Liebe kann alles - Mary Kay Andrews - E-Book
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Liebe kann alles E-Book

Mary Kay Andrews

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Beschreibung

Die Liebe, das Leben und andere Baustellen – erzählt von Mary Kay Andrews Dempsey fällt aus allen Wolken, als ihrem charmanten Chef Korruption vorgeworfen wird. Dieser hingegen reagiert schnell und kündigt Dempsey – so kann er alle Vorwürfe auf sie abwälzen. Dempsey muss Washington verlassen. Ohne Job, Geld oder Perspektive ist sie auf die Hilfe ihres Vaters angewiesen, der ihr als Projekt die Renovierung des Familienanwesens "Birdsong" in Georgia anbietet. Doch nicht nur das viktorianische Gebäude bietet alle Möglichkeiten für einen Neuanfang, auch die Bewohner des kleinen Örtchens geben ihr etwas, dass sie schon lange nicht mehr hatte: Das Gefühl zu Hause zu sein …

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Mary Kay Andrews

Liebe kann alles

Roman

Aus dem Amerikanischen von Andrea Fischer

FISCHER digiBook

Inhalt

Widmung1234567891011121314151617181920212223242526272829303132333435363738394041424344454647484950515253545556575859606162636465RezepteElla Kates RinderschmortopfLyndas TomatensuppeDempseys EiersalatDanksagungLeseprobe: Kein Sommer ohne Liebe1

Gewidmet meiner Lieblingstante Alice Barchie, von ihrer Lieblingsnichte

1

Am Ende des allerschlimmsten Tages meines Lebens saß ich mit meinen Mitbewohnerinnen an einem Tisch hinten im Filibuster, einer schäbigen Kneipe in einer schmuddeligen Straße am Rande von Georgetown. Im Fernseher an der Wand gegenüber lief meine öffentliche Vernichtung als Endlosschleife in den Nachrichten.

Kaum waren wir in den düsteren hinteren Teil des Filibuster gehuscht, hatte ich die Fernbedienung beschlagnahmt, doch es sah aus, als hätte jeder Sender in Washington, D.C., beschlossen, die heutigen Nachrichten mit jener Geschichte zu beginnen, die bereits den Beinamen »Hoddergate« erhalten hatte.

Mit großen Augen starrten Stephanie und Lindsay auf den Bildschirm, ich stürzte das erste Bier des Tages hinunter.

»Mein Gott, Dempsey«, sagte Stephanie. »Du hast nie erzählt, dass dein Chef so ein alter Mann ist!«

Ich schielte zum Fernseher hoch. Gerade sah man, wie wir das Büro verließen, um zu einem Geschäftstermin zu fahren. Mein Chef, Alexander Hodder, ging mit ausholenden Schritten erhobenen Hauptes voran, die Schöße seines anthrazitgrauen Sakkos flatterten im Märzwind, er hatte die Augen fest geradeaus gerichtet und ignorierte entschlossen die ungefähr ein Dutzend Reporter und Kameraleute, die uns aufgelauert hatten. Bei unserem Spießrutenlauf hatte Alex nicht einmal innegehalten, um den Journalisten, die uns Mikros vors Gesicht hielten und Fragen nach Bestechungsgeldern und Vergnügungsreisen stellten, »Kein Kommentar« entgegenzuschleudern. Ich hatte Mühe, ihm zu folgen, stakste ihm auf meinen hohen schwarzen Wildlederpumps hinterher, zusätzlich behindert durch den engen Bleistiftrock, den ich dummerweise an diesem Tag zur Arbeit angezogen hatte.

»Alex ist nicht alt«, fuhr ich Stephanie an. »Er ist gerade mal fünfzig. Und die meisten halten ihn für Anfang dreißig.«

»Fünfzig!«, kreischte Lindsay und setzte den Bierkrug ab. »Herrgott, Dempsey! So wie du immer von ihm redest, hab ich gedacht, dass er wirklich Mitte dreißig ist!«

»Fünfzig, das ist doch quasi antik«, stimmte Stephanie ihr nach einem kurzen Blick auf den Bildschirm zu. »Obwohl, ich kann schon verstehen, dass du ihn gut findest. Er hat so ein kantiges Kinn, hohe Wangenknochen, breite Schultern. Sind das noch seine eigenen Haare? Oder hat er sie sich verdichten lassen?«

»Könnt ihr mal aufhören?«, flehte ich. »Mein Leben geht gerade – während wir hier sitzen – den Bach runter, und ihr könnt an nichts anderes denken als an das Alter von Alex Hodder.«

Stephanie, immer schon analytisch veranlagt, lehnte sich auf der Bank zurück und tippte mit den Fingerspitzen auf den zerkratzten Holztisch. »Du glaubst doch nicht, dass sie ihn wirklich anklagen, oder? Außerdem habe ich eher das Gefühl, dass sein Leben den Bach runtergeht, nicht deins.«

»Gegen den Kongressabgeordneten Licata wurde bereits Anklage erhoben«, erinnerte ich die beiden. »Jetzt sind sie hinter Alex her. Und hinter mir. Alles nur wegen dieser verfluchten Reise zu den Bahamas, wo wir mit Licata waren. Ihr habt doch gerade gehört, was die Reporter sagen: ›Geheime Quellen behaupten, gegen den bekannten Washingtoner Lobbyisten Alexander Hodder werde wegen des Verdachts der Bestechung eines Abgeordneten ermittelt.‹«

Ich wies zum Fernseher hinüber, und meine Freundinnen drehten sich um. Auf CNN liefen grobkörnige Aufnahmen, die den Kongressabgeordneten Licata, Alex und mich in Abendgarderobe auf dem Benefizdinner von Licatas Ehefrau Arlene zeigten, für das die Eintrittskarte tausend Dollar gekostet hatte. Unsere Firma Hodder & Associates hatte einen Tisch für zehn Personen gebucht; alle jungen Mitarbeiter hatten teilnehmen müssen.

»Nettes Kleid, Demps«, murmelte Lindsay.

Ich errötete. »Ich hätte dich ja gefragt, ob ich es anziehen darf, aber du warst unterwegs.«

Eine schadenfroh grinsende CNN-Reporterin erklärte Hoddergate zum »größten Lobbyismus-Skandal des Jahrzehnts« und fügte hinzu: »Weiterhin wird behauptet, dass Hodders Firma, die große Erdölkonzerne vertritt, den Abgeordneten Licata unter anderem zu einem Golfausflug ins exklusive Lyford Cay Resort auf die Bahamas eingeladen hätte. Dort wurden Licata und Hodder angeblich dabei beobachtet, wie sie sich am Nacktbadestrand der Anlage mit Callgirls vergnügten.«

»Iiiiih!« Stephanie schüttelte sich und zog die Nase kraus. »Ein Nacktbadestrand? Mit den alten Säcken? Dieser Licata wiegt mindestens hundertdreißig Kilo! Der ist so alt wie mein Opa!«

»Der Nacktbadestrand interessiert doch keinen! Was ist mit den Callgirls?« Lindsay machte große Augen. »Demps, hast du wirklich für einen Kongressabgeordneten Prostituierte bestellt?«

»Nein!«, rief ich. »Ich sollte für Alex nachfragen, ob das Hotel eine Wakeboard-Stunde für Licata organisieren kann. Von Prostituierten war nie die Rede! Ich hätte doch niemals …«

»Ist Licata nicht um die sechzig?«, hakte Lindsay nach. »Was will so ein alter Knacker mit einer Wakeboard-Stunde?«

»Weiß ich doch nicht«, stöhnte ich. »Ich bin so bescheuert. Nie im Leben wäre ich auf die Idee gekommen, dass so etwas dahinterstecken könnte.«

»Was ist mit der Eigentumswohnung in South Beach, die dein Chef für Licata gekauft haben soll?«, fragte Stephanie. »Das stimmt doch nicht, oder?«

»Das war nicht Alex’ Geld.« Ich rutschte auf meinem Sitz tiefer. »Alex hat gesagt, das wäre eine Art Tauschgeschäft. Die Wohnung gehört einem leitenden Angestellten von Peninsula Petroleum, und Licata sollte Zahlungen …«

»Oh, guck mal!« Lindsay wies auf den Fernseher.

CNN zeigte, wie wir am Vormittag vor den Journalisten flohen. »Aus dem Umfeld des Justizministeriums verlautete es, dass im Laufe der Ermittlungen mit weiteren Anklagen gerechnet wird«, verkündete die Reporterin feierlich.

»Scheiße«, sagte Stephanie.

»Allerdings«, stimmte Lindsay zu und nickte traurig.

2

»Du brauchst einen Plan.« Voller Elan holte Stephanie einen Laptop aus ihrer roten Ledertasche, die sie immer bei sich trug.

»Um nicht in den Knast zu wandern?«, fragte ich und trank einen Schluck Bier.

»Nein, einen Lebensplan«, gab sie zurück. »Nach dem Motto: Was ist mein nächster Schritt? Wir analysieren deinen bisherigen Karriereverlauf, deine Stärken und Schwächen, was du magst und nicht magst …«

»Sie mag ältere Männer«, mischte sich Lindsay ein. »Deutlich ältere Männer.«

»Das ist nicht witzig«, protestierte ich.

»Entschuldigung«, sagte sie, nicht gerade überzeugend.

Stephanie begann zu schreiben und las laut vor: »Mag keine Pilze auf der Pizza, kein Salz im Margarita-Cocktail, keine billigen Schuhe, keinen billigen Wein …«

»Billige ältere Männer«, warf Lindsay ein.

