Kein Sommer ohne Liebe - Mary Kay Andrews - E-Book
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Kein Sommer ohne Liebe E-Book

Mary Kay Andrews

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Beschreibung

Der neue wunderbare Sommerroman von Top-5-Bestseller-Autorin Mary Kay Andrews, der Garantin für die perfekte Urlaubslektüre: Liebe, Sonne und ein Dorf unter Palmen – an Floridas Golfküste ist Greer auf der Suche nach dem schönsten Strand für einen Kinofilm. Vielleicht findet sie dabei auch die große Liebe? Greer ist Location-Scout. Sie ist immer auf der Suche nach den besten Drehorten für die großen Kinofilme und sieht die schönsten Flecken dieser Welt, ein echter Traumberuf. Wäre da nicht ihr letzter Auftrag gewesen, bei dem eine ganze Plantage von der Filmcrew zerstört wurde – und Greer als die Schuldige abgestempelt wurde. Jetzt hat sie noch eine letzte Chance, um weiter im Geschäft zu bleiben: Für einen wichtigen Produzenten soll sie den perfekten Drehort finden. Nach einer endlosen Suche stößt Greer auf Cypress Key, das wohl letzte urige Fischerdorf an der Golfküste Floridas. Hier hat alles noch seinen ursprünglichen Charme – leider auch der umweltbewusste, aber durchaus attraktive Bürgermeister Eben. Der ist nämlich alles andere als begeistert von der Idee, dass eine riesige Filmcrew sein geliebtes Städtchen bevölkert und verschmutzt. Während die beiden noch streiten, merkt Greer, dass sie vielleicht gerade ihr Herz verliert …

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Mary Kay Andrews

Kein Sommer ohne Liebe

Roman

Aus dem Amerikanischen von Andrea Fischer

FISCHER E-Books

Inhalt

Widmung123456789101112131415161718192021222324252627282930313233343536373839404142434445464748495051525354555657585960616263646566EpilogDanksagung

Voller Liebe Katie und Mark gewidmet, der besten Tochter und dem besten Schwiegersohn der Welt!

1

Greer Hennessy brauchte Palmen. Grüne Palmwedel in Technicolor, die sich im Luftzug der Windmaschine wiegten, unterlegt vom Dolby-Surround-Geräusch heranrollender Wellen. Eine Totale von einem sonnengeküssten Strand sollte doch wohl kein Problem sein – schließlich war sie in Florida!

Doch die einzigen Bäume, die sie durch die insektenverklebte Windschutzscheibe ihres gemieteten Autos sehen konnte, waren spindeldürre Kiefern und Palmettopalmen, die sich endlos am Straßenrand entlangzogen.

Drei Tage zuvor war Greer in Panama City, Florida, gelandet. Vor ihrem Abflug hatte sie sich zu Hause in L.A. auf der Website der Film-und-Fernseh-Kommission von Florida umgesehen, wo es Fotos aller erdenklichen Landschaften des Bundesstaates gab, angefangen bei dem sich dunkelbraun durch den Norden windenden Susanne River über die grünen Weiden der Pferdefarmen von Ocala bis zu den Conch Houses und Bananenstauden der Florida Keys.

Am ersten Tag ihrer Erkundungsreise hatte Greer nur einen kurzen Blick auf die in den Himmel ragenden Hotels und Apartmentblocks am Strand von Panama City geworfen und war schnell auf der US98 nach Westen gefahren, dann weiter auf der 30A. Palmen hatte sie durchaus gesehen, doch sie standen in künstlich angelegten Küstenorten mit so klangvollen Namen wie Sunnyside, Rosemary Beach und Watercolor, die von Geld und Wohlstand kündeten; die farbenfrohen Häuser meinte man aus Hochglanzmagazinen zu kennen.

Das alles war wirklich hübsch. Aber verschlafen wirkte es nicht. Die Uferstraßen waren mit BMWs und fetten SUVs verstopft, entlang der Highways drängten sich Einkaufszentren, Supermärkte und Shoppingmalls.

Der Golf von Mexiko, jedenfalls das, was Greer davon sehen konnte, war durchaus schön, türkisgrün wie aus dem Bilderbuch, davor als Kontrast der weiße Sand. Perfekt für eine Werbebroschüre des Tourismusverbandes, aber alles andere als der urige Fischerort, den Greer suchte.

In der überteuerten Wohnanlage in Destin, wo sie die zweite Nacht verbracht hatte, erkundigte sie sich, wie die Orte in der Umgebung aussähen. Greer sprach nur dann über ihren Job oder ihren Auftrag, wenn es nicht zu vermeiden war.

»Ich suche etwas Ruhiges«, hatte sie der Kellnerin in einem auf Retro gestylten Restaurant namens Eggs’n’Joe lediglich gesagt. »Vielleicht ein Ort mit einem altmodischen Familienmotel. Und Fischerbooten.«

»Mexico Beach«, sagte die Kellnerin und kassierte vierzehn Dollar für einen Bagel.

Aber Mexico Beach war es nicht.

Als Nächstes fuhr Greer nach Apalachicola: Krabbenboote und Austernfischer, so weit das Auge reichte. Sie stellte den Wagen ab, sah sich die trubelige Marina an, die sogar einen eigenen Pier hatte, und machte Fotos mit dem Handy.

Nicht das, was ich mir vorstelle, simste Bryce Levy zurück.

Greer stieg wieder in ihren Wagen und fuhr auf der Küstenautobahn gen Osten.

Große Hoffnung setzte sie auf eine Insel namens Saint George Island. Dort gab es eine Gemischtwarenhandlung, ein paar Motels und den einen oder anderen T-Shirt-Laden. Die Straßen waren sandig, große mehrstöckige Häuser bildeten die Kulisse für Strandhafer und Dünen.

Greer fotografierte den Strand, eins der Motels und den Eingang zum Nationalpark, dann mailte sie die Bilder dem Produzenten beziehungsweise Regisseur. Kurz darauf piepte ihr Handy. Seine Antwort lautete: Nein.

Greer dachte zurück an ihre Besprechung mit Bryce Levy, dem neusten Wunderkind von Hollywood.

Er war seit kurzem mit ihrer besten Freundin CeeJay zusammen, und irgendwie hatte die ihn überzeugen können, dass Greer der einzige Locationscout und -manager war, der genug Erfahrung für Bryce’ nächstes großes Filmprojekt besaß.

Und das, obwohl Greers letzter Job öffentlichkeitswirksam in Flammen aufgegangen war – mit einem Prozess, Schuldzuweisungen und einem beinahe tödlichen Knick in ihrer bis dahin steilen Karriere.

CeeJay selbst hatte Greer vor zwei Wochen zu dem Meeting mit Bryce gefahren. Auf sein Drängen hin musste es unter absoluter Geheimhaltung in seiner gemieteten Villa in Brentwood stattfinden.

Der Produzent war anders, als Greer erwartet hatte. Normalerweise stand CeeJay auf bettelarme junge Künstler, die schwarzes Leder und Körperpiercings trugen.

