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Ein Roman wie ein Sommerfrühstück am Strand: die perfekte Urlaubslektüre zum Wegträumen von Bestseller-Autorin Mary Kay Andrews Wenn das kleine Cottage ihrer Großeltern nicht wäre, würde Drue Campbell den neuen Job in der Anwaltskanzlei ihres Vaters nicht aushalten. Überhaupt fühlt sie sich in ihrem Leben gerade etwas verloren. Das Strandhäuschen mit seinem alten Charme und den vielen schönen Erinnerungen gibt ihr Halt. Dann stößt Drue auf finanzielle Unregelmäßigkeiten bei einem Fall, den die Kanzlei betreut hat, und sie macht sich daran, die Wahrheit herausfinden. Viel Zeit für die Liebe bleibt ihr bei all der Aufregung nicht. Aber auch wer nicht sucht, der findet. Noch mehr glückliche Lesestunden mit Mary Kay Andrews: ›Die Sommerfrauen‹, ›Sommerprickeln‹, ›Weihnachtsglitzern‹, ›Sommer im Herzen‹, ›Winterfunkeln‹, ›Liebe kann alles‹, ›Ein Ja im Sommer‹, ›Mit Liebe gewürzt‹, ›Kein Sommer ohne Liebe‹, ›Auf Liebe gebaut‹, ›Zurück auf Liebe‹, ›Sommernachtsträume‹, ›Zweimal Herzschlag, einmal Liebe‹, ›Liebe und andere Notlügen‹, ›Der geheime Schwimmclub‹, ›Sommerglück zum Frühstück‹
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Seitenzahl: 638
Mary Kay Andrews
Sommerglück zum Frühstück
Roman
Roman
Aus dem amerikanischen Englisch von Andrea Fischer
FISCHER E-Books
Zum zehnten Jahrestag einer großartigen Zusammenarbeit widme ich dieses Buch voller Dankbarkeit und Zuneigung Meghan Walker, die mich beharrlich bei meinem bösen Plan unterstützt, die Weltherrschaft an mich zu reißen.
Sunset Beach, April 2018
Drue drehte den Schlüssel in der Zündung. Der Motor ihres weißen Ford Bronco stieß ein mutloses Husten aus, dann herrschte Stille.
»Komm, OJ!«, murmelte Drue und versuchte es erneut. Diesmal drehte sich der Anlasser. Drue drückte aufs Gaspedal, der Motor brüllte auf.
»Braves Auto!« Aufmunternd klopfte sie auf das verblichene Armaturenbrett, schaltete in den Rückwärtsgang und nahm vorsichtig den Fuß vom Gas. Der Motor gab ein ersticktes Röcheln von sich und erstarb wieder. Alle Symbole blinkten rot.
Drue probierte es abermals, doch auch der dritte Versuch war erfolglos. Kurz hörte sie den Motor, dann erschauderte die betagte Karosserie des Bronco und gab auf.
»Neiiiiiin«, stöhnte Drue.
Sie warf einen Blick auf die Uhr. In fünfzehn Minuten musste sie an ihrem Arbeitsplatz sein. »Das kann ich vergessen«, murmelte sie.
Als das Leben noch gut gewesen war, vor nicht allzu langer Zeit in Fort Lauderdale, hätte sie ein Taxi bestellt oder eine Freundin gebeten, sie zu bringen, wenn ihr alter 95er Bronco, den sie über eine Kleinanzeige im Internet gekauft hatte, wieder mal Zicken machte. Doch seit Drue an die Westküste Floridas zurückgezogen war, hatte sie noch keine Zeit gehabt, Freundschaften zu schließen, und sie besaß auch keine gedeckte Kreditkarte mehr, um ein Uber zu bestellen, genauer gesagt, hatte sie nirgends mehr Kredit.
Schwach konnte sie sich daran erinnern, auf dem nahegelegenen Gulf Boulevard Stadtbusse gesehen zu haben. Drue holte ihr Handy aus dem Rucksack, rief die Website der Verkehrsbetriebe auf und studierte den Fahrplan. Mit ein wenig Glück könnte sie den nächsten Bus erwischen, der sie innerhalb einer halben Stunde zum Büro von Campbell, Coxe und Kramner ins Zentrum von St. Petersburg brächte. Trotzdem würde sie an ihrem ersten Arbeitstag zu spät kommen.
Drue marschierte los. Es war kurz vor halb neun und erst April, und doch bewegte sich die Temperatur schon auf dreißig Grad zu. Nach zwei Häuserblocks war Drues Baumwolltop durchgeschwitzt. Ihr rechtes Knie pochte.
Verdammt. Sie hätte noch mal zurück zum Motel gehen und die enge Manschette anlegen sollen, die sie vom Orthopäden bekommen hatte. Eigentlich hätte sie das Teil eh tragen sollen, selbst wenn sie nicht fünf Querstraßen weit laufen musste. Aber unter dem verfluchten Ding wurde es immer so warm. Und der elastische Stoff reizte ihre Haut so, dass sie einen Ausschlag bekam, weshalb sie die Manschette lieber liegen ließ.
Vor Schmerzen biss Drue die Zähne aufeinander und lief weiter. Sie erreichte den Gulf Boulevard, jene stark befahrene Nord-Süd-Verbindung, die sich durch die kleinen Küstenorte wand, bis sie am Treasure Island Causeway eine scharfe Rechtskurve machte und ostwärts ins Zentrum von St. Pete führte. Eine Handvoll kichernder Studentinnen kam Drue auf dem Bürgersteig entgegen und machte demonstrativ einen Bogen um sie. Wahrscheinlich waren sie in den Frühjahrsferien – alle trugen Bikinioberteile und superknappe Shorts in knalligen Neonfarben, den Bund bis zum Bauchnabel hinuntergerollt.
Hinter ihr erklang eine zittrige Stimme. »Pass auf, Schätzchen!«
Drue drehte sich um und erblickte einen alten Jogger, dessen nackte magere Brust vor Schweiß glänzte. Mit zwei kleinen Hanteln in den Händen lief er pumpend an ihr vorbei.
Drue kniff die Augen zusammen und entdeckte die überdachte Bushaltestelle einen halben Häuserblock weiter. Gott sei Dank. Wahrscheinlich könnte sie eh nicht viel weiter laufen. Doch den halben Block würde sie noch schaffen. Sie ging schneller und versuchte, den stechenden Schmerz in ihrem Knie zu ignorieren.
Brrrring, brrrring ertönte eine Fahrradklingel, gefolgt von einer schneidenden Frauenstimme: »Achtung!«
Drue stolperte über ihre Flipflops und rettete sich gerade noch rechtzeitig auf den grasbewachsenen Randstreifen, um nicht von einer weißhaarigen Achtzigjährigen mit Wraparound-Sonnenbrille und Sonnenvisier umgefahren zu werden, die auf einem Erwachsenendreirad an ihr vorbeistrampelte.
»He!«, rief Drue ihr nach. »Der Fahrradweg ist da drüben!«
»Bla, bla, bla!«, rief die Frau, drehte sich um und zeigte ihr einen Vogel.
Als Drue sich aufrappelte, sah sie den Bus wie in Zeitlupe näher kommen. Sie verzog das Gesicht vor Schmerz. Zu allem Überfluss las sie die Werbung auf der Seite des Busses: BEI STÜRZEN, FÄLLEN ALLER ART STEHT BRICE SOFORT FÜR SIE PARAT!
Neben dem Spruch prangte ein ein Meter fünfzig hohes Bild in Airbrushtechnik von W. Brice Campbell, der trotzig die Arme verschränkte und das kantige Kinn vorschob. Eine Körperhaltung, die Drue nur zu gut kannte.
Als der Bus auf die Haltestelle zufuhr, wurde er langsamer. Die Druckluftbremsen zischten. »Bleib stehen!«, murmelte Drue. »Halt an!« Sie begann zu laufen, oder besser gesagt, humpelte sie, so schnell sie konnte.
Eine junge Latina stieg aus, drehte sich um und winkte dem Fahrer zu.
»Hey!«, stieß Drue atemlos aus, jetzt vielleicht noch drei Buslängen entfernt. Sie wedelte mit den Armen. »Hey!«
Die Frau sah sie und lächelte zögerlich. »Hey.«
Die Busbremsen zischten, das Fahrzeug setzte sich wieder in Bewegung.
»Er soll anhalten!«, keuchte Drue. »Er soll warten!«
Doch es war zu spät. Der Bus beschleunigte und fuhr weiter. Die Latina stand noch an der Haltestelle. Sie trug eine grau-weiße Uniform, über ihrer linken Brust war ein Name eingestickt: Sonia.
»Tut mir leid«, sagte sie, als Drue angehumpelt kam. »Ist alles in Ordnung?«
Drue klammerte sich an die Rückenlehne einer Bank und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Die Bank war blau-weiß gestrichen, und quer über das Gesicht von Brice Campbell zog sich das Logo von Campbell, Coxe und Kramner. GAB’S ’NEN CRASH? BRICE BRINGT CASH!
»Nein«, brachte Drue hervor und ließ sich auf die Bank sacken. Sofort sprang sie wieder auf und zog einen anderthalb Zentimeter langen Holzsplitter aus ihrer rechten Pobacke. »Nein. Nichts – ist – in – Ordnung.« Sie schaute auf das Siebdruckgesicht von Brice W. Campbell. Ihr neuer Chef. Ihr Vater, mit dem sie seit Ewigkeiten nichts zu tun gehabt hatte und der sie – das hatte sich nicht verändert – im Nullkommanichts auf die Palme brachte.
Eine Stelle in der Anwaltskanzlei ihres Vaters war wirklich das Letzte, was Drue gewollt hatte. Er war ihr schon lange fremd. Aber hatte sie eine Wahl? Ihr Unfall beim Kiten vor drei Monaten und der Tod ihrer Mutter kurz darauf hatten ihr nur klargemacht, dass sie keinen Grund mehr hatte, in Fort Lauderdale zu bleiben.
