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Vom Glück, nach Hause zu kommen: Ein Sommerroman zum Genießen von Bestsellerautorin Mary Kay Andrews Anfangs ist die investigative Journalistin Conley Hawkins gar nicht begeistert, als es sie nach Florida in ihre kleine Heimatstadt verschlägt. Doch der familieneigenen Zeitung geht es nicht gut. Conley setzt alles daran, sie mit ihrer Schwester zusammen zu retten. Im Strandhaus ihrer Großmutter lernt Conley, dass auch Regionaljournalismus Sensationen bereithält. Und dass aus alten Verletzungen neue Liebe entstehen kann. Noch mehr glückliche Lesestunden mit Mary Kay Andrews: ›Die Sommerfrauen‹, ›Sommerprickeln‹, ›Weihnachtsglitzern‹, ›Sommer im Herzen‹, ›Winterfunkeln‹, ›Liebe kann alles‹, ›Ein Ja im Sommer‹, ›Mit Liebe gewürzt‹, ›Kein Sommer ohne Liebe‹, ›Auf Liebe gebaut‹, ›Zurück auf Liebe‹, ›Sommernachtsträume‹, ›Zweimal Herzschlag, einmal Liebe‹, ›Liebe und andere Notlügen‹, ›Der geheime Schwimmclub‹, ›Sommerglück zum Frühstück‹, ›Hallo, Sommer‹
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Seitenzahl: 701
Mary Kay Andrews
Roman
Conley Hawkins hat wahrlich »Druckerschwärze im Blut«. Als die preisgekrönte Journalistin ihren sicheren Job bei einer großen Zeitung in Atlanta aufgibt, landet sie überraschend in einem Winzkaff in Florida – ihrer Heimatstadt. Doch anstatt alles daran zu setzen, schnellstmöglich wieder von dort wegzukommen, stellt sie sich ihrer Vergangenheit und der Familientradition des regionalen Zeitungsmachens. Denn auch in der Provinz stehen Korruption und der Kampf um politischen Einfluss auf der Tagesordnung. Umgeben von ihrer exaltierten Großmutter Lorraine, ihrer streitbaren Schwester Grayson und einer schrägen Kolumnistin findet Conley nicht nur ihren Platz im Silver Bay Beacon …
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Mary Kay Andrews wuchs in Florida, USA, auf und lebt mit ihrer Familie in Atlanta. Im Sommer zieht es sie zu ihrem liebevoll restaurierten Ferienhaus auf Tybee Island, einer wunderschönen Insel vor der Küste Georgias. Seit ihrem Bestseller ›Die Sommerfrauen‹ gilt sie als Garantin für die perfekte Urlaubslektüre.
Weitere Titel der Autorin
›Die Sommerfrauen‹, ›Sommerprickeln‹, ›Weihnachtsglitzern‹, ›Sommer im Herzen‹, ›Winterfunkeln‹, ›Liebe kann alles‹, ›Ein Ja im Sommer‹, ›Mit Liebe gewürzt‹, ›Kein Sommer ohne Liebe‹, ›Auf Liebe gebaut‹, ›Zurück auf Liebe‹, ›Sommernachtsträume‹, ›Zweimal Herzschlag, einmal Liebe‹, ›Liebe und andere Notlügen‹, ›Der geheime Schwimmclub‹, ›Sommerglück zum Frühstück‹, ›Winterträume am Kamin‹
Andrea Fischer hat Literaturübersetzen studiert und überträgt seit über zwanzig Jahren Bücher aus dem britischen und amerikanischen Englisch ins Deutsche, unter anderem die von Lori Nelson Spielman, Michael Chabon und Mary Kay Andrews. Sie lebt und arbeitet im nördlichen Münsterland.
In aufrichtiger Bewunderung und tief empfundener Dankbarkeit allen Journalisten – besonders denen im Printbereich – gewidmet, früheren wie gegenwärtigen.
Hört nicht auf, schwierige Fragen zu stellen!
Bleibt beharrlich, trotz allem!
Ich hasse so was«, sagte Conley Hawkins und schaute zum gläsernen Konferenzraum der Redaktion hinüber, wo sich gerade die Angestellten sammelten. »Trockener Blechkuchen, lauwarmer Sekt und leere Abschiedsworte. Alles so künstlich. Mindestens ein Drittel der Leute in diesem Raum kann mich nicht leiden. Bei denen, die mir wichtig sind, bin ich längst gewesen. Können wir es nicht einfach dabei belassen?«
Fast war es Conley gelungen, unauffällig zu verschwinden, sie war bis wenige Meter vor den Fahrstuhl gekommen. Doch Butch hatte gemerkt, dass sie sich davonschleichen wollte. »Du kannst nicht deine eigene Verabschiedung schwänzen«, hatte er gesagt. »Alle warten auf dich. Sich jetzt heimlich davonzustehlen käme echt nicht gut an.«
Bevor Conley widersprechen konnte, hatte Butch sich den Pappkarton unter den Arm geklemmt, den sie gerade gepackt und auf ihren Schreibtisch gestellt hatte. Auf ihren ehemaligen Schreibtisch im Newsroom der Zeitung The Atlanta Journal-Constitution, in den vergangenen vier Jahren Conleys zweites Zuhause.
»Es sind wohl eher zwei Drittel der Leute in diesem Raum, die dich hassen«, bemerkte Butch und führte sie in Richtung Konferenzraum. »Natürlich nicht persönlich. Wohl eher Berufsneid. Abgesehen von Rattigan natürlich. Der hat aber auch einen persönlichen Grund, stimmt’s?«
Butch Culpepper war nicht einfach irgendjemand, der in den letzten drei Jahren neben Conley gesessen hatte. Er war ihr soziales Gewissen, ihr selbsternannter »Office Husband«, und er war in fast all ihre Geheimnisse eingeweiht.
Als sie den Namen »Rattigan« hörte, zog Conley den Kopf ein. »Sei leise!«
Butch hob die Augenbraue. »Noch zu früh?«
»Ich hätte wirklich nicht gedacht, dass er es so persönlich nimmt«, sagte Conley. »So ernst war das zwischen uns gar nicht.«
»Ihr habt zusammengewohnt«, erinnerte Butch sie. »Für die meisten Frauen, die ich kenne, wäre das ernst.«
»Das waren nur sechs Wochen, und ich hab ihn bloß einziehen lassen, weil er sich seine Dreizimmerwohnung nicht mehr leisten konnte, nachdem sein Mitbewohner nach Miami versetzt wurde.«
Sie standen vor der offenen Tür zum Konferenzraum. Roger Sistrunk, Conleys Nachrichtenredakteur, winkte sie herein.
»Hawkins! Beweg deinen Hintern hier rüber! Du hast vielleicht nichts Besseres zu tun, aber ein paar von uns müssen heute noch eine Zeitung rausbringen.«
»Oh, nein«, murmelte sie.
Dann knallten die Sektkorken, und Conley bekam eine signierte Zeichnung des politischen Karikaturisten geschenkt. Roger rollte eine Ausgabe des Metro-Teils zu einem provisorischen Megaphon zusammen und setzte zu einer wohlmeinenden Rede an, in der er ausmalte, wie sehr Conley vermisst würde.
»Achtung, Achtung!«, rief er. »Also, unserer geschätzten Kollegin Conley Hawkins ist es ja irgendwie gelungen, diese Knalltüten in Washington zu überzeugen, ihr doppelt so viel Geld für halb so viel Arbeit zu zahlen«, witzelte er. Seine Glatze glänzte im Licht der Neonröhren.
Ein paar leise Lacher und Buhrufe. Conley lächelte schwach, und ungewollt wanderte ihr Blick zu Kevin hinüber, der mit versteinertem Gesicht in der hintersten Ecke stand. Seine weizenblonden Ponysträhnen fielen ihm auf die Brille. Conleys Finger zuckten, am liebsten hätte sie Kevins Haare zurückgeschoben, seine Brille geputzt und ihm etwas Anzügliches ins Ohr geflüstert, nur um zu sehen, wie sein blasses Sommersprossengesicht knallrot anlief. Kevin bemerkte ihren Blick und schaute schnell zur Seite.
Butch drückte ihr einen Pappbecher in die Hand, und Conley leerte ihn in zwei Schlucken.
Den Rest von dem, was ihr Chef sagte, hörte sie nicht mehr. Tiana Baggett kam zu ihr, legte ihr den Arm um die Schulter und lehnte den Kopf an. »Du wirst mir fehlen, Süße«, sagte sie und schniefte. »Ich fasse es nicht, dass du wirklich gehst und mich allein lässt. Wer soll jetzt die gruseligen Slasherfilme mit mir gucken? Wer schreibt meine Einleitungen um?«
Abgesehen von Butch war Tiana, die Polizeireporterin des Metro-Teils, Conleys beste Freundin in der Redaktion.
»Ach, komm, Tia! Mach mich nicht fertig«, flehte Conley. »Ich hab doch gesagt, sobald ich von einer freien Stelle höre, werfe ich deinen Namen in den Ring.«
Tiana schniefte wieder und streckte den Arm aus, um ein Selfie zu machen. »Ach, Mist!«, sagte sie und schüttelte ihr Handy. »Kein Saft mehr. Gib mal deins!«
Conley holte ihr Telefon aus der Tasche, hielt es vor sich und Tiana und machte schnell drei Fotos. Als sie es wieder einstecken wollte, hörte sie das unverkennbare Fahrradklingeln, das ihr eine neue Nachricht ankündigte.
Tiana sah sich suchend um. »Von wem ist die, von Kevin?« Hoffnungsvoll schaute sie quer durch den Konferenzraum. Sie hatte die beiden miteinander verkuppelt und Conley mehr als einmal vorgeworfen, seit der Trennung herzlos zu sein.
»Nein.« Conley schüttelte den Kopf. »Der guckt mich nicht mehr an. Die Nachricht ist von meiner Schwester.«
»Von Grayson? Die dich angeblich nicht ausstehen kann?«
»Sie kann mich wirklich nicht ausstehen, das weiß ich. Woher die überhaupt meine Nummer hat …« Die Nachricht enthielt einen Link zu einer Eilmeldung auf dem Nachrichtenportal von Bloomberg. Conley tippte darauf und las den ersten Absatz.