Bryce Levy war das komplette Gegenteil. Zum einen war er deutlich älter als CeeJays bisherige Partner. Er war lässig gekleidet in einem offenen weißen Oberhemd, dessen Ärmel er hochgekrempelt hatte, so dass man seine kräftigen Unterarme sah. Er hatte eine hohe Stirn und volles, drahtiges blondes Haar. Eine Brille mit dünnem Gestell ruhte auf seiner fleischigen Nase. Bryce hatte ausdrucksstarke blaue Augen und lachte lauthals über etwas, das sein Gesprächspartner am Telefon sagte. Greer schätzte ihn auf Ende vierzig, Anfang fünfzig. Abgesehen von der Nase, die mehrmals gebrochen zu sein schien, sah er selbst wie ein Filmstar aus.

»Was wir planen, ist ein ausgesprochen ambitionierter Film«, erklärte er und lehnte sich auf dem Stuhl zurück. »Action, ein bisschen Romantik, dazu Thriller-Elemente. Ich habe zwei Topschauspieler unter Vertrag. Adelyn Davis kennt natürlich jeder. Aber ihr Partner – das ist der absolute Hammer! Es ist sein erster Film, aber der wird an den Kassen nur so abräumen, das kannst du mir glauben.«

»Du flippst aus, wenn du den Namen hörst.« CeeJays Augenbrauen hüpften vor Aufregung.

»CeeJay …« Bryce sah sie streng an.

»Schon gut, ich sage nichts.«

»Was kannst du mir über den Drehort verraten?«, fragte Greer.

»Ganz einfach: ein Küstenstädtchen. Eher verschlafen und rückständig. Auf jeden Fall Ostküste. Wir brauchen einen Ort, der aussieht wie eine Mischung aus den Filmen Heißblütig – Kaltblütig und der Stadt in Der weiße Hai.«

Greer blinzelte. »Eine Mischung aus Florida und Nantucket?«

Bryce nickte. »Genau. Ich sehe Palmen vor mir, lange, verlassene Strände, Dünen, auf denen dieses Gras wächst …«

»Strandhafer«, warf CeeJay ein.

»Genau, Strandhafer. Und diese Bäume brauche ich, wo das lange Moos drinhängt. Dazu: alte Fischerboote. So richtig runtergekommen, weißt du?«

Greer nickte. Ihr Kopf raste. Dünen, Palmen, Fischerboote, Louisianamoos? Er sprach auf jeden Fall von einer Küste im Süden.

»Der Ort sollte altmodisch sein, am besten ein rückständiges Provinznest, völlig ab vom Schuss. Wir brauchen ein Motel von der alten Sorte. Keine Kulisse, sondern eins, das noch in Betrieb ist. Auf keinen Fall hohe Apartmenthäuser oder Schnellrestaurants, nichts, was irgendwie nach Tourismus aussieht. Walt Disney muss quasi unbekannt sein! Außerdem brauchen wir ein cooles, altes Gebäude, das wir als Höhepunkt für den Film in die Luft jagen können.«

Greer machte sich Notizen über Bryce’ Wünsche.

»Ein bestimmtes altes Gebäude?«

»Ich sehe es vor mir, aber ich kann es nicht richtig beschreiben«, sagte er. »Es muss auf jeden Fall einen Wiedererkennungswert haben, so wie der Parthenon oder Fort Alamo. Ein Gebäude mit Kultpotential.«

»Aber der Film spielt schon in der Jetztzeit?«, fragte Greer.

»Klar. Bloß ist dieser Küstenort, wie ich schon gesagt habe, total hinterm Mond. Verstehst du, daraus ergibt sich ja der Konflikt. Der Protagonist kommt in die Stadt wie ein moderner Cowboy. Er hat in Afghanistan gedient und kehrt nach Hause zurück zu seiner Ehefrau, aber von der großen Liebe ist nicht mehr viel übrig. Alles hat sich verändert. Habe ich schon gesagt, dass er ein ehemaliger Navy-SEAL ist?«

»Nein, aber gut«, sagte Greer, auch wenn sie sich nicht so sicher war. Nicht ohne einen Blick ins Drehbuch oder zumindest in ein Treatment geworfen zu haben.

»Darf ich den Namen des Projekts erfahren?«

Bryce und CeeJay tauschten wissende Blicke aus.

»Beach Town«, sagte Bryce. »Knaller, was?«

Das Problem bestand darin, dass das Projekt vor einer Kulisse gefilmt werden sollte, die eine Mischung aus zwei über fünfunddreißig Jahre alten Filmen war. Bryce wusste nicht oder interessierte sich nicht dafür, dass das Florida seiner Phantasie nicht mehr existierte – wenn es das je getan hatte. Er verlangte einfach Palmen, Louisianamoos und verrostete Krabbenkutter. Und ein Fort Alamo, das er in die Luft jagen konnte.

Greer nahm ihr Handy und verschickte eine SMS:

Finde nicht die passende Kombination von Fischerdorf/Strand. Strandaufnahmen vielleicht im Nationalpark Panhandle machen, die Außenaufnahmen woanders?

Bryce’ Antwort war knapp, wie immer.

Such weiter.

Als sie das Handy zurück in den Becherhalter am Armaturenbrett stellte, fiel ihr der Zettel ein, den Lise ihr damals in L.A. in die Hand gedrückt hatte. Unvermittelt zog sie das zerknüllte Papier aus ihrer Handtasche und betrachtete es.

Ruf ihn an, hatte ihre Mutter gedrängt. Er würde sich so freuen, wenn du dich mal meldest.

Davon war Greer nicht überzeugt.

Am Flughafen von Los Angeles hatte sie eine Stunde am Gate totschlagen müssen. Sie hatte ihre Facebook-Seite auf den neusten Stand gebracht und gelangweilt durch ihren News-Feed gescrollt. Dann gab sie doch dem Impuls nach, gegen den sie kämpfte, seitdem sie die Wohnung ihrer Mutter aufgelöst hatte.

Es gab drei Clint Hennessys auf Facebook, aber nur einen, der in Florida lebte, und nur einen, dessen Profilbild einen stark gebräunten Mann mit gezwirbeltem, weißem Schnauzer zeigte. Er lächelte aus dem offenen Fenster eines orangefarbenen Charger, auf dessen Dach eine riesengroße Konföderiertenflagge lackiert war.

Unbewusst hielt Greer den Atem an und betrachtete das Foto ihres Vaters. Seine Augen waren von einem durchdringenden Blau, an das sie sich noch gut erinnerte. Der Schnauzbart zierte dünne Lippen, die zu einem arglosen, breiten Lächeln verzogen waren. Er trug ein weißes Muskelshirt – wie früher. Überrascht bemerkte Greer, dass er einen kräftigen Bizeps hatte.

Der Vater ihrer Kindheit hatte mit ihr gelacht, an ihren Zöpfen gezogen, sie wegen ihres fehlenden Schneidezahns geneckt oder ihr einen Kaugummistreifen seines geliebten Juicy Fruit angeboten.

Es war schon seltsam mit ihren Erinnerungen an Clint. Immer grinste er, lachte über einen Witz. Doch Lise schien diesen Mann nicht lustig zu finden. Schon als Fünfjährige hatte Greer die Spannungen zwischen ihren Eltern gespürt.