»Hör mal auf, ja?«, fuhr Stephanie sie an. »Dempsey braucht uns.«

»Ich weiß eure Hilfe wirklich zu schätzen«, sagte ich. »Aber ich glaube, das ist ein bisschen übertrieben …«

Mein Handy klingelte, ich warf einen kurzen Blick auf das Display. »Das ist Ruby, unsere Büroleiterin. Sorry, da muss ich drangehen.«

Ich stolperte aus unserer Sitzecke. Dabei sah ich, dass sich vor der Eingangstür mehrere Männer versammelt hatten, die allesamt zum Fernseher hinüberschauten. Zum Glück lief mittlerweile ein Basketballspiel. Schnell eilte ich in die entgegengesetzte Richtung zum Hinterausgang, drückte die stählerne Feuerschutztür auf und trat in die Gasse, in der es nach abgestandenem Bier, Urin und Zigaretten roch.

»Ruby?«

»Wo bist du?«, schimpfte sie los. »Ich versuche schon den ganzen Nachmittag, dich zu erreichen.«

»Ich bin in Georgetown.« Sofort hatte ich Schuldgefühle. »Nach allem, was passiert ist … also, mit Alex … Er hat unser Meeting abgesagt, weil er zu seinem Anwalt wollte, es war schon spät, und ich hatte irgendwie Angst, dass die Reporter uns noch vorm Büro auflauern. Ich dachte, es würde nichts bringen, so spät noch mal reinzukommen. Aber wenn du mich brauchst …«

»Um zwei hätte ich dich gebraucht. Als FBI-Agenten durch die Büroräume trampelten, alle Akten sowie die Festplatten von deinem und Alex’ Computer mitnahmen.«

»Was? Meine Festplatte? Warum? Was suchen die denn? Geht es um Licata? Ich meine, Alex wollte, dass ich einige Stichpunkte zum neuen Energiegesetz für ihn aufschreibe, aber …«

»Verdammt nochmal«, sagte Ruby leise auf eine für sie untypische Art. Genau genommen war das ganze Gespräch überhaupt nicht Ruby Beaubiens Art. Mit ihren Anfang sechzig war sie der Inbegriff der freundlichen Südstaatenschönheit. Ruby hatte am Mississippi College für Frauen studiert, sie erhob nur selten ihre Stimme und wurde fast nie nervös. Nie hatte ich von ihr ein schlimmeres Schimpfwort als »Scheibenkleister« gehört.

»So ein Schlamassel!«, fuhr sie fort. »Hat Alex dir seine E-Mails an und von Licata in Kopie geschickt oder von den Mitarbeitern bei Peninsula?«

»Manchmal«, erwiderte ich sinkenden Mutes. »Nicht immer. Aber er meinte, ich sollte einbezogen werden, weil …«

»Ich nehme an, du hast diese Mails nicht gelöscht, nachdem du sie gelesen hast?«

»Nein. Auf die Idee bin ich nie gekommen. Es tut mir so leid, Ruby.«

»Tja, daran ist nichts mehr zu ändern«, sagte sie. »Alex hatte gehofft, du hättest alles gelöscht.«

»Hast du mit ihm gesprochen? Was hat er gesagt? Geht es ihm gut?«

»Dem geht es gut«, unterbrach sie mich. »Hör zu, Dempsey, du hast noch ein paar Tage Urlaub. Alex möchte, dass du sie jetzt nimmst. Sofort.«

»Jetzt? Ich kann doch nicht jetzt, mitten in dem Ärger, Urlaub machen! Diese und nächste Woche habe ich fast jeden Tag Besprechungen. Ich sitze an einer Rede für David Welch, die er bei diesem Bankett in Houston hält, Ende des Monats kommen die Pipeline-Leute und …«

»Mach dir darum keine Gedanken«, sagte Ruby. Im Hintergrund hörte ich Telefone klingeln und den Fernseher dröhnen. Auch Ruby sah also die Nachrichten, und zwar auf dem Apparat im Pausenraum. Oder im Konferenzraum, wo mehrere Bildschirme hingen, damit wir immer darüber unterrichtet waren, was gerade in Washington geschah.

»Alex war es sehr ernst«, sagte Ruby. »Du bekommst vier Wochen Urlaub bezahlt. Ich habe den Scheck bereits ausgestellt.«

»Aber ich habe insgesamt nicht mal vier Wochen Urlaub«, gab ich zurück. »Übrig sind nur noch ein paar Tage. Weißt du noch? Vier Tage hatte ich mir für diese Hochzeit in Boston genommen.«

»Das ist eine Anweisung von Alex«, sagte Ruby. »Wohnst du noch in Alexandria, in der LeConte Street?«

»Ja, aber …«

»Ich lasse deine Sachen heute noch packen und dir zuschicken. Du musst nicht mehr ins Büro kommen.«

»Warum willst du meine Sachen packen lassen?« Mein Herz raste. Das lief in die falsche Richtung, und zwar viel zu schnell. »Ruby … was soll das? Bin ich gefeuert? Du hast gesagt, Alex würde mir Urlaub geben.«

»Darüber kann ich jetzt nicht sprechen«, entgegnete Ruby plötzlich ganz förmlich. »Mr Hodder hat beschlossen, die Arbeitsabläufe bei Hodder & Associates zu straffen und sich auf seine Kerninteressen zu konzentrieren. Wenn du den Namen unseres Vermittlungsberaters brauchst, kann ich ihn dir gerne heraussuchen. Es wäre allerdings am besten, hier nicht mehr anzurufen. Du kannst mich über meine Hotmail-Adresse erreichen.«

»Ruby«, jammerte ich. »Wirfst du mich raus? Was soll das? Weiß Alex überhaupt Bescheid? Wo ist er?«

»Mr Hodder hat eine Besprechnung mit seinen Anwälten«, sagte sie. »Ich muss jetzt auflegen, Dempsey. Viel Glück.«

Die Verbindung wurde unterbrochen. Ich wählte Rubys Nummer, doch mein Anruf wurde sofort auf die Mailbox weitergeleitet.

Auf einmal fühlten sich meine Beine an wie aus Gummi. Ich sank auf einen Stapel leerer Weinstiegen, klappte das Handy wieder auf und durchsuchte meine Kontaktliste, bis ich Alex’ Namen fand. Ich drückte auf die grüne Taste. Es klingelte einmal, dann hörte ich Alex’ tiefe Stimme mit seinem unverkennbar feinen Virginia-Akzent.

»Hier ist Alexander Hodder von Hodder & Associates. Wenn Sie diese Ansage hören, bin ich entweder in einem Gespräch oder unterwegs. Hinterlassen Sie eine Nachricht, dann melde ich mich, sobald ich kann. Bis dahin wünsche ich Ihnen einen wunderschönen Tag.«

»Alex?« Ich kämpfte gegen meine Tränen. »Hier ist Dempsey. Ruby hat mich gerade angerufen. Sie meinte, du hättest gesagt … also, es hörte sich an, als wäre ich entlassen. Das verstehe ich nicht. Ruf mich bitte an, Alex, damit wir das klären können. Und ich möchte gerne wissen, wie es dir geht, ja? Melde dich bitte, sobald du deine Nachrichten abhörst …«

Der Apparat piepste als Signal, dass meine Zeit abgelaufen war. Gerade wollte ich erneut anrufen, da hörte ich das verrostete Quietschen der Feuerschutztür. Lindsay schob den Kopf heraus.

»Demps? Alles in Ordnung? Wir machen uns schon Sorgen um dich. Wir dachten, du wärst von Aliens entführt worden.«

Ich erhob mich langsam. »Nicht entführt. Nur gefeuert.«

Lindsay riss ihre großen blauen Augen auf. »Echt? Er hat dir gekündigt? Einfach so?«

Ich nickte. »Zuerst meinte Ruby, ich sollte mir Urlaub nehmen. Vier Wochen. Obwohl ich gar nicht so viel habe. Ich habe für dieses Jahr nur noch drei Tage übrig. Dann sagte sie, sie würde mir die ganzen Sachen aus dem Büro schicken. Ehe ich es richtig verstand, hatte sie sich verabschiedet und mir alles Gute gewünscht.«

»Tatsächlich?« Lindsay nahm mich in die Arme. Ich trug keinen Mantel und zitterte in der Kälte. Meine Finger, die das Handy umklammerten, waren blau. »Findet Alex das in Ordnung?«, fragte sie.

»Keine Ahnung. Ruby sagte, er hätte es angeordnet. Ich habe eine Nachricht auf seinem Handy hinterlassen, damit er mich sofort zurückruft.«

Eine Träne lief mir über die Wange.

»Komm mit rein!«, sagte Lindsay und schob mich in Richtung Tür. »Das kriegen wir schon hin, keine Sorge. Es gibt nichts, was wir drei mit einer Runde Margaritas nicht auf die Reihe bekommen würden.«

3

Ich war nur rund zwanzig Minuten draußen gewesen, doch in der Zeit schien sich jeder Büroangestellte aus Washington ins Filibuster gequetscht zu haben. Aus der Musikbox erklang ein altes Lied von Madonna, und die Männer, die sich das Basketballspiel ansahen, johlten und jubelten. Mit meinen rotgeränderten Augen und der laufenden Nase schämte ich mich unsäglich – und mein neuer Status als quasi Unberührbare machte alles noch schlimmer.

»Lass Dempsey in der Mitte sitzen«, befahl Lindsay Stephanie. »Die Leute sollen sie nicht anglotzen.« Stephanie stand auf und ließ mich durch. Dankbar drückte ich ihr die Hand.

»Wir haben ein kleines Problem«, sagte Lindsay leise. »Dempsey wurde gerade rausgeworfen.«

»Das können die nicht bringen«, sagte Stephanie. »Das verstößt gegen das Gesetz. Oder nicht?«

Lindsay und ich zuckten mit den Schultern. Wir drei hatten uns zwar im Jurastudium kennengelernt, aber keine von uns hatte Kurse in Arbeitnehmerrecht belegt.