Intelligentsia, der aufstrebende investigative digitale Nachrichtendienst, gab heute bekannt, dass er seinen Betrieb mit sofortiger Wirkung einstellt. Als Grund wird die gescheiterte letzte Runde der Risikokapitalfinanzierung genannt.
Conley starrte auf die Sätze. Ihr Gehirn und ihre Zunge waren gelähmt. Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn.
»Was ist? Jemand gestorben?«
Conley reichte Tiana das Handy.
»Mein lieber Herr Gesangsverein«, murmelte sie. »Macht deine Schwester einen Witz, oder was?«
»Grayson macht keine Witze, dazu ist sie gar nicht fähig«, erwiderte Conley. »Ihr fehlt das Gen für Humor.«
»Glaubst du, das stimmt?«, fragte Tiana. »Das mit Intelligentsia? Ich meine, wenn das richtig ist, dann müsstest du doch was gehört haben, oder? Vielleicht ist das nur ein Gerücht.«
»Vielleicht.«
»Am besten rufst du diesen Typen an, diesen Redakteur, wie heißt der noch mal?«
»Fred Ward.« Conley öffnete die Liste ihrer letzten Anrufe, doch es war keiner von Fred Ward dabei, auch hatte niemand mit der Vorwahl von Washington versucht, sie zu erreichen.
»Conley! Schneid den Kuchen an!«, rief ein Sportreporter.
»Genau!«, fiel eine andere Stimme ein. »Wann geht’s endlich los? Ich muss noch eine Story fertig machen!«
Sie schaute hoch. Alle Gesichter waren auf sie gerichtet. Conley schluckte und kämpfte gegen die Welle von Übelkeit, die aus ihrem Magen hochstieg. Sauer brannte der Sekt in ihrem Mund.
»Mach’s einfach!«, flüsterte Tia.
Roger hielt ihr das Typometer hin, an das ein verblichenes rotes Geschenkband gebunden war. Das Typomaß war ein kurioses Relikt aus einer anderen Zeit, als die Zeitung noch auf der Marietta Street beheimatet gewesen war und die Ausgaben Buchstabe für Buchstabe in der Setzerei im Zentrum an Tischen gesetzt wurden, anders als heute, wo sie in einem klotzigen Rauchglasbau im Gewerbepark vor den Toren der Stadt digital entstanden.
Conley nahm das starre Aluminiumlineal und zog es waagerecht durch den klebrigen weißen Zuckerguss, dann einmal senkrecht, um den Blechkuchen in vier Teile zu schneiden. »Mach du weiter«, sagte sie mit einem gezwungenen Lächeln und gab dem Redakteur das Typometer zurück. »Ich kann keinen Kuchen essen. Hab eine Glutenallergie.«
Seine dunklen Augen musterten Conley. »Seit wann?«
»Lass mich einfach in Ruhe«, erwiderte sie leise. »Es ist was dazwischengekommen, okay?«
»Gut, aber sag Bescheid, bevor du gehst. Das meine ich ernst.«
Während sich die Kollegen und Kolleginnen um den Tisch scharten und sich an Kuchen und Sekt bedienten, ging Conley zur Damentoilette im zweiten Stock. Sie schloss sich in einer Kabine ein und las die Meldung erneut. Betrieb eingestellt. Was bedeutete das genau?
Sie rief Fred Wards Namen in ihren Kontakten auf und tippte auf seine Nummer.
Das Telefon klingelte einmal, dann sprang die Mailbox an. Freds sonore Stimme triefte aus dem Handy wie bernsteingelber Rohrzuckersirup. »Hier ist Fred Ward, Chef vom Dienst bei Intelligentsia. Ich habe gerade keine Zeit, muss das Blatt ins Bett bringen. Hinterlasst gern eine Nachricht, dann melde ich mich früher oder später.«
»Fred?« Conley versuchte, nicht zu verzweifelt zu klingen. »Hey, hier ist Conley Hawkins aus Atlanta.« Sie lachte nervös. »Ich hab gerade bei Bloomberg was ganz Merkwürdiges gelesen. Da steht, ihr würdet dichtmachen. Ruf mich bitte an, ja?«
Sie legte auf und wartete fünf Minuten. Dann ging sie langsam wieder hoch in die dritte Etage an ihren leer geräumten Platz. Der Schreibtisch in der hinteren Reihe des Newsrooms an einer Fensterreihe, die auf eine Dauerbaustelle auf der Autobahn ging, war in den letzten viereinhalb Jahren ihre Heimat gewesen. Jetzt waren Conleys Habseligkeiten – Bücher, Aktenordner, der angelaufene Kaffeebecher, selbst die Schlüsselbänder mit den laminierten Presseausweisen von Veranstaltungen, über die sie im Laufe der Jahre berichtet hatte – in Pappkartons verstaut, die sich auf der Rückbank ihres Subaru drängten.
Heute war der Tag, auf den sie sich seit der aufregenden E-Mail von Fred Ward gefreut hatte (Betreff: »Wann können Sie anfangen?«). Sarah Conley Hawkins war bereit, den AJC und Atlanta hinter sich zu lassen. Die Frage war nun: Wo sollte sie hin?
»Hawkins?« Roger setzte sich auf Butchs leeren Stuhl. Er runzelte die Stirn, und seine gummiartigen Gesichtszüge unter dem grauen Bartschatten legten sich in dicke Falten. »Was ist?«
»Nichts.« Sie zuckte mit den Schultern. »Abschiede sind nicht mein Ding. Wahrscheinlich werdet ihr Spinner mir doch fehlen.«
»Red keinen Blödsinn! Was ist?«
Sie seufzte und zeigte ihm die Textnachricht ihrer Schwester.
Roger sah hoch, und seine Gleitsichtbrille rutschte die Nase hinunter. »Ich nehme an, du hast es gerade erst erfahren?«
Conley nickte.
Er las die Textnachricht erneut. »Deine Schwester ist in eurer Familie die Nachrichtenredaktion? Unten in Florida? Ich dachte, ihr zwei hättet Probleme miteinander?«
»Wir haben mehr Probleme als der New Yorker«, antwortete Conley seufzend. »Das ist Graysons Art, mir zu sagen: ätschi-bätschi, Pech gehabt!«
»Hast du schon mit dem Typen gesprochen, der dich eingestellt hat? Fred Ward?«
»Ich hab ihn angerufen, wurde aber sofort auf die Mailbox weitergeleitet.«
Roger drehte sich um und tippte sein Passwort in Butchs Computer. Er öffnete den Browser, gab »Intelligentsia« ein und schüttelte kurz darauf den Kopf.
»Im Wall Street Journal steht, das Ganze ist beschlossene Sache. Der Hauptinvestor ist wohl ein Hedgefondsgenie, das auf einmal der Meinung ist, new media sei zu riskant.« Roger verzog das Gesicht. »Gestern Abend wurde der Geldhahn zugedreht. Fünfundsechzig Mitarbeiter kamen heute Morgen zur Arbeit nach Bethesda und standen vor verschlossenen Türen.«
Conley starrte aus dem Fenster, vorbei an den Baukränen und Hochhäusern. Es war vier Uhr. Auf der I-285 staute sich der Verkehr. Eigentlich wollte sie längst unterwegs sein. In Richtung Washington.
»Hawkins?« Roger legte seine Hand, die für so einen Bär von Mann überraschend klein war, vorsichtig auf ihren Unterarm. »Das tut mir leid.« Er schob die Brille auf der Nase hoch. »Du weißt, dass ich alles für dich tun würde. Ich habe mir wirklich den Hintern aufgerissen, damit sie dir hier ein besseres Angebot machen, aber das Geld ist einfach nicht da. Du weißt, wie unser Budget aussieht.«
Sie nickte. »Du hast ja auch schon eine Nachfolgerin eingestellt. Ich weiß, Roger.«
»Ich könnte ein paar Leute anrufen. Schließlich hast du den Polk Award bekommen, dein Name ist bekannt. Epstein ist jetzt bei der LA Times. Er ist kein schlechter Kerl und ist mir was schuldig. Charlene startet gerade in Miami durch, die mochte dich auch immer. Die kann bestimmt ein gutes Wort für dich einlegen.«
»Ja«, sagte Conley, stemmte sich hoch und nahm den letzten Pappkarton. »Das wäre nett, danke.«
Beide wussten, wie es aussah. Die Welt des Printjournalismus schrumpfte. Alle Zeitungen im Land kürzten, schnallten den Gürtel enger, entließen Mitarbeiter. Ehemals florierende Blätter aus Metropolen machten entweder ganz zu oder veröffentlichten nur noch digital. Epstein konnte von Glück sagen, den Job in L.A. bekommen zu haben, und Charlene war von der stellvertretenden Redaktionsleiterin des AJC zur Polizeireporterin in Miami geworden und hatte keinen Einfluss mehr auf Neueinstellungen.
»Was hast du jetzt vor?«, fragte Roger. »Kannst du irgendwo unterkommen, bis du dir was überlegt hast?«
»Ja, klar«, log Conley. »Mein Mietvertrag läuft erst Ende des Monats aus.«
»Gut.« Er war erleichtert. »Gott sei Dank. Ich bring dich raus, ja?«
»Nicht nötig. Aber könntest du mir einen Gefallen tun?«
»Klar.«
»Könntest du, ähm, das mit der Intelligentsia noch für dich behalten? Ich meine, die anderen kommen natürlich dahinter, aber ich möchte gern dieses Gebäude verlassen, ohne dass ich ihr Mitleid über mich ergehen lassen muss.«
»In Ordnung.«
Conley wartete auf den Fahrstuhl, als Roger noch mal zurückkam.