Nachdem Clint ausgezogen war, verkaufte Lise das Ranchhaus im Valley, und sie zogen bei der Großmutter ein. Zu dritt lebten sie fortan in Dearies Zweizimmerapartment, bis Lise eine Rolle in einer kleinen Sitcom ergatterte und sich ein Haus in Hancock Park leisten konnte.

»Ruf ihn an«, hatte ihre Mutter sie im Wartezimmer des Onkologen gedrängt, wo sie wieder einmal auf Untersuchungsergebnisse warteten. »Wir wissen beide, wie es mit mir weitergeht. Wenn ich nicht mehr bin, ist er der letzte Verwandte, den du noch hast.«

»Du bleibst bei mir«, hatte Greer in der Hoffnung darauf beharrt, dass es stimmte. »Außerdem habe ich noch Dearie. Clint hat sich nie um mich gekümmert.«

Vielleicht war das der Moment, als Greer dämmerte, dass Lise sich aufgegeben hatte. Bis dahin hatte ihre Mutter nämlich kein gutes Haar an ihrem Exmann gelassen.

»Ruf deinen Dad an«, wiederholte sie zu Hause im Bett. »Er möchte dich sehen. Und du musst ihn sehen.«

»Ich brauche keinen Vater.« Greer hatte die Sturheit ihrer Mutter geerbt.

Sie hätte einen brauchen können, als sie zehn war und mit einem von Lises Freunden zum Vater-Tochter-Tanz in der Schule gehen musste. Oder als sie mit fünfzehn in Dearies riesengroßem, altem Schlitten Fahren gelernt hatte, hätte Clint ihr auch helfen können. Tja, eventuell hätte er sie auch vor all den Typen bewahrt, mit denen sie im Laufe der Jahre ausgegangen war.

Wenn Clint Interesse an seinem einzigen Kind gehabt hätte, hätte er vielleicht die Mühe auf sich genommen und wäre zu Lises Beerdigung erschienen.

Nichts von all dem hatte er getan. Jetzt war es zu spät. Greer hatte am Gate den Zettel zusammengefaltet und in den Müll werfen wollen, doch in letzter Sekunde hatte sie es sich anders überlegt und den Zettel in die Handtasche gestopft.

Irgendwo südlich von Steinhatchee und westlich von Gainesville hielt Greer vor einem Restaurant, das seit achtzig Kilometern auf verblichenen Reklamewänden angepriesen wurde.

Little Buddy’s BBQ war ein flaches Holzhaus mit einem Muschelsplitt-Parkplatz voller Schlaglöcher, auf dem zig Pick-ups und dicke amerikanische Wagen standen. Eine nach Hickoryholz duftende Rauchwolke schwebte über einem großen schwarzen Smoker-Grill an der Ostseite des Restaurants.

Alles gute Zeichen, dachte Greer und schob sich durch die Fliegengittertür, um sich im überfüllten Laden umzusehen. In den vergangenen Jahren war sie schon öfter als Locationscout im Süden unterwegs gewesen, und eins hatte sie früh gelernt: Wenn man ein wenig recherchieren wollte, gab es keinen besseren Anlaufpunkt als den örtlichen Diner.

Als ihr ein überladener Pappteller mit Schweinefleisch, Krautsalat, Kartoffelsalat und einer Scheibe gerösteten Knobi-Weißbrots serviert wurde, rückten alle Gedanken an die Arbeit in weite Ferne. Dazu gab es einen riesigen Plastikbecher mit derart süßem Eistee, dass er als Nachspeise durchgegangen wäre.

Greer wischte gerade mit dem Brot den letzten Tropfen Barbecuesoße vom Teller, als der Kassierer ihr die Rechnung über den Tresen zuschob. »Noch irgendwas? Ein Stück Kuchen vielleicht?«

»Nein, danke«, stöhnte Greer. »Ich bin pappsatt. Aber ich könnte ein paar Tipps gebrauchen.«

»Was brauchen sie?« Der Mann war dünn und schätzungsweise Ende sechzig. Sein schütter werdendes graues Haar hatte einen militärischen Bürstenhaarschnitt.

»Ich suche den perfekten Küstenort.«

Er trat von einem Fuß auf den anderen. »Destin ist ein paar Stunden nördlich von hier. Saint Pete zwei Stunden südlich.«

Greer schüttelte den Kopf. »Da war ich schon. Ich suche was Ruhigeres. Malerisch, aber nicht touristisch, wenn Sie verstehen. Ein Strand wie aus alten Zeiten. Ein kleiner Ort mit Palmen, weißem Sand, Fischerbooten.«

»Klingt nach Cypress Key«, sagte der Kassierer. »War schon länger nicht mehr da, aber beim letzten Mal sah es ungefähr so aus.«

Sie gab ihm zehn Dollar Trinkgeld und machte sich auf die Suche nach Cypress Key.

2

»Bitte dem Straßenverlauf weiter folgen.«

Die körperlose Stimme von Greers Navigationsgerät blieb nervtötend vage bei ihrer Anweisung, welche Straße genau sie nehmen sollte. Wider besseres Wissen fuhr sie von der US98 auf eine Kreisstraße, die so aussah, als würde sie mitten ins Blair Witch Project führen.

Da Greer keine Straßenkarte besaß, musste sie sich auf das rätselhafte Wirken des geheimnisvollen Satelliten hoch oben im strahlend blauen Himmel über Florida verlassen. Sie hoffte einfach, dass er wusste, wohin sie wollte.

In der Nacht hatte es so stark geregnet, dass Greer in ihrem billigen Motelzimmer aus dem Schlaf hochgefahren war, aufgeschreckt vom unablässigen Prasseln auf dem Dach und am Fenster. Sie lebte schon so lange im dürregeplagten Kalifornien, dass sie vergessen hatte, wie sich Regen überhaupt anhörte.

Bevor sie das Motel verließ, meldete sie sich bei Dearie. Vor dem Abflug war nicht mehr genug Zeit gewesen, um ihr einen Besuch abzustatten. Greers siebenundachtzigjährige Großmutter hatte einen ungewöhnlichen Rhythmus, schlief oft tagsüber und schaute die ganze Nacht hindurch Fernsehen.

»Dearie, wie geht es dir?«

»Wer ist da?«

»Wer ruft dich denn sonst bitte um fünf Uhr morgens an?«

»Manchmal Mitglieder von dieser komischen Sekte. Die sind ganz nett.«

»Du spendest denen aber nichts, oder?«

»Seit du mir das Taschengeld gekürzt hast, nicht mehr«, sagte Dearie vorwurfsvoll. »Wo bist du eigentlich?«

»Hab ich dir doch erzählt. Ich bin in Florida, scoute Schauplätze für einen Film.«

»Ach ja. Na, viel Spaß dabei! Vergiss nicht mein Geld! Diese Woche fahren wir mit dem Bus zu einer Obstplantage. Oder war das nächste Woche? Egal, dafür brauche ich jedenfalls Geld«, entgegnete Dearie und legte auf.

