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Drei bezaubernde Sommerromane von Mary Kay Andrews in einem Band - die perfekte Urlaubslektüre! »Die Sommerfrauen«: Die Freundinnen Ellis, Dorie und Julia genießen ihren Sommerurlaub in einem Ferienhaus direkt am Meer. Da taucht plötzlich die geheimnisvolle Madison auf. Die Freundinnen nehmen sie bei sich auf. Wird dieser Sommer alles verändern? »Sommerprickeln«: Die Freundinnen Annajane und Pauline sind zur Hochzeit von Annajanes Exmann Mason und der reizenden Celia eingeladen. Doch ist Annajane wirklich über ihn hinweg? Und welches Geheimnis verbirgt Celia? »Sommer im Herzen«: Weil Grace das Cabrio ihres betrügerischen Ehemanns im Pool versenkt hat, muss sie eine Therapie machen. Doch bald beschließen die Teilnehmer, ihre eigenen Gruppensitzungen abzuhalten - in einer Bar direkt am Strand.
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Seitenzahl: 2065
Mary Kay Andrews
Drei Sommer zum Genießen
Die Sommerfrauen / Sommerprickeln / Sommer im Herzen
Aus dem Amerikanischen von Andrea Fischer
FISCHER digiBook
In Liebe für Molly Hogan Abel, die tatsächlich Mond und Sterne an den Himmel gehängt hat
Es war kein vielversprechender Anfang für einen Urlaub, geschweige denn für ein neues Leben. Der Regen begleitete Ellis die gesamte Ostküste hinunter, peitschte gegen die Windschutzscheibe und erfasste ihren Wagen abwechselnd von allen Seiten. Bei diesen heftigen Sturmböen gelang es ihr so gerade, in der Spur zu bleiben.
Es war ihre eigene Schuld, fand Ellis. Sie hätte sich an ihren ursprünglichen Plan halten sollen: zu einer vernünftigen Zeit aufstehen und mindestens bis Tagesanbruch warten, um die Fahrt von Philadelphia nach North Carolina anzutreten. Stattdessen hatte sie auf eine verrückte Eingebung hin ihr Haus kurz nach Mitternacht abgeschlossen und war aufgebrochen.
Es war eine völlig untypische Entscheidung für Ellis. Aber schließlich war ihr altes Leben in Philly vorbei. Und irgendwann auf der langen Fahrt Richtung Süden hatte sie das Gefühl gehabt, ein neues Leben würde auf sie warten. Am Meer. Im Sommerurlaub.
Ellis holte tief Luft und kreiste mit den Schultern, zuerst vorwärts, dann rückwärts, um die Verspannungen durch die sechsstündige Autofahrt zu lockern. Sie griff nach dem Kaffeebecher im Halter ihres Honda Accord und nahm einen großen Schluck, um die Müdigkeit zu vertreiben.
Eine Stunde später sah sie das Schild: Nag’s Head, 132 Meilen. Ellis lächelte. Der Regen war zu einem leichten Nieseln geworden. Gegen sieben Uhr würde sie an dem Haus ankommen, das den Namen »Ebbtide« trug.
Ihr Lächeln verblasste. Was hatte sie sich bloß dabei gedacht, so früh aufzubrechen? Gemäß der von ihr unterschriebenen Vereinbarung war das Haus erst ab zwei Uhr nachmittags bezugsfertig.
Sie verfasste in Gedanken eine E-Mail an sich selbst:
Aber die Nachricht musste noch in der Warteschleife ausharren. Der Highway stieg an, Ellis befand sich auf einer langen, sanft geschwungenen Brücke. Wieder so eine verflixte Brücke! Es war bestimmt die letzte. Auf der Chesapeake Bay Bridge war ihr schon ziemlich mulmig zumute gewesen. Ellis spürte, wie sich ihre Gesichtsmuskeln verkrampften, ihre Finger das Lenkrad umklammerten, ihr Herz raste. Ein Schweißtropfen rann ihr über den Rücken.
Nag’s Head befand sich auf der Inselkette Outer Banks vor der Küste von North Carolina. Wochenlang hatte sich Ellis mit Reiseführern, Landkarten und Routenplanern beschäftigt. Sie hatte sich mit der Geographie, ja sogar mit der Topographie der Insel vertraut gemacht. Nur eines hatte sie sich verboten: an die Sache mit den Brücken zu denken. Denn es war so: Brücken, selbst lächerliche Querungen wie die Sam Varnedoe Bridge zu Hause in Savannah, die Whitemarsh Island mit Wilmington Island verband, jagten Ellis Sullivan eine Heidenangst ein – wie ihre Freundinnen nur zu gut wussten.
Sie richtete den Blick unverwandt geradeaus, wagte nicht, nach rechts oder links auf das unter ihr fließende Wasser zu schauen. Als sie die Brücke schließlich hinter sich ließ, hatte sie feuchte Hände, und ihr T-Shirt war schweißgetränkt.
Jetzt war sie tatsächlich auf den Outer Banks angekommen. Schilder kleiner Ortschaften huschten vorbei: Corolla, Duck, Southern Shores, Kitty Hawk, Avalon Beach. Die Sonne ging auf, und Ellis war ein wenig befremdet, wie dicht bebaut die Uferzone war. Sie hatte damit gerechnet, Strandgrasfelder vor glitzerndem blauen Wasser zu sehen; ankernde Segelboote, mit grauen Schindeln verkleidete herrschaftliche Häuser, die düster über dem Meer thronten, hin und wieder einen Leuchtturm. Tatsächlich hätte das, was sie bisher von den sagenumwobenen Outer Banks gesehen hatte, genauso gut der Strand von Jersey sein können, von Myrtle Beach, Ft. Lauderdale oder jeder anderen Touristenhochburg an der Ostküste. Auf den Outer Banks sah man nämlich meilenweit zu beiden Seiten der Straße ausschließlich Hotels und Motels, Restaurants und Einkaufsstraßen, dazu verstellten Apartmentkomplexe und dicht an dicht gebaute, riesige pastellfarbene Strandhäuser den Blick auf den Ozean.
Ellis folgte der Route 12 nach Süden, und als die Computerstimme des Navigationsgeräts sie anwies, erst nach links und dann nach rechts abzubiegen, wusste sie, dass es nicht mehr weit war. Die Küstenstraße war der Virginia Dare Trail. Zumindest hier gab es ein wenig Platz zwischen den Häusern. Ein- oder zweimal erhaschte Ellis sogar einen Blick auf Dünen und Strandgras. Schließlich verkündete die wohlklingende Frauenstimme fröhlich: »Sie haben Ihr Ziel erreicht. Ihr Ziel liegt auf der linken Seite.«
Ellis fuhr langsamer und schaute hinüber. Eine lange betonierte Auffahrt voller Schlaglöcher und Risse verlief sich in einer unkrautbewachsenen Sandfläche. Am Straßenrand stand ein Briefkasten mit einem von der Sonne gebleichten Zedernholzschild in Form eines Wals. Ebbtide war in verblassten weißen Buchstaben auf das Schild geschrieben. Die Auffahrt endete vor einer zweistöckigen Garage, verkleidet mit gräulich-braun verwitterten Holzschindeln. Durch die geöffneten Garagentore konnte Ellis einen abgenutzten rehbraunen Bronco erkennen, auf dessen Dachgepäckträger ein rotes Surfbrett geschnallt war.
Neben der Garage erhob sich ein ausladendes zweistöckiges Haus auf Holzrahmenwerk, zu dem eine Treppe hinaufführte. Entlang der Fassade zog sich eine lange, offene Veranda. Mehrere Schaukelstühle standen nebeneinander, ein fröhlich gestreiftes Strandlaken hing achtlos über dem Geländer. Neben dem Haus führte ein Holzsteg über eine hohe Düne.
Aus einem Impuls heraus fuhr Ellis mit dem Wagen in die Einfahrt des Nachbargrundstücks, auf dem sich allerdings kein Haus befand. Nur die verkohlten Überreste eines Betonfundaments und einige geschwärzte Holzbalken waren zu sehen. Ein Schild mit der Aufschrift Betreten verboten in Schwarz und Orange hing an einem Mauerrest. Ellis parkte den Accord. Als sie ausstieg, protestierten ihre steif gewordenen Beine und der Rücken. Die Luft war bereits warm und schwül. Ellis machte ein paar Kniebeugen und suchte den Nachbargarten nach Lebenszeichen ab. Waren ihre Vormieter bereits ausgezogen? Oder gehörte der Bronco in der Garage jemandem, der noch die letzten ein, zwei Stunden am Strand genoss, ehe es Zeit war, die Sachen zusammenzupacken und nach Hause zu fahren?
Ellis schlenderte zum Briefkasten und spähte zum Haus hinüber – das gemeinsame Heim von ihren Freundinnen und ihr, zumindest im Monat August. Ellis hatte sich vorgenommen, jede Stunde dieses Monats zu genießen.
»Ebbtide«, las sie laut, zufrieden, dass das Haus zumindest von außen mit dem Foto übereinstimmte, das sie bei der Ferienhausvermietungsbörse im Internet gesehen hatte. Sicher, auf dem Bild hatte man einen einladend grünen Rasen, blaue Hortensienbüsche und ein leuchtend rosa Tandem mit einem bezaubernden Korb bestaunen können, das an einem rosenbewachsenen Gartenzaun lehnte. Nichts dergleichen war jetzt zu sehen. Das Einzige, was auf dem Gelände – das wohl den Garten darstellte – zu entdecken war, waren eine kaputte Styroporkühlbox mit leeren Bierdosen und ein klatschnasser Haufen vergilbter Zeitungen, die noch in ihren Plastikhüllen steckten. Außerdem war hier eine Rekordmenge an Unkraut zu jäten.