Am Tag der Beerdigung ihrer Mutter war Drue hilflos gewesen, hatte sich mit Tequila und Ibuprofen betäubt und sich in Selbstmitleid gesuhlt. Als sie den Gedenkgottesdienst verließ, die Bronzeurne mit Sherris Überresten unter dem Arm, hatte sie sich erschrocken, als hinten in der Kirche ein gutgekleideter Geschäftsmann stand, dem sichtlich unwohl zumute war.
Anfangs hatte Drue sogar daran gezweifelt, dass es wirklich ihr Vater war. Sein Haar war grau meliert und länger, es reichte ihm bis zum Kragen seines Hemds, das er offen und ohne Krawatte trug. Er war schlank und gebräunt. In seinem teuren maßgeschneiderten Sakko und den Gucci-Slippern ohne Socken wirkte er völlig fehl am Platz in der Kapelle, die mal ein Fastfood-Restaurant gewesen war.
Zögernd ging Drue auf ihn zu. »Dad?«
»Hi«, sagte er leise und drückte sie befangen an sich.
Sie ließ die Umarmung mit einer, wie sie selbst fand, bewundernswerten Gelassenheit über sich ergehen.
»Was machst du hier?«
Er trat von einem Fuß auf den anderen. »Warum sollte ich nicht hier sein?«
»Ich meine, woher wusstest du es? Dass Mom gestorben ist. Ich habe erst heute eine Anzeige in die Zeitung setzen lassen.«
»Sherri hat sich bei mir gemeldet. Sie hat mir gesagt, dass sie krank ist. Und ich habe das Hospiz gebeten, mir Bescheid zu sagen, wenn … wenn es so weit ist.« Er sah sich in der Kapelle um, die jetzt fast leer war. »Hör mal, können wir zum Reden nicht irgendwo anders hingehen?«
»Zum Beispiel?« Drue wollte ihn noch ein bisschen länger zappeln lassen. Vor zwanzig Jahren hatte er seine verstockte jugendliche Tochter quer durch Florida gekarrt, von St. Pete nach Lauderdale, damit er keinen Krach mit seiner zweiten Frau und ihren unausstehlichen Söhnen bekam. Bis zu Drues achtzehntem Geburtstag hatte er pflichtschuldig Karten und Unterhaltsschecks geschickt, doch seit jenem brütend heißen Sommertag vor langer Zeit hatte Drue ihren Vater nicht mehr gesehen. Sie würde ihm nicht gestatten, hier aufzukreuzen und den trauernden Vater und Exmann zu spielen.
»Ich dachte, wir könnten vielleicht irgendwo essen gehen.« Seine blaugrauen Augen registrierten Drues altmodisches schwarzes Kleid, das einzige entfernt beerdigungstaugliche Kleid in ihrem Besitz, und die zu großen schwarzen Pumps, die sie sich aus dem Schrank ihrer Mutter geliehen hatte.
»Warum?«
Er stieß einen langen, genervten Seufzer aus. »Warum? Weil deine Mutter nicht mehr da ist und ich jetzt dein einzig lebender Verwandter bin. Und weil wir ein paar geschäftliche Angelegenheiten miteinander besprechen müssen. Okay? Könntest du ein bisschen nett zu mir sein und mit mir essen gehen? Oder musst du mir wirklich bis zum Ende meines Lebens in den Hintern treten?«
Drue zuckte mit den Schultern. »Essen gehen ist in Ordnung. Wo willst du hin?«
»Ich hab gehört, auf der Las Olas ist ein Bistro, wo es super Muscheln gibt.«
»Das Taverna.« Es wunderte Drue nicht, dass ihr Vater das edelste, teuerste Restaurant der ganzen Stadt vorschlug.
Draußen, auf dem Parkplatz, richtete Brice seinen Schlüssel auf einen schwarzen Mercedes und drückte darauf. Drue zog die hintere Tür auf.
Ihr Vater stand neben der Fahrertür und sah seine Tochter fragend an. »Willst du hinten sitzen?«
»Nein«, erwiderte Drue. Sie beugte sich vor und legte den Gurt vorsichtig um die Bronzeurne. »Aber Mom.«
Als die Kellnerin ihnen die Getränke brachte, leerte Drue ihre Margarita in einem Schluck bis zur Hälfte.
Brice nippte an seinem Martini und schob das Besteck auf dem Tisch herum.
»Darf ich dich etwas fragen, ohne dass du gleich sauer wirst?«
»Vielleicht.«
Er wies auf ihr rechtes Bein, wo das Knie in einer hässlichen Manschette steckte.
»Was ist passiert?«
»Ein Unfall beim Kiteboarden. Kurz nach Moms Diagnose.«
»Machst du das immer noch? Dann war es wohl doch keine Phase, was?«
Das Kiteboarden war ein großes Streitthema zwischen Drue, Brice und seiner neuen Frau gewesen. Drues Stiefmutter Joan hatte Anstoß an den Kosten von Brett und Kite genommen (obwohl Drue das Geld selbst in einem Surfshop verdient hatte), hatte Drues Kiter-Freunde (ein zugegebenermaßen bunt zusammengewürfelter Haufen) nicht ausstehen können und vor allem ihre Besessenheit von dem Sport abgelehnt – die ihren bereits mittelmäßigen Noten nicht zugutekam.
Drue kaute auf der Innenseite ihrer Wange. »Natürlich war es keine Phase. Wie geht es Joan denn so?«
Brice fischte die Olive aus seinem Glas, schob sie sich in den Mund und lächelte bitter. »Mal überlegen … Sie hat ein Haus am Meer, ein neues Auto und den Anwalt bezahlt bekommen, der Kyler und Kayson vor dem Knast bewahrt hat. Nach dem, was ich als Letztes gehört habe, hat sie einen orthopädischen Chirurgen geheiratet und ist in der gesellschaftlichen Nahrungskette aufgestiegen. Also würde ich sagen, es geht ihr super.«
»Das heißt, ihr habt euch getrennt? Tut mir leid.«
Ihr Vater trank einen Schluck Martini. »Nein, tut es nicht.«
»Stimmt. Sie hat mich nie gemocht, und das beruhte auf Gegenseitigkeit.«
Brice wollte etwas sagen, hielt inne, schüttelte den Kopf und trank lieber noch einen Schluck Martini.
»Du hast gesagt, du wolltest etwas Geschäftliches mit mir besprechen?«, erinnerte Drue ihren Vater.
»Stimmt.« Er griff in die Innentasche seines Sakkos und holte einen Schlüsselring mit einem kitschigen rosafarbenen Plastikflamingo als Anhänger hervor. Zwei Schlüssel baumelten daran. Brice schob sie seiner Tochter über den Tisch zu.
»Was ist das?«
»Das sind die Schlüssel vom Coquina Cottage.«
»Das Haus von Nonni und Papi? Der alte Schuppen am Sunset Beach? Ich dachte, Mom hätte ihn nach Nonnis Tod verkauft.«
»Sie wollte erst, aber dann hat sie das Haus doch behalten. Vielleicht dachte sie, ihr würdet eines Tages zurückziehen und könntet da wohnen. Egal, jetzt gehört es dir.«
Drue nahm den Schlüsselring in die Hand und drehte ihn mehrmals um. »Im Ernst? Echt? Heißt das, Papis Cottage gehört jetzt mir?«
»Genau«, bestätigte Brice. »Aber bevor du dich zu sehr freust, musss ich dich warnen, dass es in einem ziemlich schlechten Zustand ist. Der letzte Mieter war sechs oder sieben Jahre lang drin, und er war eine Art Messie. Seine Miete hat er immer pünktlich bezahlt, hat sich auch nie über irgendwas beschwert, deshalb hab ich’s ein bisschen schleifenlassen. Erst nachdem der Hurrikan letztes Jahr das Dach beschädigt hatte und der alte Kerl ausgezogen war, haben wir gemerkt, wie schlimm es aussieht.«
Ungewollt stiegen Drue Tränen in die Augen. »Mom hat nie ein Wort davon gesagt. Die ganzen Jahre hat sie nur alte Autos gefahren. Wir haben in billigen Wohnungen gelebt. Sie hätte das Haus verkaufen können – es liegt doch direkt am Meer, oder? Ist bestimmt eine Menge wert. Ich kann es nicht fassen, dass sie Papis Haus behalten hat.«
»Du weißt so gut wie ich, dass deine Mutter nicht sentimental war, aber ich glaube, für sie war das Cottage eine Art Vermächtnis für dich. Es war das Einzige in ihrem Leben, was von Wert war. Also, das Haus und ihre Tochter.«
Drue brachte kein Wort heraus. Sie senkte den Blick auf die Schlüssel.
»Was hast du jetzt vor?«, fragte Brice.
»Weiß nicht«, gab sie zu. »Momentan hänge ich ein bisschen in der Luft.«
»Sherri hat erzählt, du würdest in einer Bar kellnern, stimmt das?«
»Ja.«
Die hochgezogenen Augenbrauen sprachen Bände.