Auf der geraden, schwarz asphaltierten Straße standen noch immer große Pfützen, die Luft war schwer vor Hitze und Feuchtigkeit. Der Kleinwagen schoss dahin, vorbei an grünen Wänden aus Palmettopalmen, spindeldürren Kiefern und mit Moos bewachsenen Buscheichen.

Nervös schielte Greer auf ihr Navi. Es behauptete, sie würde ihr Ziel in zwanzig Kilometern erreichen, doch am Armaturenbrett sank die Tankanzeige bedrohlich unter die Viertelmarke. Auf den letzten sechzig Kilometern hatte ihr Handy keinen Empfang gehabt. Wenn ihr in diesem gottverlassenen Niemandsland der Sprit ausging, würde sie entweder von Moskitoschwärmen bei lebendigem Leib perforiert oder von einem der Schwarzbären gefressen, deren Silhouette alle paar Kilometer auf Warnschildern abgebildet war.

Irgendwann tauchten die ersten Reklametafeln auf. Sie schlugen Greer vor, bei Tony’s zu essen, wo es eine dreimalig mit dem Weltmeistertitel ausgezeichnete Muschelsuppe gab. Sie könnte auch ein Boot für eine Tour durch die Sümpfe mieten. Von wegen! Eine andere Tafel forderte sie auf, in einem Motel namens Silver Sands abzusteigen, das sich seiner zweiundvierzig modernen Zimmer brüstete, komplett mit Klimaanlage, gefliestem Bad und Fernseher.

Fünf Minuten später atmete Greer erleichtert auf, als sie das Hinweisschild Cypress Key 8 Kilometer erblickte. Plötzlich veränderte sich die Landschaft. In der Ferne sah sie glitzerndes Wasser, einen Sandstreifen, eine Metallbrücke.

Vor ihr erstreckte sich die Küste, Bootsstege ragten ins Wasser einer Bucht, bei der es sich laut Schild um die Choklawassee Bay handeln musste. Fischerboote und Segelboote schaukelten im ruhigen Wasser. Über den Baumwipfeln reckten sich Hausdächer, und weit draußen am Horizont entdeckte Greer eine Handvoll Krabbenkutter.

Louisianamoos, Krabbenkutter, Palmen und Sand. Sie spürte das vertraute Kribbeln am Hinterkopf, das sie immer bekam, wenn sie ihrem Ziel ganz nah war. »Bitte der Straße weiter folgen.«

Sie fuhr die erste Tankstelle an, die sie finden konnte, tankte den Kia voll und rief die Website der Touristeninformation von Cypress Key auf, da ihr Handy nun zwei Balken Empfang hatte. Es gab ein halbes Dutzend Motels im Ort, das war schon mal gut. Bryce’ Assistent hatte Greer gemailt, sie müssten mindestens sechzig Personen Besetzung und Crew unterbringen.

Das Buccaneer Bay Motel war eine Ansammlung von Nurdachhäusern aus verwittertem Holz, die sich um einen leeren Swimmingpool aus brüchigem Beton scharten. Auf dem Parkplatz standen vier klapprige Wagen, und ein verblasstes Schild mit der Aufschrift Zimmer frei schaukelte an einer Werbetafel neben dem Eingang. Greer fuhr weiter, vorbei an zwei maroden Fischverarbeitungsfabriken. Vielversprechend, dachte sie. Heruntergekommen, atmosphärisch dicht.

Ein hoher Stacheldrahtzaun zog sich um eine ehemalige Grundschule, einem verputzten Jugendstilgebäude mit roten Dachziegeln und verrammelten Fenstern. Auf einem mit Unkraut überwachsenen Spielplatz standen rostige Schaukeln.

Zwei Querstraßen weiter wurde sie fündig.

Die Hauptstraße von Cypress Key erinnerte sie an einen alten Bogart-Film. War es Gangster in Key Largo oder Haben und Nichthaben? Zweistöckige Häuser mit baufälligen Balkonen und Veranden bestimmten das Bild. Es gab eine Bibliothek, einen Herrenfriseur, eine alte Bank und viele leere Ladenlokale. Doch das Licht im Hometown-Markt brannte, die Schaufenster präsentierten Fischköder, Bierflaschen, Milch und Feinkostprodukte. Im ehemaligen Kino war sogar eine Touristeninformation untergebracht.

Greer hielt am Straßenrand, wo es, wie sie erfreut feststellte, keine Parkuhren gab, sprang aus dem Kia und begann zu knipsen. Sie hielt nur inne, um die Bilder an Bryce Levy zu mailen.

Sie drückte ihr Gesicht an die Scheibe der ehemaligen Damenboutique Smart Shoppe. Die Wände waren nackt, überall lag Müll herum, aber der Boden war aus alten Holzdielen, und als sie ein paar Schritte zurücktrat, sah sie sogar, dass die hohe Decke mit geprägten Zinkblechen verblendet war. Sie machte ein Foto vom Schild des Immobilienmaklers im Fenster: Zu vermieten über Thibadeaux Immobilien.

Ihr Handy klingelte. Grinsend las Greer die SMS:

SUPER, SUPER, SUPER! Bitte schnellstmöglich weitere Fotos. Art Director ist begeistert.

Sie ging zurück zur Touristeninformation und zog an der Tür. Verschlossen. Ein Schild verriet ihr, dass sie nur von Donnerstag bis Samstag, zehn bis vierzehn Uhr, geöffnet war. In einem Holzständer lag jedoch eine Auswahl von Flyern und Broschüren der wichtigen Adressen im Ort. Greer bediente sich.

Als sie das Straßenschild der Pier Street erreichte, schmeckte sie salzige Luft. Sie folgte der Straße noch zwei Blocks, vorbei an Cottages in Pastelltönen und Vorgärten mit exotischen Pflanzen. Vor sich sah sie das Wasser. Und tatsächlich wurde die Straße immer schmaler und mündete schließlich in einen hölzernen Pier.

Eine Handvoll Geschäfte, die schon ziemlich wackelig aussahen, säumte beide Seiten des Piers. Greer sah einen Kajakverleih, einen Angelshop, einen Anleger für Bootsfahrten und einen Vermieter von Golfcarts. Sie machte Fotos und schickte sie sofort an Bryce und seinen Art Director.

Für den Film lag ihr nur ein äußerst vages Exposé vor; Bryce hatte sich auch nicht die Mühe gemacht, ihr eine Liste von Schauplätzen zukommen zu lassen, dennoch meldeten Greers Scouting-Antennen einen Treffer. Ihr Instinkt sagte ihr, dass sie genau das gefunden hatte, was Bryce suchte.

Der Pier endete abrupt an einem weiteren Maschendrahtzaun. Dahinter erhob sich, direkt am Ufer, ein hoch aufragendes weißes Gebäude.

Es war im selben Stil wie die alte Grundschule gebaut, aber deutlich größer, mit Kuppeldach, roten Dachziegeln und stuckverzierten Wänden. Große Fenster gingen auf den Pier vor dem Gebäude. Die rot-weiß gestreiften Segeltuchmarkisen spendeten nur wenig Schatten, der ausgefranste Stoff wehte im Wind. Eine mit Zinnen verzierte Brüstung zog sich an der Fassade entlang. Rechts und links neben dem Eingang standen zwei heruntergekommene, aber dennoch mächtige Palmen in großen Töpfen.

