Sommernachtsträume - Mary Kay Andrews - E-Book
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Sommernachtsträume E-Book

Mary Kay Andrews

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Beschreibung

Wenn dieser eine Sommer alles verändert, könnten deine Träume wahr werden. "Sommernachtsträume" ist der neue wunderbare Sommerroman von Mary Kay Andrews, der Garantin für die perfekte Urlaubslektüre: Auf der Insel Belle Isle sucht Riley Griggs nach ihrem verschwundenen Ehemann und seinen Geheimnissen, findet aber viel mehr: sich selbst, ihre langvergessenen Träume und die Liebe. Riley Griggs verbringt jeden Sommer mit ihrer Familie auf der wunderschönen Insel Belle Isle. Aber dieses Jahr ist alles beängstigend anders: Ihr Ehemann Wendell kommt nicht wie verabredet mit der Fähre an, ihr Haus wurde von der Bank gepfändet und ihre Konten gesperrt. Riley wendet sich hilfesuchend an ihre Freundinnen auf der Insel, doch diese haben alle mit ihren eigenen Problemen zu tun. So macht sich Riley allein auf die Suche nach Wendell. Als sie schließlich Nate trifft, einen alten Freund aus Jugendzeiten, ist sie erleichtert. Nate unterstützt sie nicht nur bei ihrer Suche nach Wendell, sondern er erinnert sie auch daran, wie sie früher war. Kann Riley mit seiner Hilfe endlich den Mut fassen, sich ihrem Leben zu stellen und für ihre wahren Träume zu kämpfen? Nach den Megasellern "Die Sommerfrauen"; "Sommerprickeln", "Sommer im Herzen", "Ein Ja im Sommer" und "Kein Sommer ohne Liebe" kommt mit "Sommernachtsträume" ein neuer Roman der Autorin, der alle Träume wahr werden lässt.

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Seitenzahl: 663

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Mary Kay Andrews

Sommernachtsträume

Roman

Aus dem Amerikanischenvon Andrea Fischer

FISCHER E-Books

Inhalt

[Widmung]123456789101112131415161718192021222324252627282930313233343536373839404142434445464748495051525354555657585960616263646566EpilogDanksagung

Für Beth Fleishman

Mit einem Herzen voller Liebe und Dankbarkeit

1

Wendell Griggs versprach viel, wenn der Tag lang war. Das war schon immer so gewesen. Bei ihrer ersten Verabredung hatte er Riley Nolan prophezeit, dass sie nach ihm nie wieder mit einem anderen ausgehen würde. Als er ihr den Verlobungsring schenkte – einen Diamanten von drei Karat, wie ihn keine ihrer Freundinnen hatte –, schwor er, dass vor ihnen ein großartiges Leben voller Reichtum und Abenteuer liegen würde. Kein Zweifel, Rileys Ehemann war ein Traumtänzer. Und ein Schaumschläger.

Doch in letzter Zeit waren seine Versprechungen wertlos geworden. Hohles Geschwätz, das beruhigen oder hinhalten sollte, mehr nicht. Was hatte Rileys Großvater früher immer über solche Leute gesagt? »Große Klappe, nichts dahinter.«

Heute war es wieder so. Wendell hatte versprochen, nein, geschworen, rechtzeitig am Anleger in Southpoint zu sein, um zusammen mit Riley und ihrer gemeinsamen Tochter die letzte Fähre hinüber nach Belle Isle zu nehmen.

Es war das letzte Wochenende im Mai, am Montag war Feiertag, Memorial Day. Schon vor ihrer Hochzeit hatten Riley und Wendell die Tradition begründet, an diesem Wochenende die Saison auf der Insel einzuläuten, wo der Nolan-Clan seit über hundert Jahren den Sommer verbrachte.

Und trotzdem stand Riley nun allein da. Sie schob sich eine Locke ihres dunkelbraunen Haars aus den Augen und warf einen kurzen Blick auf ihr Handy. Nichts.

Ihre Finger huschten über die Tasten:

WO BIST DU?

Großbuchstaben, als würde sie ihn anschreien. Danach war Riley auch zumute.

Die Spätnachmittagssonne glitzerte auf dem Wasser, eine leichte Brise kräuselte die Oberfläche und trug den schwachen Geruch von Geißblatt herüber. Es war der schönste Tag seit vielen Wochen, doch Riley Nolan Griggs nahm nichts davon wahr.

Erneut schaute sie hinüber zum Parkplatz und versuchte mit bloßer Willenskraft das Auto ihres Gatten herbeizuzwingen. Sein offener, schwarzer Militärjeep. Was für ein alberner Wagen für einen erwachsenen Mann. Immer mehr Fahrzeuge rollten heran, Kombis, dicke SUVs, sämtlich besetzt mit Menschen, die die letzte Fähre des Tages ergattern wollten. Alle mit dem unverwechselbaren ovalen BI-Aufkleber geschmückt, der sie als Angehörige des Inselvölkchens von Belle Isle auswies. Autos hielten vor dem Fährterminal, um alles auszuladen, was man für den Sommer auf der Insel brauchte. Die Leute schleppten Kühlboxen, rollten Koffer, schoben Räder, hielten Hunde an der Leine und hantierten mit sperriger Angelausrüstung. Schiffsjungen eilten umher, tiefgebräunte Collegestudenten in weiten Cargo-Shorts und dunkelblauen Golfhemden mit BI-Logo. Sie luden das gesamte Gepäck auf Alukarren und rollten diese auf die Fähre.

Frauen begrüßten sich mit dem typischen schrillen Freudenschrei der Südstaaten: »Heyyyy!« Wie nannte Wendell das noch mal? Ach, ja: »Paarungsruf der flachbrüstigen Elitestudentin«.

Es war halb sieben. Um Punkt sieben würde die Fähre ablegen. Das wusste Wendell, und er wusste auch, dass es Riley wahnsinnig machte, wenn er auf den letzten Drücker kam. Von einem schwarzen Jeep war noch immer nichts zu sehen. Wieder schaute sie auf ihr Handy, um sich zu vergewissern, dass sie keinen Anruf verpasst hatte, checkte auch ihre E-Mails, doch sie hatte tatsächlich keine Nachricht von ihrem Mann erhalten.

Dieser elende Egoist! Er zögerte es nur bis zur letzten Minute heraus, um Riley zu ärgern, davon war sie überzeugt. Sie konnte sich schon lebhaft vorstellen, wie es sein würde, wenn er auftauchte: Beim letzten Ton aus dem Schiffshorn der Carolina Queen würde Wendell lässig aus dem Auto steigen, vielleicht mit einem beherzten Satz an Bord springen, während die Schiffsjungen bereits die Gangway einzogen.

Riley lief rot an, ihr drehte sich der Magen um, sie hatte einen sauren Geschmack im Mund.

Wendell hatte es versprochen. Er hatte geschworen, er würde die letzte Fähre erreichen, komme, was wolle. Vor allem verließ Maggy sich darauf. Und so miserabel es inzwischen auch um ihre Ehe bestellt war, brach Wendell normalerweise kein Versprechen gegenüber seiner Tochter.

»Heyyyy, Riley!«

Sie drehte sich um. Mit laserartiger Präzision kam eine Frau in einem rosa-grünen Etuikleid und rosafarbenen Sandalen auf sie zugeschossen. Riley rang sich eine schwache Begrüßung ab.

»Oh, hallo, Andrea.«

»Ist das schön, dich zu sehen!«, jubelte Andrea Payne. »Du siehst umwerfend aus! Ach, hätte ich nur deinen Stoffwechsel! Wie viele Kilo hast du über den Winter abgenommen?«

Ohne eine Antwort abzuwarten, schlang Andrea ihre dünnen Ärmchen um Rileys Hals und drückte sie an sich. Zu fest. Riley war bereits angespannt und schwitzte. Das Letzte, was sie nun brauchte, war eine Salve neugieriger Fragen.

Es gelang ihr, sich vorsichtig aus Andreas Umarmung zu befreien und einen Schritt nach hinten zu machen.

Andrea wandte sich an ihre Begleiterin: »Melody, sieht Riley nicht unglaublich aus?«

Andreas Freundin Melody Zimmerman nickte pflichtschuldig. »Ja, phantastisch.« Sie wies auf die Handtasche, die sich Riley über die Schulter geschlungen hatte. »Ist die von Michael Kors? O mein Gott, ich liebe die!«

»Ähm, kann sein.« Riley warf einen kurzen Blick auf die Oversize-Tasche. Sie war aus trendigem türkisfarbenen Leder und hatte einen großen goldenen Anhänger mit einem Monogramm, was Riley eigentlich eher kitschig fand. Aber sie wusste, dass die Tasche teuer gewesen war, außerdem passte viel hinein. »Weiß ich nicht genau. Hab ich letztes Jahr von Wendell zum Geburtstag bekommen.«

»Sie ist hinreißend!«, verkündete Andrea. »Geht ihr heute Abend auch zur Vollmondparty? Ist Maggy hier, oder wollte sie dieses Jahr lieber ins Sommerlager fahren? Und wo ist Wendell?«

Wohlweislich ging Riley nicht auf die letzte Frage ein. »Ich habe keine Diät gemacht, sondern mich einfach gesünder ernährt. Und ja, Maggy ist auch hier. Fürs Erste jedenfalls.«

Sie sah sich nach einer Fluchtmöglichkeit um und entdeckte praktischerweise ihre Tochter, die, mit mehreren Taschen und einem Rucksack bepackt, versuchte, ihren widerspenstigen Mops Mr Banks an der Leine zu führen.

»Warte, Maggy, ich komme!«, rief sie ihr zu. »Wir sehen uns!«

»Du musst unbedingt vor der Party mit Wendell auf einen Drink zu uns rüberkommen«, flötete Andrea. »Nicht wahr, Melody?«

»Auf jeden Fall!« Ihre Freundin nickte eifrig.

»Ich kann es nicht erwarten, euch heute Abend meine neue Küche zu zeigen«, sagte Andrea.