»Ähm, hätte ich fast vergessen: Die Personalabteilung hat mir ein Memo geschickt, dass du noch deinen Mitarbeiterausweis abgeben musst.«
»Hab ich nicht dabei, Roger.« Die Lüge ging ihr glatt über die Lippen. »Den habe ich gestern eingepackt.«
»Und wie bist du heute Morgen reingekommen?«
»Ich war vorher mit Butch zum Frühstück verabredet. Er hat mich mit reingenommen. Ich schicke ihn dir zu, ja?«
»Okay.«
Kurz sah es aus, als wollte Roger Conley in den Arm nehmen. Zum Glück öffneten sich die Türen des Fahrstuhls, und sie trat schnell hinein, drückte auf die Abwärtstaste und nickte ihrem Chef zum Abschied zu.
Sie war gerade auf die I-85 nach Süden gebogen, als ihr Handy klingelte. Conley sah den Namen im Display: Butch. Er würde nicht locker lassen, bis sie dranging.
»Hast dich doch verdrückt«, sagte er. »Ich dachte, wir wären zum Abendessen verabredet.«
»Roger hat die Meldung im Wall Street Journal gelesen. Das ist leider wahr. Sorry. Ich musste raus, bevor es sich herumspricht.«
»Wo bist du jetzt?«
»Auf dem Weg nach Hause.«
»Ich dachte, Kevin hätte den Mietvertrag für die Seventh Street übernommen. Kommt das nicht komisch rüber?«
»Nicht nach Hause in Atlanta. Das andere Zuhause.«
»Ach, du meinst dieses Kuhkaff in Florida?«
»Der Ort heißt Silver Bay. Sweet Home, Florida.«
»Im Ernst? Geht es nicht anders?«
»Leider nicht«, antwortete Conley. »Wo soll ich denn sonst hin? Tianas Wohnung ist so groß wie ein Schuhkarton.«
»Ich habe ein absolut annehmbares Sofa und erstklassiges Kabelfernsehen«, bot Butch an.
»Und einen neuen Freund«, ergänzte Conley.
»Das war’s also? Du haust einfach so ab?«
»Nur vorübergehend. Roger hat mir versprochen, dass er ein paar Leute anruft, und in der Zwischenzeit schicke ich mal Bewerbungen rum. Das wird schon, glaub mir.«
»Na, Florida ist wahrscheinlich besser, als in einem Pick-up unten am Fluss zu schlafen.« Butch klang nicht überzeugt.
»Viel besser. Ich wohne so lange bei meiner Großmutter. Sie besitzt ein richtiges Herrenhaus. Liegt mir schon seit Monaten in den Ohren, dass ich sie besuchen soll.«
»Ruf mich bitte an, wenn du da bist«, sagte Butch. »Wie heißt der Ort noch mal?«
»Silver Bay.«
Er schniefte. »Noch nie gehört.«
Conleys Telefon klingelte wieder, als sie gerade in der Nähe von Columbus auf die I-185 fuhr.
Fred Ward. Sie drückte auf die grüne Taste.
»Ähm, hi, Conley!« Seine durch die Boxen verstärkte Stimme erfüllte das Wageninnere. »Sorry, dass ich mich erst jetzt melde. Hier ist die Hölle los.«
»Also stimmt es, was im Wall Street Journal steht? Intelligentsia wird zugemacht?«
»Scheiße … Es steht schon im Journal?«
»Meine Schwester hatte die Story schon vor drei Stunden. Und die leitet nur eine popelige Wochenzeitung in Florida.« Conley wusste, dass ihre Stimme schrill und panisch klang, doch es war ihr egal.
»Ähm, sorry, dass du es so erfahren musstest«, sagte er. »Waren ein paar ziemlich verrückte Tage hier.«
»Du hättest mir nicht vielleicht vor sechs Wochen sagen können, dass der Verlag abkackt? Als du mir den Job angeboten hast?«
»Vor sechs Wochen dachten wir alle noch, wir würden eine Finanzspritze von zehn Millionen Dollar bekommen«, erwiderte Ward, sofort in der Defensive. »Bis die letzte Finanzierungsrunde platzte, hat der Verlag nirgends durchblicken lassen, wie angespannt die Lage ist. Wenn dir das irgendwie hilft: Ich bin auch arbeitslos. Wir alle.«
Conleys Stimme bebte vor Zorn. »Nein, das hilft mir nicht. Ich habe meine Stelle gekündigt, mit meinem Freund Schluss gemacht, meine Wohnung in Atlanta aufgegeben. Ich habe gut fünftausend Dollar Kaution für meine neue Wohnung in Washington hingelegt.«
»Das tut mir leid«, sagte Fred. »Die Personalabteilung meldet sich bei dir. Sie versucht, unsere Leute zu vermitteln.«
»Na, toll.« Conleys Stimme triefte vor Sarkasmus. »Alles Gute, Fred.«
Sie beendete das Gespräch und sah wieder auf die Straße. Zwei Stunden später erblickte sie eine vertraute Werbetafel: »WELCOME TO FLORIDA. THE SUNSHINE STATE.«
»›Willkommen in der Hölle‹ trifft es wohl eher«, brummte Conley.
Sie wartete mit dem Anruf, bis es sieben Uhr war. Die Cocktailstunde war Lorraine DuBignon Conley heilig, und wehe dem, der sie dabei störte.
»Hallo?«
»Großmama? Hier ist Conley.«
»Wer ist da bitte?«
»Ich bin’s, Großmama, Sarah Conley.«
»Du meine Güte! Sarah, was für eine schöne Überraschung! Bist du noch in Atlanta, oder bist du schon nach Washington umgezogen? Ich habe deine Muttertagskarte mit der neuen Adresse bekommen, aber ich habe das Datum vergessen.«
Conley atmete tief durch. »Genau genommen bin ich gerade auf dem Weg zu dir. In anderthalb Stunden könnte ich da sein.«
»Du bist nicht in Washington? Ich dachte, du wärst umgezogen. Das verstehe ich nicht.«
»Kannst du auch nicht. Ist eine lange, traurige Geschichte. Ich erkläre es dir genau, wenn ich da bin. Ist es in Ordnung, wenn ich ein paar Tage bleibe?«
»Ja, denke schon.« Ihre Großmutter zögerte leicht. »Doch, ich glaube, ich habe frische Wäsche in deinem alten Zimmer.«
Lorraine klang nervös. Conley runzelte die Stirn. Normalerweise war ihre Großmutter die unerschütterlichste Frau, die sie kannte. »Du bist schon in The Dunes, oder?«
The Dunes war das großzügige Strandhaus der Familie in Silver Bay, erbaut in den zwanziger Jahren. Jedes Jahr pünktlich zum ersten Mai wurde es geöffnet und bezogen. Und jedes Jahr am Columbus-Day-Wochenende im Oktober wurde es wieder geschlossen. Dann zog Großmama Lorraine zurück in das schmucke viktorianische Cottage auf der Felicity Street, wo sie geboren worden war.
»Ähm …« Es entstand eine kleine Pause. »Ehrlich gesagt, bin ich noch in der Stadt.«
»Ach, ja? Es ist schon Mitte Mai! Ist alles in Ordnung?«
»Mir geht es gut«, erwiderte Lorraine. »Deine Schwester war der Ansicht, ich sollte dieses Jahr ein paar Wochen später rüberziehen. Es ist doch viel Arbeit für Winnie, und sie wird auch nicht jünger.«
»Großmama, Winnie ist nicht viel jünger als du.«
»Werd nicht frech!«, mahnte Lorraine. »Du weißt, dass ich nicht über mein Alter spreche. Wie auch immer, wahrscheinlich werde ich das Haus in einer Woche oder so aufmachen. Hier hat es so viel geregnet, dass Winnie die Feuchtigkeit in die Knochen gezogen ist und ihre Arthritis schlimmer geworden ist. Aber jetzt zu dir. Wann darf ich dich erwarten? Hast du schon etwas gegessen? Winnie ist schon gegangen, aber ich kann dir bestimmt eine Dose Suppe oder so aufwärmen.«
»Mach dir keine Gedanken! Ich halte irgendwo an und hole mir was. Und du musst nicht meinetwegen aufbleiben. Es reicht, wenn du das Licht auf der Veranda brennen lässt. Und hast du vielleicht Bourbon im Haus?«
Lorraines kehliges Lachen glich einem rauen Husten. »Du Dummerchen! Hast du schon mal gehört, dass mir der Bourbon ausgegangen wäre? Jetzt fahr vorsichtig und lass dich nicht von fremden Männern ansprechen!«
Der vertraute Spruch vermittelte Conley zum ersten Mal an diesem sehr langen, sehr schlimmen Tag ein Gefühl von Trost. Ohne nachzudenken, erwiderte sie: »Aber die fremden Männer sind die interessantesten!«
Irgendwann verließ sie die Interstate und fuhr gen Westen auf der zweispurigen Straße, die sich durch Sojabohnen- und Baumwollfelder wand und an endlosen Sumpfkieferwäldern entlangführte. Gelegentlich sah Conley ein altes Bauernhaus, in dem Licht brannte, oder eine Trailersiedlung. In den kleinen Orten mit vernagelten Schaufenstern und den obligatorischen Tankstellen und Ramschläden fuhr sie langsamer.
Viele Ortschaften in dieser Gegend hatten sich nie von Hurrikan Matthew erholt. Sicher waren die kaputten Stromleitungen repariert worden, und die Halden abgebrochener Bäume, zerstörter Dächer, ausrangierter Möbel und Bauschutt hatte man irgendwann abtransportiert, doch die Folgekosten der Zerstörung addierten sich immer weiter.
Conley kam an der stillgelegten Textilfabrik von Verner Brothers vorbei, wo ein verblasstes Schild mit der Aufschrift »INDUSTRIEIMMOBILIE ZU VERKAUFEN« an einem hohen Stacheldrahtzaun hing. Das Dach des roten Backsteingebäudes war eingestürzt, in den Ruinen wuchsen junge Bäume. Die Firma, die früher Jeansstoff produziert hatte, war in den achtziger Jahren pleitegegangen, wie so viele Webereien in diesem Teil des Landes.