»Und es gibt keine … romantischen Gründe, die dich in Fort Lauderdale halten?«
Drue sah ihren Vater finster an. Da Trey, ihr treuloser Freund, nicht zur Beerdigung erschienen war, hatte sie ihn zum Exfreund herabgestuft. »Freust du dich tatsächlich klammheimlich darüber, dass ich sechsunddreißig bin, nur einen Scheißjob habe und sonst nichts?«
Abwehrend hob ihr Vater die Hände. »Ich wollte dir eine Stelle anbieten, aber offenbar fällt das unter Majestätsbeleidung.«
»Eine Stelle? Was für eine?«
»In meiner Kanzlei. Im letzten Jahr haben wir uns im Südosten mit mehreren inhabergeführten Kanzleien für Personenschäden zusammengeschlossen. Das Geschäft zieht gerade richtig an. Eine andere Kanzlei in St. Petersburg hat mir meinen erfahrensten Hotline-Mitarbeiter abgeworben. Ich brauche dringend Leute.«
»Nein, danke«, entgegnete Drue mit Nachdruck. »Ich habe keine Lust, wieder nach St. Pete zu ziehen, und auch null Interesse an Jura.«
»Du meinst, du hast null Interesse, für mich zu arbeiten.«
Ihr Blick traf seinen. »Das auch. Tut mir leid. Ich meine, danke für das Angebot. Und dass du zu Moms Beerdigung gekommen bist. Und mir das mit dem Cottage gesagt hast. Danke. Ehrlich.« Sie schaute auf die Uhr. »Könntest du die Rechnung bestellen? Ich muss heute Abend arbeiten.«
Ihr Vater stieß einen langen Seufzer aus. »Du bist genauso stur wie sie. Sogar noch sturer.«
»Das verstehe ich als Kompliment«, gab Drue zurück.
Seit ihrer Operation war es Drues erster Arbeitstag im Bozo’s am Strand, ausgerechnet an einem Abend, an dem jedes Getränk nur zwei Dollar kostete. Wie das Glück es wollte, traf Drue bei Arbeitsbeginn als Erstes den stellvertretenden Geschäftsführer Rick.
Prick, wie die meisten Angestellten den Chef insgeheim nannten, war der Neffe des Inhabers und gerade mal fünfundzwanzig Jahre alt. Die gesamte Belegschaft des Bozo’s hasste ihn, selbst die jüngsten Aushilfen konnten ihn nicht leiden. Rick war knappe eins sechzig groß und hatte einen seltsam langen, muskulösen Oberkörper, runde Schultern und kurze Beine, so dass er wie ein Orang-Utan in Shorts aussah.
»Hey!« Er nickte Drue zu. »Wieder da?«
»Ja.« Sie strahlte ihn an. »Danke, dass ich eine Schicht übernehmen durfte. Wenn ich nur zu Hause auf der Couch hocke, fällt mir die Decke auf den Kopf.«
Rick musterte Drue stirnrunzelnd vom Scheitel bis zur Sohle, registrierte das enganliegende orangefarbene Tanktop mit dem Clownaufdruck des Bozo’s und ihre verblichene, zerrissene Jeans, die sie statt der verhassten vorgeschriebenen knappen Shorts trug. »Das ist die falsche Arbeitskleidung.«
»Stimmt«, sagte Drue. »Weil ich so eine dicke Manschette ums Knie tragen muss. Die sieht total bescheuert zu den Shorts aus. Ich hab ja das Oberteil an. Hey, das fällt doch keinem auf.«
»Darum geht es nicht«, fuhr Rick sie an. »Das ist unsere Arbeitskleidung, weil ich will, dass alle Mädchen gleich aussehen – nämlich heiß. Deine Jeans ist aber nicht heiß. Die ist assig.« Mit eingezogenem Kopf verschwand er in seinem winzigen Büro und kehrte mit mikroskopisch kleinen weißen Strickshorts zurück, die er Drue zuwarf. »Hier. Zieh dich um, bevor du anfängst.«
Kaitlin, die Oberkellnerin, kam in die Küche. »Schön, dass du wieder da bist!«, sagte sie und klatschte Drue ab. »Und jetzt beweg deinen Arsch nach draußen. Courtney ist wieder in der Reha und Shanelle hat für heute abgesagt, also fehlen uns zwei Mädels, und die Verrückten da draußen scharren schon mit den Hufen.«
Drue folgte Kaitlin aus der Küche und sah sich noch mal kurz zu Rick um. »’Tschuldigung! Die Pflicht ruft.«
Nicht mehr ganz taufrischer Rap tönte aus den Boxen an der Wand. Heute, am Thirsty Thursday, waren die Gäste hemmungslos und unverschämt, wie Kaitlin schon gewarnt hatte. Die große Bar war gut gefüllt, die Lautstärke ohrenbetäubend.
»Was ist los?«, rief Drue Kaitlin ins Ohr.
»Das fragst du noch? Guck dich um!«
Drue schätzte das Durchschnittsalter auf neunzehn Jahre. Beschwipste, sonnenverbrannte Collegeschüler, die in der Sonne von Florida ihren Spaß haben wollten. Drue wusste, was das bedeutete: wenig Trinkgeld und zig Gäste, die Zechprellerei für einen Hochschulsport hielten. »Frühlingsferien? Jetzt schon? Ist doch noch nicht mal Ostern!«
»Die fangen irgendwie jedes Jahr früher an«, bemerkte Kaitlin. »Hey, wie hast du es geschafft, dass du heute nicht so eine Arsch-frisst-Hose anziehen musst? Jedes Mal, wenn ich mit einer normalen Hose zur Arbeit komme, sagt Prick, ich müsste noch mal nach Hause und mich umziehen.«
»Er wollte mir gerade eine andere Hose aufdrängen, da bist du reingekommen und hast mich gerettet«, sagte Drue. »Ich glaube, der kleine Perversling geilt sich an Cameltoes auf.«
»Meinst du?« Kaitlin kniff die Augen zusammen und streckte angewidert die Zunge heraus. »Ach, ja: Wie geht’s deinem Knie?«
»Tut saumäßig weh.«
Kaitlin sah sich um und senkte die Stimme. »Ich hab Schmerztabletten dabei, wenn du willst. Mein Freund hatte eine Zahn-OP, der hat ein paar Tabletten für mich aufgehoben.«
»Würde gern eine nehmen, aber wenn da Codein drin ist, wird mir schlecht. Ich kann nichts Härteres als Ibuprofen nehmen.«
»Du Ärmste«, sagte Kaitlin. »Du bist übrigens an Nummer drei.«
»Verstanden.« Drue ging an ihren Platz. Sie war für sechs Vierer- und vier Sechsertische zuständig.
Die nächsten zwei Stunden vergingen wie im Flug. Drue nahm Bestellungen an, servierte Getränke und wich den grapschenden Händen von Betrunkenen aus. Irgendwann kämpfte sie sich durch die Masse zur Toilette, schloss sich in einer Kabine ein, zog die Jeans runter und löste die Manschette. Ihr Knie war rot und auf die Größe einer Cantaloupe-Melone geschwollen. »Mist«, flüsterte sie.
Mit einem Knall wurde die Tür zur Damentoilette aufgestoßen. »Drue!« Die Stimme von Prick hallte durch den gefliesten Raum. »Komm raus, verdammt noch mal! Deine Tische warten!«
»Kann ich nicht mal in Ruhe pinkeln?«, rief sie und drückte auf die Spülung.
»Du wirst nicht fürs Pissen bezahlt! Raus da und an die Arbeit!«
»Hey!«, rief eine zierliche Blondine im übergroßen Sportshirt einer Studentinnenverbindung und warf Drue eine zerknüllte Papierserviette an den Kopf. »Hey! Werden wir hier vielleicht mal bedient?«
Die feuchte Serviette traf Drue an der Stirn. Sie blieb reglos stehen, während die Blondine und ihre Freunde am Tisch schallend lachten.
»Was möchtet ihr haben?«, fragte Drue.
»Tja, also, ein freundlicherer Ton wäre schon mal schön«, fauchte die Blondine und warf die Haare nach hinten. »Ich meine, du willst doch Trinkgeld bekommen, oder?«
Drue spürte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg. »Was möchtet ihr trinken?«, wiederholte sie.
Die Blondine zeigte auf die ineinandergestapelten leeren Gläser auf dem Tisch. »Also, erst mal zwei davon und …«
»Könnte ich bitte einen Altersnachweis sehen?«, unterbrach Drue sie.
»Was?«
»Einen Ausweis bitte. Zum Beispiel den Führerschein.«
Das Mädchen zog eine Flunsch. »Das soll wohl ein Witz sein, oder?«
»Ganz bestimmt nicht.«
»Herrgott noch mal!«, rief die Blondine. »Ich hab heute keine Handtasche dabei, ja? Deshalb habe ich keinen Ausweis hier.«
»Wie wolltest du denn für deine Getränke bezahlen?«, fragte Drue.
Die Studentin grinste verstohlen und drehte sich zu einem Vertretertypen mit Halbglatze um, der neben ihr saß. Sie legte ihm den Arm um die Schulter. »Keine Sorge! Mein neuer Freund Sammy bezahlt heute Abend. Stimmt’s, Sammy?«
»Stimmt«, bestätigte der Vertretertyp. »Aber, ähm, ich heiße Stanley. Nicht Sammy.« Er warf eine AmEx in Platin auf den Tisch. »Bringen Sie der Lady, was sie haben will.«
»Tut mir leid«, sagte Drue. »Ohne gültigen Ausweis darf ich ihr keinen Alkohol verkaufen.«
Das Mädchen erhob sich so weit vom Stuhl, dass ihr Gesicht nur noch Zentimeter von Drue entfernt war. »Hör mal«, sagte sie plötzlich freundlich. Ihr Atem roch nach Rum und Fruchtsaft. Ihr Gesicht war rot, ihre Augen glasig. »Sei nicht so gemein. Ich will zwei von diesen Drinks mit den Erdbeeren drin, ja? Dann ist Stanley auch großzügig, verstehst du?«
Drue zog den Kopf zurück. »Ich verstehe absolut. Und du musst verstehen, dass ich dir trotzdem keinen Alkohol bringen kann. Wir wissen beide, dass du und deine Freundinnen nicht alt genug seid.«
Das Gesicht des Mädchens verzog sich vor Wut. »Das geht dich einen Scheißdreck an! Bist du Bulle, oder was?« Ihre Stimme wurde immer höher. Köpfe drehten sich um, Blicke verfolgten das Drama an Tisch sechs. »Jetzt bring mir meinen Drink, du blöde Kuh!«
Drue wollte etwas sagen, doch bevor sie den Mund aufmachen konnte, legte sich eine Hand um ihren Oberarm.