Ellis schaute auf die Uhr. Bis zum Einzug hatte sie noch einen halben Tag totzuschlagen. Fürsorglich, wie sie nun mal war, hatte sie geplant, vor den anderen einzutreffen. Die zusätzliche Zeit gab ihr nun die Möglichkeit, einkaufen zu gehen, das Essen für den ersten Abend zu besorgen und das Haus vorzubereiten. Wäsche war nicht in der Miete enthalten, daher hatte Ellis ausreichend Bettwäsche und Handtücher für alle mitgebracht, nur für den Fall. Außerdem hatte sie jetzt den Vorteil, als Erste ihr Zimmer wählen zu können, aber da sie die gesamte Planung übernommen hatte, das Haus ausgesucht und den Urlaub gebucht hatte, sollte das ja wohl niemanden stören.
Nun ja, höchstens Willa. Sie war nur knapp zwei Jahre älter als die anderen Frauen, konnte aber unglaublich herrisch und rechthaberisch sein. Es wäre typisch für Willa gewesen, Ellis vorzuwerfen, sich das beste Schlafzimmer unter den Nagel gerissen zu haben. Was sie gar nicht vorhatte. Ellis wollte nur kein Zimmer, das auf die Straße ging und sehr laut war. Sie hatte einen leichten Schlaf – und sie hatte viel nachzudenken. Außerdem war sie als einziger Single der Gruppe daran gewöhnt, Platz für sich zu haben. Zu sehr daran gewöhnt, dachte sie bitter.
Ellis konnte es kaum erwarten, sich Ebbtide näher anzusehen. Sie schaute die Straße hoch und runter. Keine Fahrzeuge in Sicht. Ein verschlafener Sommermorgen am Meer, so wie jeder andere. Es konnte doch wohl niemanden stören, wenn Ellis die Auffahrt des abgebrannten Hauses hochging und sich mal umsah, oder? Theoretisch war das Betreten verboten, das wusste sie. Aber es war ja nicht so, dass sie das Nachbargrundstück auskundschaften wollte. War schließlich nichts mehr zum Auskundschaften da.
Bevor sie die Nerven verlor, marschierte Ellis die Auffahrt aus Muschelsplitt hinauf. Auch hier führte ein Holzsteg in Stufen über die Dünen, genau wie bei Ebbtide. Anders als das Haus, schien er den Brand überlebt zu haben. Rasch stieg Ellis die Stufen hinauf, damit sie von der Straße aus nicht gesehen werden konnte.
Auf dem höchsten Punkt der Düne befand sich eine überdachte Aussichtsplattform. Früher musste es ein wunderbarer Ort gewesen sein, wo man sich hinsetzen, einen Cocktail nippen und die Seeluft genießen konnte. Jetzt war das anders. Einige Holzplanken waren verrottet, dem Geländer fehlten mehrere Stützen. Zwei kaputte Plastikgartenstühle lagen auf der Seite, doch es war der Ausblick, der Ellis’ Aufmerksamkeit erregte. Von hier konnte sie Nag’s Head so sehen, wie sie es sich vorgestellt hatte. Die Dünen, bewachsen mit Strandgras, Strandpflaume und anderen Sträuchern, deren Namen sie nicht kannte, zogen sich bis zum breiten weißen Strand hinunter. Es war Ebbe, der Atlantik funkelte graublau in der Ferne. Hier und dort gingen Menschen am Ufer entlang, bückten sich gelegentlich, um eine Muschel aufzuheben.
»Perfekt!«, rief Ellis. Genau in dem Moment hörte sie eine Fliegengittertür zuschlagen. Als sie sich umdrehte, bemerkte sie eine Bewegung in der Wohnung über der Garage von Ebbtide. Zu den Räumen gehörte offenbar eine kleine Dachterrasse, die sich von einer Seite nach hinten zog. Ein Mann trat nach draußen. Ellis konnte ihn deutlich sehen – du lieber Gott! –, er war halbnackt!
Er war barfuß, tief gebräunt und hatte zerzaustes, sonnengebleichtes, braunes Haar. Eine weiße Boxershorts hing ihm tief auf den schmalen Hüften. Er drehte sich um, blickte zum Meer, gähnte und streckte sich. Und während Ellis vor Staunen und Empörung die Kinnlade herunterfiel, pinkelte der Typ von der Dachterrasse herunter.
Dabei ließ er sich gründlich Zeit. Ellis war außerstande, sich zu bewegen, ihr Gesicht war rot vor Scham. Als er schließlich fertig war, reckte er sich erneut und drehte sich um. In dem Moment entdeckte er Ellis, eine einsame Gestalt in pinkfarbener Caprihose und weißem T-Shirt, in deren langem dunklen Haar die Meeresbrise wehte.
Ungezwungen lächelte der Mann ihr zu. Seine Zähne waren weiß und ebenmäßig, sie sah den goldenen Schatten eines Dreitagebarts. Lässig winkte er herüber. »Hi!«, rief er. »Wie geht’s?«
Ellis brachte nicht mehr als ein ersticktes »Hi« hervor. Dann floh sie so schnell über die Treppe zurück, wie ihre Füße in den Flipflops sie tragen konnten.
Ellis sprang in den Accord und setzte so hastig rückwärts auf die Fahrbahn, dass sie beinahe den Briefkasten von Ebbtide gerammt hätte. Das war die Strafe für das unerlaubte Betreten des Grundstücks, dachte sie. Ein ungehinderter Blick auf einen Sittenstrolch. Sie sah über die Schulter zur Garagenwohnung, um sich zu vergewissern, dass der Mann nicht noch einmal auf der Dachterrasse auftauchte und nach ihr Ausschau hielt. Aber er war nicht mehr zu sehen.
Hoffentlich, dachte Ellis, gehörte ihm der Bronco in der Garage. Hoffentlich würde er in wenigen Stunden Ebbtide verlassen und wäre längst verschwunden, wenn sie einzog. Hoffentlich!
Doch was sollte sie in der Zwischenzeit mit sich anstellen? Die Straße hinunter war ein Outletcenter, aber das öffnete wahrscheinlich nicht vor zehn Uhr. Ellis musste Lebensmittel einkaufen, wollte aber nicht, dass die gekühlte Ware stundenlang im heißen Auto lag.
Ziellos fuhr sie die Straße entlang, bis sie an einem Restaurant vorbeikam, an dem ein Schild versprach: Frühstück ganztägig – jeden Tag. Der Parkplatz war voll. Ellis entdeckte sogar zwei UPS-Wagen, was auf einen halbwegs anständigen Laden schließen ließ, wie ihr Vater ihr vor Jahren erklärt hatte.
Im Lokal führte die Kellnerin sie an einen Fenstertisch, und Ellis bestellte Rührei, Putenwurst und einen Muffin. Ohne Butter. Keinen Kaffee. Sie war ja längst hellwach. Stattdessen bat sie um Eiswasser und Grapefruitsaft.
Als die Speisen serviert wurden, aß sie nur langsam, damit die Zeit schnell verging. Es herrschte Trubel; kleine Kinder rannten lachend zwischen den Tischen umher, in der Luft lag das aufgeregte Geplauder von urlaubenden Familien und Freunden. Als Ellis fertig war, holte sie ihr iPhone hervor und prüfte die E-Mails.
Das iPhone war neu. In all den Jahren, die sie bei der Bank gearbeitet hatte, war der in ihrer Handtasche befestigte Blackberry ihre Verbindung zur Arbeitswelt gewesen. Er war das Erste, was sie morgens berührte, auch am Wochenende, noch bevor sie sich die Zähne putzte und duschte, und das Letzte, was sie abends überprüfte, bevor sie zu Bett ging.
Vor zwei Wochen jedoch hatte eine E-Mail im Blackberry Ellis aufgefordert, zu einem Treffen mit Phyllis K. Stone aus der Personalabteilung zu kommen. In der Firma war Ms Stone bekannt als die »Sensenfrau« oder auch »Stonehenge«. Zu Ellis war sie bei den seltenen Gelegenheiten, da sie miteinander zu tun gehabt hatten, tadellos freundlich gewesen. An jenem besonderen Tag hatte Ellis vermutet, sie würde ein neues Krankenversicherungspaket bekommen. Doch das Paket, das Ms Stone ihr schweigend über den Schreibtisch zuschob, hatte nichts mit Selbstbeteiligung oder Zuzahlungen zu tun. BancAtlantic, Ellis’ Arbeitgeber der vergangenen elf Jahre, sei von der CityGroup Inc. geschluckt, nein, »aufgekauft« worden, sei das richtige Wort, wie Ms Stone unverbindlich verkündete.