»Ich bin durch mit Washington!« Mit den Fingern malte ich Kreise in den feuchten Glasabdruck auf der Tischplatte. »Ihr guckt euch besser schon mal nach einer neuen Mitbewohnerin um.«

»Ach, hör auf!«, schimpfte Stephanie. »Übertreib nicht so. Hodder & Associates ist eine der bekanntesten PR-Firmen der Stadt. Das weiß jeder. Die werden sich gegenseitig überbieten, um dich zu engagieren. Alex schreibt dir doch bestimmt ein gutes Zeugnis, oder? Ich meine, da steht mit Sicherheit nicht drin, dass du gefeuert wurdest. Das darf er nicht, oder?«

»Ruby sprach davon, mir die Nummer eines Vermittlungsberaters zu geben. Wohl so eine Art Headhunter. Aber sie hat nichts davon gesagt, wer die Kosten übernimmt. Und ich schätze, solche Berater verlangen richtig Geld.«

»Du kennst massenweise Leute in dieser Stadt. Und wir auch«, sagte Stephanie. Sie holte ihren Blackberry hervor und scrollte durch ihre Kontaktliste. »Wir lassen einfach unsere Beziehungen spielen.«

Vom Eingangsbereich der Kneipe erscholl Geschrei. Wir sahen hinüber. Offenbar war das Spiel schlecht ausgegangen, ein Nachrichtensender war eingeschaltet worden. Und wieder konnte man in HD sehen, wie ich hinter Alex hertrippelte, meinem Untergang entgegen.

»Das guckt gerade jeder in dieser Stadt.« Ich wandte den Blick ab. »Alle hören die beiden Wörter ›Hodder‹ und ›Skandal‹. Mein Ruf ist im Eimer.«

»So ein Schwachsinn«, sagte Stephanie. »Alex wird das schon durchstehen. Und du auch. Du weißt doch, wie so was läuft. Warte einfach ab. Morgen wird eine andere Sau durchs Dorf getrieben. Ein Kongressabgeordneter, der seine Praktikantin befummelt hat, ein kleiner Krieg am Arsch der Welt, und niemand erinnert sich mehr an Hoddergate.«

»Sie hat recht«, sagte Lindsay. »Ist ja nicht so, dass du etwas getan hättest. Gegen dich liegt keine Anzeige vor, oder?«

Ich versuchte zu lächeln. Es fühlte sich falsch an. »Ruby sagt, das FBI hätte meine Festplatte mitgenommen. Mit allen E-Mails der letzten sechs Monate.«

»Du meine Güte!«, rief Stephanie. »Auch meine Mails vom letzten Oktober, als ich so lange auf meine Tage gewartet habe? Die hast du doch gelöscht, oder? Und die über meine zickige Chefin?«

Lindsays Gesicht nahm einen leicht grünlichen Farbton an. »O Gott! Ich hab dich doch gefragt, ob Alex mal Licatas Büroleiter anhauen könnte wegen einem Job für meine Cousine. Du Scheiße! Hinterher glaubt das FBI noch, dass ich mit diesem Kram etwas zu tun habe!«

»Scheiße«, sagten wir drei wie aus einem Munde.

Wieder klingelte mein Handy. Ich schaute aufs Display. Es zeigte eine kalifornische Vorwahl.

»Das ist Lynda«, sagte ich düster. Ich ließ das Handy fünfmal klingeln. Dann hörte es auf, nur um sofort von neuem zu beginnen. »Ich will jetzt nicht mit ihr sprechen.«

»Du willst nicht drangehen, wenn deine Mutter anruft?«, fragte Lindsay. »Ganz schön herzlos, oder?«

»Ihr habt meine Mutter doch bei der Abschlussfeier kennengelernt«, erinnerte ich die beiden. »Kam sie euch da wie der Typ Mensch vor, mit dem man mitten in einer Krise sprechen will?«

Das Telefon verstummte und klingelte nach kurzer Pause wieder los.

»Stell entweder das Klingeln ab oder geh dran!«, schimpfte Stephanie. Ich stand auf, sie ließ mich vorbei.

Draußen in der Gasse holte ich tief Luft und drückte auf die grüne Taste. »Lynda?«

»Schätzchen!«, rief sie. »Ich sehe dich gerade auf CNN. Also, sei bitte nicht böse, wenn ich dir das sage, aber du solltest wirklich mal zu mir kommen, damit mein Stylist was aus deinen Haaren machen kann. Vielleicht ein paar Stufen reinschneiden, damit die Wangenknochen nicht so hart wirken. Du hast nun mal diese unseligen Wangenknochen von den Killebrews, mit denen man immer ein bisschen wie ein Indianerhäuptling aussieht. Und dann die Farbe! Was ist das für eine Farbe?«

Ohne nachzudenken, betastete ich meine Wange und zog an einer Haarsträhne, um nachzusehen, was damit nicht stimmte. Meine Haare hatten einen für mein Empfinden absolut schönen dunkelbraunen Farbton.

»Mom, das ist meine normale Haarfarbe«, sagte ich. »Ich habe gar nichts damit gemacht.«

»Quatsch!«, entgegnete sie forsch. »Egal, deshalb musst du ja nicht dein Leben lang brünett bleiben. So wie du gerade im Fernsehen aussiehst, brauchst du dringend ein komplettes Umstyling, da fängt man am besten mit den Haaren an. Von deiner Kleidung möchte ich gar nicht erst reden. Verrat mir mal bitte, ob alle jungen Frauen in Washington so enge Röcke und High Heels tragen müssen! Damit siehst du aus wie eine Gefängniswärterin!«

Ich schloss die Augen und versuchte mir meine Mutter in ihrem Juwelierladen in San José vorzustellen, wo sie auf einen kleinen Fernseher schaute. Sie trug mit Sicherheit Kleidung in leuchtenden Blau-, Grün- und Gelbtönen, denn die hatte sie zu ihrem Markenzeichen ernannt, vielleicht ein fließendes Seidentop mit Blumenmuster und eine Yogahose. Bestimmt war sie barfuß, hatte French Pedicure auf den Zehnägeln und trug einen Ring – selbstverständlich von ihr entworfen – am zweiten Zeh links und rechts. Es war fast sechs Uhr in Washington, entsprechend war es in Kalifornien kurz vor drei. Zu der Uhrzeit genehmigte Lynda sich gerne ein Perrier mit Limette und Wodka – natürlich kohlenhydratarmer Wodka.

»In Washington erwartet man von den Frauen, sich businessmäßig zu kleiden«, sagte ich. »Ohne Zehenringe und sichtbare Tattoos.« Lynda hatte sich vor gut zehn Jahren einen Schmetterling auf den Hintern stechen lassen.

»Ein Grund mehr, schnell von da zu verschwinden und in das nächste Flugzeug gen Süden zu steigen«, sagte sie. »Hast du wirklich so großen Ärger?«

»Ich weiß es nicht«, gab ich zu. »Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen. Jedenfalls nicht absichtlich. Ich bin nur ein ganz kleiner Fisch. Das FBI hat es wahrscheinlich auf den superdicken Fisch abgesehen – den Kongressabgeordneten Licata.«

»Die verfluchten Republikaner«, schimpfte Lynda. »Null Sinn für Humor.«

»Nicht wenn es um Bestechung geht.«

Ich hörte leise Eiswürfel klirren und nahm an, dass sie sich noch einen Drink machte.

»Ich komme schon klar«, sagte ich zuversichtlich. Nie im Leben würde ich gegenüber meiner Mutter zugeben, dass ich bereits gefeuert war und das FBI, noch während wir miteinander sprachen, die E-Mails meiner besten Freundinnen über zickige Chefinnen und verspätete Perioden las. »Hodder & Associates ist eine der Topfirmen in Washington. Und ich habe ein bisschen Geld zurückgelegt.«

»Natürlich«, sagte Lynda. »Du warst immer schon das vernünftigste Kind, das ich kannte. Von Anfang an wusstest du, was zu tun ist. Kamst praktisch mit einem Filofax in der Hand zur Welt. Als kleines Mädchen hast du mir immer diktiert, was ich in deine Wickeltasche packen soll. Ich zweifele keinen Moment daran, dass du klarkommst. Nur eines würde ich noch furchtbar gerne wissen. Du kannst es mir ruhig sagen. Ich meine, wir wissen ja beide, dass ich nicht die typische Fußballplatz-Mutti im Jogginganzug bin, oder?«

Ich musste lachen. Allein die Vorstellung von Lynda im Jogginganzug! Polyester und Gummibündchen! »Na gut. Was willst du wissen?«

»Dieser Alex Hodder«, sagte sie langsam. »Ich sehe ihn gerade im Fernsehen und muss gestehen, dass er ein gutaussehender Kandidat ist. Ich hatte schon immer eine Schwäche für Männer mit kantigem Gesicht und Südstaatenakzent. So hat mich dein Vater direkt bei unserem ersten Date ins Bett bekommen, der Schlawiner. Du schläfst doch mit diesem Alex, oder? Ich meine, wenn du in diesem Schlamassel mit drinsteckst, kümmert er sich doch um dich, nicht?«

»Nein, Lynda«, sagte ich. »Ich schlafe nicht mit Alex Hodder. Er ist verheiratet.«

»Hmm«, brummte sie. »Besonders verheiratet sieht der mir nicht aus.«

»Ich lege jetzt auf«, verkündete ich. »War schön, mit dir zu reden, Lynda.«

»Warte!«, rief sie schnell. »Denk darüber nach, was ich dir gesagt habe. Das mit deinen Haaren, meine ich. Leonard kann dir ein Flugticket schicken. Wir könnten uns ein gemeinsames Wellness-Wochenende gönnen. Wäre das nicht herrlich?«

»Ja«, sagte ich düster, klappte das Handy zu und ging in die Kneipe zurück. Es war jetzt ganz dunkel, die Temperatur schien um zehn Grad gefallen zu sein, es begann zu regnen.

Wieder klingelte mein Handy. »Verdammt«, stieß ich aus. Meine Eltern erinnerten sich plötzlich an ihre Tochter.

Pflichtbewusst nahm ich das Gespräch an.