»Ja, sie hat einen freistehenden achtflammigen Gasherd!«, erklärte Melody. »Und einen Edel-Kühlschrank von Sub-Zero! Eine absolute Traumküche!«

»Alle Achtung«, sagte Riley mit Blick zum Parkplatz. »Hört sich super an. Aber ich muss jetzt wirklich Maggy mit ihrem verrückten Hund helfen.«

Andrea tätschelte Rileys Arm. »Hör zu, ich lasse für heute Abend kein Nein gelten. Ihr kommt auf einen Drink vorbei, in Ordnung?«

»Ja, gerne.«

»Von wegen. Du kannst mir gestohlen bleiben«, murmelte Riley vor sich hin und entfernte sich eilig vom Anleger. Die Sohlen ihrer Flipflops klatschten auf den brennend heißen Asphalt.

»Maggy!«

Ihre Tochter stand mitten auf dem Parkplatz und tippte wie wild auf ihrem Handy herum, ohne auf die ihr entgegenkommenden Autos zu achten. Ihre Mutter nahm sie auch nicht wahr, geschweige denn Banks, der sich gerade zwischen die Rosen auf einer der gepflegten Grüninseln hockte und das tat, was Hunde nun mal taten.

»Maggy! Pass auf, er …«

Doch es war zu spät. Banks erledigte sein Geschäft und trippelte zu seinem Frauchen zurück. Sein gedrungener kleiner Körper wackelte vor Freude und Erleichterung.

Maggy schaute auf. »Hm?«

Riley nahm ihr zwei prallgefüllte Taschen ab und rettete ihre Tochter vor einem weißen Mercedes, der geradewegs auf sie zurollte. »Schätzchen, du musst aufpassen! Du simst hier mit deinen Freundinnen, dabei wärst du gerade fast überfahren worden! Und Banks hat da drüben unter den Rosenbüschen ein Häufchen gemacht.« Riley kramte in den Einkaufstüten herum, bis sie eine Rolle Haushaltspapier fand. Sie riss ein Blatt ab und reichte es ihrer zwölfjährigen Tochter.

Maggy rümpfte die Nase. »Iih! Das mache ich nicht weg.«

Riley nahm die Hand ihrer Tochter, entwand ihr geschickt das Handy und drückte stattdessen das Papiertuch hinein. »Und ob! Das ist dein Hund. Also deine Verantwortung. Dein Häufchen. Jetzt räum es weg, bevor uns jemand verpfeift und wir Strafe zahlen müssen.«

Maggy verdrehte die Augen, reichte die Hundeleine dann aber ihrer Mutter und stapfte in Richtung der bepflanzten Insel.

Wieder fiel Riley auf, wie groß ihre Tochter im letzten Jahr geworden war. In den superkurzen Shorts kamen Maggys lange gebräunte Beine zur Geltung, und ihr Tanktop, das den Blick auf den Bauch freigab, verriet sogar einen leichten Brustansatz. Sie hatte ihr karamellbraunes Haar im Frühjahr wachsen lassen, und auch wenn es jetzt nachlässig zu Zöpfen zusammengebunden war, hatte Riley festgestellt, dass ihre teuren Haarpflegeprodukte vom Friseur ständig aus dem Bad verschwanden.

Kein Kindershampoo mehr für Maggy. Das alles war vorbei, dachte Riley betrübt. Im Oktober würde Maggy mit dreizehn offiziell ein Teenager werden.

Trotz der Hitze lief ihr ein Schauer über den Rücken. Banks drückte seine platte Schnauze zwischen Rileys verschwitzte Waden. Geistesabwesend kraulte sie ihm die Ohren und betrachtete das Handy ihrer Tochter.

Natürlich war es das neueste iPhone-Modell, das in einer pinkfarbenen Hülle mit einem blumenverzierten Monogramm auf der Rückseite steckte. Auf dem Display tummelte sich eine Vielzahl von App-Symbolen, die Riley nicht kannte. Ihr eigenes Handy war mindestens zwei Jahre alt. Sie hatte Wendell gesagt, es sei völlig überzogen, so ein teures Smartphone für ein Kind zu kaufen, das es innerhalb eines Jahres bereits zweimal geschafft hatte, sein Telefon zu verlieren. Ihr Mann hatte die Einwände auf seine ihm typische Art vom Tisch gewischt.

»Ich möchte, dass sie ein gutes Handy hat. Was ist, wenn ihr Blutzucker fällt? Oder wenn sie mich dringend erreichen muss?«

Im Frühjahr war bei Maggy ein Typ-1-Diabetes diagnostiziert worden, was die ganze Familie völlig aus dem Konzept gebracht hatte.

Riley konnte sich noch ganz genau an den Streit mit Wendell erinnern. Irgendwann hatte sie ihn angestarrt, erschrocken über das, was sie sah.

Ihr Mann hatte sich in den vergangenen zwei Jahren verändert. Sein dichtes schwarzes Haar war inzwischen graumeliert. Er trug es jetzt hinten länger, so dass es den Hemdkragen streifte. Außerdem zog er nicht mehr die schicken Anzüge an, die Riley so gerne für ihn ausgesucht hatte. Stattdessen kaufte er sich enge Designerjeans und Hemden von Armani. Er kniff die blauen Augen zusammen, die durch die neuen Kontaktlinsen noch stärker leuchteten.

»Und was ist, wenn ich dich dringend erreichen muss?«, hatte Riley gefragt.

»Was soll das denn heißen?«, gab er zurück. »Fängst du schon wieder an? Ich rufe dich jeden Abend an. Ich spreche jeden Morgen mit Maggy. Ich arbeite, Riley. Ich versuche, Belle Isle zu retten. Den Lebensunterhalt für meine Familie zu verdienen. Für uns. Glaubst du vielleicht, dass ich freiwillig so viel arbeite? Dass ich nicht lieber Zeit mit meiner Tochter verbringen würde?«

Erinnerungen an ähnliche Diskussionen aus den vergangenen Jahren gingen Riley durch den Kopf.

Maggy kam zu ihr zurück. »Hey! Hör auf zu schnüffeln!« Sie riss Riley das Smartphone aus der Hand.

»Ich habe nicht geschnüffelt«, verteidigte sie sich. »Mit wem schreibst du bei Snapchat?«

»Mit niemandem.«

Riley zog eine Augenbraue hoch.

»Na gut«, gab Maggy zu. »Ich habe Daddy geschrieben, damit er weiß, dass wir am Anleger auf ihn warten.«

»Hat er geantwortet?«

»Noch nicht«, erwiderte das Mädchen. »Aber die Fähre legt ja erst in zwanzig Minuten ab. Er kommt auf jeden Fall.«

Riley drückte die schmale Schulter ihrer Tochter. »Ich würde mich nicht darauf verlassen. Du weißt doch, wie viel Dad zu tun hat. Wahrscheinlich muss er die erste Fähre morgen früh nehmen.«

»Er kommt heute Abend«, beharrte Maggy. »Hat er mir versprochen. Er will zur Vollmondparty.«

»Ich möchte nur nicht, dass du enttäuscht bist, falls er es nicht schafft …«

Doch Maggy hörte nicht mehr zu. »Parrish!«

Eine langbeinige Rothaarige in einem weißen Trägertop und schwarzer Caprihose wackelte auf gefährlich hohen Plateausandalen aus rotem Alligatorleder mit Korksohle über den Parkplatz auf sie zu.

Maggy warf sich in Parrishs ausgestreckte Arme: »Du hast dir die Haare gefärbt! Das sieht super-super-super aus!«

»Gott sei Dank, dann mag das wenigstens einer«, erwiderte Parrish. »Ed findet es furchtbar. Er meint, ich sähe aus wie ein Flittchen.« Über den Kopf des Kindes hinweg lächelte Parrish ihre beste Freundin an: »Und, wie lautet dein Urteil?«

Riley nahm eine Strähne in die Hand und überlegte. »Mal was anderes.«

»Diplomatisch wie immer«, lachte Parrish. »Komm, sag die Wahrheit, du findest es auch grässlich.«

Arm in Arm gingen die beiden zurück zum Anleger, Maggy und Banks bildeten die Nachhut.

»Nein, ehrlich, es ist schick. Nur etwas überraschend, mehr nicht«, sagte Riley. »Und das ist auf keinen Fall ein Flittchen-Farbton. Ich finde, er steht dir. Wie bist du auf die Idee gekommen, dir die Haare rot färben zu lassen?«

»Gab keinen Grund. Ich konnte das Blond einfach nicht mehr sehen.«

»Du bist die einzige Frau, die ich kenne, die keine Lust mehr hat, eine blonde Sexbombe zu sein.«

»Eher ein Chinaböller«, erwiderte Parrish. »Hey, als ich gerade auf den Parkplatz gefahren bin, habe ich gesehen, wie du mit der Barbie von Belle Isle geredet hast. Was wollte deine neue beste Freundin von dir?«

Rileys Tochter musste nicht mitbekommen, wie sie über Andrea Payne lästerten. »Maggy, hier auf dem Asphalt ist es zu heiß für Mr Banks. Geh doch mit ihm rüber in den Schatten vor der Laderampe und gib ihm ein bisschen Wasser, ja? Sein Reisenapf ist in der Tasche mit den blauen Griffen.«

»Okay.«

Parrish sah dem Mädchen und dem Hund nach. »Grundgütiger! Seit ich sie Ostern in Grayton gesehen habe, ist sie schon wieder drei Zentimeter gewachsen. Und bekommt sie jetzt Brüste, oder bilde ich mir das ein?«

»Sie wächst wie Unkraut und trägt bereits einen BH mit A-Körbchen, auch wenn sie mich umbringen würde, wenn sie wüsste, dass ich dir das erzählt habe. Momentan ist sie furchtbar befangen, was ihren Körper betrifft. Ich glaube, sie kommt nach Wendells Familie.«

»Hauptsache, sie ist keine hundertprozentige Griggs.« Parrish verdrehte die Augen. »Wie sieht es überhaupt aus? Kommt Wendell noch, oder glaubst du, er drückt sich?«

»Er hat sowohl mir als auch seiner Tochter versprochen, diese Fähre zu nehmen. Aber bis jetzt ist nichts von ihm zu sehen. Er ruft nicht zurück, simst nicht, mailt nicht. Nicht mal Maggy, was ihm gar nicht ähnlich sieht.«

»Ein Versprechen gegenüber Maggy würde er niemals brechen«, bestätigte Parrish. »Gegenüber seiner Frau schon. Das ist was anderes, nicht?«

Riley wischte sich eine Schweißperle von der Stirn. »Leider ja.«

»Typisch passiv-aggressives Verhalten. Er will nicht derjenige sein, der seinem Kind das Herz bricht.«

2

»Drecksack!« Parrish schüttelte den Kopf. »Ich weiß, du musst mich nicht dran erinnern. Alles meine Schuld, nicht?«

Riley zuckte mit den Schultern. »Wenn du mich nicht überredet hättest, damals zu diesem blöden Barbecue zu gehen …«

Im Sommer 1997 arbeitete Riley als Reporterin für die Lokalredaktion der CBS in Raleigh und wohnte in einem kleinen Apartment über einer Garage in Cameron Park, während Parrish ihren ersten Job in einer Anwaltskanzlei hatte.