»Natürlich verfügt die CityGroup über eine eigene Abteilung für Marketing«, fuhr sie fort. »Und da momentan Kosteneinsparungen und maximale Produktivität sowie die finanzielle Stabilität der Anleger absolute Priorität haben, hat die Geschäftsführung die Marketingabteilung von BancAtlantic für überflüssig erklärt.«
Ellis war nicht sicher, richtig verstanden zu haben. »Überflüssig? Heißt das, ich wechsle rüber zur CityGroup?«
Ms Stone schob das Päckchen näher an Ellis heran. »Leider nicht.«
Ellis spürte, wie ihr Mund trocken wurde und ihre Hände zu schwitzen begannen. Sie mochte ihre Arbeit, mochte ihre Kollegen, den Lebensstil, den ihr das Einkommen ermöglichte, das Haus in einem feinen Viertel, die Geschäftsreisen mit dem großzügigen Spesenkonto und alle drei Jahre ein neues Auto. »Dann«, sagte sie mit leicht bebender Stimme, »wird mir eine andere Stellung innerhalb der Bank angeboten? Ich meine, es ist ja nicht so, dass ich immer nur Marketing gemacht hätte. Meinen Abschluss habe ich in Finanzwissenschaft, und bevor ich zu BancAtlantic kam …«
Ms Stone spitzte leicht die Lippen. Ihr fuchsiaroter Lippenstift hatte sich in den tiefen Falten ihrer Oberlippe verkrochen. Sie hatte einen Schnurrbart. Ellis fragte sich, warum Ms Stone den nicht entfernen oder wenigstens bleichen ließ.
Ms Stone klopfte wieder auf den Aktenordner. Darauf prangte ein Hochglanzfoto der Firmenzentrale von BancAtlantic in Chrom und Granit; quer darüber gedruckt waren die Worte Wandel für morgen.
Vor dem Bürofenster von Ms Stone im siebten Stock rumpelte es. Ellis schaute auf und sah eine Apparatur zum Fensterputzen langsam vorbeigleiten. Doch die Männer in dem Gefährt waren keine Fensterputzer. Sie trugen dunkle Overalls und plagten sich mit einem gewaltigen Logo aus Chrom herum, das aus zwei zweieinhalb Meter hohen Buchstaben bestand: CG.
Ellis kam der Gedanke, dass die neuen Inhaber der Bank mit ihrem Wandel nicht bis morgen warten wollen.
»Dies ist Ihr Abfindungspaket«, sagte Ms Stone sanft. »Sie werden sehen, es ist wirklich großzügig. Außerdem haben Sie natürlich noch Ihre Rente. Ihre Abfindung besteht aus zwei Wochen Gehalt für jedes Jahr, das Sie in dieser Einrichtung gearbeitet haben.«
»Einrichtung?«, wiederholte Ellis dumpf.
»BancAtlantic«, erinnerte Ms Stone sie. »Obwohl«, sagte sie mit einem Blick auf die Uhr an ihrem unnatürlich dünnen Handgelenk, »es die BancAtlantic seit drei Minuten nicht mehr gibt. Wir sind jetzt CityGroup. Aufregende Zeiten, nicht wahr?«
Ellis dachte, irgendwie hätte sie nicht das Adjektiv »aufregend« gewählt, um diesen Moment zu beschreiben. Sie beugte sich vor und griff endlich nach dem Aktenordner, den Ms Stone ihr zentimeterweise zugeschoben hatte. Sie blätterte durch den Inhalt. Er bestand aus Formularen und Mitteilungen, und allein der Anblick des Kleingedruckten brachte eine Ader in Ellis’ Stirn zum Pochen. Sie musste dringend zurück in ihr Büro, all diese Schriftstücke lesen und versuchen, sie zu verarbeiten.
Ellis erhob sich. »Wie lange noch?«, fragte sie. »Ich sitze gerade an einem großen Projekt, der Bericht müsste nächste Woche fertig sein.«
Ms Stone blinzelte. Ellis hätte schwören können, dass sie bei dieser Frau noch nie zuvor ein Blinzeln gesehen hatte. Niemals.
»Ach«, sagte Ms Stone. »Ich dachte, Sie hätten verstanden. Ihre Kündigung hat sofortige Wirkung.«
»Wie? Jetzt auf der Stelle?«
»Leider ja«, sagte Ms Stone und hielt ihr erwartungsvoll die geöffnete Handfläche entgegen.
Ellis Sullivan war eigentlich keine Frau, die zu Sarkasmus neigte. Doch irgendwie schien die Situation geradezu danach zu schreien.
»Was?«, sagte sie aufgebracht. »Reicht es noch nicht, dass Sie mich gerade gefeuert haben? Sie haben mir meine Arbeit genommen, meine Karriere, elf Jahre meines Lebens! Und dafür bekomme ich was? Zweiundzwanzig Wochen Gehalt? Das ist doch wohl ein Witz, oder? Was wollen Sie jetzt noch von mir, hä? Eine Niere? Vielleicht meine Milz?«
Ms Stones bärtige Oberlippe zuckte. »Das ist völlig unnötig«, sagte sie verkniffen. »Es handelt sich hier um eine rein geschäftliche Entscheidung, die die Geschäftsführung getroffen hat. Bitte versuchen Sie nicht, sie persönlich zu nehmen.«
»Ich soll sie nicht persönlich nehmen?«, rief Ellis, gegen ihre Tränen kämpfend.
»Es ist nichts Persönliches«, sagte Ms Stone. Sie erhob sich und stand nun, gute fünfzehn Zentimeter kleiner, vor Ellis. Erneut hielt sie die Hand auf. »Ich muss Sie um Ihren Mitarbeiterausweis bitten.«
Ellis riss die laminierte Karte von dem Seidenband um ihren Hals und schleuderte sie Ms Stone entgegen. Erneut blinzelte die Frau und duckte sich, doch der Ausweis streifte ihr Kinn, ehe er auf den Schreibtisch fiel.
»Das Band gehört mir«, sagte Ellis. »Das ist kein Firmeneigentum.«
»Schön«, sagte Ms Stone. »Verstehe. Und jetzt brauche ich noch Ihren Blackberry. Ich meine natürlich, den Blackberry der Firma.«
Ellis zuckte zusammen. »Den hab ich nicht dabei«, gab sie zu. »Der ist in meinem Büro. Ich bringe ihn vorbei, wenn ich meinen Schreibtisch ausgeräumt habe.«
Ms Stone schmunzelte. »Ihr Schreibtisch wurde bereits ausgeräumt.« Sie ging zur Tür und öffnete sie. Der Mitarbeiter eines Sicherheitsdienstes in einer fremden, anthrazitfarbenen Uniform stand im Gang, in den Armen einen großen Pappkarton. Oben heraus schaute ein alberner roter Stoffbär in einem T-Shirt, das den grünen Schriftzug der BancAtlantic trug. Ellis hatte den Plüschbär vor zwei Jahren auf der Weihnachtsfeier der Abteilung gewonnen. Die Handtasche von Louis Vuitton, die sie sich nach ihrer letzten Gehaltserhöhung gegönnt hatte, baumelte am Arm des Wachmanns.
Ms Stone wies mit dem Kopf auf die Handtasche. Ellis nahm sie dem Wachmann ab, griff hinein und knipste den Blackberry ab.
Vorsichtshalber duckte Ms Stone sich erneut, doch plötzlich war Ellis nicht mehr zum Kämpfen zumute. Sie legte den Blackberry auf den Tisch, machte auf dem Absatz kehrt und folgte dem wartenden Wachmann in den Flur bis zum Fahrstuhl.
Ellis streckte die Arme nach dem Karton aus. »Ich kann ihn selbst nehmen. Keine Sorge. Ich komme nicht mit einem Gewehr wieder hochgerannt.«
Der Wachmann zuckte mit den Schultern. »Tut mir leid. Ich muss Sie aus dem Gebäude nach draußen begleiten. Vorschrift.«
Ellis drückte auf dem Bedienfeld auf »U«, und schweigend fuhren sie mit dem Lift hinunter in die Garage im Untergeschoss. Der Wachmann folgte ihr bis zu ihrem Accord. Ellis öffnete den Kofferraum, er stellte den Karton hinein und reichte ihr ein Blatt Papier, das oben auf ihren Besitztümern gelegen hatte.
»Das ist eine Inventarliste aller Gegenstände aus Ihrem Büro«, sagte er entschuldigend. »Wenn Sie kurz gegenzeichnen könnten, bitte?«
Ohne auch nur einen Blick auf die Liste zu werfen, kritzelte Ellis ihr Kürzel unten auf das Blatt und reichte es zurück.
Der Wachmann nickte. »Das ist echt ätzend, Mann. Ich hasse das.«
»Nicht Ihre erste Kündigung heute?«
»Sie sind die elfte«, sagte er düster. »Nach der Mittagspause geht’s weiter mit Warenkredite. Die gesamte Abteilung.«
Ellis nickte. Es war kein Trost zu wissen, dass auch der Rest ihrer Firma zerpflückt und ausrangiert wurde, eine Abteilung nach der anderen. »Wiedersehen«, sagte sie, wohl wissend, dass es keins geben würde.
An den ersten beiden Tagen danach hatte sie nicht gewusst, was sie mit sich anfangen sollte. Am ersten Morgen war sie wie immer um sechs Uhr aufgestanden und hatte im Dunkeln nach ihrem Blackberry getastet. Nach einem kurzen Moment der Panik war ihr eingefallen, dass die Bank ihn zurückgefordert hatte, zusammen mit ihrer bisherigen Identität. Dann hatte Ellis sich mit einem Stöhnen wieder hingelegt und erkannt, dass es keinen zwingenden Grund für sie gab aufzustehen.