»Hallo, Daddy!« Ich zwang mich zu lächeln.

»Das ist alles die Schuld deiner Mutter«, lautete sein erster Satz.

»Ich nehme an, du hast die Nachrichten gesehen.«

»Pilar hat mich im Büro angerufen. Die Jungs haben mit der Fernbedienung gespielt, auf einmal lief CNN, und da sahen sie dich, wie du von einer ganzen Reportermeute gejagt wirst, als wärst du eine Verbrecherin! Sie riefen: ›Dempsey! Dempsey!‹, kaum dass du gezeigt wurdest. Pilar hat ihnen gesagt, du hättest einen Vorlesewettbewerb gewonnen, deshalb wärst du in den Nachrichten.«

»Schön wär’s«, sagte ich schwach.

»Das klingt ziemlich ernst, Dempsey«, meinte mein Vater. »Dieser Hodder, kann man sich auf den verlassen?«

»Ja«, antwortete ich, aber fragte mich, ob das stimmte.

»Hat das Justizministerium ihn wirklich an den Eiern? Nein, warte! Wo bist du? Antworte besser nicht!«

»Ich bin in Georgetown, in einer Kneipe«, erklärte ich. »Beziehungsweise hinter einer Kneipe.«

»Du trinkst? Ist das eine gute Idee?«

»Vor einer Stunde schien das noch eine hervorragende Idee zu sein.«

»Du hörst dich ganz anders an als sonst. Muss ich noch irgendwas wissen?«

Ich biss mir auf die Lippe. Lynda hatte ich angelogen, aber mein Vater war ein anderes Kaliber. Ich hatte ihm noch nie etwas vormachen können. Ach, es war ja auch egal …

»Mir wurde gekündigt«, beichtete ich. »Auch wenn die Büroleiterin sich anders ausgedrückt hat. Sie meinte, Alex würde die Firma umstrukturieren. Um sich auf sein Kerngeschäft zu konzentrieren. Ich bekomme einen Monat bezahlten Urlaub.«

»Dieses Schwein!« Mein Vater seufzte. »Muss ich dir einen Anwalt besorgen?«

Wieder stiegen mir Tränen in die Augen. »Ich weiß es nicht. Das FBI hat meine Festplatte, da sind die E-Mails der letzten sechs Monate drauf, aber ich hab mit dem ganzen Mist nichts zu tun, Daddy. Ehrlich, ich dachte wirklich, dass die Wakeboard-Trainerin auf den Bahamas Unterricht in Wakeboard-Fahren gibt. Woher sollte ich wissen, dass sie am Ende mit dem Kongressabgeordneten in der Badewanne landet?«

Bei dem Gedanken daran, wie sich Licata mit seiner violetten Knollennase und dem behaarten Bierbauch nackt mit einer zwanzigjährigen Nutte vergnügt, erschauderte ich.

»Das ist alles die Schuld deiner Mutter«, wiederholte mein Vater. »Du warst schon immer unglaublich naiv, genau wie sie. Kein bisschen Menschenkenntnis. Als du zum Jurastudium an die Georgetown University gingst, dachte ich, du würdest diese fatale Neigung ablegen. Härter werden. Dich in der Geschäftswelt durchsetzen.«

Ich schniefte. »Eigentlich finde ich, dass ich mich durchaus in der Geschäftswelt durchgesetzt habe. Ich war unter den besten zehn Prozent meines Jahrgangs. Hodder & Associates hätte sonstwen einstellen können, aber sie haben mich genommen. Alex hat mir mal gesagt, ich sei seine erste Wahl gewesen.«

»Dafür kannst du dir jetzt auch nichts kaufen«, gab mein Vater zurück. »Mannomann! Und was hast du jetzt vor?«

Mein unmittelbarer Plan war erst mal, wieder in die Kneipe zu gehen, aufzutauen und von Bier auf Margaritas umzusteigen. Danach hatte ich nicht mehr viel auf dem Schirm.

»Weiß nicht genau«, sagte ich. »Die wollen mich zu so einem Jobcoach schicken.«

»Was für ein Schwachsinn!«, schimpfte er. »Hör zu, wir machen Folgendes: Meine Assistentin bucht dir einen Flug zu uns. Morgen. Pilar und die Jungs holen dich vom Flughafen ab, wir essen schön zusammen, dann entwerfen wir ein Strategiepapier.«

»Ein Strategiepapier«, wiederholte ich. »Wofür?«

»Für deine Zukunft!«

»Ich werde noch einen Monat bezahlt«, setzte ich an. »Ich dachte, ich ziehe mich eine Weile zurück, bringe meinen Lebenslauf auf Vordermann, rufe vielleicht ein paar ehemalige Kommilitonen an …«

»Vergiss es«, sagte mein Vater. »Wir sehen uns morgen.«

»Morgen«, wiederholte ich, klappte das Handy zu und stellte den Kragen meines Blazers gegen den eisig durch die Gasse pfeifenden Wind auf. Aha, am nächsten Tag würde ich also nach Miami fliegen und meinen Vater, meine Stiefmutter und meine beiden vierjährigen Halbbrüder besuchen. In Miami schien mit Sicherheit die Sonne.

4

Ich war genau einmal in Alex Hodders Haus im Nordwesten von Washington gewesen, als seine Gattin Trish eine Überraschungsparty zu seinem fünfzigsten Geburtstag organisiert hatte. Jetzt saß ich auf der Rückbank eines Taxis vor seinem Haus und wählte, mutig geworden durch die Margaritas im Filibuster, die Nummer seines Handys. Und wieder sprang die Mailbox an.

»Alex«, flehte ich, »geh bitte dran! Morgen bin ich weg, ich fliege zu meinem Vater nach Miami, und ich muss wirklich noch mit dir sprechen.«

Nichts.

Es regnete immer noch, die Fenster des dreistöckigen weißen Backsteingebäudes leuchteten goldgelb. Durch einen Schlitz in den schweren Vorhängen sah ich das funkelnde Kristall des Kronleuchters im Esszimmer auf der rechten Seite des Hauses. Links konnte ich die Bücherregale in Alex’ Arbeitszimmer erkennen. Vielleicht saß er dort an dem schlichten Kiefernholztisch, der ihm als Schreibtisch diente, trank einen Scotch und grübelte ebenso über seine Zukunft nach wie ich.

»Was ist nun, Ma’am?«, fragte der Taxifahrer und drehte sich zu mir um. Schon seit gut fünf Minuten standen wir vor dem Haus, weil ich zu ergründen versuchte, ob ich wirklich betrunken beziehungsweise mutig genug war, um bei Alex zu klingeln.

»Noch eine Minute, bitte!«

»Ist ja Ihr Geld«, gab er zurück, drehte sich wieder um und griff zu der ordentlich gefalteten Sportzeitung, die er gerade beiseitegelegt hatte. »Aber das Taxameter läuft!«

Der Hinweis auf die Kosten verlieh mir den Mut, den ich brauchte. Bei mir lief das Taxameter des Lebens. Ich brauchte Antworten, und zwar schnell.

»Warten Sie auf mich!« Ich sprang aus dem Wagen und knöpfte meinen Mantel zu. Eine dünne Eisschicht bedeckte die weißen Marmorstufen hoch zur Eingangstür. Ich musste mich am Handlauf festhalten, um in meinen verfluchten Stilettos nicht auszurutschen.

Ich drückte auf die Klingel und hörte es im Haus läuten. Kurz darauf näherten sich Schritte. Die Messinglaternen links und rechts der Tür leuchteten auf. »Wer ist da?«, rief eine Frauenstimme.

»Mrs Hodder?« Ich hatte Alex’ Frau nur dieses eine Mal gesehen. Es kam mir nicht richtig vor, sie jetzt Trish zu nennen. »Ich bin es, Dempsey.«

»Wer?«

»Dempsey Killebrew. Aus der Firma. Ich arbeite für Alex, also, für Mr Hodder.«

Ich hörte, dass sie etwas vor sich hin murmelte, dann klickte das Schloss. Die Tür wurde ein paar Zentimeter weit geöffnet. Trish Hodder hatte offensichtlich nicht mit Besuch gerechnet. Ihr rotbraunes Haar war zu einem Knoten auf dem Hinterkopf gedreht, in ihrem blassen, glatten Gesicht war keine Spur von Make-up zu sehen. Sie trug einen langen hellblauen Morgenmantel, der in der Taille locker geknotet war, ihre Füße steckten in weichen Lederpantoffeln, auf denen ihr Monogramm prangte.

Sonst hatte ich Trish Hodder lediglich auf Benefizveranstaltungen gesehen oder auf Bildern in den Klatschspalten der Washingtonian oder der Post. Sie war stets tadellos gekleidet und frisiert. Annabeth, eine Kollegin von mir, hatte mal erzählt, dass Trish abends ausschließlich Carolina Herrera trug und tagsüber Michael Kors oder Zac Posen. An diesem Abend offensichtlich nicht.

Sie musterte mich von oben bis unten, als versuchte sie, mich irgendwo unterzubringen. »Ach ja, Dempsey«, sagte sie schließlich. »Es ist schon ziemlich spät.«

»Ich weiß, es tut mir auch schrecklich leid, dass ich störe«, beeilte ich mich zu sagen. »Aber ich muss wirklich dringend mit Alex sprechen, bitte.«

»Sehr viele Menschen wollen Alex dringend sprechen«, sagte sie. »Aber wie Sie sich vorstellen können, hat er heute Abend für niemanden mehr Zeit. Ich bin mir sicher, dass Ruby einen Termin für Sie organisiert, wenn Sie sie morgen anrufen.«

»Ich habe schon mit Ruby telefoniert.« Bei der Erinnerung wurden meine Wangen heiß. »Sie behauptet, Alex hätte mir gekündigt.«

Trish zuckte mit den Achseln. »Dann kann er Ihnen wahrscheinlich auch nicht viel mehr sagen, oder?« Sie wollte die Tür schließen.