Es war Prick. »In mein Büro. Sofort.«
Er wandte sich an die Gäste. »Entschuldigt, das war ein Missverständnis. Ich schicke euch eine Runde aufs Haus.«
Sie schafften es nicht bis ins Büro. Direkt hinter der Küchentür drehte sich Prick zu Drue um. »Was soll der Scheiß?«, rief er. »Du kommst hier heute Abend rein, hast die falschen Sachen an und beschissene Laune, und ich hab ein Auge zugedrückt, weil du mir leidtust. Dann humpelst du wie ein Zombie durch den Laden und versteckst dich den halben Abend auf dem Klo. Du sollst einfach lächeln und Drinks verkaufen, nicht dich mit zahlenden Gästen anlegen.«
»Ich musste pieseln. Ein Mal! Ich war nur fünf Minuten weg. Diese blonde Zicke hat mir eine Serviette an den Kopf geworfen!«, wehrte sich Drue. »Sie hat ›blöde Kuh‹ zu mir gesagt. Und sie ist viel zu jung!«
»Ist mir scheißegal«, sagte Prick und stemmte die Hände in die Hüften. »Du kannst dich ausstempeln. Kannst gehen.«
»Feuerst du mich?«
»Allerdings.«
»Ich gehe«, sagte Drue unterkühlt. »Aber denk nicht mal im Traum daran, meinen Anteil vom Tip heute Abend zu unterschlagen! Bei dem, was heute los ist, sind das mindestens zweihundert. Ich gehe erst, wenn ich meine Kohle habe.«
»Von wegen!«, höhnte Prick.
Drue riss sich die Schürze ab und warf sie ihm ins Gesicht. »Zweihundert Dollar!«, wiederholte sie. »Bar auf die Hand. Bevor ich gehe!« Ohne nachzudenken, zog sie ihr Handy aus der Jeanstasche und hielt es hoch. »Sonst schicke ich dem Ordnungsamt Fotos von den ganzen stockbesoffenen Mädels, die sich hier zulaufen lassen. Dann haben deine Kassen heute Abend zum letzten Mal geklingelt!«
Draußen auf dem Beifahrersitz ihres Bronco strich Drue die zerknüllten Geldscheine glatt. Es waren genau zweihundert Dollar. Sie schloss die Augen und legte den Kopf aufs Lenkrad. Tief aus ihrem Innern stieg ein Schluchzen auf, ein unkontrolliertes, heftiges Weinen. Nach einer gefühlten Ewigkeit setzte sie sich wieder auf, zog das Tanktop des Bozo’s über den Kopf, wischte sich damit die Augen trocken und schnäuzte hinein. Dann warf sie es aus dem Fenster und fuhr im Sport-BH nach Hause. Sie war immer noch angezogener als viele Frauen zu dieser Jahreszeit in Fort Lauderdale.
Als Drue nach Hause kam, saß sie in der fast leeren Wohnung ihrer Mutter lange allein im Dunkeln. Nach ihrer Diagnose hatte Sherri die möblierte Eigentumswohnung verkauft, um ihre Arztrechnungen bezahlen zu können. Die neuen Besitzer, Winterflüchtlinge aus Michigan, hatten Drue und ihrer Mutter erlaubt, bis zum Monatsende zu bleiben, das nun mit großen Schritten näher rückte.
Drue hatte Sherris Habseligkeiten gespendet und ihre eigenen Sachen bereits gepackt, in Erwartung des nun kurzfristig abgeblasenen Umzugs zu Trey. Drue streckte sich auf der Couch aus, nahm drei Ibus und fiel irgendwann in einen unruhigen Schlaf.
Sie glitt über die Wasseroberfläche, die Sonne im Rücken, ihr rot-weiß gestreifter Kite in der Luft über ihr, ihre Stiefel fest auf dem Brett. Als es so weit war, gab sie in den Knien nach und verlagerte das Gewicht nach hinten. Dann schwebte sie, wunderbar. Sie spürte den vertrauten Adrenalinschub, hörte ihr Herz pochen, das Blut in ihren Adern rauschen. Im Flug schaute sie sich um, blickte nach unten, sah die hellblau geschwungene Linie, wo der Ozean auf den zuckerweißen Strand traf, Menschen als kleine Punkte und spielzeuggroße Autos auf dem Parkplatz.
Zeit und Leben standen still, und Drue flog durch die Luft – vorbei an Möwen und Pelikanen, an Flugzeugen und wattigen Wolken. Der Wind war perfekt, der Kite hielt sie oben, so lange wie noch nie zuvor. Sie schloss die Augen, und da passierte es. Irgendetwas – ein Pfeil, ein Blitz, eine Patrone, ein Messer – prallte gegen ihr rechtes Knie.
Drue fiel, trudelte immer weiter nach unten. Sie zog die Füße aus den Stiefeln, spürte, wie das Board abfiel. Hektisch drückte sie auf die Schnelllösevorrichtung am Trapez, immer und immer wieder, die Wasseroberfläche kam bedrohlich näher. Sie hörte, wie ihr Körper mit einem Klatschen auftraf, fühlte den Aufprall in ihrer Brust, in Rücken und Knien. Der noch mit Luft gefüllte Kite zog sie mit dem Gesicht voran durchs Meer, das brennende Salzwasser drang ihr in Augen und Nase, Mund und Lunge. Ihr Körper war hilflos, sie ertrank …
Nach Luft schnappend, wachte Drue auf. Schweißüberströmt klammerte sie sich an ein feuchtes Laken, das sie wieder unter Wasser zu ziehen schien. »Nein, nein, nein!«, wimmerte Drue.
Befreit vom Laken, schob sie sich auf dem Sofa so weit hoch, dass sie mit pochendem Puls und schwer atmend sitzen konnte. Sie tastete auf dem Couchtisch herum, bis sie ihr Handy fand, und drückte auf die Home-Taste. Es war 2.15 Uhr. Mit dem Schlafen war es vorbei. Wenn dieser Traum Drue nachts heimsuchte, was er regelmäßig tat, konnte sie nicht mehr einschlafen.
Steifbeinig ging sie in die Küche, holte die Packung mit den gefrorenen Erbsen aus dem Gefrierschrank und humpelte zur Couch zurück, wo sie das rechte Knie ausstreckte und die provisorische Kühlung darauflegte.
Drue nahm ihr Handy und scrollte durch die Kontaktliste, bis sie die Nummer fand, die ihr Vater unbedingt hatte einspeichern wollen.
»Nein.« Sie schüttelte den Kopf und schob das Handy unters Couchkissen. Zehn Minuten später holte sie es wieder seufzend aus dem Versteck.
Sie tippte eine Nachricht. Hey, Dad! Wegen dieser Stelle …
»Das war eine bescheuerte Idee«, murmelte Drue, als sie auf den grün gestrichenen Bungalow zuging, in dem die Anwaltskanzlei Campbell, Coxe und Kramner ihren Sitz hatte. Noch andere Häuser in dieser ruhigen, von Bäumen gesäumten Straße wurden als Gewerbeimmobilien genutzt. Auf dem Weg von der Bushaltestelle bis zu der Hausnummer, die ihr Vater Drue geschickt hatte, hatte sie eine Zahnarztpraxis, einen Immobilienmakler und drei andere Anwaltskanzleien gesehen.
Das Gespräch mit ihrem Vater am Freitagmorgen war kurz gewesen. »Du hast es dir überlegt!«, hatte Brice festgestellt, als er sie zurückrief. »Ich meine, das freut mich, aber ehrlich gesagt, bin ich überrascht.«
»Ich auch«, erwiderte Drue. »Die Umstände haben sich geändert. Und, wann soll ich anfangen?«
»Je schneller, desto besser«, erwiderte Brice. »Wie gesagt, wir sind unterbesetzt und starten gerade eine neue Werbekampagne. Könntest du direkt Montag hier sein?«
»Warum nicht? Ähm, was ist mit dem Cottage? Ist es in Ordnung, wenn ich da einziehe? Ich meine, du hast ja gesagt, es gehört jetzt mir.«
Er zögerte. »Ja, es ist deins, ohne Vorbehalt, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass du da sofort reinwillst. Ich habe doch gesagt, dass es total heruntergekommen ist. Du kannst so lange bei mir wohnen, bis du das Haus auf Vordermann gebracht hast.«
»Mal sehen«, sagte Drue und dachte: Nie im Leben! »Erzähl mir doch noch was über die Stelle!«
»Gern. Wir setzen dich erst mal an die Hotline. Über dein Gehalt können wir uns einigen, wenn du hier bist, aber ich kann dir versprechen, dass es deutlich mehr ist als das, was du mit dem Kellnern verdienst. Wir müssen schließlich was bieten, um die besten Leute zu bekommen. Und du bist über uns natürlich komplett krankenversichert, Zahnarzt inklusive.«
»Hört sich gut an«, sagte Drue. »Also … dann sehen wir uns Montag. Und, äh … um welche Uhrzeit soll ich da sein?«
»Wir fangen um neun an, aber wollen wir uns nicht schon mal vorab am Wochenende treffen?«
»Nein, danke«, lehnte Drue ab. »Ich weiß nicht, wie lange ich brauche, um hier in Lauderdale alles zu erledigen. Hab noch nicht mal angefangen zu packen.«
»Na gut, wenn du nicht willst.« Brice klang enttäuscht. »Ruf mich an, wenn du da bist, ja?«
»Mach ich.«
Natürlich hatte Drue ihren Vater nicht angerufen. Körperlich und emotional erschöpft von der Aufgabe, ihr altes Leben zurückzulassen, war sie erst kurz vor Mitternacht am Sonntag in St. Petersburg eingetroffen und hatte in einem billigen Motel am Strand eingecheckt, das ihrer Schätzung nach ungefähr einen Häuserblock von ihrem Cottage entfernt war.