Es folgte eine Woche der Trauer. Zwei Tage lang duschte sie nicht, lief in einer schäbigen Yogahose und Sweatshirt herum, ernährte sich von einer eintönigen Kost aus Cornflakes und sah fern, weil sie es nicht ertrug, aus dem Haus zu gehen. Wohin sollte sie auch wollen? Nach sieben Tagen Selbsttherapie hatte sie sich dank der Wiederholungen der Dr. Phil Show gezwungen, vor die Tür zu gehen und das iPhone zu kaufen. Sie erstand sogar eine schicke rosa Gummihülle dafür.
Da Ellis nie eine andere E-Mail-Adresse besessen hatte als die bei BancAtlantic, richtete sie sich ein Konto bei Hotmail ein und verkündete allen, die sie kannte und deren Kontaktdaten sie Gott sei Dank mal irgendwo aufgeschrieben hatte, dass sie eine neue Adresse habe. Es folgten die unvermeidlichen alarmierten Nachfragen von Freunden, die wissen wollten, was passiert sei.
Ellis konnte die Vorstellung nicht ertragen, dass man sie bemitleidete, da sie bereits in Selbstmitleid ertrank, deshalb formulierte sie eine schwungvolle Antwort: »Berufliche Umorientierung zur Lebensmitte. Zeit zum Innehalten und Ausprobieren. Näheres folgt.«
Aber es gab nichts Näheres. Noch nicht. Dieser Urlaub mit ihren Freundinnen, den sie seit April geplant hatte, als sie sich bei der Beerdigung von Julias Mutter in Savannah trafen, war das Einzige, das Ellis seit der Kündigung aufrecht hielt. Eine leise, beharrliche Stimme in ihrem Hinterkopf sagte immer wieder, sie hätte die Reise absagen und das Geld sparen sollen, hätte sich mit Leib und Seele dem Vorhaben widmen sollen, sich wieder dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stellen.
Doch sie hatte der leisen, beharrlichen Stimme ihre Antwort entgegengeschmettert: Halt die Schnauze!
Es war fast August. Auf gar keinen Fall würde sie diesen Strandurlaub absagen.
Und jetzt war sie hier, saß in einem Restaurant in Nag’s Head, North Carolina, und hatte einen Teil ihrer Abfindung bereits verbraucht. Es war ihr egal. In den vergangenen fünf Jahren hatte sie sich jedes Jahr genau eine Woche Urlaub gegönnt, den sie Weihnachten mit ihrer Mutter und ihrer Tante in deren Eigentumswohnung unten in Sarasota verbrachte, wo sie sich anhören durfte, wie ihre Mutter sich mit Tante Claudia stritt.
Im April hatte Ellis neben Julia in der ersten Reihe der Kirche zum Heiligen Sakrament in Savannah gesessen. Dorie war auf der anderen Seite von Julia, daneben Willa. Booker, Julias langjähriger Freund, hatte nicht von London herkommen können. Die vier Frauen hielten sich an den Händen, als ein junger Priester namens Father Tranh, den keine von ihnen kannte, die Trauermesse für Catherine Donohue Capelli las. Später, als alle Trauergäste gegangen waren, hatten die Freundinnen im Haus der Capellis ihre Beerdigungskleidung ausgezogen, waren in Pyjamas geschlüpft und hatten sich auf das Doppelbett in Julias altem Kinderzimmer gefläzt, so wie früher immer am Freitagabend. Diesmal hatten sie eine Menge Cosmopolitans getrunken, statt wie damals leichtes Bier zu trinken, das sie aus Mr Capellis Bierkühlschrank in der Garage stibitzten.
Da hatten sie dann den Plan ausgebrütet. Sie wollten sich nicht mehr nur auf Beerdigungen treffen. Ellis’ Vater war zwei Jahre zuvor gestorben, und wie lange war Mr Capelli schon tot? Sechs Jahre? So ginge es nicht weiter, hatte Julia erklärt und ihr leeres Glas geschwenkt.
»Wir werden zusammen verreisen«, verkündete sie. »Ans Meer. Wir alle gemeinsam.« Sie hatte zu Dorie hinübergeschaut, die als Letzte geheiratet hatte, und bedeutungsschwer hinzugefügt: »Nur wir Mädels.«
Mit der Vorbereitung des Urlaubs hatten sie Ellis betraut – die Organisatorin, die Planerin, die allzeit tüchtige Ellis. Und genau das hatte sie getan. Jetzt stand sie arbeitslos da, aber vor ihr lag der ganze Monat August, den sie mit ihren besten Freundinnen in einem Ferienhaus verbringen wollte. Und mit Willa, Dories Schwester, die sich einfach dazugeladen hatte.
Die Aussicht rief bei Ellis einen angenehmen Schwindel hervor. Die goldenen Sommer der Jugend waren die schönsten ihres Lebens gewesen. Ellis, Dorie und Julia waren damals unzertrennlich, hatten mehrere Wochen am Stück im großzügigen Landhaus von Julias Großmutter in Tybee verbracht, tagsüber faul am Strand gelegen und sich abends stundenlang zum Ausgehen fertiggemacht.
Dorie hatte immer einen Schwarm potentieller Freunde um sich geschart, daher waren sie stets in einer großen Gruppe unterwegs gewesen, fuhren die Küstenstraße im dicken Fleetwood Caddie von Julias Mutter hoch und runter, und niemand hatte sich daran gestört, dass Ellis keinen Freund hatte. Der Caddie war weiß, hatte ein Schiebedach und das Ersatzrad auf den Kofferraum montiert – ein totaler Angeberwagen, was alle zum Schreien komisch fanden: dass Julias fromme Mutter einen Zuhälterschlitten fuhr. Sie liebten den Fleetwood, weil er mit seinen großen Ledersitzen sechs bis sieben Personen Platz bot. Die Mädchen ließen die Scheiben herunter, drehten ihr Lieblingslied auf höchste Lautstärke und grölten den Refrain aus vollem Hals – »Whoomp! There It Is!« Der Fleetwood schaukelte im Takt des schweren Basses.
Anschließend gingen sie tanzen in einen Club, dessen Namen Ellis längst vergessen hatte, doch sie konnte sich noch an den Jungen erinnern, den sie am letzten Sommerwochenende vor ihrem zweiten Jahr am College kennengelernt und mit dem sie die Abende durchgetanzt hatte. Er hieß Nick und ging zum Boston College, und sie hatte sich nur zu gerne von ihm streicheln lassen, als sie sich zu »I Swear« in den Armen lagen. Ellis erlaubte sich die Vorstellung, es sei Nick, der ihr versprach – beim Mond und den Sternen am Himmel –, sie ewig zu lieben. Dann hatte die Schule begonnen, Nick hatte noch ein paar E-Mails geschrieben, dann kam nichts mehr.
Ellis schaute auf ihr iPhone. Sie öffnete eine neue Mail und gab die Adresse ein.
Von: [email protected]
Lieber Mr Culpepper, mir ist durchaus bekannt, dass meine Gruppe heute nicht vor zwei Uhr in Ebbtide einziehen kann, aber zufälligerweise bin ich früher als geplant in der Gegend und wollte fragen, ob es möglich wäre, schon früher ins Haus zu können? So gegen Mittag? Dafür wäre ich Ihnen sehr dankbar. Mit freundlichen Grüßen, Ellis Sullivan.
Sie drückte auf »Senden« und hörte kurz darauf das leise zischende Geräusch, das die Versendung ihrer Nachricht akustisch nachahmte. Nicht zum ersten Mal stellte sie sich Mr Culpepper vor: ein freundliches altes Hutzelmännchen in einem ausgeblichenen, aber gestärkten Hawaiihemd, die staksigen Knie in einer Bermuda mit Madraskaro, dazu schwarze Socken und abgetretene Sandalen. Sein Gesicht war wettergegerbt, der Kopf fast kahl. Er würde Ellis und ihre Freundinnen auf der Stelle ins Herz schließen und sie »Schätzchen« oder »Süße« nennen.
Sie konnte es nicht erwarten, Mr Culpepper persönlich kennenzulernen.
Maryn fuhr gen Süden, wechselte zwischen der Interstate und gewundenen Landstraßen, ohne ein besonderes Ziel im Kopf zu haben. Fort. Das war die einzige Richtung, in die sie wollte. Fort von daheim, von den wenigen Angehörigen, die sie noch hatte. Fort von Biggie. Das tat richtig weh. Aber daran konnte sie nichts ändern. Noch immer sah sie Biggies flehende braune Augen vor sich, die ihr nachgeschaut hatten, als sie durchs Haus huschte und ihre Sachen in eine Reisetasche packte. Er war ihr von einem Zimmer ins nächste gefolgt, und als sie fertig war, hatte er an der Hintertür auf sie gewartet, die rote Lederleine in der Schnauze, überzeugt, sie würde jetzt mit ihm Gassi gehen.
Es brach ihr das Herz, Biggie zurückzulassen. Sie hatte sich eingeredet, der alternde Golden Retriever würde schon zurechtkommen. Don würde ihm nichts zuleide tun, nicht mal, um sich an Maryn zu rächen. Er liebte Biggie von ganzem Herzen, hatte ihn als Welpen bekommen. Biggie war für Maryn da gewesen, und nach ihr wäre Don für den Hund da. Oder nicht? Wie auch immer, wichtig war, dass sie fort musste. Fort von ihm. Und das bedeutete, Biggie zurückzulassen.
Bei dem Gedanken an Don drehte Maryn den Diamanten an ihrem Ringfinger. So oft hatte sie ihm das Schmuckstück an den Kopf werfen wollen, hatte sagen wollen, ja, damit hast du mich gekauft. Er hatte das Geschäft seines Lebens gemacht. Fast hätte sie den Ring zurückgelassen, zusammen mit ihren anderen Habseligkeiten, doch im letzten Moment beschloss sie, ihn weiter zu tragen, als Mahnung – als ob das nötig gewesen wäre! –, wie leicht und billig sie sich an den Teufel verkauft hatte.