»Einfach so?« Meine Stimme wurde schrill. »Ich habe zwei Jahre für ihn gearbeitet, und er wirft mich raus, kaum dass wir in einen Bestechungsskandal verwickelt sind? Er sagt es mir noch nicht mal persönlich, sondern lässt mir von seiner Büroleiterin ausrichten, ich bräuchte nicht mehr aufzutauchen?«

Sie hob eine Augenbraue. »Was soll er denn sonst tun? Hören Sie, ähm, Denise …«

»Dempsey«, korrigierte ich sie. »Ich heiße Dempsey Killebrew. Seit zwei Jahren arbeite ich für Ihren Mann. Ich bin diejenige, die auf den Bahamas eine Wakeboard-Trainerin buchen sollte. Heute stand ich direkt hinter ihm, als die Bombe hochging. In diesem Moment liest das FBI meine E-Mails. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich muss wirklich dringendst mit Ihrem Mann sprechen. Ich muss wissen, wie es weitergeht.«

»Alex hat keine Ahnung, wie es mit Ihnen weitergeht«, sagte Trish. »Und ich werde ihn ganz bestimmt nicht wecken, damit Sie ihn fragen können. Er weiß ja nicht mal, wie es mit ihm selbst weitergeht. Sein Arsch steht auf dem Spiel, Schätzchen, nicht Ihrer. Ich kann Ihnen versichern, dass dem FBI die kleinen Dummchen schnurzegal sind, die für meinen Mann die schmutzige Arbeit erledigt haben. Und Alex ebenso. Sie wollen wissen, wie es weitergeht?«

Sie beugte sich vor und sah das Taxi mit laufendem Motor am Straßenrand warten. »Fahren Sie nach Hause, Dempsey! Schlafen Sie Ihren Rausch aus und überarbeiten Sie Ihren Lebenslauf! Und halten Sie sich fern von Männern wie meinem Gatten.«

Trish trat ins Haus zurück und schloss die Tür. Dann erloschen die Lampen, und ich stand in der Eiseskälte auf der Schwelle und sah zu, wie in Alex Hodders Haus ein Licht nach dem anderen ausgeschaltet wurde.

5

Wie jedes Mal bereute ich meine Kleiderwahl, sobald ich den Flughafen von Miami verließ. Als die Temperatur am Morgen in Washington knapp unter null lag, waren mir die schwarze Hose und der Kaschmirpulli noch vernünftig erschienen. Kaum trat ich aus dem Flugzeug, zog ich meine Jacke aus, dennoch klebte mir der Pulli am Rücken, der enge Rollkragen schnürte mir die Luft ab, und meine Füße in den hohen schwarzen Lederstiefeln dampften. Überall um mich herum drängten sich Menschen in kurzen Hosen und Sandalen. Ich fühlte mich wie ein Eisbär im Flamingoteich.

»Dempsey!«, hörte ich eine Kinderstimme rufen. Ein weißer Mercedes-SUV mit offenen Fenstern schoss auf mich zu, fuhr auf den Bürgersteig und erfasste beinahe meinen Koffer. Einer meiner beiden Halbbrüder winkte mir aus dem Seitenfenster ungestüm zu.

Meine Stiefmutter sprang bei laufendem Motor aus dem Wagen. »Schnell!«, rief sie atemlos. »Ich bin jetzt zum vierten Mal hier vorbeigefahren. Wenn die Bullen sehen, dass ich wieder halte, bekomme ich einen Strafzettel.«

Sie gab mir einen Kuss auf die Wange, ließ die Kofferraumklappe hochschnellen und überließ es mir, mein Gepäck hineinzuhieven. Ich schlug die Klappe zu und lief um den Wagen herum zur Beifahrerseite.

»Ah«, rief Pilar, »steig hinten ein, ja? Ich habe den Jungs versprochen, dass du bei ihnen sitzt.«

»Okay.« Leicht genervt sprang ich auf den Rücksitz zu den Kindern, die beide in ihren Kindersitzen saßen. Garrett schlief tief und fest.

»Wie geht es dir, Gavin?« Ich lächelte den Jungen links von mir breit an.

»Nein!«, rief er. »Keine Dempsey.« Mit beiden Händen hielt er sich die Augen zu.

Mit einem Hopser fuhr Pilar vom Bürgersteig und raste los.

»Tut mir leid«, sagte sie, während sie von einer Spur auf die andere wechselte, »die beiden scheinen die Trotzphase aus dem zweiten Lebensjahr ewig in die Länge zu ziehen. Egal, was Garrett macht, Gavin will das Gegenteil. Nach dem Mittagessen waren sie so aufgeregt, dass sie dich abholen durften, dass sie nicht in ihre Spielgruppe wollten. Wie du jetzt siehst, ist Gavin gerade in der Verneinungsphase.«

»Keine Dempsey!«, rief der Junge wie auf ein Stichwort. »Geh weg!«

Pilar reichte mir ein kleines Fläschchen Apfelsaft und eine Plastiktüte mit Tierplätzchen. »Hier, gib ihm die! Wenn sein Blutzucker absinkt, wird er unausstehlich.« Sie drehte sich auf dem Sitz nach hinten und warf ihrem Sohn ein strahlendes Lächeln zu. »Guck mal, was deine Schwester für dich hat!«

Gavin nahm die Hände gerade lange genug vom Gesicht, um ihr die schon geöffnete Flasche aus der Hand zu schlagen. Der Saft landete auf meinem Pulli.

»Jetzt guck dir an, was du angestellt hast!«, rief Pilar. »Apfelsaft auf den Ledersitzen, die ich gerade sauber gemacht habe! Da wird Papí aber böse sein! Und Mommy ist auch ganz böse!«

Und die große Schwester Dempsey war ebenfalls klatschnass vor Apfelsaft und auch nicht gerade erfreut, ergänzte ich in Gedanken. Ich gönnte mir ein Tierplätzchen und aß es schweigend.

»Muss Dad heute arbeiten?«, fragte ich schließlich.

Pilar seufzte schwer. »Heute ist Samstag, aber er musste natürlich ins Büro, um noch irgendetwas fertigzumachen. Anschließend ist er golfen. Klientengolf nennt er das.« Sie murmelte etwas auf Spanisch und schielte auf die schmale goldene Armbanduhr an ihrem gebräunten Handgelenk. »Jetzt haben wir’s vier. Wenn wir gut durchkommen, sind wir vielleicht um fünf zu Hause. Könnte sein, dass er dann schon da ist.«

In der folgenden Stunde informierte mich Pilar ausführlich über ihre Fähigkeiten als Tennisspielerin – ihr Doppelpartner behauptete, sie mache enorme Fortschritte – und über die Arbeiten an dem Haus, das sie in Coral Gables bauten.

»Ich darf Mitch nicht mit dem Bau belasten. Ay dios mio! Als ihm gestern Abend die Rechnungen in die Hände fielen, dachte ich, er bekäme einen Herzinfarkt! Ich bin Mittwoch auf der Baustelle gewesen, da hatten diese Idioten den Marmor für das Kinderbadezimmer im Bad des Hausmädchens eingebaut! Ist das zu fassen? Ich habe ihnen gesagt, dass sie alles wieder rausreißen müssen. Das meiste war natürlich nicht mehr zu retten. Dann wurden die Leuchten für das Arbeitszimmer deines Vaters geliefert, und keine davon war richtig. Französische Bronze, das habe ich denen ungefähr tausendmal gesagt. Und was wird geliefert? Messing!«

Schließlich bogen wir in die Einfahrt des Hauses ein, ein niedriges, weißverputztes Ranchhaus, das sie so lange gemietet hatten, bis der Neubau fertig sein würde. Pilar drückte auf eine Taste, und das Tor der Doppelgarage glitt langsam nach oben. Ein glänzend schwarzer Porsche stand auf der rechten Seite, aus dem offenen Verdeck ragten Golfschläger.

»Gut.« Pilar stellte den Motor aus. »Er ist zu Hause.« Sie warf einen kurzen Blick auf Garrett, der immer noch schlief, dann auf Gavin, der ebenfalls eingedöst war. »Kannst du mir helfen, sie ins Haus zu tragen? Mitch hat Rückenprobleme, ich will ihn nicht damit belästigen.«

Irgendwie gelang es uns, die schlafenden Jungs aus ihren Kindersitzen ins Haus zu bringen, wo wir sie auf ihre Betten legten.

»Hier herrscht so ein Durcheinander.« Pilar führte mich mitsamt meinem Koffer in die Küche, vorbei an Bergen von Spielzeug und einem Korb mit noch nicht gefalteter Wäsche. »Ich kann es nicht erwarten, in das neue Haus umzuziehen. Ich habe Mitch gesagt, wenn ich hier noch einmal zu Thanksgiving einen Truthahn braten muss …«

»Dann passiert was?«, fragte mein Vater, der mit zwei Martinis an der Spüle stand.

»Dann bringe ich dich um«, sagte Pilar, nahm ein Glas und gab ihm einen innigen Kuss. »Ich bin hundertprozentig kubanisch, schon vergessen? Wir sind sehr heißblütig.«

Er erwiderte ihren Kuss, reichte mir einen Martini und legte seiner Frau den Arm um die Taille. »Deshalb habe ich dich ja geheiratet. Und wegen deiner Kochkünste.«

»Hallo, Daddy«, sagte ich, gab ihm einen Kuss auf die Wange und stellte das Martiniglas auf den Küchentresen. Martini war noch nie mein Ding. »Wie war’s beim Golfen?«

»Gut«, sagte er. »War der Flug in Ordnung? Wie findest du deine kleinen Brüder? Sind das nicht die schlimmsten Nervensägen, die du je gesehen hast?«

»Gavin hat seinen Apfelsaft auf Dempsey gekippt«, berichtete Pilar. »Jetzt muss ich den Wagen schon wieder reinigen lassen.«

Während mein Vater und Pilar sich darüber austauschten, was sie tagsüber erlebt hatten, entschuldigte ich mich, um mich fürs Abendessen fertigzumachen.