Nach einer unschönen Trennung von ihrem Freund und mehreren unbedeutenden One-Night-Stands und Blind Dates hatte Riley den Männern abgeschworen – zumindest für die Dauer des Sommers. Doch Parrish hatte Riley gedrängt, sie zu einer Party des geschäftsführenden Teilhabers ihrer Kanzlei in einer Villa auf dem Land zu begleiten.

Anfangs hatte sich Riley rundweg geweigert. »Auf gar keinen Fall«, hatte sie zu Parrish gesagt. »Nimm’s mir nicht übel, aber deine Kollegen sind entweder langweilig, eingebildet oder steinalt. Da bleibe ich lieber zu Hause und gönne mir eine Gesichtsmaske.«

»Diese Party ist anders«, sagte Parrish. »Sie findet auf der Farm von Boomer Grayson statt. Es gibt Spanferkel. Er hat eine Band bestellt, die Country spielt, außerdem sind nicht nur Anwälte eingeladen. Boomers Sohn Bryan hat an der Wake Forest University Baseball gespielt, er war sogar eine Saison lang in der Nachwuchsmannschaft der Boston Red Sox, bis er sich am Wurfarm verletzt hat. Jetzt ist er zurück in der Heimat und studiert schon im dritten Jahr Medizin. Es werden also auch jede Menge knackige Sportler und heiße Ärzte da sein. Du musst echt mitkommen!«

»Wofür brauchst du mich?«, hatte Riley gefragt, die Parrishs Beharren argwöhnisch machte. »Warum krallst du dir die ganzen knackigen Ärzte und Sportler nicht selbst?«

»Na ja, vielleicht habe ich eine klitzekleine Schwäche für Bryan. Aber ich will das Wochenende nicht allein auf der Farm verbringen, das wäre zu auffällig.«

»Ich bin also dein Alibi?«

»Du hast es erfasst.«

»Gut, ich komme mit. Aber wir fahren mit deinem Auto, und wenn du dich mit diesem Typen zum Doktorspielen verdrückst und mich mit einem Haufen langweiliger Anwälte stehenlässt, rede ich nie wieder ein Wort mit dir.«

Trotz Rileys Drohung hatte sich Parrish tatsächlich mit dem sportlichen Arzt verzogen, kaum, dass sie auf der Party angekommen waren.

Doch die Musik war super, und irgendwann stand Riley, sich selbst überlassen, in einem Kreis von Gästen um den Grill herum und pochte mit dem Fuß zum Folksong Little Liza Jane.

Wie aus dem Nichts tauchte ein Mann neben ihr auf, großgewachsen und adrett. Er sang den gesamten Text mit. Er hatte einen Sonnenbrand, wodurch seine blauen Augen noch stärker strahlten, und trank aus einem roten Plastikbecher selbstgebrannten Schnaps, wie er behauptete.

»Ich würde sagen, wir nennen unser erstes Kind Little Liza Jane. Bist du einverstanden?«

Stirnrunzelnd sah Riley den aufdringlichen Fremden an. »Und wenn es ein Junge wird?«

Darauf hatte er natürlich eine Antwort parat: »Liza James?«

Sein Atem war warm und roch nach Alkohol.

»Kennen wir uns?«, fragte Riley belustigt.

»Noch nicht. Ich heiße Wendell Griggs, aber ich weiß, wer du bist«, gestand er und beugte sich vor. »Du bist Riley Nolan.«

»Und woher kennst du mich?«

»Du bist jeden Abend im Fernsehen«, erwiderte er. »Die Reporterin, die die ganzen Beiträge über diese schlimme Hundefarm in Kinston gemacht hat, oder?«

»Also, jeden Abend bin ich nicht zu sehen, eher ein- bis zweimal die Woche. Aber stimmt, die Berichte über den Züchter waren von mir.«

»Ich war sogar beim Tierschutzbund, um einen Beaglewelpen zu adoptieren, aber die meinten, ich sei nicht geeignet, weil ich nur eine Wohnung und keinen Garten habe.«

»Die kleinen Schätzchen waren sooo süß. Am liebsten hätte ich einen geklaut«, gestand Riley. »Aber eins kann ich dir sagen: Beaglewelpen bellen viel! Und meine Vermieterin erlaubt keine Haustiere. Außerdem bin ich sowieso den ganzen Tag unterwegs, ist also wohl nicht so schlau, mir einen Hund anzuschaffen. Aber irgendwann …«

»Geht mir genauso! Früher hatten wir einen schwarzen Labrador. Ich freu mich schon darauf, wenn ich mal ein eigenes Haus mit Garten habe, dann kann ich mir wieder einen anschaffen.«

Sie plauderten eine Zeitlang miteinander und tranken noch so einiges, da machte Wendell plötzlich ein verlegenes Gesicht. »Wir haben noch etwas gemeinsam, abgesehen von der Liebe zu Hunden«, sagte er. »Ich arbeite für deinen Vater.«

»Was? Bei Belle Isle Enterprises? Wieso habe ich dich dort noch nie gesehen?«

»Ich habe erst vor ein paar Wochen angefangen. Als Makler für das neue Einkaufszentrum. Momentan bin ich meistens in Wilmington.«

Anfangs war es so leicht gewesen, sich mit Wendell zu unterhalten, er war so charmant. So lustig. An allem interessiert. Abends waren sie am Lagerfeuer sitzen geblieben und hatten geredet, bis Parrish schließlich gegen drei Uhr morgens Hand in Hand mit Bryan Grayson aus dem Dunkeln aufgetaucht war, die Haare zerzaust und die Kleidung zerknittert.

Am frühen Samstagmorgen war Riley in die Redaktion gerufen worden, um für einen kranken Kollegen einzuspringen, doch irgendwie war es Wendell gelungen, Parrish ihre Telefonnummer zu entlocken.

Am Montag hatte er sich gemeldet, aber Riley hatte sich nicht die Mühe gemacht, ihn zurückzurufen. Am nächsten Tag rief er wieder an, und am Tag darauf ließ er ihr einen riesigen Strauß Sonnenblumen in den Sender bringen. Auf der beigefügten Karte stand: You are the sunshine of my life.

Tamika, die Sprecherin der Nachrichten um zwölf, hatte die Karte über Rileys Schulter gelesen und anerkennend genickt. »Ein Typ, der andere Blumen als Rosen schickt? Und Stevie Wonder zitiert? Den muss man sich warmhalten.«

Es dauerte nicht lange, bis Wendells Charme – und seine Beharrlichkeit – Rileys Entschluss, sich von Männern fernzuhalten, untergruben.

Letztlich war es jedoch ihr Vater gewesen, der ihre Meinung geändert hatte.

Obwohl ihre Eltern den Sommer immer auf Belle Isle verbrachten, war ihr Vater unter der Woche nach Raleigh gekommen, hatte seine Tochter auf der Arbeit angerufen und sie zum Mittagessen im Carolina Country Club eingeladen. Eine für ihn ungewöhnliche Geste.

»Ich habe gehört, dass Wendell Griggs mehrmals versucht hat, sich mit dir zu verabreden«, sagte ihr Vater bei seinem üblichen Aperitiv aus Scotch und Wasser. »Er behauptet, du würdest ihn jedes Mal abblitzen lassen.«

»Das hat er erzählt?« Riley wurde rot.

»Er hat nebenbei erwähnt, dass er dich auf einer Party kennengelernt hat und sehr von dir eingenommen ist«, sagte ihr Vater. »Wahrscheinlich würde er gerne wissen, warum du dich nicht mit ihm treffen willst.«

»Nebenbei erwähnt. Schon klar.« Rileys Stimme triefte vor Sarkasmus. »Gut, dann sage ich dir dasselbe wie ihm. Ich gehe momentan nicht mit Männern aus, sondern konzentriere mich auf meine Karriere.«

»Deine Karriere«, spöttelte W.R. und malte Anführungszeichen in die Luft. »Beiträge über Melkwettbewerbe und die Wahl zur Tabakkönigin von Carolina.«

»Ich bin momentan die Jüngste im Team. Die Anfänger bekommen immer die langweiligen Aufträge«, sagte Riley. »Aber meine Geschichte über den üblen Hundezüchter wurde von verschiedenen anderen Sendern und von der Presseagentur übernommen. Momentan arbeite ich an einem Beitrag über das Pflegekindersystem im Bezirk.«

»Freut mich für dich.« Ihr Vater nickte. »Trotzdem verstehe ich nicht, warum du nicht hin und wieder mal ein bisschen Spaß haben willst. Wendell Griggs ist ein netter Kerl. Der kann zupacken. Deine Mutter mag ihn auch.«

»Was soll das hier werden?«, fragte Riley halb belustigt, halb verärgert. »Bestimmst du jetzt mit Mom, mit wem ich mich treffe?«

W.R. leerte sein Glas. »Und wenn? Wer kennt dich besser als deine eigenen Eltern?«

»Vergiss es!«, entgegnete Riley. »Tut mir leid, Daddy, aber ich stehe momentan nicht für Männer zur Verfügung. Und wenn ich wieder auf dem Markt bin, bezweifele ich, dass ein Typ wie Wendell Griggs für mich in Frage käme.«

W.R. hatte geseufzt und den Kopf geschüttelt, dann hatte er beim Kellner die Rechnung angefordert und mit schwungvoller Geste unterschrieben. »Deine Mutter hat gewusst, dass du so etwas sagen würdest. Aber ich musste es versuchen.«

Als Wendell Griggs das nächste Mal anrief, willigte Riley aus Gründen, an die sie sich nicht erinnern konnte, schließlich doch ein, ihn zu treffen.