Als Conley sich der Ortsgrenze von Silver Bay näherte, verflog ihre düstere Stimmung. Schon hier konnte sie den rot-weiß gestreiften Turm auf dem Gebäude des Silver Bay Beacon sehen, dessen Scheinwerfer das Ortszentrum in ein unheimliches gelbes Licht tauchte.
Während der Weltwirtschaftskrise hatte Conleys Urgroßvater Arthur DuBignon den Kirchturm einer finanziell angeschlagenen Gemeinde in Pensacola gekauft. Der Familienlegende zufolge hatte er zwei Männer beauftragt, den Turm mit einem von Mauleseln gezogenen Karren nach Silver Bay zu transportieren. Dann hatte Urgroßvater Dub, wie er genannt wurde, den Turm auf dem Dach des gelben Backsteingebäudes des Beacon aufstellen lassen und statt der alten Kirchenglocke einen Leuchtturmscheinwerfer eingebaut.
»Dies ist ein Licht der Hoffnung für die Menschen in unserer Stadt«, erklärte er seiner Frau Mattie Lou, als sie schimpfte, wie töricht die Ausgaben seien. »Die Wirtschaftskrise wird nicht ewig dauern, und wenn sie vorbei ist, haben die Leute im Kopf, dass der Beacon aus Silver Bay ein Quell der Wahrheit und Erleuchtung für dieses Land war.«
»Sie werden im Kopf haben, dass Arthur DuBignon mehr Geld als Verstand hatte«, vertraute Mattie ihren engsten Freundinnen an, war aber klug genug, die großen Pläne ihres Gatten nicht zu durchkreuzen.
Ein blaugrauer Wagen vom Sheriff stand im Schatten einer Magnolie vor dem roten Backsteingebäude des Gerichts von Griffin County. In der Mitte der kleinen Grünfläche vor dem Gericht erhob sich auf einem Granitsockel, von Strahlern beleuchtet, politisch völlig inkorrekt, die Statue eines trotzigen Südstaatengenerals, umgeben von gepflegten Beeten mit roten Geranien, weißen Petunien und blauem Salbei.
Als Conley den Platz umrundete, fiel ihr Blick auf Holy Redeemer, die Kirche der Episkopalen, die sich eine Straßenecke mit dem Gotteshaus der Baptistengemeinde teilte. Auf der anderen Seite des Platzes erhob sich die presbyterianische Kirche von Silver Bay, zu deren Gemeinde Conleys Familie gehörte.
Wie immer, wenn sie ihre Heimatstadt besuchte, staunte Conley über die Zahl der Kirchen. Wer füllte sonntags all die Bänke?
Als sie halb um den Platz herum war, bog sie rechts ab und fuhr zwei Blöcke weiter, bis sie vor dem Haus in der 38 Felicity Street hielt. Sie merkte, dass sie unbewusst die Luft angehalten hatte. Das Licht auf der Veranda brannte, die glänzenden Messinglaternen links und rechts der leuchtend roten Eingangstür glommen einladend. Noch bevor Conley aussteigen konnte, stand Lorraine im rosa Satinmorgenmantel in der Tür und winkte ihre Enkeltochter ungeduldig ins Haus.
Conley hockte sich auf den Rand des Sofas im Fernsehzimmer, damit keine Tomatensuppe auf das hellblaue Seidendamastpolster tropfte.
»Schmeckt super«, sagte sie und zeigte auf ihren leeren Teller. »Seit wann kannst du kochen?«
»Gar nicht«, erwiderte Lorraine. »Die hat Winnie am Samstag gemacht. Mit den restlichen eingemachten Tomaten aus dem Gemüsegarten von letztem Sommer. Kannst du jetzt bitte erzählen, was mit deiner neuen Stelle ist?«
»Es gibt keine neue Stelle«, sagte Conley. »Ich wollte heute gerade den Kuchen auf meiner Abschiedsfeier anschneiden, als meine liebe Schwester mir einen Link zu einem Artikel im Wall Street Journal schickte, in dem stand, dass die Intelligentsia eingestellt wurde.«
»Einfach so? Und dir hat keiner was gesagt?« Lorraine war fassungslos.
»Genau. Irgendwann hat Fred Ward – das ist der Chef vom Dienst dort – auf meinen Anruf reagiert und zurückgerufen. Angeblich wurden alle von der Nachricht überrascht. Dahinter steckt wohl ein Risikokapitalgeber, der jetzt doch nicht investieren will.«
»Schweinebacken.« Lorraine trank einen Schluck Whiskey aus ihrem Kristallglas.
Ungewollt musste Conley grinsen. Ihre Großmutter schockierte ihr Gegenüber gern mit den Kraftausdrücken, die sie auf dem Mädcheninternat in Atlanta gelernt hatte.
»Mein Redakteur beim AJC hat angeboten, seine Fühler auszustrecken. Er hat ziemlich gute Beziehungen.«
Lorraine legte den Kopf schräg und betrachtete ihre Enkeltochter. »Du scheinst nicht viel Hoffnung zu haben.«
»Ich warte erst mal ab, aber tatsächlich gibt es nicht mehr viele Stellen im Journalismus. Es werden keine Leute mehr eingestellt – ganz im Gegenteil, sie werden entlassen, und stattdessen werden junge Reporter genommen, die noch grün hinter den Ohren sind. Gerade du solltest das wissen, Großmama.«
»Der Printjournalismus ist tot? Willst du das damit sagen?« Lorraine ließ die Eiswürfel in ihrem fast leeren Glas klirren.
»Ich hoffe sehr, dass er nicht komplett tot ist«, sagte Conley erschöpft. »Wie läuft es denn beim Beacon? Was sagt Grayson?«
»Du kennst ja deine Schwester. Absolut pessimistisch. Bei ihr ist das Glas nicht nur halb leer, es ist auch gesprungen und gehört in den Müll.« Lorraine starrte in ihren Whiskey. »Sie meint, wir sollten die Zeitung verkaufen. Es gibt eine Gruppe in Kansas City, die hat uns schon vor einem Jahr ein Angebot gemacht.«
»Hoffentlich nicht die Massey Group.« Conley war alarmiert. »Bitte sag mir, dass Grayson den Beacon nicht an diese Widerlinge verscherbeln will.«
»Die kamen hier in einem Privatflugzeug an«, erklärte Lorraine. »Haben uns zu einem fürstlichen Essen im besten Restaurant von Pensacola eingeladen. Grayson war hin und weg.«
»Grayson lässt sich schnell beeindrucken«, bemerkte Conley. »Zeig ihr einen Mercedes und eine Rolex, und sie folgt dir blind.«
»Das ist nicht sehr nett«, tadelte Lorraine milde.
»Aber es stimmt. Das weißt du auch. Sie kann die Zeitung nicht ohne deine Zustimmung verkaufen, oder?«
»Nein. Ich halte immer noch die Aktienmehrheit. Und du hast ja auch ein Mitspracherecht.«
»Aber nicht so viel wie Grayson.«
Lorraine hielt sich die Hand vor den Mund und unterdrückte ein Gähnen. »Es ist zu spät, um über solche Themen zu sprechen. Du musst doch völlig erschöpft sein. Ich liege sonst auch schon im Bett.«
Conley lächelte. »Was redest du da? Es ist noch nicht mal zwölf Uhr. Wir wissen beide, dass du ein halber Werwolf bist.« Sie stand auf und hielt ihrer Großmutter die Hand hin, um sie hochzuziehen. Doch Lorraine lehnte das Angebot ab, umklammerte die geschnitzten Holzlehnen des Stuhls und stemmte sich langsam ohne Hilfe hoch.
»Ach, es ist alles nicht mehr so einfach wie früher«, sagte sie. »Geh jetzt nach oben. Ich muss noch die Küche aufräumen. Wenn morgen nicht alles an seinem Platz ist, bekommt Winnie einen Anfall.«
Conley schleppte ihre Koffer die Treppe hoch, vorbei an den Ölgemälden, Familienporträts und Landschaften im Goldrahmen, die ein längst vergessener Verwandter produziert hatte. Von der vertrauten grünweißen Blumentapete war fast nichts mehr zu sehen. Am Ende des langen, schmalen Gangs war die Tür zu ihrem Zimmer angelehnt. Conley schob sie mit dem Fuß auf und tastete nach dem Lichtschalter.
Die vertrauten Bilder und Gerüche ihrer Kindheit überwältigten sie. Dort hing ihre Pinnwand mit den Fotos von Britney Spears und den Backstreet Boys. Auf der Mahagoni-Kommode stand eine Schale mit einem verstaubten Duftpotpourri, daneben eine Sammlung längst vergessener billiger Kosmetik und ein fast noch voller Flakon Chanel No. 5, den sie von einem Verehrer auf dem College geschenkt bekommen hatte.
Das Zimmer war tadellos sauber. Dafür hatte Winnie gesorgt. Es war nur muffig, weil es nicht genutzt wurde.
Wann hatte Conley das letzte Mal hier geschlafen? Normalerweise war sie in den letzten Jahren immer im Sommer nach Hause gekommen und hatte dann in The Dunes gewohnt.
Die Klimaanlage lief, doch Conley stellte sich an die Fenster, die auf die Felicity Street gingen, und zerrte am mittleren Rahmen, bis er sich nach oben schieben ließ. Sie beugte sich vor und atmete die schwüle, nach Jasmin duftende Luft ein.
Sie war zu Hause, ob es ihr gefiel oder nicht.
Irgendwann nach Mitternacht hörte sie das leise Klingeln einer Textnachricht. Sie nahm ihr Handy und tippte auf das Nachrichtensymbol.
Hab das mit Intelligentsia gehört. Was für eine Scheiße! Wo bist du? Ruf an, wenn du sprechen willst.
»Ach, Kev …«, stöhnte sie und fing nach kurzem Zögern an zu tippen.
Bin in Silver Bay. Bourbon trinken und Wunden lecken. Kann noch nicht sprechen. Vllt später. Danke.C.
Am nächsten Morgen folgte Conley dem Duft von bratendem Frühstücksspeck die Treppe hinunter durchs Esszimmer in die Küche.