»Du schläfst auf dem Klappsofa im Fernsehzimmer«, teilte Pilar mir mit. »Den Koffer kannst du im Arbeitszimmer von deinem Vater abstellen, du kannst das Badezimmer von den Kindern mitbenutzen. Tut mir leid. Ich kann es nicht erwarten umzuziehen. Im neuen Haus haben wir einen eigenen Gästebereich …«

Während sie weiter die Vorzüge ihres neuen Hauses pries, holte ich eine Jeans und ein Oberteil aus meinem Koffer, dazu meinen Kulturbeutel, und ging duschen.

Als ich aus der Dusche kam, saß Garrett auf seinem Töpfchen und musterte mich von oben bis unten. »Du hast Brüste«, erklärte er. »Jungs mögen Brüste.«

»Ich weiß«, sagte ich und griff zum Handtuch, um mich einzuwickeln. »Bist du fertig?«, fragte ich höflich.

Er stöhnte. »Nee. Ich mache Kacka.«

»Schön für dich«, sagte ich.

Ich packte meine Sachen und flitzte ins Arbeitszimmer, wo ich mich schnell abtrocknete und anzog.

 

Pilars Kochkünste waren, wie mein Vater versprochen hatte, spektakulär. Für das Abendessen hatte sie alle Register gezogen; es begann mit Jakobsmuschel-Ceviche, gefolgt von Romanasalat mit Avocado, rosa Grapefruit, dazu gebratener Zackenbarsch, und endete mit einem Vanilleflan.

Die beiden geben ein gutes Paar ab, dachte ich, während ich sie von meinem Ende des ovalen Tischs beobachtete. Sicherlich war Pilar deutlich jünger, nur vier Jahre älter als ich, also zweiunddreißig. Sie war Stewardess gewesen, hatte aber nach der Hochzeit aufgehört zu arbeiten. Ihre glatten schwarzen Haare waren zu einem kurzen Bob geschnitten. Sie hatte einen langen Hals und große braune Augen, die meistens auf ihre Söhne oder ihren Ehemann gerichtet waren.

Auch Daddy war gut anzuschauen. Diese Erkenntnis überraschte mich irgendwie, er war schließlich kein Filmstar. Aber er legte großen Wert auf sein Äußeres. Er war gebräunt, hatte kaum Falten, und seine schwarzen Haare waren nur an den Schläfen leicht ergraut. Tatsächlich hatte er, wie Lynda mich erinnert hatte, ein markantes Kinn. Ob er damit auch bei Pilar gepunktet hatte?

Nachdem Pilar den Kaffee serviert hatte, wurden die Jungs unruhig. »Müssen sie nicht langsam ins Bett?«, fragte Dad spitz.

»Gutenachtgeschichte!«, rief Garrett und warf seine Trinklerntasse auf den Tisch.

»Ich will die Geschichte vom Rentier hören«, sagte Gavin. »Liest du mir die vor, Papí?«

»Das ist ein Weihnachtsbuch«, erklärte Pilar. »Papí sucht dir eine andere schöne Geschichte heraus.«

»Heute nicht«, sagte Dad und schob sich vom Tisch zurück. »Dempsey und ich müssen ein paar Dinge besprechen.« Er drückte jedem Sohn einen Kuss auf den Scheitel. »Seid lieb und brav, wenn euch eure Mommy heute eine kurze Geschichte vorliest, ja?«

Pilar warf ihm einen bösen Blick zu. »Ich habe gestern Abend gelesen. Du hast versprochen, dass du das heute übernimmst.« Sie wandte sich an mich. »Mitch ist ein sehr engagierter Vater. Eigentlich liest er den Jungs jeden Abend eine Geschichte vor, das ist ein schönes Ritual.«

»Wie süß«, sagte ich, stand auf und begann, den Tisch abzuräumen. Ich erzählte ihr nicht, dass Mitch mir in meiner gesamten Kindheit nur eines vorgelesen hatte, nämlich die Liste mit Vorschriften, die er an die Kühlschranktür geklebt hatte, als ich mit acht Jahren zu ihm zog.

Seltsam. Das war schon zwanzig Jahre her, dennoch hielt ich mich bis heute an diese Regeln. Ich sah sogar die ordentliche Blockschrift vor mir, in der er die Hausordnung verfasst hatte. Bett machen. Zimmer aufräumen. Jeden Morgen Badewanne und Waschbecken trockenwischen. Küche fegen. Geschirr in die Spülmaschine stellen. Kleidung zusammenlegen und wegräumen. Nicht jammern.

Mitch ignorierte Pilars Schmollen und räumte seinen und ihren Teller ab. »Kümmere du dich bitte um die Jungs. Dempsey und ich machen die Küche sauber.«

Anschließend gingen wir in das Arbeitszimmer meines Vaters, wo sein Ledersessel hinter dem verkratzten alten Mahagonischreibtisch stand. Davor waren zwei lederne Clubsessel platziert, auf einem lag mein geöffneter Koffer.

Als der Blick meines Vaters vielsagend zum Koffer schweifte, klappte ich ihn schnell zu und stellte ihn in die Ecke.

Dad setzte sich an seinen Tisch, griff zur Fernbedienung und richtete sie auf einen kleinen Fernseher im Bücherregal hinter mir. »Stört dich doch nicht, oder? Ich will nur sehen, wie sich Tiger bei der PGA-Tour schlägt.«

»So«, sagte er und legte die Fernbedienung beiseite. »Sprechen wir über deine Zukunft.«

Voller Unbehagen rutschte ich auf dem Sessel herum. »Tja, im Moment sieht es nicht besonders gut aus. Aber eine meiner Mitbewohnerinnen ist mit einem Typen zusammen, der für eine Firma arbeitet, die ganz viel im Bereich Umweltschutz macht. Dafür interessiere ich mich schon …«

»Mist!«, schimpfte er mit Blick auf den Fernseher. »Zwei Schläge über Par.« Dann sah er mich an. »Umweltschutz? Ich dachte, du bist Lobbyistin, keine Müslitante.«

»Grüne Themen sind momentan sehr angesagt«, gab ich zurück. »Das heißt noch lange nicht, dass ich ein Öko bin. Zufällig ist mir unser Planet nicht egal. Schließlich habe ich zwei Halbbrüder.«

Dad runzelte die Stirn. »Nenn sie nicht so! Sie sind keine halben Menschen. Denkst du so über sie? Dass sie nur halb mit dir verwandt sind?«

»Nein«, versicherte ich ihm schnell. »Ich wollte bloß sagen, dass es mir etwas ausmacht, in was für einer Welt sie aufwachsen.«

»Gut«, sagte Dad und drückte auf den Stummschalter der Fernbedienung. »Dieser Bekannte – weißt du, ob die in der Firma überhaupt freie Stellen haben? Was sie so zahlen?«

»Nein, aber …«

»Spricht irgendetwas dagegen, dass du als Anwältin arbeitest?« Er lehnte sich auf seinem Schreibtischsessel zurück. »Schließlich hast du einen Abschluss in Jura von dieser teuren Uni.«

»Schon«, begann ich, »aber seit ich mit der Uni fertig bin, arbeite ich an politischen Konzepten. Selbst meine Praktika habe ich bei Wirtschaftsverbänden und PR-Firmen gemacht. Ich habe nie als Anwältin gearbeitet.«

»Gegen meinen Rat, falls du dich erinnerst«, sagte Dad. »Du bist Anwältin, Mensch nochmal! Hol dir das große Geld, dieses Rumdaddeln mit Politik bringt doch nichts!«

»Also, mit Politik bin ich erst mal durch«, erwiderte ich reumütig. »Dank dem Kongressabgeordneten Licata.«

»Mit dem Arschloch will ich gar nicht erst anfangen«, rief Dad. »Egal, das ist eh alles den Bach runter. Also, wie sieht dein Plan aus?«

Wieder schaute er zum Fernseher hinüber.

»Ich habe leider nicht viel Geld sparen können«, gab ich zu. »In Washington ist alles so teuer. Allein für die Miete zahle ich zweitausend im Monat …«

»Zweitausend im Monat?« Pilar kam ins Zimmer und reichte Mitch noch einen Martini. »Um sich mit zwei anderen Frauen ein winziges Loch zu teilen? Mit nur einem Badezimmer? Und einer Küche, kaum größer als eine Badewanne? Du musst runter nach Miami ziehen, Dempsey, es reicht!«

»Pilar«, sagte Dad mit warnendem Unterton.

»Lächerlich!« Sie winkte ab, um zu signalisieren, dass sie ihren Teil gesagt hatte.

Ich sprach schnell weiter. »Für diesen Monat habe ich meinen Anteil an der Miete gezahlt, die Mädchen haben mir angeboten, dass ich auf jeden Fall noch einen Monat länger bleiben kann, da wir das auch letztes Jahr für Lindsay gemacht haben, als sie arbeitslos war.«

»Aber langfristig?«, fragte Dad.

»Mir ist erst gestern gekündigt worden«, erinnerte ich ihn. »Ist ja nicht so, dass es meine Idee war, das FBI gegen meinen Chef ermitteln zu lassen.«

»Unterlassene Planung ist gleich geplantes Versagen«, dozierte Dad. Ich biss die Zähne aufeinander. Wie oft hatte ich diesen Grundsatz im Laufe meines Lebens schon gehört?

Mir kam ein teuflischer Gedanke.