Maryn blickte kurz auf ihren Arm hinunter. Verborgen unter dem Stoff waren die schmerzenden, hässlich violetten Flecken, die ihren linken Unterarm wie ein Armband zierten. Noch eine Erinnerung an den wahren Don Shackleford. Sie würden verblassen, das wusste Maryn, doch sie zweifelte, dass sie jemals seinen eiskalten Zorn vergessen würde, die Leichtigkeit, mit der er ihren Arm umklammert und zugedrückt hatte, bis sie vor Schmerz laut aufschrie. Während Don ihr zuflüsterte, was genau er mit ihr anstellen würde, wenn er sie noch einmal dabei erwischte, wie sie in seinen Privatangelegenheiten herumschnüffelte, war sein Gesicht völlig reglos geblieben.
»Ich bring dich unter die Erde«, hatte er gedroht, und seine blassblauen Augen hatten sonderbar gefunkelt. »Irgendwo, wo dich keiner findet. Keiner wird überhaupt merken, dass du nicht mehr da bist. Erst wenn es zu spät ist. Weder Adam noch deine Mutter, keiner wird wissen, was passiert ist, wo Maryn geblieben ist.« Bei der Vorstellung hatte er gegrinst. Dann hatte er ihren Arm losgelassen, aber nicht ohne vorher den Kopf zu senken und die von ihm verursachten, feurigen roten Striemen zärtlich zu küssen.
Als sie hörte, dass der Escalade aufheulend die Auffahrt verließ, hatte sie bereits begonnen, ihre Flucht vorzubereiten.
Sie schloss die Haustür ab und lief in ihr Zimmer. Als sie das Geld aus ihren Ugg-Boots hinten im Wandschrank zog, erkannte sie voller Staunen, dass sie fast sechstausend Dollar angespart hatte. Den Grundstock hatte sie mit zweitausendsiebenhundert Dollar von einer Reise nach Atlantic City im April gelegt, als sie beim Blackjack gewonnen hatte. Don gegenüber hatte sie behauptet, das Geld für Klamotten und Schuhe ausgegeben zu haben. Ihn anzulügen fiel ihr nicht schwer, erschien ihr auch nicht falsch. Das restliche Geld kam häppchenweise dazu, ab und zu ein Zwanziger aus dem Bündel, das Don abends auf die Kommode warf, ein Hunderter gespart von dem Geld, das er ihr für eine neue Jacke gegeben hatte. Fünfhundert Dollar, als sie die lächerlich teure (und hässliche) Uhr, die er ihr zum Geburtstag geschenkt hatte, in ein schöneres Modell umtauschte.
Maryn konnte nicht genau sagen, warum sie die Zwanziger und Fünfziger gehortet hatte. Waren sie wirklich für die Kelly-Bag von Hermès gedacht gewesen, die sie sich gewünscht hatte, oder hatte sie eher den zynischen Tipp ihrer Mutter im Hinterkopf gehabt, der ihr mit einer Zigarette zwischen den blutleeren Lippen erteilt wurde: »Eine Frau muss immer ihr eigenes Geld haben. Immer. Geld zum Durchbrennen.«
Maryn war dankbar für den einen guten Ratschlag, den ihre Mutter ihr gegeben hatte. Das Packen hatte nicht lange gedauert. Zwanzig Minuten? Maryn war in eine andere Bluse geschlüpft, eine Seidenbluse mit langen Armen, damit man die blauen Flecken an ihrem Arm nicht sah. Und jetzt war sie hier, auf der Straße. Wieder mal.
Wie lange war sie nun schon unterwegs? Ihre Augen brannten vor Erschöpfung, Arme und Schultern schmerzten. Sie musste bald eine Pause einlegen. Und schlafen. Und etwas essen, auch wenn ihr Magen sich bei dem Gedanken an Essen drehte.
Sie überquerte die Grenze von Virginia und stellte fest, dass sie nun in North Carolina war. Die Sonne ging auf. Maryn zog die Dior-Sonnenbrille von ihrem Kopf auf die Nase herunter und las im Vorbeifahren ein Plakat, das für ein Motel namens Buccaneer in Nag’s Head warb.
Nag’s Head. In dem Sommer, nachdem ihr Vater nach Fort Bragg in Fayetteville, North Carolina, versetzt worden war, waren ihre Eltern mit ihr nach Nag’s Head gefahren. Wie alt war sie da gewesen, zwölf? Sie hatten in einem winzigen Motel gewohnt, direkt am Strand, und ihr Vater hatte sie mit zum Angeln an die Mole genommen, nur er und Maryn. Das Motel hatte einen Swimmingpool und ein kleines Café, und sie waren jeden Abend essen gegangen, absoluter Luxus. Einmal hatten sie abends Minigolf gespielt, ein anderes Mal waren sie in einem Vergnügungspark Autoscooter gefahren.
War das der letzte glückliche Sommer gewesen? Die Scheidung folgte ein Jahr später. Gerade als Maryn sich an der neuen Schule eingewöhnt hatte. Nicht dass sie dort viele Freunde gehabt hätte. Sie war ein ungeschicktes Kind gewesen, bestand nur aus Knien und Ellenbogen, ihr Haar hatte die Farbe von schmutzigem Spülwasser, ihr Kopf war zu groß für den Körper. Maryn hatte sich geschämt, als sie als erstes Mädchen in der sechsten Klasse einen BH brauchte. Ihre Mutter hatte diesen Umstand natürlich gefeiert, indem sie Maryn das engste Oberteil kaufte, das sie finden konnte. »Wer hat, der hat«, sagte sie zu ihr. Um einen Streit zu vermeiden, trug Maryn das Top, zog aber ein weites Shirt darüber, sobald sie das Haus auf dem Weg zur Schule verlassen hatte.
Gerade hatte sie begonnen, das soziale Miteinander an ihrer neuen Schule zu begreifen, als ihre Mutter sie im Mai in den ausgebleichten blauen Buick lud und verkündete, sie würden Tante Patsy in New Jersey besuchen. »Wenn du glaubst, dass ich in diesem elenden Loch von Stadt bleibe, während dein Vater mit seiner Hurentusse durch die Gegend marschiert, dann ist dir nicht zu helfen«, sagte Mama, legte den Rückwärtsgang ein und rumste gegen den Briefkasten am Ende der Auffahrt. Sie stieg nicht mal aus, um einen Blick auf ihre zerdrückte hintere Stoßstange zu werfen.
Ein Besuch in New Jersey? Es war wohl eher ein Einzug bei der älteren Schwester ihrer Mutter gewesen, bei Tante Patsy, Teilzeitfrisöse und Vollzeitsäuferin. Im Herbst hatte Maryn die Pubertät hinter sich gebracht und war auf die Junior Highschool gekommen, fünf Zentimeter größer. Sie trug B-Körbchen, eine enge Jeans mit Acid-Waschung und dank Tante Patsy eine prächtige blonde Mähne. Ebenfalls im Herbst gesellte sich Maryns Mutter zu Tante Patsy im Frisörsalon – und im Spirituosenladen.
Maryns erste Wochen an der Junior-High waren ein Triumph gewesen. Eine zierliche Brünette namens Brooke saß im Klassenzimmer vor ihr, hatte Mitleid mit der Neuen und lud sie ein, beim Mittagessen in der Cafeteria am Tisch der beliebten Mädchen zu sitzen. Sie wurde zu Pyjamaparties und zum Eislaufen eingeladen und hatte jeden Abend viele Stunden mit Brooke telefoniert, hatte durchgesprochen, wer wen mochte. Ihre Mutter und ihre Tante hatten Maryns neue Beliebtheit in jeder Sekunde genossen.
Im Oktober war Maryn zu ihrer ersten Veranstaltung mit Jungs eingeladen worden, einer Halloweenparty. Die Einladung löste bei ihrer Mutter und Tante Patsy eine rauschhafte Einkaufswut und Näherei aus. Am fraglichen Abend stolzierte Maryn mit einer hoch aufragenden schwarzen Perücke in Heather Palumbos Kellerbar, gekleidet in ein fließendes, langärmeliges schwarzes Etuikleid mit tiefem Ausschnitt. Ihr Gesicht war mit Theaterschminke weiß gemacht, ihre Augen mit schwarzem Eyeliner umrandet, die Lippen blutrot bemalt, dazu trug sie passende zentimeterlange, falsche rote Fingernägel.
Noch so viele Jahre später konnte sich Maryn erinnern, welche Wirkung ihr Auftritt bei jener Feier gehabt hatte. Brooke, Heather und Colleen in ihren Pudelröcken aus den Fünfzigern, Söckchen mit Volants und Pullis mit aufgedruckten Buchstaben bildeten einen Kreis um Maryn und starrten sie an, als sei sie gerade von einem anderen Planeten heruntergefallen. »Was soll das denn sein?«, fragte Colleen und stützte die Hände in die Hüften.
»Weißt du nicht?«, fragte Maryn erstaunt. »Elvira, die Königin der Dunkelheit. Aus dem Fernsehen!«
»Du siehst aus«, spottete Heather, »wie eine Nutte.«
Maryns Wangen brannten vor Scham. Sie huschte nach oben, wollte ihre Mutter anrufen und sie bitten, sie früher abzuholen, doch Mama und Patsy hatten Maryn lediglich bei der Party abgesetzt und waren direkt weitergefahren nach Harlow, in ihre Lieblingskneipe.