Er lud sie in das teuerste Restaurant von Raleigh ein, bestand darauf, Champagner zu bestellen, und gab ihr anschließend, als er sie bis zur Tür ihres Apartments über der Garage gebracht hatte, einen züchtigen Kuss auf die Wange.

Das hatte Riley überrascht, da er ihr vorher so beharrlich nachgestellt hatte.

Neugierig geworden, hatte sie abermals zugesagt, als Wendell am folgenden Abend anrief und sie für das nächste Wochenende einlud.

Nach jenem Essen war der Rest der Nacht nicht ganz so unschuldig verlaufen. Eine Woche später hatte Wendell verlangt, dass Riley ihre Wohnung verließ, die er als »Wanzenburg« bezeichnete, und bei ihm einzog. Zwei Monate später hatte er sie mit dem prächtigsten Diamanten überrascht, den sie je gesehen hatte. Er war so groß, dass es Riley die Sprache verschlug.

Schnell lernte sie, dass es bei Wendell Griggs immer um die große Geste ging.

Es dauerte mehrere Jahre, bis sie begriff, dass ihr Mann nicht ganz so aufmerksam war, was die kleinen Dinge des Alltags betraf.

3

»Und, was ist nun mit euch?«, fragte Parrish, als sie zum Anleger gingen.

Sie wusste seit geraumer Zeit, dass es nicht gut stand zwischen ihrer besten Freundin und deren Ehemann, und Wendells Abwesenheit während des traditionellen gemeinsamen Frühjahrsurlaubs in Florida hatte ihren Verdacht nur verstärkt, dass die Ehe dem Untergang geweiht war. Doch bisher war Riley, was ihre Beziehung anging, sehr verschlossen gewesen. Sie hatte nur gesagt, dass sie eine Paartherapie machten.

Doch kaum hatte Parrish ihre Freundin am Fähranleger erblickt, wusste sie, dass etwas nicht stimmte. Riley hatte abgenommen, mindestens zehn Kilo. Sie sah immer noch toll aus – Riley verfügte über eine besondere positive Ausstrahlung, die man nur selten bei jemandem fand –, aber ihr Kinn war leicht vorgeschoben, und neue Sorgenfalten zogen sich um Augen und Kinn.

»Wir haben uns getrennt. Und lassen uns wohl scheiden«, antwortete Riley mit gesenkter Stimme, als sie sich dem Pulk von Menschen näherten, der sich vor der Zugangsrampe eingefunden hatte. Die Fähre lag längsseits an, die großen Dieselmotoren brummten.

»O nein«, stöhnte Parrish. »Ich hab’s ja befürchtet, aber trotzdem. Dann sieht es also richtig übel aus?«

Riley nickte, warf einen kurzen Blick auf ihre Uhr und runzelte die Stirn. Noch zehn Minuten bis zur Abfahrt.

Sie schaute sich um, vergewisserte sich, dass ihnen niemand zuhörte. »Vor zwei Wochen habe ich das Haus zum Verkauf angeboten. Wir haben sofort einen Käufer gefunden.«

Parrish riss die Augen auf. »Riles! Du hast das Haus doch so geliebt! Was hat Wendell dazu gesagt?«

»Was soll er schon sagen? Er hat die ganze Zeit versucht, die Fassade aufrechtzuerhalten, aber egal, was er sagt, ich weiß, dass die Firma nicht gut läuft. Ich glaube, er hat sich übernommen, aber das leugnet er natürlich. Auf jeden Fall ist es übertrieben, in einem Haus von über siebenhundert Quadratmetern zu wohnen, selbst wenn wir uns nicht trennen würden.«

»Eine ganz schön drastische Veränderung. Wie kommt Maggy damit zurecht?«

»Sie ist natürlich traurig. Schließlich ist sie in dem Haus aufgewachsen. Ich habe ihr gesagt, dass wir umziehen, um näher an ihrer neuen Schule zu sein, was ja auch teilweise stimmt. Habe auch schon ein neues Haus gefunden, mit Garten für den Hund.«

»Und der Kleine war der Trostpreis, weil sie ihr Haus verlassen muss – und ihren Dad?«

Riley lächelte angespannt. »Tja, so kann man es ausdrücken.«

»Weiß Maggy schon was von der Scheidung?«

»Falls ja, überspielt sie es gut. Wendell hat seine Klamotten und seine Sachen noch im Haus, aber er ist fast nie da. Das ist typisch für ihn: Er will nicht der Buhmann sein. Hauptsache, er ist nicht derjenige, der seiner Tochter sagen muss, dass die Ehe vorbei ist. Wir hatten vor, es Maggy gemeinsam beizubringen, an diesem Wochenende. Du siehst ja, was daraus geworden ist. Keine Spur von Wendell. Er geht einfach davon aus, dass ich ihm die schwierige Aufgabe abnehme.«

»Tut mir leid, wenn ich das Offensichtliche ausspreche, aber er ist so ein mieser Egoist«, schimpfte Parrish. »Ich weiß, wie sehr du dich bemüht hast, eure Ehe zu retten, aber manchmal muss man einfach dazu stehen, wenn es nicht mehr geht. Warst du schon bei einem Anwalt?«

Riley seufzte. »Noch nicht. Das ist auch was, wovor ich Angst habe. Die Vermögensverteilung wird die Hölle. Die Firma Belle Isle Enterprises ist natürlich im Besitz meiner Familie, aber mein Vater hat Wendell zum Geschäftsführer ernannt …«

»Und wie ich dich kenne, gibt es keinen Ehevertrag, stimmt’s?«

Riley lächelte reumütig. »Stimmt.«

»Dann hast du recht: Das wird ein Albtraum. Aber Ed kann dir sagen, an wen du dich wenden musst. Es gibt eine Spezialistin für Scheidungsrecht, die ich sehr mag. Susan … irgendwas. Hab ihren Nachnamen vergessen. Sie sieht aus wie ein Engel, aber kämpft wie eine Mischung aus Pitbull und Piranha.«

»Klingt furchterregend.«

»Darum geht’s bei der ganzen Sache, Süße. Man braucht einen Scheidungsanwalt, bei dessen bloßer Erwähnung der anderen Partei das Blut in den Adern gefriert. Ach, jetzt fällt mir ihr Nachname wieder ein: Simpson. Sue Simpson.«

»Apropos Ed: Er kommt doch dieses Wochenende, oder?«

»Huhu!!! Parrish!!!« Andrea Payne hatte die beiden Frauen entdeckt und winkte wie wild, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.

»O Gott«, stöhnte Parrish leise. »Barbie … Versteck mich irgendwo!«

»Zu spät. Selbst Houdini könnte dieser Frau nicht entrinnen.«

»Was will sie überhaupt? Abgesehen von meiner Seele, meine ich?«

»Sie will dich auf einen Drink heute Abend vor der Vollmondparty einladen. Damit du ihre neue Küche besichtigen kannst. Was ist nun mit Ed? Erzähl mir nicht, dass er auch nicht kommt.«

»Er hat gestern schon die erste Fähre genommen, damit er das Haus für den Sommer vorbereiten kann.«

»Was für ein Schatz«, sagte Riley. »Wir sind jetzt seit fast zwanzig Jahren den Sommer über auf Belle Isle, aber glaubst du, dass es Wendell Griggs auch nur ein Mal in den Sinn gekommen wäre, mir beim Vorbereiten des Hauses zu helfen? Nicht ein einziges Mal! In der Hinsicht ist er genau wie mein Vater. Er glaubt, die Heinzelmännchen erledigen das alles: Fensterläden öffnen, tote Insekten zusammenkehren, lüften, Liegestühle aus dem Schuppen holen, Batterien vom Golfwagen aufladen.«

»Ed hat ein schlechtes Gewissen. Im November hat er mich alleingelassen, als das Haus winterfest gemacht werden musste, und außer dem kleinen Urlaub, als wir mit euch in Grayton Beach waren, war er in den letzten sechs Monaten nur unterwegs.«

»So viele Prozesse?«

Parrish nickte. »Dieser Flugzeugabsturz in den Alpen. Zudem ist letztes Jahr ein Geschäftsflugzeug über den Malediven abgestürzt, hat fast niemand mitbekommen. Wenn irgendwo ein Flugzeugunglück geschieht, wird Ed Godchaux gerufen.«

Riley sah Parrish von der Seite an. Ihre beste Freundin plauderte zwar munter, doch sie hörte einen verbitterten Unterton, der früher nicht da gewesen war.

In dem Moment entdeckte Parrish ihre Nachbarin, etwas entfernt. »Bin gleich wieder da!«

Das Schiffshorn der Fähre ertönte, tief und laut. Die metallene Gangway schlug auf den Asphalt des Hafenkais, die Passagiere kamen im Gänsemarsch von Bord, die neuen Fahrgäste warteten aufgeregt. Das Wochenende konnte beginnen.