Sie hatte vorgehabt, früh aufzustehen, nach ihrem neuen Haus zu schauen und dann zur Arbeit zu gehen. Aber es lief anders als geplant. In Drue Campbells Leben kam das öfter vor.
Sie stand auf dem Gehsteig vor der Anwaltskanzlei und kämpfte gegen den Impuls, direkt wieder kehrtzumachen und davonzulaufen. Vor Angst rumorte ihr Magen. Warum war sie einverstanden gewesen, hierherzuziehen? Sozusagen zurück an den Tatort. Und ausgerechnet für den Mann zu arbeiten, der der Hauptgrund für ihre unglückliche Kindheit war?
Darum, dachte sie. Weil du drüben in Fort Lauderdale nichts mehr hattest. Hier hast du wenigstens ein Haus. Papis Haus, erinnerte sie sich. Und einen Job.
Drue holte tief Luft und drückte die Eingangstür zur Kanzlei auf. An einem großen Empfangstisch saß ein blasser junger Mann mit einer runden Schildpattbrille und rosafarbenen Wangen. Er trug ein lindgrünes Oberhemd und eine schmale violette Krawatte, hatte ein Headset auf dem Kopf und tippte etwas in den Computer. Der junge Mann nickte Drue zu und hob einen Zeigefinger, um ihr zu signalisieren, dass er gleich Zeit für sie hätte. Sie nickte zurück.
Der Empfangsbereich war im Wohnzimmer des ehemaligen Hauses untergebracht. Schwere Perserteppiche lagen auf dem glänzenden Hartholzboden; steife Vorhänge rahmten die großen Fenster zur Straße. Neben einem gemütlichen Kamin standen Bücherschränke mit altmodischen ledergebundenen juristischen Fachzeitschriften hinter Glas. Zwei dunkelblaue Ledersessel rechts und links vom Kamin passten farblich zu einem Ledersofa. Der gerahmte Fotodruck eines Sonnenuntergangs in Florida hing über dem Kaminsims.
»Hi!«, begrüßte der junge Mann Drue. »Kann ich Ihnen helfen?«
»Ich hoffe doch. Ich bin Drue Campbell. Mein Vater erwartet mich.«
»Die Neue!«, quietschte er und klatschte in die Hände. »Gott sei Dank!« Er stand auf und hielt Drue die Hand hin. »Herzlich willkommen! Ich bin Geoff. Mit G, nicht mit J. Freut mich sehr, dich kennenzulernen. Wir duzen uns hier übrigens alle.«
»Aha«, sagte Drue langsam. »Freut mich auch.«
»Hör zu!«, sagte er. »Brice hat gerade einen Termin mit einem Mandanten, aber er hat mich gebeten, dich zu Wendy zu bringen, der Büroleiterin, die übernimmt nämlich die Einweisung von neuen Mitarbeitern.«
Drue folgte Geoff durch eine Tür in einen kurzen Flur, wo er vor einer offenen Bürotür stehen blieb und den Kopf hineinsteckte. »Hi, Wendy! Hier ist unsere neue Mitarbeiterin.« Vorsichtig schob er Drue vor. »Das ist Drue.«
Die Büroleiterin saß an einem modernen Glasschreibtisch. Sie zog eine Lesebrille von Chanel nach unten auf die Nasenspitze und schaute hoch. Ihre blassen Augen musterten Drue mit einem Anflug von Belustigung. Wendy war stark gebräunt und trug ein schickes ärmelloses Etuikleid in Rosé. Um den Hals hatte sie eine Kette aus Rosenquarz.
Drue erwiderte den Blick mit einem leicht unsicheren Lächeln. Irgendwie kam ihr die Frau bekannt vor.
Bevor eine von beiden etwas sagen konnte, riss Brice die Tür seines angrenzenden Büros auf.
»Ah, schön, da bist du ja!« Er strahlte Drue an, stellte sich hinter den gläsernen Schreibtisch und legte eine Hand auf die nackte Schulter seiner Büroleiterin.
»Drue, du erinnerst dich doch an Wendy, meine Frau, oder?«
Sprachlos glotzte Drue die beiden an, versuchte, die surreale Szene vor sich zu begreifen. Der Name kam ihr bekannt vor, doch der Rest der Person passte nicht dazu. Diese Wendy war zierlich und schlank, nicht pummelig und linkisch. Keine Zahnspange, kein hochtoupierter Pony mehr. Das früher lange, krause rotblonde Haar war jetzt kurz und glatt und schimmerte rot. Das spitze Kinn und die hohen runden Wangenknochen waren geblieben, doch die Lippen waren voller. Die Nase hatte Drue in die Irre geführt. Sie gehörte auf keinen Fall zur Werksausstattung.
»Wendy Lockhart?«, platzte es aus ihr heraus. Kurz streifte ihr Blick ihren Vater auf der Suche nach Bestätigung. »Moment mal! Du hast Wendy Lockhart geheiratet?«
»Richtig«, sagte Brice. »Am Achtundzwanzigsten werden es drei Jahre.«
»Am Siebenundzwanzigsten, du schamloser Lustmolch«, gurrte Wendy und lächelte Drue humorlos an. »Das heißt, ich bin jetzt deine Stiefmutter. Ist das nicht köstlich?«
»Absolut«, murmelte Drue und ließ sich in den Ohrensessel gegenüber dem Schreibtisch sinken. »Umwerfend.«
Was wäre das Schlimmste, das passieren könnte?, hatte sie sich am Vorabend auf der langen Fahrt über die Alligator Alley von Lauderdale nach St. Pete gefragt. Dies war die Antwort. Die Frau vor ihr. Wendy Lockhart, Drues ehemals beste Freundin und dann schlimmste Feindin, war jetzt ihre Stiefmutter und Vorgesetzte. Das war das absolut Schlimmste, was passieren konnte.
»Ich wusste nicht mal, dass du wieder geheiratet hast«, brachte sie schließlich heraus, als ihr Gehirn wieder arbeitete.
»Es war auch eine sehr intime Feier«, bemerkte Wendy und spielte beiläufig mit dem Prachtexemplar von Verlobungsring an ihrer linken Hand. »Nur ein paar Freunde und die engsten Verwandten.«
Drue kaute auf der Innenseite ihrer Wange und überlegte, ob dieses Büro wohl eine Falltür oder wenigstens einen Notausgang hatte.
»Wie habt ihr zwei euch denn … ähm … wiedergetroffen?«, fragte sie.
»Getroffen?« Brice runzelte die Stirn. »Ich war anwaltlich für Wendy tätig, aber bin erst mit ihr ausgegangen, als rechtlich alles geklärt war.« Er blinzelte Drue zu. »Verrat es nicht der Ethikkommission der Anwaltskammer, ja?«
»Er hat mich nicht wiedererkannt«, versicherte Wendy Drue. »Ich meine, das ist ja auch ewig her. Und als ich ihn engagierte, hieß ich Wendy Harrison, das ist der Name meines Exmanns.«
»Damals waren wir in der achten Klasse.« Drues Stimme bebte ungläubig. »Du hast fast jeden Freitag bei uns übernachtet. Wir haben immer Sabrina – total verhext aufgenommen und uns die Folgen freitagsabends angeguckt. Wie soll er das vergessen haben?«
Wendy lachte über Drues beharrliches Nachhaken. »Du hast dich nicht verändert. Übertreibst immer noch maßlos. Das war nicht jeden Freitagabend. Ich habe vielleicht zwei-, dreimal bei euch geschlafen. Dein Vater war damals fast nie da, wenn ich mich recht erinnere.«
Drues Erinnerung war eine völlig andere. Wendy und sie waren in der achten Klasse so gut wie unzertrennlich gewesen. Sie hatten sich angefreundet, weil sie beide neu an der Schule waren und keine Freunde hatten. Die Probleme in ihren Elternhäusern hatten die Freundschaft vertieft.
»Egal«, ruderte Drue zurück.
»Gut«, beeilte sich Wendy zu sagen und warf einen Blick auf ihre Rolex. »Eigentlich hatte ich schon früher mit dir gerechnet, deshalb sind wir mit deiner Einarbeitung etwas spät dran.«
»Mein Auto ist nicht angesprungen.« Selbst in Drues Ohren war das eine lahme Ausrede.
»Dann geht ihr zwei mal in den Schulungsraum«, sagte Brice. »Wie wär’s, wenn wir heute Mittag zusammen essen gehen? Geoff soll einen Tisch bestellen.«
»Geht nicht«, sagte Wendy. »Wir brauchen Drue morgen am Telefon. Das heißt, sie muss noch das gesamte juristische Ausbildungsmodul durcharbeiten, was sechs Stunden dauert, und anschließend noch das Handbuch für Angestellte. Und sie muss rüber ins Labor und den Drogentest machen.«
»Einen Drogentest?«, fragte Drue ungläubig. »Willst du mir allen Ernstes sagen, dass ich in einen Becher pinkeln muss, bevor ich hier arbeiten kann?«
»Das können wir uns bei Drue doch schenken«, sagte Brice. »Ich meine, sie gehört zur Familie.«
»Schätzchen?« Wendy hob eine Augenbraue. »Du weißt, dass wir in unserer Kanzlei Grundsätze haben. Was sollen die anderen Angestellten denn denken, wenn sie hören, dass wir bei deiner Tochter eine Ausnahme gemacht haben?«
»Hm. Gut.« Brice sah Drue an. »Der Drogentest ist doch kein Problem, oder?«
»Nein«, sagte sie mit aufeinandergepressten Lippen. Anders als viele ihrer Freunde unter den Kiteboardern hatte Drue nie eine Schwäche für Tabletten oder Gras entwickelt. Aber es ging auch gar nicht um den Drogentest selbst. Es ging darum, dass ihr Vater wieder mal zu seiner Frau statt zu seiner Tochter hielt. Das letzte Mal war es Joan gewesen. Jetzt war es Wendy.