»Lynda rief an, kaum dass ich im Fernsehen war«, sagte ich beiläufig. »Sie will, dass ich nach L.A. komme und eine Weile bei ihr bleibe. Sie hat jede Menge Kontakte …«

»Kontakte!« Dad stellte sein Martiniglas mit so viel Schwung ab, dass die Flüssigkeit über den Rand schwappte. »Mit Kontakten meint sie, dass ihr Freund jede Menge Geld und reiche Freunde hat.«

»Leonard hat sehr viele Kunden in der Filmbranche«, provozierte ich ihn weiter. »Keine Ahnung, ob ich bis zum Ende meines Lebens Medienrecht machen will, aber eine Zeitlang könnte ich mir das durchaus vorstellen …«

»Wie lange ist deine Mutter überhaupt schon mit diesem Knilch zusammen?«, wollte Mitch wissen.

»Ungefähr vier Jahre«, schätzte ich. »Leonard tut Lynda wirklich gut. Um ehrlich zu sein, versteht sie sich mit ihm besser als mit jedem anderen, mit dem sie verheiratet war.«

Pilar gönnte sich einen Schluck Martini. »Hat sie angeboten, dir finanziell unter die Arme zu greifen?«

»Nein«, gestand ich. »Aber wenn ich sie fragen würde …«

»Vergiss es«, sagte mein Vater. »Wir wollen nicht, dass du diesem aalglatten Hollywood-Typen Geld schuldest. Nicht auszudenken, in was für zwielichtige Geschäfte er dich reinziehen würde. Deine Mutter hatte noch nie viel Menschenkenntnis.«

Ich sah ihn vielsagend an. Es entging ihm völlig.

»Kalifornien ist gestrichen«, sagte er, als wäre es damit entschieden.

Ich beschloss, den Moment zu nutzen. »Am allerliebsten würde ich in Washington bleiben. Da bin ich zur Uni gegangen, da habe ich die meisten Kontakte. Dad, wenn du mir nur eine Zeitlang helfen könntest, ungefähr drei Monate, maximal sechs. Ich bekomme eine Abfindung für vier Wochen und denke, dass ich mit dreitausend monatlich hinkommen würde. Das wäre auch nur geliehen. Ich würde Zinsen und so weiter zahlen. Ich habe alles durchgerechnet. Miete, Nebenkosten, Lebensmittel und das Studiendarlehen.«

Mitch leerte sein Glas. »Das ist auch so ein Thema: Georgetown University! Du hättest zu jeder Universität im Osten gehen können, ganz zu schweigen von Chicago und Denver. Diese verfluchten Jesuiten! Die lassen dich nicht mehr aus ihren Klauen. Wenn du auf mich gehört hättest und auf die Florida State gegangen wärst, hättest du als Einwohnerin geringere Gebühren …«

»Ich habe aber nicht in Florida gelebt«, erinnerte ich ihn. »Ich habe mir selbst ein Stipendium besorgt und einen Kredit aufgenommen, ich habe dich um nichts mehr gebeten, nachdem ich das Grundstudium abgeschlossen hatte.«

Pilar hatte einen Taschenrechner aus ihrem Sommerkleid gezaubert und gab kopfschüttelnd Zahlen ein. »Dreitausend Dollar? Das sind ja ingesamt achtzehntausend.« Ihre mit Kajal umrandeten Augen traten hervor.

»Ay dios mio! Soll ich dir mal sagen, womit ich monatlich auskomme?«

Sollte sie nicht. Und ganz bestimmt wollte ich sie nicht dabeihaben, wenn ich mit meinem Vater über Finanzen diskutierte. Genauso wenig wollte ich hören, wie ihr sonst nur schwacher Akzent immer stärker wurde.

»Wir haben hier zwei kleine Jungs. Hast du eine Ahnung, wie viel ein Karton Windeln kostet? Und ich kaufe nicht mal Markenwindeln, also komm mir nicht damit, Mitch. Lebensmittel, Strom und Gas, du müsstest mal die Stromrechnung sehen – diese Kaschemme ist kein Stück isoliert. Kindergarten! Der Laden nimmt tausendsechshundert im Monat. Mal zwei.« Sie war aufgestanden, stützte die Hände in die Hüften. »Wenn meine Jungs zur Highschool kommen, kostet die sechstausend im Monat. Wieder mal zwei, vorausgesetzt, der liebe Gott sorgt dafür, dass Gavin bis dahin trocken ist. Und was ist mit dem neuen Haus? Glaubst du, das baut sich von alleine?«

»Pilar!«, sagte Mitch bestimmt. »Niemand hat gesagt, dass die Jungs auf eine staatliche Schule gehen müssen. Oder dass wir in diesem Haus bleiben.«

»Wenn du das sagst …« Sie setzte sich.

Mein Vater zog die unterste Schreibtischschublade auf und holte einen Ordner heraus. Er öffnete ihn, las das Deckblatt und nickte anerkennend.

»Ich habe eine andere Idee«, sagte er.

Pilar verdrehte die Augen. »Ich kann es kaum erwarten.«

6

Mein Vater schob ein vergilbtes Schwarzweißfoto über den Tisch. Ich nahm es in die Hand und betrachtete es. Es zeigte ein großes altes Haus, wahrscheinlich vor dem Krieg gebaut. Hohe weiße Säulen säumten eine breite Veranda, davor stand eine Hecke mit blühenden Sträuchern. Eine Frau in einem Reifrock und einer Fünfziger-Jahre-Frisur posierte auf der Veranda und winkte, als führe ein Reisebus vorbei.

»Was ist das?«

Pilar nahm mir das Bild aus der Hand und runzelte die Stirn.

»Ja, was ist das?«

»Birdsong«, sagte Mitch selbstgefällig. »Der Familiensitz meiner Großmutter mütterlicherseits.«

»Deine Oma hat auf einer Plantage gelebt?«, fragte Pilar. »Davon hast du mir nie etwas erzählt.«

»Ist das das Haus südlich von Atlanta?«, fragte ich.

»In Guthrie, Georgia«, erklärte er. »Zweiundsechzig Meilen südlich von Atlanta, um genau zu sein.« Dad lächelte wehmütig.

»Ich bin dort zwar nicht geboren, aber meine Eltern sind vom Krankenhaus aus sofort mit mir dorthin gefahren. Ich glaube, ich habe jeden Sonntag dort verbracht, bis Dad mit mir fortzog, als ich sechs war.«

»Als sich deine Eltern trennten?«, fragte ich. Ich wusste, dass sich seine Eltern hatten scheiden lassen, als er noch klein war, dass er mit seinem Vater von Georgia nach Nashville gezogen war, noch ehe er in die Schule kam, auch wenn er sonst nie viel über seine ersten Lebensjahre gesprochen hatte.

»Genau«, sagte mein Vater. »Nachdem wir fortgezogen sind, bin ich vielleicht noch fünf-, sechsmal dort gewesen, zu Besuch bei meiner Mutter und den Großeltern, aber ich denke, zum letzten Mal habe ich das Haus mit zwölf Jahren gesehen. Um ehrlich zu sein: Ich hatte es vollkommen vergessen, bis ich diesen Brief von den Anwälten bekam.« Er tippte auf den Aktenordner.

»Mein Großonkel Norbert war der letzte Dempsey«, erklärte er. »Ein alter Farmer. Nicht verheiratet, keine Kinder. Er starb vor ein paar Monaten im hohen Alter von siebenundneunzig Jahren. Und offenbar hat er mir Birdsong hinterlassen.«

Pilar sah mich an. »Wurdest du nach der Familie benannt? Ich hab mich immer schon gefragt, warum du so einen ungewöhnlichen Namen hast.«

»Das war Lyndas Idee«, sagte Mitch trocken. »Sie war total begeistert von dieser Südstaatenromantik und den alten Familiennamen. In der Schwangerschaft bekam sie eine alte Familienbibel in die Hände und suchte darin nach einem Namen für das Kind. Ich fand, dass Dempsey eine furchtbare Wahl für ein kleines Mädchen ist, aber sie war total begeistert davon.«

Pilar sah mich an und verdrehte die Augen. »Nimm’s mir nicht übel, aber es hört sich an, als wäre deine Mutter verrückt.«

Aus irgendeinem Grund hatte ich das Bedürfnis, Lynda und ihre Namenswahl zu verteidigen.

»Auf der Grundschule habe ich meinen Namen gehasst. Aber als ich ins Internat kam, war es irgendwie cool, die einzige Dempsey zu sein.«

Ich wandte mich an Mitch. »Ich wollte schon immer mal Fotos vom mütterlichen Zweig deiner Familie sehen. Um mir ein Bild von den Menschen zu machen, deren Namen ich trage.«

»Nach der Scheidung wollte mein Vater nichts mehr mit den Dempseys zu tun haben«, sagte Mitch. »Er sprach nie von ihnen, es war also wohl keine sogenannte einvernehmliche Trennung.«

»Aber jetzt hat dir der Onkel ein Plantagenhaus hinterlassen«, rief Pilar aufgeregt. »Wie viele Hektar Land? Wie viele Zimmer hat es?« Sie nahm das Foto wieder in die Hand und studierte es gründlich. »So was muss eine Menge wert sein.«

Mitch schüttelte den Kopf. »Nicht, wenn man dem Anwalt glaubt.« Er setzte eine Hornbrille zum Lesen auf und nahm einen Brief aus dem Ordner.

»Carter Berryhill, also der Anwalt, der den Nachlass meines Großonkels verwaltet, schreibt, dass Birdsong auf einem Grundstück von gut dreitausend Quadratmetern steht. Früher gehörten mal mehrere hundert Hektar Land dazu, aber ich nehme an, dass die Dempseys es im Laufe der Jahre verkauft haben und der Ort immer näher an das Haus heranrückte.«

»Keine Plantage?« Pilar machte ein langes Gesicht.

»Tut mir leid«, sagte Mitch. »Als meine Großeltern dort lebten, hatten sie vielleicht zwei bis drei Hektar. In meiner Kindheit kam es mir riesengroß vor, es gab eine Scheune, in der früher mal Pferde gestanden hatten, eine kleine Weide, wo mein Opa eine Kuh hielt, dazu einen Hühnerstall und einen großen Blumen- und Gemüsegarten. Für ein Kind ist das natürlich riesengroß.«

Er fuhr mit dem Finger über die getippten Zeilen. »Berryhill schreibt, die Immobilie wurde vor kurzem auf 98000 Dollar geschätzt.«

»Mehr nicht?« Pilar stand auf und ging hinter den Schreibtisch, um ihrem Mann über die Schulter zu schauen und sich zu vergewissern, dass er sich nicht vertan hatte.