»Mom!« Maggy tauchte auf. Ihr Gesicht war gerötet und tränenüberströmt.

Riley sah sich über die Schulter um. Kein schwarzer Jeep. Kein Wendell. Noch ein gebrochenes Versprechen.

Ehe sie Worte fand, um ihre Tochter zu trösten, schlangen sich zwei behaarte braune Arme um Maggys Taille und hoben sie in die Luft.

»Maggy, o Maggy«, sang ihr Onkel mit seiner schönen Stimme.

Sofort versiegten die Tränen.

»Bibo!« Das Mädchen schlug seinem Onkel auf die Brust.

»Margaret! Warum weinst du?«

Beim Anblick des Neuankömmlings stellte sich Banks auf die Hinterbeine und bellte fröhlich.

So wirkte Billy Nolan auf andere. Schon als Kind war er ein unwiderstehlicher Schelm gewesen, als Erwachsener eroberte er alle Herzen im Sturm. Er ging jeder Verantwortung aus dem Weg, war ein Spieler und trank zu viel. Billy war ein enorm begabter, aber absolut fauler Jazzpianist, der nur dann arbeitete, wenn er Lust hatte, und das war selten.

Riley Nolan Griggs war völlig vernarrt in ihren jüngeren Bruder.

Sie nahm Billy in die Arme und flüsterte ihm ins Ohr: »Wendell ist nicht gekommen, Maggy ist total fertig.«

»Ich bring den Kerl um, wenn du willst«, flüsterte Billy zurück.

»Abgemacht.«

»Mit welcher Methode?«

Als alle an Bord waren, wühlten die Motoren der Fähre das Wasser auf. Langsam entfernte sich das Schiff vom Anleger. Immer noch war kein schwarzer Jeep in Sicht.

»Mir egal, Hauptsache langsam und schmerzhaft.«

Sie standen auf dem unteren Deck an der Reling und beobachteten, wie sich das Festland entfernte. Billy hatte einen Arm um die Schulter seiner Schwester gelegt, den anderen um seine Nichte.

»Wie alt bist du jetzt? Fünfzehn, sechzehn?« Er tippte Maggy auf den Scheitel. »Auf einmal bist du fünf Zentimeter größer als ich.«

»Ich bin fast dreizehn, als ob du das nicht wüsstest. Und tut mir leid, das zu sagen, aber jeder ist größer als du, Bibo«, gab Maggy zurück.

»Das stimmt«, bestätigte Billy. »Ich bin ein trauriges Klischee: klein, frech und schwul. Dazu verdammt, mein Leben lang in der Kinderabteilung einzukaufen.«

»Wieso bist du eigentlich so braun?« Riley musterte das Gesicht ihres Bruders. Seine dunklen Haare waren kurzgeschnitten, im tiefgebräunten Gesicht leuchteten seine Augen fast grün. Er trug ein blau-weiß gestreiftes T-Shirt mit U-Boot-Ausschnitt, das er in eine aufgerollte weiße Jeans gestopft hatte, dazu makellos weiße Espadrilles. »War es schön in New York?«

»Kann ich dir nicht sagen«, gab er zurück. »Mama hat mich schon vor zwei Wochen herbeordert, seitdem tanze ich nach ihrer Pfeife.«

»Ihr sprecht wieder miteinander?« Überrascht hob Riley eine Augenbraue.

»Sicher. Im Herbst hat sie alle Wohnzimmermöbel wegbringen lassen, um sie aufarbeiten und neu polstern zu lassen, und jetzt brauchte sie einen Trottel, der sie wieder abholt, rüber auf die Insel schleppt und alles aufstellt. Deshalb war alles vergeben und vergessen. Bis zum nächsten Mal. Habe gehört, sie spricht momentan nicht mit dir?«

»Nein«, bestätigte Riley und schaute demonstrativ in Maggys Richtung, eine deutliche Warnung, dass sie in Gegenwart ihrer Tochter nicht über familiäre Probleme sprechen wollte.

»Sei dankbar«, sagte Billy. »Hey, Miggy-Maggy! Ist deine Vorhand immer noch so schlecht, oder hast du ein bisschen trainiert, seit wir das letzte Mal gegeneinander gespielt haben?«

Seine Nichte zuckte mit den Schultern. »Tennis ist doof. Voll langweilig.«

»Tennis ist langweilig? Seit wann denn das?«

»Ich hab angefangen zu laufen. Ich will in der Cross-Country-Mannschaft mitmachen, aber Mom ist dagegen.« Sie streckte ihrer Mutter die Zunge heraus.

»Ich habe Angst, dass ihr Blutzucker bei einem dieser langen Läufe zu tief sinkt und dann irgendwas passiert«, erklärte Riley.

Billy zerzauste Maggys Haar. »Langweilig hin oder her, du bist meine Partnerin im gemischten Doppel diesen Sommer, oder? Weißt du noch, wie wir die anderen letztes Jahr am Memorial-Day-Wochenende abgezogen haben?«

»Ich hab meinen Schläger zu Hause vergessen.« Maggy schaute noch immer missmutig drein.

»Ich hab unsere Schläger eingepackt«, sagte Riley.

Riley und Billy wollten hoch zum Aussichtsdeck der Fähre. Auf dem Weg dahin wurden sie von zahlreichen Bekannten von der Insel aufgehalten, die sie seit Monaten nicht gesehen hatten. Irgendwann erreichten sie ihr Ziel.

Riley lehnte sich gegen die Reling und sog die Luft tief ein. Das könnte in diesem Sommer ihr Lieblingsduft werden: Diesel mit salziger Gischt und einer Kopfnote von Sonnenmilch und Popcorn. Über ihnen kreisten schreiende Möwen in der Dämmerung, fern am Horizont flog ein Schwarm Pelikane in V-Formation Richtung Westen.

Als der Fähranleger und das Festland langsam verschwanden, spürte Riley, wie die Anspannung und die Enttäuschung der vergangenen Monate ebenfalls in den Hintergrund traten. Ihre Schultern sackten nach unten, ihr Gesicht entspannte sich, der Herzschlag wurde langsamer. Sie schloss die Augen, legte den Kopf in den Nacken und streckte das Gesicht der ersterbenden Sonne entgegen, wie sie es seit ihrer Kindheit gerne tat.

So oder so würde sie an diesem Wochenende eine Gelegenheit finden müssen, Maggy von der bevorstehenden Scheidung zu erzählen. Wenn sie es allein machen musste, dann war es halt so. Es würde äußerst unangenehm und schmerzhaft werden. Doch im Moment wollte sie einfach nur ihr Leben genießen.

Riley würde sich besser fühlen, wenn sie auf der Insel war, ihrer Insel, dem Ort ihrer Träume. Den Sommer über würde sie sich mit Maggy dort vergraben und das Scheidungsverfahren durchstehen, und wenn es zurückging, wäre sie ein neuer Mensch.

Unwillkürlich drückte sich Riley die Daumen, damit ihr Wunsch in Erfüllung ging.

»Wo ist Scott?«, fragte sie ihren Bruder schließlich. Sie hatte die Augen erst geöffnet, als sie überzeugt war, kein Land mehr sehen zu können.

»Wer weiß? In Atlanta? Vegas? Einer von diesen Fernsehköchen eröffnet diesen Sommer drei neue Restaurants. Er treibt Scott in den Wahnsinn. Mal findet er die Kerzenleuchter im Restaurant in Atlanta hässlich, dann soll Scott den nagelneuen Teppich in Vegas wieder rausreißen. Er verdient zwar eine Menge, aber das Reisen macht ihn fertig.«

Riley nickte voller Mitgefühl. Billys Lebensgefährte Scott Moriatakis war ein vielbeschäftigter Innenarchitekt, der sich auf Restaurants spezialisiert hatte und auf der ganzen Welt gefragt war. Sie hatten sich vor Jahren kennengelernt, als Scott den Speisesaal in einem Art-déco-Hotel in South Beach, Miami, einrichten sollte, wo Billy in der Lounge Klavier spielte.

Billy witzelte gerne: »Scott hat alles in dem Laden rausgeworfen. Nur mich hat er behalten.«

»Aber er kommt doch dieses Wochenende, oder?«

»Vielleicht. Wusstest du, dass er mit Wendells Hotelleuten über Pirate’s Point gesprochen hat? In der ersten Aprilwoche war er mit dem Firmenflieger auf der Insel, um das Grundstück zusammen mit dem Architekten zu begutachten.«

Riley biss die Zähne aufeinander. »Mir hat Wendell erzählt, die Sache wäre gestorben.«

»Ups. Vielleicht habe ich was falsch verstanden.«

»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Wendell weiß, dass ich total dagegen bin, dass auf diesem Stück Land auch nur eine Hütte gebaut wird. Das ist sein neuester Clou.«

»Da ist Parrish!« Billy schaute über Rileys Schulter. »Mit roten Haaren! Urgs!«

»Billy the Kid!«, rief Parrish und umarmte ihn. »Seit wann bist du so braun wie George Hamilton? Sag nichts! Ich wette, du bist mit Scott von Insel zu Insel gehüpft.« Parrish sah sich um. »Wo ist Maggy?«

»Sie wollte sich unten was zu trinken holen, aber das ist schon zwanzig Minuten her.« Riley stand auf. »Ich geh mal kurz nachsehen, ob alles in Ordnung ist.«

»Hallo, Über-Mama! Du fängst schon wieder an«, mahnte Parrish.

Riley warf ihr einen bösen Blick zu und stieg die Treppe hinunter zum Kiosk auf dem Hauptdeck.

Der Hauptpassagierbereich der Fähre war schlicht gehalten: ein großer Raum mit Holzbänken entlang der Wände und mehreren Sitzecken in der Mitte. Ein Kiosk verkaufte Kaffee, alkoholfreie Getränke, Sandwiches und Snacks – im Sommer auch Bier und Wein.

Alle Bänke und Sitzecken waren besetzt. Es summte nur so von den angeregten Unterhaltungen der Wochenendgäste, die sich nach dem Winter auf den neuesten Stand brachten.