Als Maryn in den Keller zurückkehrte, stellte sie fest, dass die Mädchen ihr buchstäblich den Rücken zukehrten. Mit den Jungen hingegen lief es anders. Sie scharten sich um sie, lachten und redeten zu laut, brachten ihr Cola und forderten sie zum Tanzen auf. In gefühlten fünf Minuten war sie die Schönheit des Abends und gleichzeitig die Schulschlampe geworden – je nach Geschlecht des Betrachters.
Brooke und Colleen riefen jetzt nicht mehr an, dafür nahmen Alex, Nathan und Jordan, ein Junge aus der Achten, ihre Stelle ein. Anfangs war Maryn erschüttert, Brooke als Freundin verloren zu haben. Doch ihre Mutter und ihre Tante genossen Maryns neuen Status als Femme fatale.
»Diese albernen Weiber hast du doch gar nicht nötig«, sagte Tante Patsy. »Die sind alle nur neidisch auf dich, weil du hübscher bist und weil die Jungs dich mehr mögen als sie.« Als Maryn im Laufe der Wochen und Monate klarwurde, dass sie eine überraschende Macht über das andere Geschlecht besaß, kam sie zu dem Schluss, dass sie Jungs durchaus mochte.
Nicht dass sie es gut fand, keine beste Freundin zu haben. Als Tante Patsy am Anfang von Maryns zweitem Jahr an der Highschool ihre Stelle im Stylesetter Salon verlor, so dass sie gezwungen waren, in ein kleineres Mietshaus in einem anderen Schulbezirk zu ziehen, beschloss Maryn, sich neu zu erfinden.
Bevor die Schule wieder begann, trieb sie sich im Einkaufszentrum herum, um herauszufinden, wie sich die anderen Mädchen kleideten. Sie kaufte sich eine Levis 501 mit Knöpfen statt Reißverschluss und pastellfarbene T-Shirts von Gap, hörte auf, sich das Haar zu färben, und schminkte sich weniger auffällig.
Und wofür? Trotz ihrer Bemühungen blieb Maryn an ihrer neuen Schule aus den Kreisen und Cliquen ausgeschlossen. Als sie daher von dem süßen, etwas hohlen Sportcrack Wesley Bates, der im Chemielabor neben ihr saß, am dritten Samstag in Folge eingeladen wurde, mit ihm auszugehen, willigte Maryn ein, obwohl sie über den Flurfunk der Schule gehört hatte, dass Wesley angeblich mit einem Mädchen namens Janelle Rivenbark ging.
Eine Verabredung. Genau einmal war sie mit Wesley ausgegangen, aber für Janelle Rivenbark und ihren Hexenzirkel war es mehr als genug gewesen, um Maryns Schicksal zu besiegeln. Am folgenden Montag hatte sie Schmähbriefe in ihrem Spind gefunden. Jeden Abend gab es Dutzende von anonymen Anrufen. Auf der Türschwelle lagen Tüten mit Hundekot. Eier flogen auf den Wagen ihrer Mutter, der Garten ihrer Tante wurde wöchentlich neu mit Toilettenpapier geschmückt.
»Pfeif auf die Weiber!«, riet ihr die Mutter, und irgendwann war Maryn zum selben Schluss gekommen. Von dem Moment an hatte sie ihre eigenen Regeln aufgestellt. Sie hatte immer mindestens einen Liebhaber und war durchaus gewillt, einer anderen den Freund auszuspannen, besonders wenn die Betreffende mit Janelle Rivenbark befreundet war.
Angefeuert wurde sie von ihrer Mutter und Tante Patsy, die durch Maryns romantische Eroberungen auflebten. Egal wie spät sie freitags- oder samstagsabends nach Hause kam, ihre Mutter war noch wach, erpicht darauf, die Geschehnisse des Abends zu erfahren.
Der Gedanke an ihre Mutter ließ Maryn zusammenzucken. Wann hatte sie zuletzt mit ihr gesprochen? Vor drei, vier Monaten? Maryn fielen die Augen zu, ihre Lider flatterten. Sie musste runter von der Straße. Sie ließ das Fenster herunter, um frische Luft hereinzulassen. Nag’s Head, beschloss sie. Sie würde in Nag’s Head halten. Das war weit genug fort von New Jersey. Weit genug fort von ihm.
Ty Bazemore ging ums Haus herum nach hinten und drehte am Türknauf. Er war verschlossen – gut. Sicher, im Haus war nichts von großem Wert, aber es war besser, sich bei solchen Dingen rückzuversichern.
Er schloss auf und ging in die Küche. »Du meine Güte!«, stammelte er entsetzt, als er sich umsah. Es war eine Katastrophe: Schmutzige Töpfe und Pfannen stapelten sich im schmutziggrauen Wasser im Spülbecken. Alle Teller im Haus schienen sich auf der Arbeitsfläche zu sammeln. Der Mülleimer in der Ecke quoll über vor leeren Bierdosen und Weinflaschen. Über allem hing ein fischiger Geruch.
Ty spähte in einen Topf auf dem Herd. Er war voller Krabbenschalen und stand wohl schon einige Tage dort. Ty nahm ihn mit und leerte ihn im Mülleimer, und ihm fiel das schmatzende Geräusch auf, das seine Flipflops auf dem Linoleum machten.
Er schaute hinunter und hob die rechte Ferse an. Der Flipflop blieb am Boden kleben.
»Diese scheiß Collegeschüler!«, fluchte er.
Er hätte es wissen müssen. Die E-Mail-Adresse des Mieters lautete [email protected]. In den Vertragsbedingungen im Internet wurde zwar ausdrücklich darauf hingewiesen, dass das Haus nur an Erwachsene vermietet wurde. Doch die Party-Animals hatten eine Woche im Voraus bezahlt, und ihre American-Express-Karte war ohne Probleme akzeptiert worden. Ty hatte von Anfang an ein schlechtes Gefühl gehabt, aber schließlich waren dreitausendvierhundert Dollar nicht zu verachten, momentan schon gar nicht.
Als daher die Karawane von Autos vor dem Haus hielt, zuerst ein demolierter Jeep, dann zwei Pickups und ein grasgrüner VW Käfer Cabrio mit vier angetrunkenen Mädchen darin, hatte er beschlossen, sie einfach zu ignorieren. Doch dann hatte er sinkenden Mutes beobachtet, wie sechzehn Collegeschüler sich ins Haus drängten. Und das war nur der erste Abend.
In der Anzeige hatte ausdrücklich gestanden, dass das Haus für maximal zehn Personen ausgelegt sei – was nicht ganz stimmte, da in dem Fall zwei Zwerge dabei sein mussten, die auf dem schäbigen Ausziehsofa im Wohnzimmer schliefen, das Ty im März am Straßenrand gefunden hatte.
Mit einem Seufzer ging er auf die Veranda und zog die Mülltonne auf Rollen hinter sich her. Er griff zu Eimer und Wischmopp und nahm den ausrangierten Einkaufswagen mit, den eine andere Gruppe kleiner Collegewichser vor ein paar Wochen vor der Hintertür hatte stehen lassen und der jetzt Tys Arsenal an Putzmitteln enthielt.
Nicht zum ersten Mal wurde Ty die Ironie der Lage bewusst. Vielleicht hatte sein Vater doch recht gehabt. Wenn er einen Abschluss in Jura gemacht hätte, dann säße er jetzt vielleicht in einer edlen Anwaltskanzlei in Manhattan. Vielleicht wäre er dann auch noch mit Kendra zusammen. Nein, wohl eher nicht. Aber er hätte vielleicht einen beruhigenden Investmentfonds, würde einen Jaguar fahren und den Winter in Cabo oder zumindest in Key West verbringen. Vielleicht hätte er doch nicht seinen allerletzten Cent in die Rettung von Ebbtide stecken und sich bis zum Anschlag mit Hypotheken belasten sollen. Ich hab dir ja gesagt, lass das sein mit dem alten Kasten.
Wenn er auf seinen Alten gehört hätte, würde er jetzt vielleicht nicht in einem winzigen Apartment über der Garage wohnen und die ganze Nacht auf den PC-Bildschirm starren, bis er viereckige Augen bekam und nicht mehr denken konnte. Vielleicht würde er dann nicht tagsüber Toiletten putzen und keine Angst haben müssen, dass der nächste Anruf oder die nächste E-Mail allem ein Ende machte.
Die Uhr tickte. Ihm blieben keine sechs Wochen mehr, um Ebbtide zu retten. Ansonsten würde das Anwesen am 15. September auf den Stufen des Gerichts von Dare County versteigert. Dann stände er auf der Straße, arbeitslos, obdachlos. Und sein Vater würde ihn ansehen und den Kopf schütteln. Kendra, seine Ex, und ihr neuer Ehemann Ryan (auch »das Arschgesicht« genannt) würden in das gleiche Horn stoßen wie sein Alter und Mitleid heucheln. Auch wenn es vielleicht keiner ausspräche, hätten sie alle nur einen Gedanken: Wir haben es doch gesagt.
