky?« Seine rechte Faust schlug in die linke Handfläche. »Wo steckt der Sauhund?«
»Das möchte ich ja von dir wissen. Ich suche ihn. Ich bin Privatdetektiv John Dietz.« Das hatte John mindestens schon dreimal gebrüllt.
»Keine Ahnung, in welchem Mauseloch Kallinsky sich verkrochen hat.«
»Wann hast du ihn zuletzt gesehen?«
Ein Heben der breiten Schultern. »Ist ziemlich lange her.«
»Hat er mal eine Andeutung gemacht, dass er eine Zeit lang verschwinden würde? Hat er Ärger gehabt?«
Wieder der Schlag mit der Faust in die eigene Hand. »Ärger? Wenn er das nächste Mal hier auftaucht, hat er ganz bestimmt Ärger. Großen Ärger! Und zwar mit mir!«
John sah ihn verwundert an. »Warum?«
»Weil wir ein verdammtes Geschäft miteinander vereinbart hatten. Und der Dreckskerl sich nicht an die Absprachen gehalten hat. Da sind mir ein paar Typen auf den Keks gegangen, denen ich was versprochen hatte. Nur wegen Arschnase Kallinsky konnte ich mein Versprechen nicht einhalten. Und jetzt gehen die mir immer noch auf den Keks.«
Aufgrund des Lärms war John sich nicht sicher, jedes Wort verstanden zu haben. »Was denn für ein Geschäft?«
Der Irokese grinste ihn an. »Warum sollte ich das ausgerechnet dir verraten?«
»Na ja«, brüllte John, »weil es mir vielleicht dabei hilft, Kallinsky zu finden. Und dann könntest du deine Geschäftssache mit ihm bereinigen.«
Das Grinsen wurde breiter – und fies. »Wenn du Kallinsky auftreibst, sag ihm einfach, dass ich ihm alle seine Knochen brechen werde. Einen nach dem anderen. Das mache ich mit jedem Trottel, der mich verscheißern will. Noch Fragen? Ich hab jetzt nämlich zu tun.«
John zog die Stirn in Falten. »Alles klar.«
Ohne ein weiteres Wort ließ der Kerl ihn stehen. John war nicht gerade todtraurig, die Unterhaltung nicht fortsetzen zu müssen. Er nippte noch einmal an dem widerlichen Bier, bevor er schließlich das Cräsh verließ. Dieser Ronny Kallinsky bereitete ihm immer weniger Vergnügen.