Riley entdeckte Maggy bei einer Gruppe von Kindern, die sie aus den vergangenen Jahren kannte. Sie hatten ein Smartphone mitten auf den Tisch gelegt, aus dem lauter, vulgärer Rap dröhnte.

Ein älterer Mann ging zur Sitzecke, klopfte dem größten Jungen auf die Schulter und wies auf das Handy – er solle die Musik leiser machen. Der Junge gehorchte.

»Danke«, sagte der Mann. »Nicht jedem gefällt so was.«

Sobald er sich entfernte, grinste der Junge und stellte das Handy wieder so laut wie zuvor, was ein ehrfürchtiges Kichern im Kreis seiner Freunde hervorrief. Als würde Maggy die Gegenwart ihrer Mutter im Rücken spüren, schaute sie sich über die Schulter um, wandte aber den Blick schnell wieder ab.

»Hey!«, rief der ältere Mann erzürnt von seinem Tisch und wollte wieder aufstehen.

Der Junge drehte die Musik leise, erneut grinste seine Clique. Die anderen Passagiere verfolgten das Geschehen und schüttelten missbilligend den Kopf über diesen eklatanten Verstoß gegen die unausgesprochenen Benimmregeln. Riley ging auf den Tisch zu, um ihre Tochter aus der Runde zu holen.

Schon dröhnte der Rap erneut. Der Text war so obszön, dass Riley die Schamesröte in die Wangen stieg.

Als sie sich dem Tisch näherte, kam ein jüngerer Mann durch den Raum marschiert. In drei langen Schritten war er da. Entschlossen pflückte er das Smartphone vom Tisch. Dann herrschte Ruhe.

»Was soll das?«, schrie der Junge ihn an. »Das ist mein Handy, Mann!«

»Das war dein Handy.«

»Nein, Mann, das gehört mir. Her damit!« Der Junge stand auf und streckte fordernd die Hand aus. Nun erkannte Riley ihn. Shane Billingsley war eine Bohnenstange geworden, auf Wangen und Kinn waren die ersten Spuren jugendlicher Akne zu erkennen. Er war das älteste der fünf Kinder von Craig und Gynn Billingsley und zwei Jahre älter als Maggy.

Riley konnte den Mann, der das Handy konfisziert hatte, nicht erkennen, da der Schirm seiner Baseballkappe sein Gesicht verdeckte, aber sie hätte ihm am liebsten applaudiert.

Er steckte das Gerät in die Hosentasche und sprach den Jungen leise mit strenger Stimme an. Riley konnte nicht verstehen, was er sagte. Doch was auch immer er Shane Billingsley ans Herz legte, es wirkte. Der Junge ließ sich neben seine Freunde auf die Bank fallen, sein Herausforderer verschwand in der Menschenmenge.

Ein oder zwei Atemzüge lang war es ungewöhnlich still im Raum, dann nahmen die Passagiere ihre Gespräche wieder auf.

Riley war hin- und hergerissen. Sollte sie zu dem Tisch marschieren und ihre Tochter dem schlechten Einfluss von Shane Billingsley und Konsorten entziehen, ihre aber bereits verärgerte Tochter dadurch bloßstellen? Oder sollte sie mit Maggy später ein ernstes Gespräch über die Feinheiten von Höflichkeit und Respekt führen?

Erneut drehte sich Maggy um und schaute ihre Mutter nervös, fast flehentlich an. Die Botschaft war auch unausgesprochen klar: Bitte halte dich zurück!

Riley holte tief Luft. Zweimal. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt.

Wenn überhaupt, dann war jetzt Zeit für ein Glas Wein. Riley hatte die lange Strecke von Raleigh an die Küste bei großer Hitze zurückgelegt. Während sie am Kiosk langsam in der Schlange nach vorne rückte, kramte sie in ihrer Tasche nach Geld. Der Kiosk nahm keine Kreditkarten, und Riley war so überstürzt zu Hause aufgebrochen, dass sie vergessen hatte, noch Geld aus dem Automaten zu ziehen.

Sie klopfte die Taschen ihrer Shorts nach Geld ab, als die Person vor ihr zur Seite trat und Riley an der Reihe war. »Ein Glas Weißwein, bitte«, bestellte sie und ertastete endlich ein Bündel Geldscheine ganz unten in ihrer Gesäßtasche. »Pinot Grigio, falls Sie den haben.«

»Riley?«

Sie sah hoch. Die Bedienung war kein Student vom College, sondern ein Mann im besten Alter. Und zwar der, der gerade Shane Billingsley das Handy abgenommen hatte.

Seine grünen Augen schauten fragend, aber zuversichtlich. Er war mittelgroß, etwas kleiner als Wendell Griggs, hatte einen krausen blonden Bart und trug eine Baseballkappe, die den größten Teil seines Gesichts verdeckte. Kurz war Riley verwirrt. Sie kannte den Typen von irgendwoher, wusste aber nicht, wo sie ihn hinstecken sollte.

»Ich bin’s«, sagte er lachend. »Nate. Kaum zu glauben, dass du nach so vielen Jahren immer noch Pinot Grigio trinkst.«

»Nate?« Riley bekam die Zähne kaum auseinander. Das war doch nicht …

»Nate Milas«, stellte er sich vor und zog die Kappe vom Kopf. Dunkle blonde Haare fielen ihm über die Ohren und in die Stirn. Lachfältchen kräuselten sich in den Augenwinkeln. Über den verschrammten Tresen nahm er Rileys Hände in seine und schüttelte sie kräftig. »Freut mich total, dich zu sehen. Mann, ist das lange her!«

Nate Milas? Lange her ist nicht lange genug, dachte Riley.

»Du siehst toll aus«, sagte Nate. »Wirklich klasse. Wow.« Er fuhr sich mit der Hand durch das verwuschelte Haar. »Ich weiß gar nicht, wann wir uns zuletzt begegnet sind.«

Riley wusste es umso besser. Ihre letzte Begegnung mit Nate Milas hatte sich unauslöschlich in ihr Gehirn gebrannt. Aber Evelyn Nolan hatte keine unhöfliche Tochter großgezogen. Nicht mal diesem Mann gegenüber.

»Freut mich auch«, erwiderte sie kurz angebunden. »Was führt dich nach Belle Isle?«

»Och, nur ein paar Familienangelegenheiten«, sagte er. »Ich … ähm … ich helfe meiner Mutter ein bisschen zum Saisonbeginn.«

Nate Milas’ Vater war Captain Joe, der Besitzer der Fähre. Seine Mutter Annie leitete den kleinen Lebensmittelladen auf der Insel. Die Familie Milas betrieb die Fähre nach Belle Isle schon so lange, wie man denken konnte.

»Wie schön für deine Mutter«, sagte Riley, taktvoll wie immer. »Könnte ich jetzt bitte den Wein bekommen?«

Ihm entging ihre unterkühlte Stimme nicht.

»Klar.« Nate griff nach der Flasche, schenkte Wein in einen Plastikbecher und reichte ihn ihr.

»Und, wie geht es dir? Wie läuft es mit … ähm … Wesley?«

»Er heißt Wendell«, korrigierte Riley knapp und schob das Geld über den Tresen. »Es läuft super. Spitzenmäßig.« Sie trat zurück. »War schön, dich zu sehen, Nate.«

Dann flüchtete sie vom Kiosk, vor Nate Milas und den schrecklichen Erinnerungen an jenen katastrophalen Dezemberabend im Jahr 1992, so schnell ihre Flipflops sie trugen.

Und Nate Milas stand da und starrte auf die drei zerknüllten Dollarscheine, die sie ihm für den fünf Dollar teuren Wein gegeben hatte.

4

»Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen«, sagte Parrish, als Riley zu den anderen aufs Oberdeck zurückkehrte. Sie saßen auf einer Bank in der Nähe des Bugs. Riley wischte die salzige Gischt vom Sitz, bevor sie Platz nahm.

»Kein Gespenst, schlimmer. Nate Milas.«

»Nate Milas von Belle Isle?«, fragte Billy.

»Ja.« Dabei beließ sie es.

Doch Parrish war neugierig geworden. »Echt?« Sie reckte den Hals und schaute über das gesamte Deck. »Wo denn?«

»Unten am Kiosk. Er arbeitet da, quasi als Verkäufer. Wenn ich es recht bedenke, habe ich ihm wohl zwei Dollar zu wenig für meinen Wein gegeben.«

»Geschieht ihm recht«, lachte Parrish.

»Ich erinnere mich an Nate Milas«, sagte Billy. »Der war doch ganz in Ordnung. Was hat er dir denn getan, Schwesterherz?«

»Nichts, nur ihr Herz gebrochen«, warf Parrish ein.

»Ist ’ne alte Geschichte«, versuchte Riley abzuwiegeln. »Ich habe ihn auch erst erkannt, als er sich mir vorgestellt hat. Was macht er eigentlich so? Außer, dass er auf der Fähre seiner Eltern aushilft?«

»Meinst du das ernst?«, fragte Parrish. »Was bist du eigentlich für eine Journalistin?«

»Ich bin schon länger raus aus dem Job.«

»Trotzdem. Lebst du hinterm Mond? Nate Milas ist ein Internet-Wunderkind. Hat sich nach dem Studium in Kalifornien rumgetrieben und mit einem Kumpel Cribb gegründet.«

»Und was ist das?«

»Selbst ich habe schon von Cribb gehört«, ließ Billy verlauten. »Das ist eine Immobilien-App. Stimmt’s, Parrish?«

»Die sie gerade für zig Millionen an Google verkauft haben. Nate und seine beiden Geschäftspartner waren vor gut einem Monat sogar auf dem Titelbild der Fortune.«

»Und wieso schenkt er dann hier auf der Fähre Wein aus?«, fragte Riley. »Nicht, dass mich das interessieren würde …«

»Sein Vater ist doch vor kurzem gestorben.«

»Captain Joe? Ach, das ist aber traurig. Das wusste ich nicht. Wie schade, er war so ein netter Mann. Ganz anders als sein unmöglicher Sohn.«

Billy blinzelte. »Captain Joe ist gestorben? Wie traurig! Ich mochte den alten Kerl total gern. Früher durfte ich immer hoch ins Ruderhaus und so tun, als würde ich die Fähre steuern.«

Riley wurde dunkelrot vor Verlegenheit. »Jetzt komme ich mir total bescheuert vor. Ich bin davon ausgegangen, dass Nate hier für seinen Vater arbeitet.«

»Er ist wohl eher hier, um seiner Mutter bei der Regelung des Nachlasses zu helfen«, erklärte Parrish. »So wie ich gelesen habe, könnte Nate Milas diese Fähre zehnmal kaufen. Ach, wahrscheinlich die ganze Insel und alle, die drauf wohnen.«

»Hm«, machte Billy nachdenklich. »Ein echter Internet-Millionär in unserer Mitte. Ist er wirklich hetero?«

»Frag deine Schwester!« Parrish zuckte vielsagend mit den Augenbrauen.