»Das ist so gut wie nichts«, klagte sie.

»Mir kommt es auch wenig vor«, sagte Mitch. »Birdsong war schon etwas Besonderes. In meiner Kindheit war es das größte und schickste Haus im Ort. Berryhill schreibt allerdings, dass der alte Norbert seit einigen Jahren bei schlechter Gesundheit war und das Haus daher ziemlich heruntergekommen ist; so erklärt sich vielleicht der Preis.«

Ich nahm das Foto in die Hand und betrachtete es genauer. Die Südstaatenschönheit auf der Veranda wirkte irgendwie vertraut. Ich hielt meinem Vater die Aufnahme hin.

»Wer ist das?«

Er betrachtete das Bild mit zusammengekniffenen Augen. »Das ist so grobkörnig und alt, dass es schwer zu sagen ist. Könnte meine Mutter sein. Vielleicht auch einfach ein hübsches Mädchen aus dem Ort. Guthrie, so heißt das Städtchen, wollte immer gerne ein Ort wie aus Vom Winde verweht sein. Im Frühling gab es ein Fest, da zogen alle Frauen Reifröcke und Kleider wie auf diesem Foto an. Ich glaube, das hatten sich die Besitzer der Tuchfabrik und die Geschäftsleute ausgedacht, um Touristen von der Autobahn herunterzulocken.«

Ungläubig sah Pilar meinen Vater an. »Du weißt nicht mal, ob das deine eigene Mutter ist?«

»Als sie starb, war ich neun«, erwiderte er leise. »Jedenfalls«, fuhr er fort und schob mir den Ordner über den Schreibtisch zu, »habe ich das hier für dich gedacht.«

»Was? Ich soll einen Reifrock anziehen und Touristen zuwinken?«

»Birdsong«, sagte er begeistert. »Mein erster Gedanke war, diesem Berryhill zu sagen, dass er losgehen und es zum Kauf anbieten soll, und das war’s. Das war mein Plan, bis wir telefonierten und du sagtest, sie hätten dich rausgeschmissen.«

Ich zuckte zusammen.

»Sieh mal«, sagte er, »du hast keine Arbeit. Letztlich auch kein Geld. Keine Wohnung …«

»Die Mädchen haben gesagt, dass ich noch länger …«

»Bis deine Ersparnisse aufgebraucht sind. Danach liegst du ihnen auf der Tasche.«

»Nicht wenn du mir Geld leihst …«

»Verleihe nie Geld an Verwandte«, unterbrach er mich. »Das ist mein Grundsatz. Wie willst du das Geld denn zurückzahlen? Es steht doch nicht fest, dass du eine neue Stelle bekommst, solange dieses Schlamassel über dir schwebt.«

»Willst du damit sagen, dass ich nach Guthrie in Georgia ziehen soll? In einen Ort, wo ich noch nie war? In ein Haus, das ich noch nie gesehen habe?«

Er klopfte mit der Brille auf das Foto. »Du siehst es jetzt.«

»Das ist mit Sicherheit die letzte Absteige«, sagte ich ausdruckslos.

»Möglich. Aber nicht, wenn wir damit fertig sind.«

»Wir?«

»Ich dachte, wir könnten eine kleine Abmachung treffen.«

»Was für eine Abmachung?«, fragte ich argwöhnisch.

»Ich glaube, dass wir das Haus auf Vordermann bringen können«, sagte er. »Du und ich. Es interessiert mich nicht, was so ein Bauernanwalt vom Land denkt. Ich weiß, dass der Familienstammsitz mehr als 98000 Dollar wert sein muss. Deutlich mehr. Als ich klein war, schien Atlanta immer ewig weit weg zu sein. Aber durch die Ausdehnung der Städte ist Guthrie inzwischen praktisch ein Vorort von Atlanta. Ich habe mal ein bisschen recherchiert: Die Immobilienpreise im Jackson County sind in den letzten Jahren absolut in die Höhe geschossen. Modernisiert könnte Birdsong das perfekte repräsentative Anwesen für einen Manager aus Atlanta sein. Oder ein Landsitz. Mensch, allein das Haus hat 630 Quadratmeter. Eine historische Immobilie wie die muss komplett restauriert eine halbe Million Dollar wert sein.«

Pilar nickte begeistert. »Mindestens. Für das Geld bekommt man in Miami nicht mal einen Hühnerstall.«

»Ich verlange ja nicht von dir, dass du für alle Zeit da unten bleibst«, sagte Mitch.

»Genau«, bestätigte Pilar. »Du kannst nicht erwarten, dass dein Dad und ich dich ewig umsonst dort wohnen lassen. Wir müssen auch unsere Rechnungen bezahlen, ja?«

»Redest du von einer Renovierung? So wie in den Reality-Shows im Fernsehen?«

»Das machen die Leute doch ständig. Und verdienen viel Geld damit«, sagte Mitch.

»Vielleicht Leute, die sich auskennen. Aber ich habe keine Ahnung davon«, warf ich ein.

»Was redest du da? Ich weiß noch, als du ganz klein warst und wir dir ein Barbie-Traumhaus zum Geburtstag geschenkt haben. Du hast die ganzen Plastikmöbel rausgeworfen, die da drin standen, und hast es wochenlang umgebaut mit Tapetenschnipseln und Stofffetzen aus einem Musterbuch, das deine Mutter herumliegen hatte.«

Er wandte sich an Pilar. »Das war in der Phase, als Lynda Innenarchitektin werden wollte. Vorher wollte sie Fotomodell werden, danach Bildhauerin. Wenn ich das Geld für all den Kunstunterricht, die Bücher und den Kram zurückbekäme, den diese Frau haben wollte …«

»Hör auf, Lynda wie eine Verrückte hinzustellen!« Ich war seine Vorwürfe leid. »Sie ist eine sehr gefragte Künstlerin. Seit Jahren entwirft sie Schmuck, der in den angesagtesten Läden von Hollywood verkauft wird.«

»Hollywood!«, giftete Mitch. »Wo auch sonst sollte jemand eine Kette aus kaputten Rücklichtern und Bierdosenverschlüssen kaufen?«

»Für mehrere tausend Dollar«, fügte ich hinzu. »Das sind ihre Preise!«

»Wenn du das sagst«, lenkte mein Vater ein, doch sein Ausdruck verriet mir, dass er es nicht glaubte. »Ich will jedenfalls darauf hinaus, dass man kein ausgemachter Spezialist sein muss, um das Haus zu renovieren und einen schönen Gewinn herauszuschlagen.«

»Kann sein.« Jetzt war ich diejenige, die ihm nicht glaubte.

»Ich sag dir was. Du gehst nach Georgia. Richtest dich in dem Haus ein und machst dich an die Arbeit. Ich gebe dir eine Kreditkarte, damit du Material, Essen und so weiter kaufen kannst. Dürfte nicht mehr als ein, zwei Monate dauern, den Kasten aufzuhübschen, oder? Dann verkaufen wir das Ding und teilen uns den Gewinn. Wie hört sich das an?«

»Was?«, kreischte Pilar. »Das hört sich nach einem absoluten Wahnsinnsgeschäft an! Wie wäre es, wenn Dempsey hier bei den Jungs bleibt und ich da hoch ziehe und das Haus verkaufsfertig mache? Dafür brauche ich nicht mal einen Monat, das kann ich dir schon so sagen.«

Dad erhob sich und legte den Arm um Pilar. »Ach, Mäuschen, du willst dich doch nicht mit einem schmutzigen alten Haus in einer schäbigen kleinen Stadt in Georgia herumärgern. Was sollten die Jungs ohne dich tun? Ach, was würde ich ohne dich tun?«

»Du kämst schon klar«, sagte Pilar düster.

»Dempsey?« Mitch sah mich an. Ich schaute auf das Foto von Birdsong, auf die geheimnisvolle Frau im Reifrock, die einem vorbeifahrenden Auto voller Touristen zuwinkte.

»Was meinst du? Sind wir im Geschäft?«

Ich seufzte. »Abgemacht.«

7

Meine Mutter war im Gegensatz zu meiner Stiefmutter alles andere als begeistert von Mitch’ Projekt. »Guthrie in Georgia!«, rief Lynda, als ich ihr am Telefon von meinem bevorstehenden Wohnortwechsel erzählte. »Liebes, du kannst nicht dahin ziehen, wirklich, der Ort ist das letzte Kaff. Da gibt es mit Sicherheit nicht mal ein Starbucks.«

Ich packte gerade meine letzten Habseligkeiten aus der Wohnung in Alexandria ein. Nicht dass es außer meiner Kleidung und den Büchern viel gewesen wäre. Lindsay hatte die Wohnung eingerichtet, bevor Stephanie und ich eingezogen waren. Schnell hatten die beiden eine andere Freundin gefunden, an die sie mein Zimmer untervermieteten.

»Das alte Haus der Dempseys renovieren?«, fuhr Lynda fort. »Was denkt sich dein Vater eigentlich dabei? Du bist Anwältin, mein Liebling. Du hast überhaupt keine Ahnung von Immobilien.«

»Dad meint, ich hätte schon immer gerne dekoriert«, sagte ich beleidigt. »Erinnerst du dich noch an das Barbie-Traumhaus, das ich von euch bekommen habe? Dafür habe ich selbst Möbel gebaut und es komplett neu gestrichen. Dad fand, es war wirklich toll.«

»Es war gruselig«, widersprach Lynda. »Du hast mit Filzstiften von außen riesige, orangefarbene Blumen daraufgemalt, dann hast