Das rote Neonschild über der Brüstung rostete, aber die Buchstaben waren noch zu erkennen. Es handelte sich um das Kasino von Cypress Key. Greer hatte das Fort Alamo des Regisseurs gefunden.

Sie knipste, mailte und machte noch mehr Bilder. Als sie die Antwort von Bryce bekam, führte sie einen kleinen Freudentanz auf:

Wahnsinn! Bitte Fotos von innen!

Es war fast achtzehn Uhr, immer noch flimmerte die Hitze über dem Pier. Fischer standen in kleinen Grüppchen beisammen, unterhielten sich über den Fang von Forelle und Rotbarsch und interessierten sich nicht für Greer. Sie schaute noch einmal zum Wasser hinüber. Kinder spielten am schmalen Sandstrand, sprangen in die kleinen Wellen, die Eltern entspannten in Liegestühlen.

Greer bummelte bis zum Ende des Maschendrahtzauns. Er war nicht besonders hoch, aber wenn sie versuchte, ihn zu überwinden, würde sie Aufmerksamkeit erregen. Sie beugte sich so weit wie möglich über das hölzerne Geländer und entdeckte, dass hinter dem Kasino ein kurzer Steg ins Wasser ragte. Dort lagen ein kleines Aluminiumboot und ein verwittertes Segelboot hüpfend auf den Wellen.

Fünf Minuten später reichte Greer ihre Kreditkarte und ihren Führerschein dem Jugendlichen, der den Kajakverleih betrieb.

»Schon mal Kajak gefahren?« Er musterte sie von oben bis unten.

Sie war nicht gerade für eine Bootsexpedition gekleidet, sondern trug eine weiße Caprihose, ein ärmelloses schwarzes T-Shirt und ihre roten Keds. Greer steckte die Kreditkarte in die Hosentasche und verstaute ihr Handy im BH.

»Schon oft«, log sie. Der Junge zuckte mit den Achseln, gab ihr eine orangefarbene Rettungsweste und ein Doppelpaddel aus Aluminium. »Um sieben machen wir zu. Wenn Sie bis zehn vor nicht wieder da sind, muss ich Ihnen noch mal fünfundsiebzig Dollar berechnen.«

»Ich möchte nur eine kleine Rundfahrt machen, damit ich mich ein bisschen orientieren kann für den Urlaub.«

Er hievte ein Kajak aus dem Alugestell, setzte es ins Wasser und half Greer, in das schaukelnde Boot zu steigen, das eher einer überreifen blauen Banane glich.

Es wackelte heftig, Greer musste die Zähne zusammenbeißen, um nicht aufzuschreien. Der Jugendliche trat mit dem Fuß auf das Heck, damit sich das Boot beruhigte. »Schon oft gefahren, was?«

»Schon oft zugeschaut«, entgegnete Greer lahm.

Der Junge zeigte ihr, wie man das Gleichgewicht hielt, und gab ihr eine kurze Einweisung in die Paddeltechniken. Zehn Minuten später näherte sie sich dem Ende des Piers und sah sich über die Schulter um. Sie hoffte, das Meer würde ruhig bleiben und niemand sie beobachten.

Als sie mit dem Kajak gegen den Anleger des Kasinos stieß, flog ein riesiger Pelikan kreischend auf und landete wenige Meter entfernt, von wo er sie empört beäugte. Greer richtete das Boot längs zum Ufer aus und erhob sich. Es begann heftig zu schaukeln.

Verzweifelt hechtete sie an Land.

Sie landete auf dem Hosenboden und blieb erst einmal sitzen. Dann nahm sie ihren Mut zusammen. Sie vergewisserte sich, dass der Kajak fest vertäut war, und eilte auf das Kasino zu. Quer über die Stufen, die zur Terrasse hochführten, war ein Seil gespannt, an dem ein verblasstes Schild mit der Aufschrift Zutritt verboten hing.

Flink kletterte Greer darüber und huschte die Treppe hinauf. Neben dem Gebäude stand eine Art Pavillon. Runde Picknicktische und Bänke aus Beton waren mit Vogelkot überzogen, eine weitere zerschlissene rot-weiße Markise hing an einem ehemaligen Getränkestand, dessen Fenster vernagelt waren. Eine Glastür links daneben war mit Sperrholzplatten verrammelt. Greer stellte sich auf die Zehenspitzen, konnte aber nichts sehen.

Ein schmaler Holzsteg führte an der rückwärtigen Fassade des Gebäudes entlang. Große Erkerfenster gingen aufs Meer hinaus. Zwei Scheiben waren herausgebrochen und provisorisch mit silbernem Isolierband überklebt, das sich schon löste.

Der Fensterrahmen endete gut einen Meter zwanzig über dem Holzsteg. An der verputzten Fassade konnte man sich nicht festhalten; zum Springen war das Fenster definitiv zu hoch. Greer gelangte an einen Notausgang. Zwei Müllcontainer aus verzinktem Stahl waren mit Nieten an der Mauer befestigt; in der Nische vor der Tür stapelten sich alte Milchkästen.

Greer stellte zwei Holzkästen übereinander und benutzte sie als Trittleiter, von der aus sie sich blind über die Fensterbank schwang. Prompt landete sie wieder auf dem Hintern – und zwar auf einem Holzboden, gut einen Meter fünfzig tiefer.

Wenn sie durch ihren Sturz nicht schon atemlos gewesen wäre, hätte die Innenansicht des Kasinos ihr den Atem verschlagen.

Sie ging erst in die Hocke und richtete sich dann langsam auf. Die spätnachmittägliche Sonne fiel durch die verschmierten Fenster und warf ein stimmungsvolles goldenes Licht auf die rissigen Wände.

Greer spürte, dass dieses Gebäude einst ein großartiges Bauwerk gewesen war. Die hohe Kuppeldecke wurde von reichverzierten Holzbalken getragen, verstaubte Ventilatoren hingen an langen Metallstangen. Der Boden war verkratzt und voller Flecken, die wie Vogeldreck aussahen, doch früher einmal war die Tanzfläche bestimmt auf Hochglanz poliert gewesen.

Auf der Südseite des riesigen Saals befand sich eine erhöhte Bühne, hinter der ein verschossener, ausgefranster roter Samtvorhang zur Seite gezogen war. Ein impressionistisches Wandgemälde in Pastellfarben bildete den Hintergrund. Es zeigte Jazzmusiker, die an das Havanna vor Castro erinnerten.

An der Nordwand, gegenüber der Bühne, zog sich ein Thekentresen aus dunklem Holz entlang. Vergilbte Schilder priesen Snacks, Sandwiches und Bier an. Nichts kostete mehr als fünfzig Cent.

Greer zog ihr Handy aus dem BH und begann unter Beachtung des schwindenden Lichts, Fotos zu schießen. Zuerst nahm sie sich die Bühne und das Wandgemälde vor, dann die Theke.