»Können wir bitte das Thema wechseln?«, fragte Riley. »Damals war ich neunzehn, ja? Das ist sehr, sehr lange her.«

»Wir können das Thema erst wechseln, wenn du mir verrätst, warum du so schlecht auf diesen netten Kerl zu sprechen bist.« Billy drückte den Arm seiner Schwester. »Komm, erzähl’s Bibo!«

»Das ist keine besonders spannende Geschichte«, sagte Riley.

»Das entscheide ich hinterher selbst. Nun sag schon!«

»Parrish kann dir die schreckliche Story erzählen, sie findet sie ja so interessant.«

»Im Sommer vor der Uni gingen die beiden zum ersten Mal miteinander aus, und von Anfang an stand diese Liebe unter keinem guten Stern«, begann Parrish mit dramatisch gesenkter Stimme.

»Ach, hör auf, da war nichts Verbotenes dran! Daddy mochte Captain Joe und Nate wirklich gern.«

»Aber Evelyn war es nicht recht. Überhaupt nicht«, widersprach Parrish.

»Für Mama war Nate nicht ›unseresgleichen‹.« Riley malte mit den Fingern Anführungszeichen in die Luft. »Sie fand ihn nicht standesgemäß, was ihn für mich nur noch anziehender machte.«

»Nate Milas war nicht anziehend, er war superheiß«, warf Parrish ein. »Doch im Herbst fingen wir beide an der Carolina an, und er studierte weiter an der Wake Forest University.«

»Und ich musste zurück nach Ravenscroft, als einsame kleine Schwuchtel auf dem rückständigsten Internat des gesamten Südens«, sagte Billy schwermütig.

»Als die Uni wieder anfing, habt ihr euch irgendwie aus den Augen verloren, oder?«, fragte Parrish.

»Er hat mit mir Schluss gemacht, weil ich nicht mit ihm in die Kiste wollte«, entgegnete ihre Freundin.

»Aber direkt anschließend bist du mit diesem widerlichen Ekelpaket aus Greensboro losgezogen – wie hieß der noch gleich?« Parrish schnippte mit den Fingern, um ihrer Erinnerung auf die Sprünge zu helfen. »Jason … Wie hieß er noch mal weiter?«

»Rohrbaugh«, ergänzte Riley widerwillig. »Mama war begeistert von ihm. Sie war mit seiner Mutter zusammen in einer Wohltätigkeitsorganisation.«

»Die Frage ist doch: Bist du mit Jason Rohrbaugh in die Kiste gestiegen?« Billy knuffte seiner Schwester in die Rippen. Er hatte Spaß an ihrem Unbehagen.

»Und wie!«, verriet Parrish. »Als ich an einem Samstagabend früher von einem Date nach Hause kam, hab ich die beiden erwischt.«

Riley fixierte ihre beste Freundin und ehemalige Mitbewohnerin mit einem vernichtenden Blick. »Wollen wir wirklich die alten Geschichten rausholen? Soll ich erzählen, wie oft ich dich mit verschiedenen Typen im Bett überrascht habe – inklusive dem Assistenzlehrer aus dem Englischkurs?«

»Na und? Dann war ich damals eben eine kleine Schlampe. So was nennt man ›jugendliches Experimentieren‹.«

»Sie war eine riesengroße Schlampe«, erklärte Riley ihrem Bruder. »Über sie sind mehr Typen drüber als über die Seufzerbrücke!«

»Tja, das ist ja alles sehr interessant, aber könnten wir jetzt bitte zurück zu der Frage kommen, warum du Nate Milas bis heute hasst? Doch nicht nur, weil er dich vor so langer Zeit hat sitzenlassen«, meinte Billy.

»O nein, es wird noch schlimmer«, sagte Parrish. »Irgendwann hat sie dann mit Jason Schluss gemacht …«

»Weil er praktisch jedes Mädchen auf dem Campus vögelte, selbst meine Mentorin in der Studentenverbindung«, warf Riley ein.

Parrish fuhr fort: »Im folgenden Sommer beschloss Evelyn, Riley müsse offiziell in die Gesellschaft eingeführt werden, als Debütantin. Das heißt: den ganzen Sommer lang Partys ohne Ende. Auf einigen dieser Feste tauchte auch Nate auf, durchtrainiert und gutaussehend, wie konnte Riley da nein sagen? Schwups, hingen sie wieder aufeinander.«

»Wir hingen nicht aufeinander«, protestierte Riley. »Wir haben zusammen einige Partys besucht. Ich hatte Jason gefragt, ob er mein Begleiter sein würde, aber dann war ja Schluss, und Nate war halt da. Also habe ich ihn gefragt, und er sagte zu. Es war die einfachste Lösung.«

»Du warst verrückt nach ihm«, beharrte Parrish. »Total gaga nach dem Typen.«

»Eigentlich habe ich ihn nur gefragt, um Mama eins auszuwischen«, gestand Riley. »Jedenfalls, als dann der Debütantinnenball war, stand ich in meinem wunderschönen weißen Kleid mit ellenbogenlangen Handschuhen im Ballsaal des Carolina Country Clubs in Raleigh …«

»Die Handschuhe kenne ich noch! Das Kleid auch«, sagte Billy verträumt. »Könnte sein, dass ich mir die Sachen für meinen ersten Auftritt als Dragqueen an der Universität von Virginia ausgeliehen habe.«

Ungläubig starrte Riley ihren Bruder an. »Du hast mein Ballkleid zu einer Travestieshow angezogen? Ist das dein Ernst?«

»Ich hatte meine ganz persönliche Coming-out-Party! Aber ich musste das Kleid ein bisschen kürzen«, beichtete Billy. »Zu meinem Glück warst du immer … ähm … eher flachbrüstig.«

»Ich wette, von dem Auftritt hat Evelyn kein Foto im Silberrahmen auf der Kommode in Shutters stehen«, sagte Parrish und machte Riley ein Zeichen, weiterzuerzählen.

»Gibt nicht mehr viel zu sagen. Nate brachte die klassische Nummer: kommen und kotzen. Wir standen alle parat, in einer Reihe, um unsere Begleiter in Empfang zu nehmen, nur Nate war nicht da. Ich war am Boden zerstört, und Daddy hatte sogar so großes Mitleid mit mir, dass er mir einen Schluck Whiskey aus seinem Flachmann anbot. Als Nate schließlich doch kam, war er sternhagelvoll. Gleich beim ersten Tanz reiherte er mein weißes Kleid von oben bis unten voll.«

»Ich bin mit ihr zur Toilette und hab das meiste rausgewaschen«, erklärte Parrish, »aber Evelyn rastete komplett aus und jagte Nate zum Teufel.«

»Die anderen Mädchen hatten Mitleid mit mir, alle baten ihre Begleiter, mit mir zu tanzen, aber das war noch demütigender. Letztendlich habe ich die halbe Nacht im Damensalon gesessen und mir mit Sarah Catherine Coomer Jägermeister hinter die Binde gekippt.« Obwohl Riley sich locker gab, spürte sie, wie bei der Erinnerung an diesen längst vergangenen katastrophalen Abend heiße Tränen in ihren Augen brannten. Sie schaute hinaus aufs Wasser und blinzelte sie schnell fort.

»Ohne Begleitung auf dem Debütantinnenball«, resümierte Billy. »Klingt wie ein schlechter Song. Ich kann mich gar nicht daran erinnern. War ich damals überhaupt hier?«

»Ich habe den Abend – den schlimmsten meines Lebens – erfolgreich aus meiner Erinnerung verdrängt. Bis heute«, sagte Riley. »Da warst du fünfzehn, oder? Moment! War das vielleicht das Jahr, als du auf diese ›alternative‹ Schule in Arizona musstest?«

»Genau. Offiziell galt es als Entzug, aber ich glaube, Daddy wollte mir das Schwulsein austreiben. Ha! Er konnte ja nicht wissen, dass mein Vertrauenslehrer auch auf Jungs stand.«

Die drei seufzten gleichzeitig.

»Egal«, sagte Riley. »Wen interessieren schon die alten Geschichten?« Sie hielt ihren leeren Weinbecher in die Höhe. »Ich glaube, ich brauche noch einen.«

»Moment!«, rief Billy. »Wie ging es mit Nate weiter? Hast du noch mal mit ihm gesprochen?«

»Am nächsten Tag hat er ungefähr zehn Mal angerufen.«

»Aber sie ist nicht ans Telefon gegangen«, erklärte Parrish. »Er hat ihr Briefe geschrieben.«

»Die ich zerrissen habe.«

»Hat sogar Rosen geschickt.«

»Hab ich in den Müll geworfen.«

Als Riley aufstehen wollte, kam Maggy mit ihren Freunden die Treppe hinaufgelaufen. Die sechs stürzten zum Bug und beugten sich über die Reling.