Auf einmal war Drue wieder fünfzehn Jahre alt und so richtig genervt.
Im Schulungsraum drängte sich ein Konferenztisch neben einen Schreibtisch mit Computer und Telefonanlage. Ein Whiteboard nahm eine komplette Wand ein.
»Okay«, sagte Wendy und gab Drue ein Zeichen, sich an den Tisch zu setzen. Dann knallte sie einen dicken Ordner mit einer Loseblattsammlung vor Drue. »Vereinbarungen und Verfahrensweisen. Grundlegende juristische Arbeitsabläufe. Kanzleirichtlinien.« Sie sah wieder auf ihre Uhr. »Lesen, sacken lassen, auswendig lernen.«
Drue schlug den Ordner auf und überflog die erste Seite.
»Was für ein Sandwich willst du?«, fragte Wendy. »Du bist doch keine Veganerin, oder?«
»Hä?«
»Was für ein Sandwich? Zum Mittagessen.« Wendy verdrehte die Augen. »Du hast eine Viertelstunde Pause. Ich sage Geoff, dass er dir was bestellen soll. Tut mir leid, Drue, ich weiß, dass Brice es gut meint, aber es läuft mit Sicherheit angenehmer für uns alle, wenn du genauso behandelt wirst wie deine Kolleginnen und Kollegen.«
»Okay. Roggenbrot mit Pute. Tomaten, kein Salat, Senf, keine Majo. Ungesüßter Tee.« Drue konzentrierte sich wieder auf den Text und wünschte sich, Wendy würde verschwinden, was sie schließlich auch tat, aber erst nachdem sie Drue noch mal eingebläut hatte, wie wichtig Diskretion und Vertraulichkeit bei allem war, was die Mandanten der Kanzlei betraf.
Nach drei Stunden Lesen und Notizenmachen verschwamm die Schrift vor Drues Augen. Sie stand auf, ging im Raum auf und ab, setzte sich wieder und machte ein paar Dehnübungen.
Mit einer weißen Papiertüte und einem Styroporbecher kam Wendy herein.
»Was machst du da?«
»Ich dehne mein Knie«, sagte Drue und hatte sogleich Schuldgefühle, weil sie eine Pause machte. Hungrig betrachtete sie die Tüte. Seit sie am Vorabend in Lauderdale losgefahren war, hatte sie nichts mehr gegessen.
Wendy stellte die Tüte auf den Tisch und zeigte auf Drues Knie. »Hab mich gefragt, warum du eine Manschette trägst. Was ist passiert?«
»Sportverletzung«, sagte Drue. Sie öffnete die Tüte, zog ein in Wachspapier gewickeltes Sandwich heraus, biss hinein und hätte es fast wieder ausgespuckt.
Sie klappte die Brote auseinander und sah ihre Vorgesetzte vorwurfsvoll an. »Mayonnaise.«
Wendy zuckte mit den Schultern. »Ständig vertun die sich in dem Laden! Ich will Geoff schon die ganze Zeit sagen, dass er zu einem anderen gehen soll.«
Drue nahm die obere Brotscheibe herunter und legte sie beiseite. Mit einem Salatblatt gelang es ihr, den Großteil der Mayonnaise abzuwischen. Nach dem vierten Bissen legte sie den Rest angewidert beiseite. Die Majo hatte alles verdorben.
»Was für eine Sportverletzung?«, hakte Wendy nach.
»Vorderes Kreuzband, Meniskus und Innenband gerissen.«
Ungläubig sah Wendy sie an. »Du siehst nicht aus, als würdest du laufen.«
»Tu ich auch nicht. Ich hasse Laufen.«
»Was war es dann? Wie hast du dich am Knie verletzt? Mein Gott, Drue, warum bist du so böse und feindselig? Dein Dad und ich wollen dir doch nur helfen!«
Drue wischte sich die Hände an einer Papierserviette ab. »Das ist beim Kiteboarden passiert. Kurz bevor meine Mutter krank wurde. Irgendein Stümper in der Notaufnahme von Delray Beach hat mich zusammengeflickt, und ich bin mir ziemlich sicher, dass er es verbockt hat. Jetzt kann ich nicht mehr das tun, was ich wirklich gut konnte. Das Einzige, was mir je Spaß gemacht hat. Außerdem bin ich so was wie eine Waise, denn meine Mutter ist tot, und für meinen Vater gehöre ich nicht zur Familie, weshalb er mir auch nichts von eurer ›intimen‹ Hochzeit erzählt hat.«
Sie sah Wendy herausfordernd an.
»Ob du es willst oder nicht: Wir beide waren mal beste Freundinnen. Jetzt hast du meinen Vater geheiratet, der – wie viel? Mal nachrechnen – rund fünfunddreißig Jahre älter ist als du. Super. Viel Glück mit ihm, er taugt nämlich wirklich phantastisch als Ehemann. Ich weiß, dass er meine Mutter betrogen hat, und ich nehme an, bei Joan war es nicht anders. Aber ich hab keine Ahnung, und es ist mir auch egal. Erwarte nur nicht von mir, dass ich eine Party für euch schmeiße, ja?«
Wendy wurde blass. Sie wischte imaginäre Krümel von ihrem Kleid. »Hör zu«, sagte sie gefährlich ruhig. »Erstens ist er nur zweiunddreißig Jahre älter als ich. Und da wir gerade so brutal ehrlich sind, möchte ich kurz zu Protokoll geben, dass ich dagegen war, dir eine Stelle bei uns anzubieten, aber aus irgendeinem falsch verstandenen Pflichtgefühl heraus wollte Brice es unbedingt. Du bist – wie lange? – zwei Jahre zum College gegangen? Du schaffst es nicht mal, einen lächerlichen Kellnerjob in einer Strandbar zu behalten. Du hast ganz offensichtlich Probleme mit der Aggressionsbewältigung, und in dieser Kanzlei zu arbeiten ist ein absoluter Interessenkonflikt für dich. Was meine Ehe mit Brice angeht, möchte ich nur sagen, dass du deinen Vater wirklich überhaupt nicht kennst. Er ist der netteste, liebste Mann, den ich je kennengelernt habe, aber das wirst du nie begreifen, weil du schon sechsunddreißig bist und immer noch herumheulst, weil du aus einer kaputten Familie kommst.«
Drue stopfte den Rest des Sandwiches in die Papiertüte. »Bist du fertig? Wenn ja, setze ich mich jetzt nämlich wieder an mein Schulungsmaterial.«
»Oh, ich bin mehr als fertig«, sagte Wendy und schaute auf die Uhr. »Wenn du das Handbuch durchhast, geh zum Empfang. Wir sind so unterbesetzt, dass ich niemanden dahabe, der dich am Telefon anlernen könnte, wie ich es eigentlich geplant hatte. Aber Geoff kann dir zeigen, wie das geht. Er hat auch ein Exemplar von deinem Telefonleitfaden. Und bis um fünf musst du im Labor auf der Fourth Street gewesen sein. Ohne Test kein Job.«
»Alles klar.«
Drue trat auf die Straße vor der Kanzlei, um zum Drogentest zu gehen. Da hielt ein schwarzer Mercedes an der Bordsteinkante, und Brice lehnte sich aus dem offenen Beifahrerfenster.
»Und, wie war’s?«, fragte er.
»Ganz gut. Ich will gerade rüber zum Labor.«
»Okay«, sagte er. »Hey, hat Wendy dir von der Happy Hour heute Abend erzählt?«
»Nein.«
Er lachte. »Sie ist immer so auf die Arbeit fokussiert, hat sie bestimmt vergessen. Egal. Hör zu, Montagsabends haben wir im Sharky’s eine Happy Hour für unsere Angestellten. Das passt doch perfekt. Da kannst du deine Kollegen und Kolleginnen außerhalb der Arbeit kennenlernen, mal ein bisschen aus dir rausgehen.«
Sofort war Drue misstrauisch. »Es war wirklich ein langer Tag, Dad. Eigentlich wollte ich aus dem Motel raus und meine Sachen ins Cottage bringen – obwohl ich es noch nicht mal gesehen habe. Wenn das für dich in Ordnung ist, komme ich beim nächsten Mal mit.«
»Hey«, sagte er ernst, »das könnte ein bisschen ungut aufgenommen werden, jedenfalls am Anfang. Schließlich bist du die Tochter vom Chef und die Stieftochter der Büroleiterin.«
Beim letzten Teil des Satzes zog Drue den Kopf ein, hielt aber den Mund.
»Wenn du einen guten Einstieg willst, dann komm heute Abend ins Sharky’s. Sechs Uhr.«
»Ich weiß doch nicht mal, wo das ist«, warf Drue ein, ihr letzter Versuch, sich zu drücken. Happy Hour war ein Konzept, das sie zutiefst verabscheute: das maßlose Trinken, die aufgesetzte Kameradschaft, besoffene Kerle, die jede Frau in ihrer Nähe begrapschten, weggetretene Mädchen, die am Ende des Abends mit dem Gesicht in ihrem eigenen Erbrochenen lagen.
»Kennst du das Sharky’s nicht mehr?«, fragte ihr Vater ungläubig. »Das ist dieser große Laden am Strand, gar nicht weit vom Cottage. Kannst du nicht übersehen. Auf dem Parkplatz steht ein riesiger Haikopf aus Fiberglas.«
»Ach, der!«
Seit Jahrzehnten war Sharky’s eine Institution am Sunset Beach. Als Jugendliche war Drue von dem Laden fasziniert gewesen. Aus den Boxen auf der Terrasse dröhnte von acht Uhr morgens bis drei Uhr in der Früh die Musik. Sharky’s war eine Poolbar für jeden Geschmack: weitläufige Holzterrassen, Beachvolleyballfelder und abgetrennte Reihen von Liegestühlen mit Blick auf den Golf.