Als sie sich umdrehte, um den Rest des großen Saals im Bild festzuhalten, fiel ihr eine große Leuchtreklame ins Auge, die an Ketten unter der Decke hing – ein Bingo-Schild. Deshalb also wurde das Gebäude Kasino genannt.

Darunter stapelten sich Klapptische und -stühle aus Holz.

Auf der anderen Seite des Saals entdeckte Greer eine Tür mit einer Scheibe. Sie ging hinüber, spähte hindurch und erblickte einen Raum, der früher wohl mal ein Büro gewesen war. Ein großer Metallschreibtisch stand darin, in der Mitte ein Rollwägelchen mit einem großen altmodischen Filmprojektor. An der Wand über der Bühne war offenbar eine Leinwand angebracht, die man herunterziehen konnte.

Dieser Saal musste einmal das Kulturzentrum von Cypress Key gewesen sein.

Greer malte sich aus, wie es hier zu den Glanzzeiten des alten Gebäudes gewesen sein mochte. Sie sah Paare vor sich, die verdächtig an Bogie und Bacall erinnerten, vielleicht sogar an Spencer Tracy und Katharine Hepburn, die Wange an Wange zu den Bigbandmelodien jener Zeit tanzten.

Das Licht veränderte sich, wurde orangerot. Erschrocken schaute Grace auf ihr Handy. Ihr blieben noch zehn Minuten, um zum Kajakverleih zurückzukehren. Schnell machte sie ein paar weitere Fotos, dann stellte sie einen Klappstuhl ans Fenster und kletterte hinaus.

3

Die nächste Aufgabe bestand darin, eine Unterkunft zu finden – für Greer selbst, die Besetzung und Crew von Beach Town. Cypress Key war aber lediglich gut eineinhalb Kilometer lang und bot nur wenige Motels und ein paar Apartmenthäuser, an denen Schilder mit der Aufschrift Ferienwohnungen hingen.

Das Silver Sands sah ganz annehmbar aus.

Von außen war es unauffällig: drei mintgrün gestrichene zweistöckige Betonklötze, die in U-Form um einen Innenhof mit kleinem Garten und noch kleinerem Pool gruppiert waren. Aber das Motel lag direkt am Wasser, ein großes Plus. Das Neonschild blinkte ZIMMER FREI. Das gab den Ausschlag, denn es wurde allmählich dunkel, und Greer war müde und hungrig. Sie machte einige Fotos und schickte sie Bryce.

Sie folgte einem Holzpfeil mit der Aufschrift Büro ans hintere Ende des Geländes.

Als sie die offene Tür aufschob, summte es irgendwo, und hinter einem Schreibtisch sah eine ältere Frau mit silbernen Haaren von ihrem Taschenbuch auf.

»Brauchen Sie ein Zimmer?«

»Ja, bitte«, sagte Greer. »Ein Einzelzimmer.«

»Allein unterwegs?«

»Ja.«

»Übers Wochenende?« Die Frau drehte sich zu einer Wand voll altmodischer Holzfächer um und betrachtete die Zimmernummern. »Im Moment habe ich kein freies Zimmer mit Meerblick.«

»Schon gut«, erwiderte Greer müde. »Ich will eigentlich nur ein sauberes Bett und eine heiße Dusche. Haben Sie auch Wochentarife?«

»Ich kann’s Ihnen für vierhundertneunzig Dollar anbieten.«

»Wirklich?« Greer bemühte sich, nicht überrascht zu wirken. In Destin hatte eine einzige Nacht schon die Hälfte gekostet. »Gut, in Ordnung.«

Sie reichte ihre American-Express-Karte hinüber, aber die Frau schüttelte den Kopf. »Die nehmen wir nicht.«

»Visa?«

»Ja. Und ich brauche Ihren Führerschein.«

Während die Dame die Rechnungsdaten notierte, betrachtete Greer sie genauer. Sie war spindeldürr und hatte ledrige Haut, die von einem Leben unter der Sonne Floridas zeugte. Ihr silbriges Haar war kurzgeschnitten, die grauen Augen funkelten hinter einer Brille mit Metallrahmen. Sie trug eine ärmellose, weiße Baumwollbluse und eine adrett gebügelte Jeans.

»Haben Sie ein Auto?«

»Ja, einen Kia.«

Sie reichte Greer einen pinkfarbenen Parkausweis. »Klemmen Sie den hinter die Windschutzscheibe.«

»Mach ich.«

Als Nächstes gab ihr die Frau ein Klemmbrett mit einem Blatt Papier, das zum hundertsten Mal abkopiert zu sein schien. Sie tippte auf vier verschiedene Stellen. »Unterzeichnen Sie hier, hier und hier und unterschreiben Sie noch mal unten, dass Sie die Hausregeln gelesen und verstanden haben.«

Greer überflog das Blatt und unterschrieb dann, dass sie über einundzwanzig war, nicht mehr als vier Gäste in ihrem Zimmer schlafen würden, dass sie dort nicht rauchen und nach zehn Uhr abends keine laute Musik hören würde. Als Letztes verpflichtete sie sich, Fische nur an der vorgeschriebenen Station auszunehmen.

»College-Schüler«, sagte die Frau zur Erklärung.

Sie übergab Greer einen Schlüssel mit dem Plastikanhänger des Silver Sands Motels. »Ich bin Ginny Buckalew, die Besitzerin, Geschäftsführerin und erste Hausdame.«

»Und ich bin Greer. Kann ich irgendwo in der Nähe schnell was essen?«

»Im übernächsten Block ist Tony’s. Die haben gute Muschelsuppe. Einen Block dahinter ist Wong’s, angeblich ein Chinese. Aber ich hab noch nie einen Chinesen reingehen oder rauskommen sehen, deshalb würde ich eher einen Bogen darum machen. Direkt daneben ist eine Pizzeria. Die ist schnell und billig, was Besseres kann ich darüber nicht sagen. Das Captain Jack’s hat guten Fisch, aber die verdünnen die Getränke mit Wasser. Im Cypress Key Inn gibt es das beste Essen, aber das ist nicht gerade billig.«

»Wo essen Sie denn am liebsten?«, fragte Greer.

»Zu Hause«, erwiderte Ginny Buckalew. Kurz meinte Greer, den Anflug eines Grinsens zu erkennen.

»Und wo sonst?«

»Captain Jack’s ist ganz in Ordnung«, lenkte die Dame ein. »Aber die machen unter der Woche um neun Uhr zu, da müssen Sie sich beeilen, wenn Sie noch was bekommen wollen.«

»Verstanden.«

Greer war schon auf halbem Weg zu ihrem Wagen, da kehrte sie noch einmal ins Büro zurück.

»Eins noch, Ginny: Hier gibt’s doch WLAN, oder?«

»WLAN? Wir haben nicht mal Rufnummererkennung.«

So mancher hätte die Ausstattung von Zimmer Nr. 7 spartanisch genannt. Bodenfliesen, Betonsteinwände. Alufenster, die auf den Innenhof gingen. Mittendrin hing eine riesengroße Klimaanlage.