»Guck! Da! Seht ihr? Seht ihr den?«, rief einer der Jungen, ein Rotschopf, in dem Riley noch einen Billingsley-Spross erkannte.

»Ja, ja, ich sehe ihn!«, schrie Maggy und beugte sich so weit vor, dass Riley automatisch einen Schritt auf sie zumachte. Parrish hielt sie zurück.

»Hör auf!«, artikulierte sie lautlos. »Was ist denn da?«, fragte Parrish beiläufig.

»Ein Hai!«, sagte der kleine Billingsley und wies aufs Wasser.

»Zwei Haie«, korrigierte ein anderer Junge mit roten Haaren.

»Mit Sicherheit ein Hammerhai«, meinte ein großes blondes Mädchen, das mit gerecktem Hals ein wenig weiter hinten stand.

»Oh, bist du blöd! Guck doch, wie groß die sind! Das sind weiße Haie«, wies der kleine Billingsley sie zurecht.

Riley und Parrish beugten sich über die Reling, um selbst nachzusehen.

Tatsächlich entdeckten sie zwei Rückenflossen, die nebeneinander durch die kleinen Wellen schnitten. Dann gesellte sich eine dritte, kleinere hinzu. Als die Tiere untertauchten und wieder hochkamen, konnte man ihre geschwungenen grauen Rücken sehen.

»Tut mir leid«, sagte Parrish, »aber das sind Delphine.«

»Was?« Der kleine Billingsley sah sie ungläubig an.

»Delphine. Eine ganze Schule«, wiederholte Parrish.

»Du hast doch keine Ahnung von Haien«, murmelte der Junge vor sich hin.

Parrish betrachtete ihn schweigend. »Wie heißt du?«

Er grinste. »Dylan. Und du?«

»Du wolltest doch wohl sagen: Und Sie? Oder, Dylan?«

»Von mir aus.«

»Dann hör mir mal zu! Zufälligerweise weiß ich ganz genau, wie man einen Hai von einem Delphin unterscheidet. Zum einen an der Flosse da, die aus dem Wasser ragt. Das ist die Rückenflosse. Die Rückenflosse von Delphinen ist leicht nach hinten geneigt, während sie bei Haien gerade nach oben zeigt. Warte, bis der Delphin das nächste Mal auftaucht, und dann sagst du mir, was du siehst.«

Sechs Augenpaare richteten sich aufs Wasser. Neun, wenn man die Erwachsenen mitzählte.

»Die ist schräg!«, rief einer von den kleineren Rothaarigen.

»Weil es nämlich ein Delphin ist«, erklärte Parrish. »Ich verrate euch noch was: Haie haben noch eine zweite, kleinere Rückenflosse, Delphine nicht. Wisst ihr, was ihr tun müsst, wenn im Wasser ein Rückenflossenpaar auf euch zukommt?«

»Euch von euren süßen Hintern verabschieden«, flüsterte Billy.

»Dem Hai mit dem Messer ins Auge stechen!«, rief Dylan Billingsley.

Parrish schüttelte den Kopf. »Ich geb’s auf.«

»Ich weiß, was man dann tun muss«, sagte Maggy. »Habe ich im Fernsehen gesehen. Man muss sich ganz ruhig verhalten, damit der Hai einen nicht für Nahrung hält.«

»Sehr gut, Maggy«, lobte Parrish.

»Wer ist dieser neunmalkluge Rotschopf?«, fragte Parrish, als die Kinder auf der Suche nach einem richtigen Hai auf die andere Seite des Decks gegangen waren.

»Noch einer von den Billingsleys. Sie wohnen in dem großen Haus auf der Driftwood Lane, wo immer so viele Golfcarts stehen. Ich meine, sie kommen aus Charlotte, und er ist ein hohes Tier bei einer Bank. Fünf Kinder, davon zweimal Zwillinge«, erklärte Riley. »Der Älteste ist auf dem besten Weg in den Jugendknast.«

Parrish zog den Kopf ein. »Die arme Mutter.«

Immer mehr Passagiere kamen aufs Oberdeck. Riley warf einen Blick auf die Uhr und rief Maggy zu, die sich von ihren Freunden abgesetzt hatte: »Schätzchen, wir legen bald an. Wer Big Belle wohl als Erstes sieht?«

Maggy verdrehte die Augen. »Du glaubst doch nicht, dass ich immer noch bei dem kindischen Spiel mitmache!«

Billy tat so, als wollte er seiner Nichte einen Klaps geben, doch sie wich ihm aus. »Hey, du weißt wohl nicht, dass ich dieses Spiel erfunden habe, als deine Mama und ich kleiner waren als du jetzt. Das ist nicht kindisch! Es ist genial.«

»Was für ein Spiel?«, fragte Parrish. »Ich mache mit.«

»Oh, ja, wow, das ist ein total cooles Spiel«, sagte Maggy.

»Es heißt ›das Leuchtturmspiel‹«, erklärte Billy, seine Nichte ignorierend. »Und es ist bestechend in seiner Schlichtheit. Wer als Erstes den Leuchtturm von Belle Isle erblickt, hat gewonnen.«

»Ich bin dabei! Was gibt’s als Preis? Eine Kiste Moët & Chandon?«

»Zwei Kugeln Eis im Insellädchen«, antwortete Maggy. »Die lassen sowieso immer mich gewinnen.«

»Jetzt nicht mehr«, bestimmte Riley. »Das ist dir leider zu Kopf gestiegen.«

»Egal.« Maggy ging einige Schritte nach hinten und wandte dem Horizont demonstrativ den Rücken zu – und damit dem bald auftauchenden Leuchtturm Big Belle.

»Das wird ein laaanger Sommer«, murmelte Riley. »Dabei wird sie erst im Oktober dreizehn …«

»Ich liebe die Kleine, aber irgendwie bin ich jetzt doch froh, dass ich einen Sohn habe – und dass er schon neunzehn und aus dem Haus ist«, bemerkte Parrish.

Einige Minuten vergingen. Dann erschien die schwarz, grün und weiß gestreifte Säule von Big Belle am Horizont.

»Da ist er! Ich hab ihn als Erstes gesehen, ich hab gewonnen!«, jubelte Parrish.

Maggy rückte zu ihrer Mutter hinüber und stieß sie unauffällig an. »Ähm, Mom? Die Frau da drüben glotzt dich schon seit zehn Minuten an. Total auffällig! Nicht hingucken!«

Worauf alle drei Erwachsenen in die Richtung blickten, in die Maggy mit dem Kopf gewiesen hatte.

An der Reling lehnte eine blonde Frau mittleren Alters in einer schlechtsitzenden khakifarbenen Hose und einer dunkelblauen Windjacke. Sie hatte eine kleingelockte Dauerwelle, trug eine verspiegelte Sonnenbrille und hässliche schwarze Schnürschuhe.

»Das ist mir gerade auch aufgefallen«, flüsterte Parrish. »Sie hat sich nicht einmal zum Wasser umgedreht. Immer, wenn sie glaubt, wir würden es nicht merken, starrt sie Riley an.«

»Wahrscheinlich ein Fan«, sagte Riley. »Ich bin zwar schon sechs Monate draußen, aber die Leute sind immer noch sauer auf mich, weil ich aus der Sendung ausgestiegen bin.«

»Echt?«, staunte Parrish. »Das war doch nur ein stinknormales Morgenmagazin. Nicht böse gemeint«, fügte sie schnell hinzu.

»Du hast ja keine Ahnung«, sagte Maggy. »Auf der Fahrt von Raleigh hierher hat so eine Verrückte Mom auf der Toilette in dem Laden angesprochen, wo wir gegessen haben. Mom wollte nur schnell zum Klo, aber die Frau hat einfach nicht aufgehört, nach dem Motto, Mom hätte ihr den Vormittag kaputtgemacht, weil es ihre Sendung nicht mehr gibt.«

»Menschen haben was gegen Veränderungen.« Riley lächelte Parrish betrübt an. »Und manche mögen ein bisschen Kitsch zum Frühstück.«

Während sie zu der Frau hinüberschauten, kam diese plötzlich zielstrebig herübermarschiert, ein Blatt Papier in der Hand.

»O nein! Sie kommt her«, stöhnte Maggy. »Ist bestimmt so eine verrückte Stalkerin, die uns schon die ganze Zeit verfolgt.«

»Genau! Wie in Misery!«, flüsterte Parrish. »Vielleicht will sie dich entführen und ans Bett fesseln, bis du dich einverstanden erklärst, wieder zum Fernsehen zu gehen, Beiträge über Hunderettungsaktionen zu machen und drittklassige Schauspielerinnen zu interviewen.«

»Nein, nein, nein«, sagte Billy. »Das ist ein Talentscout aus New York. Sie sucht die ganz großen Namen. Macht dir bestimmt gleich das Angebot, die Today Show zu übernehmen.«

Bevor Riley etwas dazu sagen konnte, tippte ihr jemand auf die Schulter. Sie drehte sich um, und Nate Milas stand mit einer Piccoloflasche Pinot Grigio vor ihr, auf der ein Plastikbecher steckte.

»Ähm, Riley?«

Billy und Parrish spitzten die Ohren.

Riley sah Nate an. Er war rot vor Verlegenheit. Seine Baseballkappe steckte in der Tasche seiner Shorts. Sie stellte fest beziehungsweise erinnerte sich daran, dass Nate ein ehrliches Gesicht hatte.

Während ihrer Zeit als »richtige« Journalistin, als Reporterin, bevor sie angefangen hatte, das Morgenmagazin zu moderieren, hatte sie ein bisschen über Körpersprache und Mimik gelernt. Politiker blinzelten viel, mieden den direkten Blick, ließen sich nichts anmerken. Verbrecher, echte Kriminelle, waren deutlich schwerer zu interpretieren. Viele waren gestört und empfanden keinerlei Reue für das, was sie getan hatten. Ihre Tat war eine Notwendigkeit gewesen, um ihr Ziel zu erreichen. Doch Nates Gesicht war offen und arglos.