Kurz vor der Tür blieb sie stehen und nahm die vertrauten Eindrücke in sich auf: den Geruch von Kaffee und Biskuits, den typischen Mürbeteigbrötchen, das Gedudel des Lokalradiosenders, untermalt vom Zischen und Knistern des bratenden Bacons. Auf der Fensterbank stand ein Marmeladenglas mit rosa-, orangefarbenen und gelben Zinnien, daneben Winnies uraltes türkises Transistorradio. Der grüne Linoleumboden schien frisch gebohnert zu sein. Alles sah genauso aus wie vor fünf, zehn oder zwanzig Jahren.
Nichts hatte sich verändert. Hier änderte sich nie etwas, dachte Conley.
Winnie stand vor dem mächtigen sechsflammigen Herd und rührte in einer gusseisernen Bratpfanne. Sie schaute sich über die Schulter um und nickte Conley zu, ohne sich über deren Anwesenheit zu wundern. »Hey, Schätzchen. Kaffee läuft. In fünf Minuten sind die Biskuits im Ofen fertig. Setz dich schon mal hin.«
Conley begrüßte die Haushälterin ihrer Großmutter mit einem leichten Armtätscheln. Winnie hielt nicht viel von Umarmungen und Berührungen. Großmama meinte, das läge vielleicht daran, dass Winnie mal im Gefängnis gesessen hatte.
Die Haushälterin war schon vor vielen Jahren eingestellt worden, als Conley noch ein kleines Kind war.
In all den Jahren, die Conley Winnie kannte, hatte sich deren Aussehen kaum verändert. Sie färbte ihre Haare immer im selben rosaroten Ton und trug sie zu einem Zopf geflochten, der ihr fast bis zur Taille reichte. Ihre Augenbrauen waren inzwischen stahlgrau, doch ihr blasses Gesicht überraschend faltenfrei. Wie immer trug sie ein weißes Herrenhemd, das im Gummibund der schwarzen Stoffhose steckte, von der sie sich in den Siebzigern gleich einen ganzen Schwung gekauft haben musste. Ihre schwarzen Schnürschuhe glänzten, und sie schaute durch dickes Brillenglas auf die Bratpfanne.
»Hey, Winnie!«, sagte Conley. »Wie geht’s dir?«
»Kann nicht klagen. Willst du Saft? Ist im Kühlschrank.«
Conley nahm einen der Becher, die an Haken unter dem Schrank über der Spüle hingen und zog die zerdellte Aluminium-Cafetiera vom Herd.
»Na, sieh mal einer an!«
Mit der Kaffeekanne in der Hand drehte sich Conley um. Sie hatte ihre Schwester gar nicht bemerkt, die auf der eingebauten Sitzbank mit Blick auf den Garten saß. Grayson hob ihr spöttisch grüßend den Becher entgegen.
»Oh, hallo, Gray!«, sagte Conley. »Was führt dich denn hierher?«
»Bacon und Biskuits führen sie her!«, höhnte Winnie. »Die taucht hier jeden Morgen auf, genau wie die verfluchte Straßenkatze, die eure Großmutter endlich aufhören soll zu füttern! Und deine Schwester nimmt auch kein Gramm zu, genau wie diese alte Katze.«
Conley setzte sich mit ihrem Kaffee auf die Bank gegenüber ihrer älteren Schwester. Grayson trug Bürokleidung. Anders als Conleys Kolleginnen bei der Zeitung in Atlanta, die Jeans und Sneaker bevorzugten, zog sich Grayson Hawkins wie eine Kleinstadt-Rotarierin an (die sie auch war): blauer Hosenanzug, blassrosa Baumwollbluse, Perlenkette.
»Frühstückst du nicht zusammen mit deinem Mann?«, fragte Conley.
»Möglichst nicht! Tony isst zum Frühstück am liebsten eine Schüssel Acai-Beeren und Hanfherzen und spült das Ganze mit diesem ekeligen Kombucha runter.«
»Im Piggly Wiggly gibt’s Kombucha? Ich bin beeindruckt.«
»Der Piggly Wiggly hat letzten Sommer zugemacht«, berichtete Winnie. »Jetzt haben wir nur noch den IGA als Supermarkt.«
»Tony bestellt viel im Internet«, sagte Grayson. »Jedenfalls hat Großmama mich gestern Abend angerufen, als sie wusste, dass du hierher unterwegs bist. Ich wollte heute Morgen kurz reingucken, um meine kleine Schwester zu begrüßen.«
Conley beobachtete Grayson argwöhnisch über den Becherrand hinweg. Mit den glatten dunklen Haaren und der olivbraunen Haut bekam ihre Schwester jedes Jahr mehr Ähnlichkeit mit ihrer Mutter, zumindest soweit Conley sich an sie erinnern konnte.
»Hör auf!«, sagte sie. »Du bist nur aus Schadenfreude hier.«
»Stimmt doch gar nicht!«, widersprach Grayson. »Ich habe mich echt erschrocken, als ich die Geschichte im Wall Street Journal gesehen habe. Ich meine, Intelligentsia war echt eine andere Liga. Du wusstest das doch schon, oder?«
»Nein.« Conley ließ das Wort zwischen ihnen schweben.
Grayson trank einen Schluck. »Und was hast du jetzt vor?«
»Ich dachte, ich ruhe mich mal ’ne Weile am Strand aus, lass mich schön bräunen und verschicke meinen Lebenslauf und ein paar Arbeitsproben. Hab schon meine Fühler ausgestreckt.«
Das war gelogen, und Conley vermutete, dass ihre Schwester das wusste.
»Das ist gut« war alles, was Grayson dazu sagte.
Conley nippte an ihrem Kaffee. »Wieso ist Großmama immer noch in der Stadt? Sie hat mir gestern Abend erzählt, du wolltest nicht, dass sie The Dunes öffnet, weil es zu viel Arbeit für Winnie und sie wäre.«
»Was redest du da?«, rief Winnie. Ihre Gabel mit dem langen Stiel schwebte über der Bratpfanne.
»Ehrlich gesagt, mache ich mir Sorgen um Großmama«, erklärte Grayson mit gesenkter Stimme. »Aber sag ihr bloß nichts davon. Sie ist schon ein paarmal gestürzt. Bis jetzt ist dabei nur eins von Granddads alten Highball-Gläsern kaputtgegangen, aber ich mag mir gar nicht vorstellen, dass die beiden Frauen da draußen allein am Strand sind, fünfzehn Meilen entfernt von der Stadt und einem Arzt, falls etwas passieren sollte.«
Winnie knallte die schwere Eisenpfanne mit dem Bacon und dem Rührei auf den Tisch und stellte ein Körbchen mit Biskuits dazu. »Nur dass du’s weißt, wir können auf uns selbst aufpassen«, sagte sie. »Wir kommen schon lange gut allein zurecht.«
»Sagt die Frau, die eine neue Hüfte braucht«, schoss Grayson zurück.
»Sagt wer?« Winnie brachte Teller und Besteck zum Tisch, dann setzte sie sich auf den alten grünen Tritthocker aus Metall, ihren Stammplatz in der Küche.
»Sagt Jack Holloway, dein Arzt. Er ist zufällig auch meiner Meinung, dass Großmama dringend …«
Die Tür ging auf, und Lorraine kam herein.
»Was muss ich dringend?« Sie sah ihre Enkelin streng an. »Und wer behauptet das? Grayson, du weißt genau, dass ich es hasse, wenn man hinter meinem Rücken über mich redet.«
»Irgendwer muss sich aber kümmern«, sagte Grayson kopfschüttelnd. »Jack meint, Großmama hätte eine Vorform von Diabetes. Er hat ihr was aufgeschrieben, aber sie löst das Rezept einfach nicht ein und will auch nicht auf ihren Arzt hören.« Sie schaute ihre Schwester über den Tisch hinweg an. »Vielleicht hört sie ja auf dich.«
»Rutsch mal!«, sagte Lorraine zu Conley.
Die tat, wie ihr geheißen. »Großmama, stimmt das? Das höre ich zum ersten Mal. Grayson sagt, du bist schon ein paarmal gefallen. Und was ist das mit dem Diabetes?«
Winnie kam mit dem Kaffeezubereiter an den Tisch und schenkte ihrer Arbeitgeberin einen Becher voll ein. Lorraine sah ihre beiden Enkelinnen böse an.
»Ich bin gestolpert, weil jemand den Couchtisch verrückt hat, ohne es mir zu sagen.« Nun bekam Winnie Lorraines Zorn zu spüren. »Es war dunkel, und es ist wirklich nichts passiert. Kleine Schramme am Schienbein, mehr nicht.«
»Eine Woche lang hatte sie eine Beule auf der Stirn, die war so groß wie eine Rübe«, berichtete Grayson. »Ich musste sie mit Gewalt ins Auto stecken, damit ich sie zu Jack fahren konnte.«
»Sie hat mich angelogen und behauptet, wir würden zur Spirituosenhandlung fahren«, sagte Lorraine und gab eine Scheibe Schinkenspeck sowie einen Löffel Rührei auf den Teller, den Winnie ihr hingestellt hatte. Gerade wollte sie sich einen Biskuit nehmen, da entzog Winnie ihr geschickt den Korb.
»Hast du heute schon deinen Blutzucker gemessen?«
»Du nicht auch noch!«, stöhnte Lorraine. »Mein Blutzucker ist völlig in Ordnung. Ich ernähre mich gesund. Jack hat mir einen Essensplan gegeben, damit ich ein bisschen die Übersicht habe, und an den halte ich mich.« Sie wies mit dem Zeigefinger auf Grayson, dann auf Conley und Winnie. »Damit ist die Diskussion zu diesem Thema beendet!«
Grayson verdrehte die Augen. »Sture alte Ziege.«
»Raus!«, rief Lorraine. »Raus aus meiner Küche, sofort!« Grayson grinste, griff nach dem Korb mit den Biskuits und nahm eins heraus, das sie aufschnitt und mit Butter und selbst gemachter Feigenmarmelade bestrich, um ihre Kreation mit Schinken zu krönen.