Die Einrichtung war bunt zusammengewürfelt: auf dem Doppelbett eine Polyesterdecke mit Neonblumen, unpassende braun laminierte Nachtschränke. Auf einer dreiteiligen Kommode thronte ein Fernseher, der so alt war, dass er noch eine Zimmerantenne hatte. Neben einem altmodischen Schreibtisch mit einem klapprigen Küchenstuhl stand ein kleiner verrosteter Kühlschrank, auf dem so gerade eine Mikrowelle und eine puppengroße Kaffeetasse Platz fanden.

Ebenso einfach gehalten war das Bad mit kaugummirosa Fliesen, Waschbecken und Toilette in Türkis und einer schmalen Duschkabine.

Immerhin war das Zimmer tadellos sauber. Greer drehte das Wasser im Waschbecken auf, und fünf Minuten später wurde es warm. Sie wusch sich das Gesicht und betrachtete sich im Spiegel. Die Luftfeuchtigkeit hatte aus ihren dunkelblonden Locken einen krausen Wuschelkopf gemacht. Sie nahm sie zu einem straffen Pferdeschwanz zusammen und setzte sich eine Baseballkappe auf. In ihrem Berufsleben hatte sie schon in deutlich besseren Hotels übernachtet, aber manche waren auch sehr viel schlimmer gewesen.

Bei Captain Jack’s bestellte sie gegrillten Rotbarsch, der laut Speisekarte vor Ort gefangen wurde, dazu Krautsalat und Hush Puppies, frittierte Maismehlklöße. Eingedenk Ginnys Warnung entschied sie sich für zwei Gläser weißen Hauswein. Greer hatte das Restaurant fast für sich allein, nur zwei weitere Tische waren besetzt.

Während sie auf das Essen wartete, prüfte sie ihre E-Mails. Sie hatte drei neue Nachrichten von Bryce Levy, der wissen wollte, wie schnell sie die Locations klarmachen konnte.

»Bald«, murmelte Greer vor sich hin.

Von CeeJay hatte sie auch eine Mail.

Bryce hat mir die Fotos gezeigt. Wird hammermäßig, das Projekt. Rat mal, wer die Maske bei Beach Town macht? Richtig! Endlich wieder zusammenarbeiten!

CeeJay dabei zu haben würde toll werden. Greer und Claudia Jean Antinori kannten sich schon seit vielen Jahren. Damals hatte Lise ihrer Tochter einen Job vermittelt, nämlich die Requisiten für eine kurzlebige Sitcom des Disney Channels zu besorgen, eine kindisch-alberne Serie namens Pausenaufsicht. CeeJay aus Traverse City, Michigan, hatte dort ihren ersten Einsatz als Friseurin gehabt. Sofort hatte sich Greer dem Mädel mit den violetten Haaren und der großen Klappe verbunden gefühlt. Erst später war aus Claudia Jean CeeJay Magic geworden, eine der gefragtesten Stylistinnen Hollywoods.

Eine zweite Mail von CeeJay führte ein P.S. im Betreff.

Achte darauf, uns eine ordentliche Unterkunft zu buchen. Bryce ist bei solchen Sachen immer ziemlich pingelig.

Greer fragte sich, was Bryce wohl davon halten würde, wenn er sein Einverständnis geben müsste, in seinem Motelzimmer keinen Fisch auszunehmen.

Sie wollte ihr Handy gerade verstauen, als eine neue E-Mail in ihrem Posteingang erschien. Der Absender war ein gewisser MotorMouth. Schon wieder Spam, dachte Greer, doch kurz bevor sie die Nachricht löschten wollte, las sie die Betreffzeile und erstarrte.

Von Deinem Vater, Clint Hennessy

Nicht heute, dachte sie und drückte auf Als ungelesen markieren. Sie hatte einen langen Tag hinter sich, eine lange Woche, einen noch längeren Monat. Was auch immer er wollte, es konnte warten. So wie sie all die Jahre gewartet hatte, als sie gerne von ihm gehört hätte.

Sie aß den Rotbarsch, verzichtete auf Kaffee und Nachtisch, zahlte und ging.

In Cypress Key wurden die Bürgersteige unter der Woche früh hochgeklappt. Als Greer das Restaurant verließ, leuchtete in der Pizzeria zwar noch Licht, und einige Menschen kamen ihr entgegen, doch im Großen und Ganzen hatte sie das Gefühl, den Ort für sich zu haben.

Das würde sich sehr bald ändern, dachte sie, sobald der Zirkus in die Stadt käme.

Der Pool des Motels schimmerte unheimlich türkisgrün im dunklen Innenhof. Der Chlorgeruch vermischte sich mit dem berauschenden Duft einer weiß blühenden Kletterpflanze mit wachsartigen Blüten, die sich um die schmiedeeisernen Pfähle der Veranda wand. Ein paar Kinder planschten noch am flachen Ende des Beckens, ihre Eltern saßen auf billigen Plastikstühlen daneben, tranken Bier und unterhielten sich leise.

Greer war kaputt, aber nicht müde. Sie schloss die Tür zu ihrem Zimmer auf, legte ihre Handtasche auf den Stuhl und sah sich um. Nichts zu lesen. Sie stellte den Fernseher an, schaltete von einem Programm ins nächste. Kein Kabelanschluss. Zur Auswahl standen zwei lahme Sitcoms und eine Realityshow übers Abnehmen.

Greer schob den Schlüssel in die Tasche und ging nach draußen in den Innenhof. Es war nach zehn, aber Temperatur und Luftfeuchtigkeit schienen kaum gesunken zu sein. Wo der Hof in den weißen Sand des Strands überging, zog Greer die Schuhe aus.

Es war Halbmond, der Himmel war klar, eine leichte Brise zauberte kleine Schaumkronen auf die Wellen. Greer rollte ihre Hose hoch, watete ins lauwarme Wasser und grub die Zehen in den Sand.

»Schön, nicht?«

Sie drehte sich zu der Stimme um und sah einen orangegelb leuchtenden Punkt im Schatten einer Bananenstaude. Als sie sich näherte, erkannte sie die Motelbesitzerin. Ginny saß an einem Picknicktisch, eine dünne Rauchfahne billig riechenden Tabaks wand sich in den Himmel.

Sie strich die Asche eines braunen Zigarillos in einem Plastikaschenbecher ab, daneben lag ein Handy.

»Wie war das Essen?«

»Ganz gut«, antwortete Greer. »Ich habe auf Sie gehört und bin ins Captain Jack’s gegangen.«

»Kluge Wahl.« Ginny wies auf die Bank ihr gegenüber. »Setzen Sie sich doch!«

»Danke.«

»Da Sie aus Kalifornien sind, rauchen Sie wahrscheinlich nicht«, sagte die alte Dame und inhalierte tief.

»Nicht so richtig.«

»Ich auch nicht. Jedenfalls nicht offiziell.«

Greer lachte höflich. Schweigend saßen die beiden Frauen im Dunkeln und schauten in den nachtblauen Himmel.