»Komm hin!«, wiederholte Brice. »Das ist ein Befehl vom Chef.«
Als er davonfuhr, entdeckte Drue das Wunschkennzeichen ihres Vaters: ISUE-4U.
Zurück im Motel durchwühlte Drue die magere Auswahl in ihrem Koffer, bis sie das Outfit fand, das sie für ein inoffizielles Date vorgesehen hatte: eine weiße Skinny-Jeans und ein schwarzes Neckholder-Top mit großen weißen Knöpfen auf dem Rücken. Sie schaute in den beschlagenen Badezimmerspiegel und versuchte abzuschätzen, wie sie wirkte. Das schulterlange dunkle Haar band sie zu einem hohen Pferdeschwanz zusammen, tuschte sich leicht die Wimpern und schminkte sich nach gründlicher Überlegung die Lippen. Dann legte sie goldene Palmwedelohrringe an.
Ganz okay, fand sie. Es sah nicht aus, als hätte sie sich allzu viel Mühe gegeben, aber auch nicht so, als würde sie in ihrem Auto schlafen. Sie steckte ihr Handy, die Schlüsselkarte des Motels, ihren Führerschein und ein paar gefaltete Geldscheine in die Gesäßtasche und ging los, den Strand hinauf, ihre besten Flipflops in der Hand.
Ihr war gar nicht klar, wie nervös sie war, bis sie am Rand des Meeres stand und zu den orangefarbenen Verkehrspylonen hinüberschaute, die den Strandbereich des Sharky’s vom Rest abtrennten. Drues Handflächen waren feucht, Schweißperlen liefen ihr zwischen den Brüsten und an den Schläfen hinunter.
Kurz fühlte sie sich in ihre Jugend zurückversetzt, musste an den furchtbaren ersten Tag an der neuen Schule denken, als sie in der Cafeteria stand, sich umsah und feststellte, dass sie das einzige Mädchen mit Latzhose in einer Welt von acid-washed Jeans war.
»Reg dich ab!«, murmelte sie vor sich hin. »Das ist nur eine Happy Hour. Das machst du mit links!«
Brice musste auf sie gewartet haben, denn kaum trat sie auf die Holzterrasse, kam er ihr entgegen. Er trug eine gebügelte kurze Golfhose und ein Polo mit einem aufgestickten Yachtclub-Logo.
»Hey!«, sagte er, aufrichtig erfreut, sie zu sehen. »Ich hab schon gedacht, du kommst nicht mehr.«
»Sorry. Mit dem Bus dauert es echt lange ins Motel«, sagte sie.
»Warum hast du nichts gesagt? Ich hätte dich hinbringen können.«
»Ich habe ja selbst ein Auto, es hatte heute Morgen bloß keine Lust anzuspringen. Aber jetzt ist alles in Ordnung.« Das war glatt gelogen, doch Drue konnte nicht riskieren, dass Brice ihr anbot, jeden Morgen mit ihm und Wendy zur Arbeit zu fahren.
»Gut, aber sag Bescheid, wenn es wieder rumzickt.« Er drückte ihr einen Plastikbecher in die Hand. »Hier. Die Empfehlung des Tages: Kinky Dolphin.«
Drue betrachtete die zähflüssigen blauen und grünen Likörschichten von der Seite. »Was ist da drin?«
»Du hast doch in einer Bar gearbeitet, verrat du es mir!«
Drue verdrehte die Augen und legte das Papierschirmchen zur Seite, das die Garnitur aus Maraschinokirsche und Orangenscheibe durchbohrte. Sie probierte einen Schluck und bereute es auf der Stelle. Der Cocktail war ekelerregend süß und zugleich so sauer, dass sich alles in ihr zusammenzog. »Hm. Tippe auf eine Kombination aus Frostschutzmittel und WC-Ente.«
Wie zum Gruß hielt Brice seine Bierflasche in die Höhe. »Komm! Ich stelle dir den Rest unserer Gang von Campbell, Coxe und Kramner vor. Wir sitzen drinnen.«
Drue folgte ihrem Vater unter das Blechdach der Veranda zu einem Tisch, um den sich ein Dutzend Personen versammelt hatten. Sie versuchte, ihr wachsendes Unbehagen zu verdrängen.
»Hey, Leute!«, sagte Brice am Kopfende des Tisches. »Seid mal kurz leise, ja? Ich möchte euch meine Tochter Drue vorstellen. Mit Freude gebe ich bekannt, dass sie ab sofort das Team von Campbell, Coxe und Kramner verstärkt.« Er machte eine ausholende Geste. »Drue, das sind deine neuen Kolleginnen und Kollegen!«
Die Musik und die Gespräche der immer zahlreicheren Happy-Hour-Gäste machten es Drue schwer, alles zu verstehen, als sich die Mitarbeiter der Reihe nach vorstellten. In der Buchhaltung gab es Deanna, Priscilla und Sylvia; dann zwei Rechtsanwaltsgehilfinnen: Marianne und eine Frau, deren Name nicht bei Drue ankam; außerdem Geoff vom Empfang und am Ende des Tisches zwei junge Männer, ein Rothaariger mit Brille, der sich als Ben vorstellte, und …
»Entschuldigung, wie heißt du bitte?«, rief Drue und beugte sich vor, um besser zu hören.
»Jonah. Mit J«, sagte der andere. Typen wie ihn hatten Drue und ihre Freundinnen in Lauderdale immer »Schnöselschnitte« genannt – wellige dunkle Haare, hohe Stirn, kantiges Kinn und volle Lippen, die menschgewordene Ralph-Lauren-Werbung. Echt heiß, wenn man auf reiche Söhne aus gutem Haus stand.
Ben, groß und schlaksig, stand auf und gab Drue die Hand. »Was möchtest du trinken?«
Bevor sie antworten konnte, machte Brice der Bedienung ein Zeichen, einer vollbusigen Brünetten in Shorts und bauchfreiem Shirt. »Bianca, kannst du meiner Tochter noch einen Kinky Dolphin bringen?«
»Nein, nein!«, wehrte Drue schnell ab.
»Nicht? Was willst du dann?«, fragte Brice fröhlich. »Geht heute alles auf mich. Willst du was essen? Gibt Chicken Wings, Burger, Fisch-Sandwiches …«
Bei der Aussicht auf Nahrung knurrte Drues Magen.
»Vielleicht ein paar Nachos? Und einen Eistee?«
»Eistee?«, höhnte Jonah. »Brice, kann doch nicht sein, dass deine Tochter nichts verträgt! Da kommt sie aber nicht nach dir!«
»Willst du nichts trinken?«, fragte Drues Vater. »Muss ja nicht der Dolphin sein.«
»Na gut, dann vielleicht eine Margarita, aber ohne Salz«, gab sie nach. Sie setzte sich auf den einzigen freien Platz und sah sich um. Mit Ausnahme des Chefs schienen alle am Tisch unter vierzig zu sein.
Ihr Vater, erinnerte sie sich, hatte sich schon immer gern mit jungen Leuten umgeben.
»Wo ist Wendy denn?«, fragte sie ihn.
»Ach, sie kommt nie zur Happy Hour. Als Büroleiterin hat sie Sorge, dass die anderen in ihrer Gegenwart Hemmungen haben könnten. Dies soll ja eine teambildende Maßnahme sein.«
»Teambildend …« Drue ließ sich das Wort durch den Kopf gehen. Doch bevor sie weitere Fragen stellen konnte, wurden auch schon ihr Getränk und das Essen serviert.
Die Nachos bestanden aus pappigen Maischips mit gummiartigem geschmolzenen Käse, garniert mit einer überschaubaren Menge von eingelegten Jalapeños, klein geschnittenen Tomaten und Avocadowürfeln, dennoch musste Drue sich zügeln, um nicht alles wahllos in sich hineinzustopfen.
Stattdessen nippte sie an ihrem Drink, knabberte die Chips, nickte und lauschte den Unterhaltungen um sich herum.
»Ich hab nicht mal gewusst, dass Brice eine Tochter hat«, sagte Ben und trank einen Schluck von seinem Bier. »Wusstest du was von einer Tochter, Jonah?«
»Nee«, antwortete sein Kollege. »Wohnst du hier in der Gegend, Drue?«
»Jetzt ja.«
»Wo bist du aufgewachsen?«, erkundigte sich Jonah.
»Ich bin in St. Pete geboren, aber man könnte sagen, dass ich in Fort Lauderdale aufgewachsen bin.«
»Cool«, sagte Ben. »Ich war immer noch nicht an der Ostküste von Florida.«
»Und, übernimmst du Stephanies alte Stelle?«, fragte Jonah.
»So habe ich es gehört.«
Jonahs grünblaue Augen musterten sie von oben bis unten.
Drue hielt seinem Blick stand und dachte, Alter, mich haben schon ganz andere Typen abgecheckt.
»Das ist ja klasse«, meinte Ben. »Dann gehörst du zu unserem Pool.«
»Pool?« Fragend sah Drue ihn an.
»Ja, so heißt unsere Gruppe. Wir nehmen die Anrufe entgegen, sprechen mit potenziellen Mandanten, bewerten ihre Angaben, und wenn es so aussieht, als könnte es eine erfolgreiche Klage geben, tragen wir alle Infos zusammen und geben den Fall an Brice oder seine Mitarbeiterinnen weiter. Manchmal verweisen wir die Leute auch an eine der Kanzleien, mit denen wir uns zusammengeschlossen haben. Daneben habe ich noch ein paar IT-Aufgaben.«
»Aha«, machte Drue.
»Sooo kompliziert ist das alles nicht«, mischte sich Jonah ein. »Aber man braucht schon Grundkenntnisse in der Gesetzgebung von Florida. Hast du so was Ähnliches schon mal gemacht? Ich meine, du bist schließlich mit Brice als Vater groß geworden, oder?«
Drue trank einen großen Schluck von ihrer Margarita und genoss das kurze Gefühl der Kühle.