»Ich bin tief verletzt«, sagte sie und warf einen Blick auf ihre Uhr. »Ups, in einer Viertelstunde habe ich ein Telefonat. Man sieht sich!«
Nach dem Frühstück klappte Conley ihren Laptop auf dem Esszimmertisch auf. Sie hatte keine Lust, auf Jobsuche zu gehen, wusste aber, dass sie ihren Lebenslauf so schnell wie möglich verschicken musste.
»Großmama«, sagte sie, als Lorraine auf dem Weg ins Fernsehzimmer durchs Esszimmer kam. »Wie ist das WLAN-Passwort hier?«
»Oh.« Lorraine runzelte die Stirn. »Das hat Grayson eingerichtet. Warte mal … Es ist was ganz Einfaches, was einem sofort einfällt.«
»Die Adresse hier«, rief Winnie, die mit dem Staubsauger ins Zimmer kam. »Felicity38.«
»Genau!« Lorraines Gesicht leuchtete auf. »Es ist so lange her, als sie das eingerichtet hat, das habe ich vergessen. Ist es zu neugierig, wenn ich frage, woran du arbeitest?«
»Nein, natürlich nicht. Ich dachte, ich verschicke mal ein paar E-Mails an meine Branchenkontakte. Ein ehemaliger Chefredakteur von mir ist jetzt beim Miami Herald, ein anderer ist in L.A. Und ein ehemaliger Kommilitone vom College ist jetzt Büroleiter von Reuters, in London.«
»London!« Ihre Großmutter schien bestürzt. »Du hast doch nicht vor, das Land zu verlassen, oder? Oder eine Stelle drüben an der Westküste anzunehmen?«
»Warum nicht?«
»Das ist zu weit weg«, sagte Lorraine. »Ich meine, Washington ist eine Sache. Winnie und ich hatten uns schon darauf gefreut, dich da zu besuchen, wenn du dich ein bisschen eingelebt hättest. Seit Jimmy Carters Amtseinführung war ich nicht mehr in Washington.«
»Ich nehme jedes Stellenangebot ernst«, erwiderte Conley. »So lange das Gehalt stimmt.«
»Warum bleibst du nicht hier und arbeitest beim Beacon?«
Conley lachte. Als sie merkte, dass ihre Großmutter es ernst meinte, hörte sie auf. »Das soll ein Witz sein, oder?«
»Nein, überhaupt nicht. Der Beacon ist ein Familienunternehmen, war er immer schon. Aber die Zeitung ist noch mehr. Sie ist dein Erbe, Sarah Conley. Ich weiß, dass du immer sehr ehrgeizig warst, und du hast schon unglaublich viel geschafft, zuerst drüben in Greenville, dann in Charlotte und jetzt bei der Zeitung in Atlanta. Du hast dich doch mehr als bewiesen. Warum kommst du nicht mit all deiner Erfahrung zu uns und setzt sie hier ein, wo du wirklich etwas ändern könntest?«
Conley schluckte und überlegte, wie sie am besten die ganzen Einwände in Worte fassen könnte, die ihr gleichzeitig durch den Kopf gingen.
»Großmama, so einfach ist das nicht. Ich brauche einen Job. Eine richtige Stelle mit richtigem Gehalt. Es ist lieb von dir, dass ich beim Beacon arbeiten soll, aber das würde für mich enorme Gehaltseinbußen bedeuten. Und ich muss meine Rechnungen bezahlen.«
»Das ist mir klar«, sagte Lorraine leise. »Aber vergiss nicht, wie viel weniger es kostet, hier in Silver Bay zu wohnen. Und wie viel schöner es ist. Du müsstest ja gar nicht bei mir im Haus leben. Du könntest dir selbst was Günstiges suchen. Oder drüben im Strandhaus wohnen. Den Strand hast du immer schon geliebt. Auch wenn deine Schwester das anders sieht, sind fünfzehn Meilen nicht das Ende der Welt.«
»Nein«, gab Conley zurück. »Selbst wenn ich hierbleiben und beim Beacon arbeiten wollte, was ich nicht will, spricht ein einfacher Grund dagegen.«
»Nämlich?«
»Grayson ist beim Beacon Herausgeberin und Chefin vom Dienst. Ich habe sie wirklich lieb und hege den leisen Verdacht, dass sie mich auch mag, wenigstens ein bisschen, aber ich garantiere dir, dass sie nicht meine Vorgesetzte sein will.«
Lorraine betastete ihre sorgfältig frisierten Haare und lächelte. Sie war immer noch eine auffallend schöne Frau. Ihr welliges silbergraues Haar hatte einen schlichten, schmeichelhaften Schnitt. Wie immer hatte sie ihren Dior-Lippenstift aufgelegt, ihre Körperhaltung war tadellos. Eigentlich sah sie fast noch genauso aus wie auf dem prachtvollen Porträt, das zusammen mit vielen anderen im Treppenhaus hing. Conleys Großvater hatte es anlässlich von Lorraines Einführung in die Gesellschaft von Mobile in Auftrag gegeben.
»Grayson ist die Herausgeberin, das stimmt. Aber wie ich gestern Abend schon erwähnt habe, besitze ich die Aktienmehrheit und bin immer noch Vorstandsvorsitzende von Beacon Enterprises. Deswegen kann ich dir versichern, Sarah: Wenn du hierbleiben und für meine Zeitung arbeiten willst, dann sorge ich dafür.«
Sie schnippte mit ihren langen schmalen Fingern. »Das geht rapp-zapp.«
Hi, Sloane! Ich hoffe, bei dir und Michele ist alles gut. Vielleicht hast du es ja gehört: Intelligentsia hat gestern dichtgemacht. Das heißt, ich bin offiziell arbeitslos, ohne dass ich den Job überhaupt angetreten habe. Ich weiß, dass es nirgends besonders rosig aussieht, aber wenn ihr bei der Trib zufällig eine kampferprobte, hartnäckige Investigativjournalistin brauchen könnt, bin ich genau die Richtige. Ein Umzug ist natürlich kein Problem. Meinen aktuellen Lebenslauf hänge ich an. Wäre schön, bei Gelegenheit mal wieder zu sprechen, auch über Berufliches. Beste Grüße, Conley
Sie tippte verschiedene Variationen dieses Briefs und schickte sie raus, an Sloane bei der Chicago Tribune, an Epstein bei der Los Angeles Times, an Martin bei der Dallas Morning News und an Trudy vom Seattle Post-Intelligencer, und machte hinter jeden Stichpunkt auf ihrer Liste von Möglichkeiten einen Haken.
Ganz unten stand die New York Times. Conley verfasste eine weitere E-Mail, überarbeitete sie einmal, zweimal, vergeblich nach dem richtigen Ton suchend. Der Grund dafür war nicht, dass ihr Arbeitsproben oder das Ansehen für eine Stelle bei der Times gefehlt hätten.
Das Problem war ihre Kontaktperson dort, Pete Kazmaryk. Zwei Jahre hatte sie mit ihm beim AJC zusammengearbeitet, ein knappes Jahr war sie mit ihm zusammen gewesen, als er einen Job von der Times angeboten bekam. Pete wollte, dass Conley mit ihm nach New York ging. Er war der Ansicht, sie könne sich auch bei der Times oder bei einem der anderen halben Dutzend Medienhäuser in New York bewerben. Aber das Timing war mies. Conley recherchierte gerade über ein korruptes Mitglied des Stadtrats von Atlanta und wollte ihr Projekt bis zum Ende durchziehen. Pete hatte ihr vorgeworfen, die Arbeit wichtiger zu nehmen als die Beziehung.
Als sie Pete darauf hinwies, dass er genau dasselbe tat, war er wütend und aggressiv geworden. Schließlich war Pete nach Brooklyn gezogen, der Stadtverordnete aus Atlanta wurde angeklagt, vor Gericht gestellt und wegen Bestechung, Postbetrugs und Unterschlagung verurteilt, und Conley war in die Endauswahl für den Pulitzer-Preis gekommen.
Letzten Endes hatte Conley einen Mann verloren, der ihr wichtig war, und jemand anders – ausgerechnet ein Reporter aus Wyoming – hatte den Preis für eine Reportageserie über Ungleichheit im Bildungswesen bekommen.
Nach dem dritten erfolglosen Versuch, eine lockere Mitteilung an ihren ehemaligen Lover zu verfassen, klappte Conley ihren Laptop zu und ging in die Küche.
Winnie saß in der Essecke, ihr Kuli schwebte über dem Kreuzworträtselheft. Das Radio lief, der Moderator berichtete mit aufgeregt hoher Stimme über einen entgleisten Zug in Varnedoe, einer Stadt in Bronson County, dem Nachbarbezirk von Griffin.
»Ein Krankenwagen ist vor Ort, und die Polizei hat den Unfallort abgesperrt, weil einer der Waggons Chemikalien enthielt«, verkündete der Sprecher aufgeregt. »Bleiben Sie dran, WSVR hält Sie auf dem Laufenden! Bei uns gibt es die aktuellsten Nachrichten!«
»Wer ist das?« Conley schenkte sich einen Becher Kaffee ein und wies auf das Radio.
»Buddy Bright«, erwiderte Winnie. »Kennst du den nicht mehr? Der ist doch schon ewig bei dem Sender.«
Conley zuckte mit den Schultern und sah sich in der Küche um. »Wo ist Großmama?«
»Im Garten.«
Lorraine stand auf einer rechteckigen Fläche aus dunkelgrünem Gras, in der linken Hand einen Schlauch, den sie auf das lange Blumenbeet vor der Garagenwand richtete. Mit der rechten stützte sie sich schwer auf einen Gehstock. Das Beet erblühte in einem impressionistischen Tumult von bunten Farben. Conley kannte nur die Namen einiger Blumen: Zinnien, Malven, Bellis und die dunkelblauen Gartenhortensien, die Lieblingsblumen ihrer Großmutter.
Opie, der Jack-Russell-Terrier von Großmama, kauerte neben ihr im Gras. Als Conley näherkam, hob er seine ergraute Schnauze und schnüffelte hoffnungsvoll, doch als keine Leckerlis auftauchten, schniefte er, zuckte mit dem Ohr und nahm wieder seine vorherige Pose ein.