Ty sah aus dem Küchenfenster. Wenn er sich auf die Zehenspitzen stellte, konnte er sehen, wie die Wellen an den Strand schlugen. An diesem Morgen waren sie ziemlich groß. Sein Bauch grummelte laut. Wenn es ihm gelang, diesen Schweinestall in rund drei Stunden aufzuräumen, würde er gerade noch rechtzeitig bei Abigail sein, ehe das Samstagmittagsangebot ausverkauft war: Tacos mit Thunfisch.
Ty zog den Einkaufswagen ins Wohnesszimmer und riss die Augen auf angesichts der Zerstörung, die seine Mieter hier hinterlassen hatten. Sessel, Tische und Lampen waren umgekippt. Auf dem zerkratzten Holzboden lag eine feine Sandschicht, Sofakissen waren vor dem Kamin aufgereiht, in dem drei verdrehte Kleiderbügel aus Draht einen improvisierten Grillrost bildeten. Was in Ordnung gewesen wäre, wenn die Luftklappe geöffnet worden wäre. Fettiger schwarzer Ruß zog sich über das weiße Kaminsims, das Ty noch im Juni gestrichen hatte. Die große gerahmte Seekarte des Currituck Sound, die noch von seinem Großvater stammte, hing schief über dem Sims, das Glas war zersplittert. Im Sofa prangte ein baseballgroßes Brandloch, die Füllung quoll heraus. Der unverkennbare Geruch abgestandenen Biers und billigen Marihuanas hing in der Luft.
»Du meine Güte!«, wiederholte Ty. Er riss sein Handy aus der Tasche seiner weiten Surferhose und scrollte zur letzten E-Mail, die er vom guten alten Party-Animal bekommen hatte.
Seine Fingerspitzen huschten über die winzige Tastatur und tippten schnell eine Nachricht.
Hey Party-Animal, schrieb er, Die fünfhundert Dollar Kaution kannst du dir in die Haare schmieren, du Arschloch. Mit freundlichen Grüßen, Mr Culpepper, Geschäftsführer, Ebbtide.com.
Als er die Benachrichtigung erhielt, die Mitteilung sei verschickt worden, blickte er auf den Posteingang und seufzte. Noch eine Mail von einem nervenden Gast. Die Nervensägen waren der Grund, weshalb er sich mit seinen Mietern nur per E-Mail austauschte und niemals seine Telefonnummer herausgab. Soweit den Gästen bekannt war, war Mr Culpepper ein schrulliger alter Kerl, der irgendwo im Internet zu Hause war. Niemand musste wissen, dass der Vermieter in Wirklichkeit der Surfertyp war, der über der Garage wohnte, lediglich eine Tür weiter, falls die Toilette mal verstopft war oder einer nicht wusste, wie man die Fernbedienung bediente.
Der Name dieser ganz besonderen Nervensäge war Ellis Sullivan. Der Typ bombardierte Ty nun schon seit Wochen mit pingeligen Fragen. Aus dem allgemeinen Tenor – ob er selbst Bettwäsche und Handtücher mitbringen solle, ob es Liegestühle und Fahrräder und einen Grill gebe – hatte Ty geschlossen, dass Ellis hundertprozentig schwul war. Normale Typen wie das gute alte Party-Animal wollten nur wissen, wo man Alkohol kaufen könnte.
Ellis Sullivan und seine Freunde sollten das Haus am frühen Nachmittag beziehen. Je später, desto besser, fand Ty. Wer konnte schon sagen, wie lange es dauern würde, die Küche und das Wohnzimmer zu putzen? Als ihm klar wurde, dass er gar nicht wusste, wie die oberen Stockwerke aussahen, sank sein Mut.
Als er auf die Treppe zuging, nahm er ein schwach gurgelndes Geräusch wahr. Es kam aus dem WC unter der Treppe. Die Tür war geschlossen und wollte sich nicht öffnen lassen. Ty stemmte ein Bein gegen den Rahmen und riss am Knauf. Die Tür flog auf, und eine Lawine stinkenden Wassers ergoss sich in den Flur.
»Scheiße!«, rief Ty. Und das meinte er wörtlich.
Ellis ließ sich Zeit mit dem Frühstück. Mehrmals checkte sie ihre E-Mails, doch es war nichts im Posteingang, abgesehen von Werbemitteilungen und Nachrichten von ehemaligen Kollegen aus der Bank, die ebenfalls unangenehme Kündigungsgespräche mit Ms Stone absolviert hatten.
In den ersten Tagen nach ihrer Freisetzung (wie Ellis es für sich am liebsten formulierte) hatte sie an nichts anderes denken können als an die Ungerechtigkeit ihrer Situation. Stunde, ja Tage hatte sie damit verbracht, sich und ihre ehemaligen Kollegen zu bedauern. Sie hatte sich einer Facebook-Gruppe und einer Chatgroup ihrer Leidensgenossen angeschlossen und war sogar zu einem Treffen in einer Kneipe am Stadtrand gegangen, wo sich alle betranken und angesichts der fatalen Lage ganz rührselig wurden.
Dann hatte Ellis entschieden, dass damit Schluss war. Ihr ganzes Leben lang hatte sie gespart. Ihr Vater hatte ihr ein kleines Erbe hinterlassen, ihr Stadthaus war also abbezahlt. Der Wagen ebenfalls, und schon vor Jahren hatte sie klugerweise entschieden, ihre Pension nicht in Aktien der eigenen Bank zu investieren. Ellis war alles andere als wohlhabend, aber sie hatte ein gewisses finanzielles Polster und wollte sich nicht verrückt machen. Redete sie sich wenigstens ein.
Sie scrollte durch die Nachrichten im Posteingang, aber suchte vergeblich nach einer Antwort auf ihre Mail an Mr Culpepper.
Da sie nichts fand, kramte sie den Ausdruck der Internetseite von Ebbtide aus ihrer Tasche. Sonderbarerweise stand dort alles, nur keine Telefonnummer.
Ellis runzelte die Stirn und tippte noch eine Mail, in der sie Mr Culpepper an ihre Bitte um einen früheren Einzug erinnerte und vorschlug, er könne sie auf ihrem Handy erreichen und ihr mitteilen, wenn das Haus fertig sei.
Schließlich war nichts anderes mehr zu tun, als die Zeit im Outletcenter totzuschlagen. Vorher wollte Ellis aber noch mal kurz am Haus vorbeifahren, um zu sehen, ob die bisherigen Gäste mittlerweile abgereist waren.
Sie fuhr über den Virginia Dare Trail und verlangsamte, als sie zum Haus kam. Da mehrere Wagen direkt hinter ihr waren, bog sie in die Auffahrt von Ebbtide ab.
Mist! Der Bronco stand immer noch in der Garage. Aber der kaputte Getränkekühler und die Bierflaschen waren seit ihrem letzten Besuch weggeräumt worden, jetzt stand ein großer Müllcontainer auf Rollen im Unkraut neben dem Briefkasten. Er quoll über vor Müll. Ellis reckte den Hals, um zu erkennen, ob sich irgendwas im Haus tat.
Ein letztes Mal schaute sie in den Posteingang. Widerwillig beschloss sie, zum Outletcenter zu fahren.
Um ein Uhr stopfte Ty die letzte Ladung feuchter Bettwäsche in den Trockner. Er richtete sich auf, schaute aus dem Fenster der Wäschekammer im Erdgeschoss und sah gerade noch, wie der silberne Accord langsam vorbeifuhr, der ihm schon früher aufgefallen war. Es war das zweite Mal in der letzten Stunde. Was war da los? Das war doch wohl kein Arschloch von der Bank, oder? Verdammt nochmal, es war immerhin Samstag! Nicht dass Ty viel Zeit gehabt hätte, sich darüber Gedanken zu machen. Wenn das Erdgeschoss schon übel ausgesehen hatte, so war es im ersten Stock noch schlimmer. Viel schlimmer.
Es war ein Horrorszenario, anders konnte man es nicht nennen. In den Bädern lagen Berge feuchter, schimmeliger Handtücher; irgendjemand hatte in die Duschkabine gekotzt. In einem der vorderen Schlafzimmer hatte Ty etwas im Wandschrank entdeckt, das wie Hundekot aussah. Wie war es denen bloß gelungen, einen Hund an ihm vorbeizuschmuggeln? Und zwar eine Deutsche Dogge, nach der Hinterlassenschaft zu urteilen. Die Matratzen aus dem Doppelbett im hinteren Schlafzimmer waren auf die Veranda geschleppt und dort aufeinandergelegt worden, wo der Regen der letzten Nacht sie gründlich durchweicht hatte. Überall flog Müll herum, und die Holzlamellen der Fensterläden von zwei Schlafzimmern sahen aus, als hätte sie jemand mit einem Baseballschläger traktiert.
Ty hatte noch nie so hart und fieberhaft gearbeitet. Er musste die ruinierten Matratzen des Doppelbetts durch die aus seiner Garagenwohnung ersetzen. Die Fensterläden waren nicht zu reparieren, daher hängte er verblasste Blumengardinen auf, die er in einem Fach hinten im verschlossenen Schrank im Erdgeschoss fand. Ty räumte und wischte, schrubbte und putzte, bis ihm Rücken und Beine weh taten und seine Hände von den Desinfektions- und Bleichmitteln rot waren.
Nur noch wenige Minuten bis zwei Uhr. Das wusste Ty, ohne auf die Uhr zu schauen, weil er noch drei weitere E-Mails von diesem nervigen Ellis Sullivan bekommen hatte, der ständig wissen wollte, ob er nicht schon früher ins Haus könnte. Ty hatte sich nicht die Mühe gemacht zu antworten. Er war zu sehr mit der Beseitigung des Desasters beschäftigt gewesen.