»Nein«, sagte sie mit Nachdruck. »Meine Mutter und ich sind nach der Trennung nach Fort Lauderdale gezogen. Deshalb hatten wir bis vor kurzem nicht sonderlich viel Kontakt.«
Damit sich diese aufdringliche Befragung nicht weiter in eine ungewollte Richtung bewegte, hob Drue ihr Glas und hielt es der sich umsehenden Kellnerin entgegen. »Ich nehme noch so einen!«, rief sie.
Während sie auf den Cocktail wartete, beobachtete sie Brice am anderen Ende des Tisches. Er schien jeden hier zu kennen. Immer wieder kam jemand vorbei, blieb stehen und unterhielt sich mit ihm.
»Dein alter Herr kann wirklich mit jedem«, hatte Sherri früher mal zu Drue gesagt. »Das ist das Geheimnis seines Erfolgs. Wenn man ihn kennenlernt, hat man anschließend das Gefühl, er wäre der beste Freund. Besonders Frauen, und je jünger und hübscher, desto besser«, hatte sie verbittert hinzugefügt.
Ein älterer Mann näherte sich dem Tisch. Brice stand auf, schlug ihm auf den Rücken und zog einen Stuhl von einem leeren Nachbartisch heran, damit der Mann sich zu der Gruppe setzen konnte. Er trug eine weite schwarze Opa-Jeans und ein schwarzes Kurzarmhemd, das sich über seinen beachtlichen Bauch spannte. Seine verbliebenen Haare hatte er sorgfältig über den Schädel gekämmt und mit Spray fixiert. Die lockere Haut an seinen Wangen und am Hals erinnerte Drue an einen Bluthund.
»Jimmy Zee ist in da house«, verkündete Jonah.
»Wer ist das?«, wollte Drue wissen.
»Unser Ermittler«, erklärte Ben.
»Eine Art Detektiv?«
»Schlaues Köpfchen«, sagte Jonah. »Jimmy Zee und dein Vater kennen sich schon total lange. Er war früher Polizeibeamter in St. Pete. Zee und Brice waren Kollegen, damals, bevor Brice in Stetson Jura studiert hat.«
»Ah, ja …«, sagte Drue langsam. »Ich erinnere mich an ihn. Jimmy Zee. Als ich klein war, waren er und seine Frau oft bei uns zu Besuch.«
»Schwer zu glauben, dass der Alte mal Bulle war«, bemerkte Ben. »Ich hätte gedacht, er wäre schon immer Anwalt gewesen.«
Ungebetene Bilder schoben sich vor Drues inneres Auge. Ihr Vater, der nach Dienstende heimkam, vorsichtig sein Holster abnahm und die Dienstwaffe in einer Kiste im obersten Fach des Schlafzimmerschranks verstaute. Sie erinnerte sich an Sherri, die jeden Sonntagabend das Bügelbrett im Wohnzimmer aufstellte und den Wochenbedarf ihres Mannes an weißen Uniformhemden stärkte und bügelte, dabei rauchte und sich Seifenopern ansah. Wenn Brice gute Laune hatte, legte er manchmal ein Telefonbuch auf den Fahrersitz seines grün-weißen Streifenwagens, setzte seine Tochter darauf und stellte Blaulicht und Sirene an. Dann lachte Drue und klatschte in die Hände, denn an solchen Tagen war sie Daddys Mädchen.
Sie beobachtete, wie die beiden Männer die Köpfe zusammensteckten und sich konzentriert unterhielten.
»Wo bist du zur Schule gegangen?«, fragte Jonah.
»An der Ostküste«, erwiderte Drue genervt. Ihr war bereits sein protziger goldener Collegering der University of Florida aufgefallen.
»Ich meine, auf welche Hochschule?«, hakte er nach.
»In Miami«, antwortete sie. Sie hatte nicht »Universität von Miami« gesagt, richtig? Wenn er falsche Schlüsse zog, war das nicht ihre Schuld.
»Miami, cool. Mark Richt macht sie alle lang. Der hat’s echt drauf. Bist du ein Fan von den Hurricanes?«
»Kein Stück. Ich hasse Football«, sagte Drue in dem verzweifelten Versuch, Jonah zum Schweigen zu bringen. Warum hatte sie ihn angelogen? Warum hatte sie nicht »Miami Dade College« gesagt? Das war doch völlig in Ordnung. Mit ihr war alles in Ordnung.
Sie trank den Rest ihrer Margarita aus und stand auf. »Ich muss los. Morgen ist ein Arbeitstag, oder?«
»Du bist doch gerade erst gekommen!«, sagte Ben enttäuscht.
Brice hatte es gemerkt. Er ging um den Tisch herum und legte Drue eine Hand auf die Schulter. »Du gehst noch nicht. Die Party fängt ja gerade erst an.«
»Doch, ich gehe«, widersprach Drue. »Morgen muss ich früh aufstehen. Will es mir nicht mit deiner Büroleiterin verderben.«
Angesichts des lahmen Witzes runzelte Brice die Stirn. Doch bevor er etwas sagen konnte, klingelte sein Handy. Er holte es aus der Tasche, machte ein paar Schritte zur Seite und war kurz darauf zurück.
»Apropos. Das war die Chefin«, sagte er fröhlich. »Ich wurde abberufen.«
Er winkte die Kellnerin herüber. »Ich hab Ihnen schon meine AmEx gegeben. Buchen Sie alles drauf, was dieser bunte Haufen hier verzehrt.«
»Booty-Call!«, rief Ben, und die anderen am Tisch stimmten in seinen Ruf ein: »Booty-Call, Booty-Call, Brice hat einen Booty-Call!« Dazu stießen sie ihre Bierflaschen auf den Tisch.
Der Chef grinste breit und drückte seine Tochter vorsichtig wieder auf ihren Stuhl.
»Bleib hier, ja? Der Abend ist noch jung.« Er wandte sich erst an Ben, dann an Jonah. »Ich ernenne euch zu ihren Begleitern. Passt auf, dass ihr nichts geschieht, ja?«
»Machen wir«, sagte Ben und streckte Brice den Daumen entgegen.
»Jetzt gibt’s Shots!«, rief jemand am Ende des Tisches.
»Ja!«, echote eine der Frauen aus der Buchhaltung. »Shots für alle!«
Die Bedienung tauchte auf und nahm die gebrüllten Bestellungen entgegen.
»Flying Hirsch!«
»Buttery Nipple!«
»Mind Eraser!«
»Redheaded Slut!«, rief Ben.
»Angel’s Tit!«, bestellte Jonah. Er zeigte auf Drue. »Was möchtest du?«
»Bettzeit«, sagte sie.
»Hä?« Ben verstand nicht. »Von dem habe ich noch nie gehört. Und ich habe jeden Shot getrunken, der je erfunden wurde.« Er holte sein Handy hervor und tippte auf ein Icon. »Hier! Ich habe sogar eine Shots-App.«
»Das ist kein Drink, sondern eine Feststellung«, sagte Drue. »Tut mir leid, dass ich so eine Spaßbremse bin, aber ich muss nach Hause.«
»Kommt nicht in Frage«, erwiderte Ben. »Du hast deinen Vater gehört. Auf eine Runde Shots musst du auf jeden Fall bleiben.«
»Mann, ist das albern!« Drue schüttelte den Kopf. »Ich hab nie begriffen, warum das ›Happy Hour‹ heißt. Wenn ihr mich fragt, müsste man es ›Amateur-Abfüllung‹ nennen.«
Jonah stöhnte. »Spar uns den Vortrag, wie unreif wir sind. Kannst du nicht einfach locker sein und mitfeiern? Ein bisschen Spaß haben? Ich hätte nicht gedacht, dass ein Kind von Brice so verklemmt sein könnte.«
»Da sieht man mal, wie wenig du mich kennst«, schoss Drue zurück und trank ihre Margarita aus. »Okay. Wenn du dabei bist, mache ich auch mit. Wie wär’s, wenn du mir einen Shot bestellst und ich einen für dich?«
»Abgemacht.« Jonah wandte sich an die Bedienung und überlegte kurz. »Kannst du mir einen Crouching Tiger bringen?«
Das Mädchen zuckte mit den Schultern. »Klar.« Sie sah Drue an. »Und du?«
Drue grinste. In ihrer Kellnerinnenzeit hatte sie schon den einen oder anderen Crouching Tiger gemixt: Er bestand aus Tequila und Litschisaft. Ihrer Meinung nach eine widerliche Mischung. Aber wenn Jonah so anfing, konnte sie einen draufsetzen.
»Bring meinem Freund hier ein Präriefeuer.«
»Will er denn auch noch den … ähm … Angel’s Tit?«, hakte die Bedienung nach.
»Will die nicht jeder?« Ben schmunzelte. Drue merkte, dass er ziemlich voll war.
Die Kellnerin nickte. Kurz bevor sie abdrehte und zur Theke ging, warf sie Drue ein anerkennendes Lächeln zu.
Die Bedienung war auf Zack. Als sie zurückkam, servierte sie gekonnt jedem am Tisch das bestellte Getränk, ohne dass sie sich etwas notiert hatte. Die Frau hatte es einfach drauf.
Am Ende des Tisches schob sie ein knallrotes Schnapsglas vor Drue. »Dein Crouching Tiger.«
»Einmal Redheaded Slut für den Rotfuchs«, sagte die Kellnerin und stellte Bens Shot vor ihm ab.
»Und für den Herrn hier einmal Angel’s Tit und ein Präriefeuer.«
Drue nahm ihr Glas in die Hand. Sie wollte es runterkippen und dann verschwinden, bevor die Situation eskalierte. Sie wusste, dass sie angetrunken war, und bereute bereits die Margarita.
Jonah hielt ihre Hand fest. »Warte! Dieser Abend dient dem Teambuilding, schon vergessen? Und Marianne als ältestes Mitglied der Präzisionstrinker von CCK