»Das sieht wirklich toll aus, Großmama«, sagte Conley, als sie durch den abgezäunten Garten ging. »Wie machst du das nur? Bei mir überlebt nicht mal ein Kaktus.«
Lorraines Gesicht wurde von einem schlaffen, breitkrempigen Strohhut überschattet. »Die anstrengende Arbeit macht Joe.« Das war der Gärtner. Lorraine schüttelte den Kopf. »Ich dachte wirklich, wir wären zu dieser Zeit längst im Strandhaus. Deshalb habe ich dieses Frühjahr noch nicht viel gepflanzt.«
»Was willst du denn noch pflanzen?«, fragte Conley belustigt. »Hier gibt es doch keinen Quadratmeter, der nicht blüht.«
Verständnislos schüttelte ihre Großmutter den Kopf. »Nicht hier. In The Dunes. Ich muss die Tomaten und Paprika da noch diese Woche in die Erde setzen, sonst wird es zu heiß.« Sie wies zur gepflasterten Terrasse im Schatten einer ausladenden Lebenseiche hinüber, wo viele Plastiktöpfe mit rund dreißig Zentimeter hohen Pflanzen warteten. »Ich kann deiner dickköpfigen Schwester einfach nicht klarmachen, warum mir das so wichtig ist.«
Conley fasste einen schnellen Entschluss. »Komm!«, sagte sie und nahm ihrer Großmutter den Gartenschlauch ab. »Die Tomaten müssen umgepflanzt werden. Ich kann’s auch nicht erwarten, am Strand zu sein. So viel Aufwand ist das doch nicht. Geh mal nach oben und pack ein, was du mitnehmen willst. Winnie kann nach Hause gehen und ihre Sachen holen, und wenn wir uns beeilen, können wir um zwei Uhr im Auto sitzen. Was meinst du?«
»Vielleicht warten wir besser bis morgen.« Lorraine legte den Kopf in den Nacken und schaute in den Himmel. »In den Nachrichten hieß es, heute Nachmittag könnte ein starkes Gewitter durchziehen.«
»Ein bisschen Regen stört doch nicht«, entgegnete Conley, doch ihre Großmutter blickte besorgt drein. »Es sei denn, du bist wirklich noch nicht so weit, an den Strand zu ziehen. Also, das liegt ganz an dir.«
»Nein, nein, das ist es nicht. Ich scharre schon seit Wochen mit den Hufen, weil ich loswill. Da kannst du Winnie fragen. Es ist nur, weil Grayson so lieb zu mir war. Sie macht sich solche Sorgen um mich. Ich möchte nicht, dass sie meint, ich wäre undankbar oder so.«
Conley musste ihre Ungeduld zügeln. Sie war noch keine vierundzwanzig Stunden in ihrer alten Heimat und bekam jetzt schon Platzangst. »Ist doch egal, dann warten wir eben noch einen Tag. Aber du kannst trotzdem schon mal mit dem Packen anfangen. Dann könnten wir morgens losfahren. Was meinst du?«
»Das ist eine gute Idee.« Lorraine wirkte erleichtert. »Ich gehe rein und mache Winnie mal Feuer unterm Hintern. Sie kann ja so schwerfällig sein. Ich sage ihr, dass wir um neun Uhr morgens aufbrechen und sie dann fertig sein muss, sonst fahren wir ohne sie los.«
»O Gott, nein!« Conley tat entsetzt. »Wenn wir sie zurücklassen, wer kocht uns dann das Essen?«
Lorraine lachte und betastete die Perlenkette, ohne die sie nie zu sehen war. »Du hast absolut recht.« Sie beugte sich vor und gab ihrer Enkelin einen Kuss auf die Wange. »Du kannst deiner Schwester von unserem Plan berichten.«
Conley ging zurück in das provisorische Büro, das sie sich im Esszimmer eingerichtet hatte. Eine weitere halbe Stunde beschäftigte sie sich mit ihren Bewerbungsschreiben, aber sie wurden nicht besser. Auf verschiedenen Journalistenseiten im Internet suchte sie nach Stellenangeboten, doch die Aussichten waren deprimierend, die Wahrheit noch viel mehr.
Sie war eine preisgekrönte Reporterin auf dem Höhepunkt ihres Schaffens, doch ihre Branche war auf dem absteigenden Ast. Erfahrung, Hartnäckigkeit, Talent und Belastbarkeit schienen nicht mehr gefragt zu sein.
»So ein Mist«, murmelte Conley und klappte den Laptop zu.
Ihr war langweilig, denn Untätigkeit und Trägheit waren ihr fremd.
Auf der Suche nach einer Beschäftigung ging sie in die Küche. Winnie saß am Tisch, auf dem der Beacon der Vorwoche ausgebreitet war. Auf der Zeitung türmte sich eine beeindruckende Masse von Essbesteck in Sterlingsilber.
»Geben wir eine Party, von der ich noch nichts weiß?« Conley nahm einen Teelöffel in die Hand, um ihr Spiegelbild in der glänzenden silbernen Rundung zu prüfen.
»Nee.« Winnie sah hoch. »Deine Großmutter hat gesagt, wir wollen morgen früh rüber ins Strandhaus.«
»Stimmt.«
»Das heißt, dass ich das Silber noch polieren muss, bevor ich nach Hause gehe.«
»Warum?«
Die ältere Frau zuckte mit den Schultern. »Weil wir das immer so machen. Wenn Lorraine auf eine längere Reise geht oder raus an den Strand zieht, machen wir das ganze Haus fertig. Morgen kommt Joe und putzt alle Fenster. Ich habe schon den Backofen gesäubert und den Kühlschrank ausgeräumt.«
Winnie nahm einen Gegenstand mit einem langen Griff und einem flachen, seltsam geformten, durchlöcherten dreieckigen Löffel in die Hand, rieb mit ihrem Tuch über einen unsichtbaren angelaufenen Fleck und legte das Ding beiseite.
»Was ist das denn?«
»Ein Tomatenlöffel«, erklärte Winnie.
»Ich verstehe ja, warum du den Kühlschrank leer räumst, aber warum polierst du Silber, das niemand in der Zwischenzeit benutzt?« Conley griff zum nächsten Gegenstand. »Und was ist das?«
»Eine Spargelzange.« Winnie nahm sie ihr ab, inspizierte sie und nickte zufrieden.
»Über den Grund haben wir noch nie gesprochen«, gab die Haushälterin zu. »Aber deine Großmutter wird auch nicht jünger. Es darf zwar niemand wissen, wie alt sie ist, aber ich glaube, sie lässt alles putzen, weil sie jedes Mal denkt: ›Vielleicht ist es das letzte Mal. Wenn ich zurückkomme, liege ich vielleicht im Sarg.‹ Deshalb will sie alles ordentlich und sauber haben. Für den Fall, dass ihre nächste Party ihr eigener Leichenschmaus ist.«
»Apropos Party«, sagte Conley und hielt eine Seite aus dem Beacon hoch. »Rowena Meigs? Wir bringen doch wirklich nicht immer noch diese alberne Kolumne von ihr, oder?«
Winnie warf einen kurzen Blick auf die Zeitung. »Ich les das nie, aber deine Großmutter sagt, viele Menschen würden den Beacon nur kaufen, weil sie ›Hallo, Sommer!‹ lesen wollen.«
»Hör dir das mal an!« Conley begann, mit übertriebenem Südstaatenakzent vorzulesen.
Letzten Samstag läuteten die Hochzeitsglocken der Methodistenkirche von Silver Bay für Miss Katherine Ann Cruikshank und Mr. Frederick Mark Eppington Jr. Die beiden schlossen vor einer Vielzahl von Honoratioren der Gemeinde den Bund fürs Leben. Katherine, allen bekannt als Kitsy, ist die Tochter von Tinkie und Raymond Cruikshank. Ray Cruikshank ist Inhaber des IGA von Silver Bay, Tinkie eine gefürchtete Gegnerin beim Bridge. Die Braut strahlte in einem schulterfreien Kleid aus zartrosa Duchesse-Satin mit einem von ihr selbst entworfenen handbestickten Perlenoberteil.
»Was zum Teufel ist Duchesse-Satin?«, unterbrach Conley sich selbst.
»Keine Ahnung, aber klingt edel«, sagte Winnie.
Conley las weiter:
Sie trug einen Schleier aus Alençon-Spitze, befestigt an einer perlen- und strassbesetzten Tiara, ein Familienerbstück, das noch von ihrer Urgroßmutter stammt. Der Brautstrauß bestand aus edelsten Freesien, weißen Orchideen, weißen Sweetheart-Rosen und Schleierkraut. Katherine wurde von einer Schar wunderschöner junger Frauen in aparten Etuikleidern aus Satin mit rosa Farbverlauf begleitet. Rick, der Sohn von Dr. und Mrs. Frederick M. Eppington aus Bonita Springs, trug einen schwarzen Smoking von Hugo Boss, seine Trauzeugen ebenfalls. Der Ballsaal des Country Clubs von Silver Bay war mit wunderschönen Girlanden aus kleinen weißen Lichterketten, Farn und unzähligen weißen Prinzess-Rosen geschmückt. Die Gäste genossen Rinderschmorbraten aus Roastbeef, Crab Imperial und – eine ganz neue Erfindung – eine Bar, an der Martini mit Kartoffelpüree serviert wurde. Die Hochzeitstorte war eine maßstabsgetreue Nachbildung von White Columns, der Vorkriegsvilla von Kitsys Großeltern mütterlicherseits in Thomasville, Georgia.
»Du lieber Himmel! Eine Bar, an der es Kartoffelpüree mit Martini gibt, und eine Hochzeitstorte, die wie das Haus von Scarlett O’Hara aussieht!« Conley konnte sich vor Lachen kaum halten. »Aber warte, das Beste kommt noch!«
Jung und Alt machten die Nacht zum Tage, begleitet von den Klängen von Mickey Mannington und den Moderntones. Kitsy und Rick werden ihre Flitterwochen auf Aruba verbringen und dann in ihre Wohnung in Panama City zurückkehren, wo sie beide auf der Minigolfanlage Pirate’s Alley arbeiten.