Er hörte eine Autohupe in der Auffahrt, jedoch keine laute Fanfare, sondern eher ein kurzes Grüßen. Ty flitzte zum Fenster und schaute hinaus. Verdammt! Der silberne Accord parkte vor dem Haus und versperrte ihm den Weg nach draußen. Und es kam jemand auf die Tür zu. Nein! Das konnte doch nicht wahr sein! War es aber, und wie! Allerdings … auf das Haus zugestapft kam die umwerfende Brünette, die ihn am Morgen dabei erwischt hatte, als er von der Dachterrasse pinkelte. Ein ganz besonderer Tag für Ty Bazemore, das konnte man wohl sagen.
Als Ellis zum dritten Mal an Ebbtide vorbeifuhr, beschloss sie, es sei Zeit, zur Tat zur schreiten. Den halben Tag hatte sie bereits verschwendet. Immerhin war es jetzt fünf nach zwei, das ging jetzt also von ihrer Zeit ab. Sie bog in die Einfahrt und blickte böse hinüber zu dem Bronco, der immer noch in der Garage stand. Zweimal drückte sie höflich auf die Hupe ihres Accords. Doch es kam niemand aus dem Haus gehuscht, wie sie gehofft hatte. Ellis warf einen letzten Blick auf ihr iPhone, aber es gab immer noch keine Antwort von Mr Culpepper.
Sie stieg aus und marschierte forsch auf das Haus zu, die Treppe hinauf. Bevor sie die Veranda betrat, zögerte sie kurz – ihre Mutter hatte sie nicht zu einem Menschen erzogen, der einfach so bei anderen ins Haus platzte. Selbst fünfzehn Jahre im Norden konnten daran nichts ändern.
»Hallo?«, rief sie vorsichtig. Alles war still. Ellis sah sich um. Die Veranda war breit, die Zierleisten waren weiß gestrichen, obwohl die Schindelverkleidung des Hauses braungrau war. Ins Verandageländer waren Bänke eingebaut, die nach außen ragten, und zwischen zwei Pfosten, direkt unterhalb der Dachsparren, war eine Wäscheleine gespannt, auf der ausgebleichte Holzklammern wippten. Vier weiße Schaukelstühle waren auf den Kopf gedreht, zwei auf jeder Seite der Eingangstür. Direkt neben der Treppe stand ein Zinkeimer, noch halbvoll mit Wasser. Eigentum von Ebbtide war mit strahlend blauen Buchstaben darauf geschrieben. Ellis achtete darauf, dass ihre Schritte auf den verwitterten grauen Bohlen laut und entschlossen klangen, damit jeder wusste, dass sie da war.
Die Angeln der rostigen Fliegengittertür quietschten, als Ellis sie aufzog. Es gab keine Klingel, deshalb klopfte sie forsch an die lavendelblaue Tür. Als sich nichts tat, klopfte Ellis erneut, pochte und hämmerte dagegen. Sie ging an das nächste Fenster, schirmte die Augen mit den Händen ab und spähte in das dunkle Zimmer. Es sah ganz ordentlich aus, aber es war kein Lebenszeichen zu erkennen.
In dem Moment piepte ihr Handy kurz, sie hatte eine neue E-Mail erhalten. Sie zog es aus der Tasche ihrer Caprihose und schaute in den Posteingang.
Von: [email protected]
Betreff: Bezug des Ferienhauses
Es tut uns leid, aber ein früherer Bezug des Ferienhauses ist leider nicht möglich. Ab zwei Uhr finden Sie den Haustürschlüssel in einem Umschlag unter dem Fußabtreter vorne. Hinweis: Ein Ersatzschlüssel kostet 25 Dollar. Viel Vergnügen!
»Arschloch«, murmelte Ellis vor sich hin. Sie fand den Schlüssel, öffnete die Tür und betrat das Haus.
Es dauerte einen Moment, bis sich ihre Augen an das abgedunkelte Zimmer gewöhnt hatten. Neben der Tür fand sie einen Lichtschalter und knipste ihn an. Über ihr erwachte ein Deckenventilator zum Leben.
»Hm.« Ellis schaute sich um. »Nicht schlecht.« Sie befand sich in einem großen Wohnesszimmer. Die Wände bestanden aus klarlackierter Astkiefer, die mit der Zeit nachgedunkelt war. Der Holzboden war noch feucht vom Wischen, der vertraute Geruch von Murphys’s Pine Oil hing in der Luft. Ellis lächelte. Ihre Großmutter hatte ihre Holzböden immer mit Murphy’s gewienert. Sie hielt das für ein gutes Zeichen.
Das Haus war nicht besonders schick, aber das hatte Ellis schon an den Fotos auf der Website gesehen. Auf dem Boden im Wohnzimmer lag ein verschlissener ovaler Flickenteppich, daneben standen ein großes kastiges Sofa und zwei Sessel aus den Achtzigern, die auf einen rußgeschwärzten Kamin schauten. Die Wände waren geschmückt mit Nippes, der in dieser Gegend wohl üblich war: Malen nach Zahlen mit Leuchttürmen, Fischerbooten, tropischen Vögeln und sich im Wind wiegenden Palmen.
Über dem Kaminsims hing eine hübsch gerahmte Seekarte, doch das Glas war zerbrochen. Ellis beugte sich vor und musterte sie voller Interesse. Sie war fasziniert von den Namen der Flüsse und Buchten: Pasquotank, Coratan, Ocracoke, Currituck, und ihr Lieblingsname war Mattamuskett. Aber schließlich liebte Ellis alles, was mit Namen, Zahlen und Orten zu tun hatte: Landkarten, Diagramme, Grafiken. Als Kind hatte sie ihre Puppe, eine teure Madam Alexander mit der Robe von Prinzessin Diana, ein Geschenk ihrer Patentante aus Atlanta, gegen den beleuchteten Globus ihres älteren Bruders Baylor eingetauscht. Baylor hatte die Puppe direkt an seine kleine Freundin aus der vierten Klasse weitergereicht.
Nur ungern wandte Ellis den Blick von der Seekarte ab. Sie musste den Wagen ausladen und das Haus vorbereiten.
Im Essbereich stand ein langer gelaugter Kieferntisch, umgeben von acht nicht zueinander passenden, weiß gestrichenen Holzstühlen. Ein hässliches Gesteck aus Plastikblumen in einer fischförmigen Keramikschale stand in der Mitte des Tisches auf einem Plastikdeckchen. Das Arrangement machte den Eindruck, als sei eine alte Frau gerade aufgestanden, um sich eine Tasse Tee zu kochen.
Hinter dem Essbereich öffnete sich eine kleine Küche. Sie war sauber, das schon, aber sie hatte auf jeden Fall schon bessere Tage gesehen. Die Holzverkleidung der Wände war weiß gestrichen. Auch die Schränke waren weiß lackiert, sie hatten Knäufe aus grünem Glas, die Arbeitsfläche bestand aus gelbem Lineoleum und war mit Aluminiumleisten abgesetzt. Anstelle von Oberschränken gab es rechts und links neben dem Küchenfenster zwei Regale mit muschelförmigen Zierleisten. Vom Fenster aus konnte man auf die Dünen schauen. In den Regalen standen angeschlagene Teller, zwei Müslischalen aus Plastik und schlichte Becher. Mitten im Zimmer war ein großer Holztisch mit einer gesprungenen türkisfarbenen Emaillebeschichtung. Auf dem Boden lag verblasstes, rissiges, gelb-weiß kariertes Linoleum. Es gab einen E-Herd mit vier Platten und einen weißen Kühlschrank mit Rostflecken an den Ecken.
Ellis zog den Kühlschrank auf. Er war leer. Sie spähte ins Gefrierfach, in dem zwei armselige Eiswürfeltabletts aus Aluminium lagen. Eine Eiswürfelmaschine gab es nicht. Ellis war froh, zweieinhalb Kilo Eis gekauft zu haben, mit dem sie die Einkäufe bis zum Bezug des Hauses kalt gehalten hatte. Zu ihrer Enttäuschung stellte sie fest, dass es keine Spülmaschine gab. Wie konnte ihr das entgangen sein, wo sie doch so viele Stunden damit verbracht hatte, die Bilder und die Beschreibung des Hauses zu studieren?
Egal, sagte sie sich. Es war ja nur ein Monat, und schließlich teilten sich vier Frauen – ganz zu schweigen von Dories Mann Stephen – dieses Haus. Alle würden mit anfassen und helfen. Es wäre wie im Ferienlager, redete Ellis sich ein. Nur mit Klimaanlage und Toiletten.
Endlich war es August. Der Monat, auf den sie alle gewartet hatten, war endlich gekommen. Ellis konnte es kaum erwarten, dass der Spaß anfing. Als sie die Veranda verließ, tat sie einen impulsiven Hüpfer.
Ty setzte die Corona-Flasche an die Lippen und trank den letzten Tropfen des eiskalten Biers. Er ging um die Ecke seiner Dachterrasse, um zu sehen, was der neue Mieter so machte. Wow! Der silberne Honda parkte jetzt direkt vor dem Haus, und die Brünette in pinker Hose und engem weißen T-Shirt eilte zum Haus, die Arme voller Einkaufstüten. Ihr dunkles Haar wehte im Wind.
Ellis war wirklich eine Frau. »Mensch, Ellis«, wisperte er. »Du bist ja gar nicht schwul. Du bist ein Mädel.«
Sie war sogar das