»Die Moderntones!«, kicherte Conley. »Ich meine, die hätten auch bei unserem Abschlussball an der Junior High gespielt.«
»Ich glaube nicht, dass Rowenas Kolumne lustig gemeint ist«, sagte Winnie.
»Das macht das Ganze ja noch tragischer – dass wir sie immer noch drucken!« Conley knüllte die Zeitungsseite zusammen und warf sie in den Müll.
Sie nahm einen großen Servierlöffel von dem Stapel Silberbesteck, um die kunstvollen Ranken und Arabesken um das eingravierte Monogramm zu bewundern. »Wie lange arbeitest du hier schon, Winnie?«
»Hm, mal überlegen. Ich glaube, du warst ungefähr zwei Jahre alt, und Grayson muss vier gewesen sein. Wie viele Jahre sind das?«
»Ich bin jetzt vierunddreißig, Grayson ist sechsunddreißig. Das heißt, du bist zweiunddreißig Jahre hier. Und was meinst du, wie alt war Großmama damals?«
»Keine Ahnung«, sagte Winnie. »Auf jeden Fall älter als ich, und ich werde im September vierundsiebzig. Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, sie ist Mitte achtzig. Und immer noch fit im Oberstübchen.«
»Du kanntest meine Mutter, oder? Von früher?«
Winnie rückte befangen auf ihrem Stuhl herum. »Wir waren nicht befreundet, falls du das meinst. Meine Familie … wir hatten wirklich gar nichts. Ich bin auf der falschen Seite der Gleise drüben in Plattesville aufgewachsen, und tja, Melinda halt hier.«
»War sie immer schon verrückt, oder kam das erst später?«
»Dein Großvater sagte immer, sie wäre ›ein Freigeist‹.«
»Tja, hört sich besser an als ›durchgeknallt.‹ Typisch Südstaaten.«
»Ich bin keine Psychologin«, sagte Winnie, »aber sie war immer schon anders. Echt komisch! Man wusste nie, wie sie reagiert. Ich glaube, du hast deinen Humor von ihr. Und es war natürlich kein Nachteil, dass sie sehr gut aussah. Mit den hellgrünen Augen und den dunklen Haaren, so wie Grayson. Die Leute sagten immer, sie sähe aus wie die junge Natalie Wood. Das war wahrscheinlich der Grund, warum sich euer Vater in sie verliebt hat und so lange mit ihr verheiratet war, obwohl sie sich so aufführte.«
»Aufführte«, wiederholte Conley verbittert. »Noch ein hübscher Südstaaten-Euphemismus für ›eine leidenschaftliche Affäre mit einem Typen aus der Autowerkstatt haben‹. Oder für ›die Kinder bei den Eltern absetzen, um zu einem Yogawochenende zu fahren, und sie dann die nächsten sechs Jahre zu vergessen‹.«
Winnie legte das polierte Silber in eine Plastikschüssel und stellte sie in die mit Seifenwasser gefüllte Spüle. Sie wischte sich die Hände am Geschirrtuch ab und drehte sich wieder zu Conley um.
»Hörst du manchmal von deiner Mutter?«
»Schon sehr, sehr lange nicht mehr. Beim letzten Mal wohnte sie irgendwo im Westen. In Oregon? Sie hatte einen Artikel von mir gelesen, den ich für den Charlotte Observer geschrieben hatte und der über Associated Press verbreitet wurde. Er stand bei ihr in der Zeitung, und sie schickte mir eine Postkarte an die Adresse des Observer. Eine Postkarte! Unglaublich, oder?«
»Sie hat deiner Großmutter so oft das Herz gebrochen. Es ist ein Wunder, dass es noch schlägt«, sagte Winnie traurig. »Und Lorraine glaubt immer noch, dass Melinda eines Tages zurückkommen könnte.«
Winnie deutete auf das schwarze Telefon mit der Wählscheibe, das an der Wand neben der Speisekammer hing, so lange Conley sich erinnern konnte. »Jedes Mal, wenn es klingelt, springt sie auf, weil sie hofft, dass es deine Mutter ist«, erklärte sie. »Dabei rufen übers Festnetz nur noch Betrüger und Abzocker an, die Anteile an Ferienwohnungen in Mexiko verkaufen wollen. Aber erzähl das mal Lorraine.«
Conley nickte. »Kann ich mir vorstellen.«
Sie selbst hatte das Gespräch auf ihre Mutter gebracht, doch auf einmal ertrug sie es keine Minute länger, in der Küche in der Nähe des Telefons und dem gebrochenen Herzen ihrer Großmutter zu sein. Conley sah sich um und entdeckte Opie, der in seinem Körbchen neben dem Entlüftungsventil der Klimaanlage lag und schlief.
Seine Leine hing an einem Haken neben der Hintertür. »Komm, Opie!«, rief Conley und kniete sich vor den Hund. »Wir gehen spazieren.«
Opie öffnete ein blutunterlaufenes Auge, schnüffelte und schlummerte weiter.
»Spazieren?«, höhnte Winnie. »Das Einzige, was diese verwöhnte Töle will, sind Leckerlis und Schlaf.«
»Der bekommt viel zu viel zu fressen.« Conley bohrte ihren Finger in die moppelige Flanke des Tiers. »Jack Russell sollen nicht wie dicke Würste aussehen.« Sie hakte die Leine an sein Halsband und zupfte vorsichtig daran. »Komm, mein Junge, wir gehen!«
Der Hund rappelte sich auf und sah sie erwartungsvoll an. Conley zupfte wieder an der Leine, und er setzte sich auf die Hinterbeine.
»Ohne Leckerli tut der keinen Schritt«, erklärte Winnie. Sie ging zu der Donald-Duck-Keksdose auf der Anrichte, griff hinein und holte einen Hundekeks heraus, den sie Conley reichte. »Zuckerbrot und Peitsche«, sagte sie und nickte in Richtung Opie. »Halt ihm den Keks vor die Nase und geh los. Das funktioniert bei alten Männern, Maultieren und Hunden.«
Conley legte mit gleichmäßigen, langen Schritten los, doch sie hatte noch nicht die nächste Nebenstraße erreicht, als Opie streikte. Er ließ sich, alle viere von sich gestreckt, auf den Bauch fallen.
»Komm, alter Junge!« Sie riss an der Leine, woraufhin er den Kopf auf den Bürgersteig legte.
Wieder zerrte Conley an der Leine. »Los, Opie! Weiter geht’s!«
Weil ihr nichts Besseres einfiel, hielt sie ihm das Leckerli unter die Nase. Er sah hoch, ein Anflug von Interesse in den dunklen Augen. Conley wedelte mit dem Keks vor seiner Schnauze herum.
»Zuckerbrot und Peitsche, mein Junge«, sagte sie, als er sich aufrappelte. »Zuckerbrot und Peitsche.«
Irgendwann schlossen sie einen Kompromiss. Opie erklärte sich einverstanden, sich in einem quälend langsamen Tempo fortzubewegen, und Conley ließ sich breitschlagen, sein Fortkommen hin und wieder mit einem kleinen Snack zu belohnen.
Ungeduldig ruckelte sie an der Leine, während der alte Hund hinter ihr herzockelte. Conley war ihr Leben lang immer in Bewegung gewesen, ständig kurz vorm nächsten Abgabetermin, dem nächsten Job, der nächsten Beziehung. Sie war es nicht gewöhnt, sich im Schritttempo zu bewegen.
Es war noch nicht mal Mittag, doch die drückende Hitze und die Schwüle von Florida legten sich wie ein stickiger Mantel um ihre Schultern.
Die Gummisohlen ihrer Laufschuhe trafen auf den heißen Asphalt. Das langsame Tempo zwang Conley, die Straße, in der sie den Großteil ihrer Kindheit verbracht hatte, genauer zu betrachten.
Woodlawn war immer schon eine wohlhabende Gegend gewesen, die ihrem grünen Namen mit den Lebenseichen und Kräuselmyrten an den Straßen vollkommen gerecht wurde. Die saftigen Rasenflächen, die Hecken aus blühendem Hibiskus und die hübschen rosafarbenen und weißen Oleander verstärkten den Eindruck. In der Luft lag der Duft des Falschen Jasmins, der an Backsteinmauern emporkletterte und seine Ranken um schmiedeeiserne Säulen und Verzierungen wickelte.
Zwei Blocks hinter dem Haus von Conleys Großmutter arbeitete der Rasensprenger im Vorgarten des schönen zweistöckigen Kolonialhauses, das früher den Snyders gehört hatte. Kristin Snyder war bis zum Beginn des achten Schuljahrs Conleys beste Freundin gewesen. Dann wurde sie auf dasselbe Internat in Virginia gesteckt, das schon ihre Großmutter und ihre Mutter besucht hatten.
Wer da jetzt wohl wohnt, fragte sich Conley und schob Opie mit dem Fuß an, damit er sich wieder in Bewegung setzte.
Ihr Spaziergang entfernte sie immer weiter von Zuhause und brachte sie dem Ortskern näher. Die baumüberschatteten Straßenzüge von Woodlawn wichen allmählich einer etwas schlichteren Bebauung aus einstöckigen Betonblockhäusern auf kleineren Grundstücken. Da es hier kein schattenspendendes Blätterdach gab, spürte Conley die Hitze des Asphalts sogar durch ihre Schuhe.
Sie lotste Opie von der Straße auf den grasbewachsenen Rand, wo er stehen blieb und sich gründlich Zeit nahm, um an einen Telefonmast zu pieseln. Währenddessen grummelte tiefer Donner, und in der Ferne baute sich ein Turm aus dunklen Wolken auf. Dicke warme Regentropfen fielen auf Conleys nackte Schulter, Dampf stieg vom sonnenerhitzten Asphalt auf.
Sollte sie nach Hause laufen? Oder weitergehen? Opie sah erwartungsvoll zu ihr hoch. Conley stellte fest, dass sie nur noch eine Querstraße vom Verlagsgebäude des Beacon