»Was machen Sie hier, so weit weg von Kalifornien?«

»Ich arbeite als Locationscout und -manager für die Filmindustrie«, erklärte Greer. »Bin in den letzten Tagen die ganze Küste abgefahren, auf der Suche nach einem altmodischen Küstenort.«

»Und da sind Sie in Cypress Key gelandet? Warum nicht in Destin oder Panama City? Oder Sarasota? Das ist noch etwas weiter die Küste runter, aber den Leuten scheint’s zu gefallen.«

»Ich bin eher zufällig auf diesen Ort gestoßen«, gab Greer zu. »Für unsere Anforderungen ist er perfekt. Keine Hochhäuser, keine Shoppingmalls und Minigolfanlagen. Keine Fastfoodkette. Der Regisseur, der mich engagiert hat, ist ganz wild auf Cypress Key. Ich habe zig Fotos gemacht und sie ihm gemailt.«

»Das heißt, Sie wollen hier einen Film drehen?« Ginny schüttelte den Kopf. »Ich bin gerne hier, aber ich habe auch nie woanders gelebt. Es gibt Gäste, die jedes Jahr wiederkommen, ältere Pärchen aus dem Norden, die bei uns überwintern, aber hauptsächlich wohnen hier Fischer.« Sie wies mit dem Kinn in Richtung Ufer. »Das ist der einzige richtige Strand auf dieser Insel. Die meisten Touristen suchen was Aufregenderes, Größeres.«

»Dieser Regisseur will nichts Protziges für seinen Film.« Greer schaute hinüber zum Strand. Dann drehte sie sich um und wies auf das türkisblaue Licht im Innenhof des Motels. »Er will das hier.«

»Wie? Ein Typ aus Hollywood will hier wohnen? Im Silver Sands?«

»Ich schätze, er wird sich ein Haus mieten. Aber ihm gefällt das Motel. Florida, wie es früher war. Einen Teil des Films will er vielleicht hier drehen, in Ihrem Motel.«

Ginny kniff die Augen zusammen und stieß den Rauch aus. »Dafür gibt es doch Geld, oder?«

»Natürlich.«

»Was ist mit den anderen Gästen? Die haben vielleicht keine Lust, in einem Film mitzuspielen.«

»Wir mieten das komplette Motel für die gesamte Dauer der Dreharbeiten«, erklärte Greer.

»Und wie lange wäre das?«

»Ich habe noch keinen Drehplan gesehen, aber nach dem, was der Regisseur mir erzählt hat, gehe ich von ungefähr sechs Wochen aus, plus-minus. Ab nächster Woche.«

»Ich habe zweiundvierzig Zimmer«, sagte Ginny.

»Die mieten wir alle. Wahrscheinlich bringen wir die Crew und vielleicht auch ein paar Schauspieler hier unter.«

»Zu dieser Jahreszeit liegt der Standardtarif für die größeren Zimmer bei neunzig Dollar die Nacht«, warnte Ginny.

Greer lächelte. Sie hatte die Autos auf dem Parkplatz gezählt. Außer ihrem Mietwagen nur sechs Fahrzeuge. Die Geschäfte liefen nicht gerade blendend im Silver Sands. Ginny Buckalew rechnete bereits im Kopf alles durch. Sie hatte angebissen.

»Ich dachte, Sie könnten uns den Wochenpreis machen. Achtzig die Nacht, ja?«

»Fünfundachtzig.« Ginny drückte ihren Zigarillo im Aschenbecher aus. Kurz sah sie sich über die Schulter um, als hätte sie Angst, belauscht zu werden. »Und zwar in bar. Keine Kreditkarten.«

»Einverstanden«, sagte Greer, unterdrückte ein Gähnen und stand auf. »Gute Nacht!«

»Eins noch«, rief Ginny ihr nach. »Ihre Leute können alle Zimmer im Motel haben, nur mein Apartment nicht. Ich wohne hier, und ich bleibe hier.«

»Abgemacht!«, rief Greer zurück.

4

In Zimmer Nr. 7 war es stickig heiß. Greer hantierte am Thermostat der Klimaanlage herum, stellte sie von fünfundzwanzig auf zweiundzwanzig Grad, konnte aber nicht feststellen, dass es kühler wurde. Es war nach elf Uhr, und sie war endlich müde.

Sie putzte sich die Zähne und befreite ihre Haare aus dem straffen Pferdeschwanz. Störrisch fielen sie ihr auf die Schultern, sie waren schwer zu bändigen. Nur mit einem Höschen bekleidet, schlüpfte sie unter die Decke, die zum Glück sauber war und nach Bleichmittel roch.

Es war immer noch heiß. Ein Schweißfilm lag auf ihrer Haut.

Greer stand auf, stellte das Thermostat auf zwanzig Grad und ließ sich wieder auf die unbequeme Matratze fallen. Sie schloss die Augen und döste irgendwann ein.

Zwei Stunden später erwachte sie, schweißgebadet, vom metallischen Rattern der Klimaanlage. Kondenswasser lief von der Wand auf die Kleidung, die Greer auf den Boden gelegt hatte.

»Scheiße«, murmelte sie und stolperte ins Bad. Sie drehte die Dusche auf und stellte sich eine halbe Stunde unter den spärlichen kalten Wasserstrahl. Als ihre Haut verschrumpelt und die Körpertemperatur ausreichend gesunken war, zog sie sich, ohne sich vorher abzutrocknen, ein großes T-Shirt über. Sie warf sich aufs Bett und breitete nur das hauchdünne Laken über sich. Dann fiel sie in einen Schlaf, der eher einem Koma glich.

Schwach fielen Sonnenstrahlen durch eine schiefe Metalllamelle von Zimmer 7. Die Klimaanlage ratterte wirkungslos. Greer war noch nicht ganz wach, als sie etwas an der Wange spürte.

Sie wischte sich mit der Hand übers Gesicht, schlug die Augen auf und sah eine riesige schwarze Kakerlake über ihr Kopfkissen huschen.

Sie stieß einen Schrei aus, der jeder Hitchcock-Heldin zur Ehre gereicht hätte, aber die Schabe störte sich nicht daran. Erneut kreischte Greer, biss die Zähne aufeinander und schlug nach dem Insekt. Daraufhin ergriff es die Flucht und flog quer durchs Zimmer.

Mit offenem Mund starrte Greer auf das Ungeziefer, das sich auf ihrem Nachttisch niederließ. Eine fliegende Kakerlake? Als das Tier sich auf das Fußende ihres Bettes setzte, hatte sie genug.

Sie riss die Tür auf und überlegte, was sie tun sollte.

Drei Zimmer weiter entdeckte sie, die Augen gegen die blendende Morgensonne zugekniffen, eine männliche Gestalt, die ein Wägelchen voller Bettwäsche schob.

Der Mann trug ein schweißbeflecktes T-Shirt mit abgeschnittenen Armen, eine weite kurze Hose und Flipflops. Sein Haar war so unordentlich wie die Bettwäsche auf dem Wagen. Auf der sonnenverbrannten, sich schälenden Nase trug er eine Schildpattbrille.

»Hey, arbeiten Sie hier?«

Er schob den Wagen zu ihr hinüber. »Hm?«

Sie packte ihn am T-Shirt und zerrte ihn zu ihrem Zimmer. »Machen Sie das weg!«

Er steckte den Kopf durch die Tür. Der Raum war nur schwach beleuchtet. »Was?« Er schien die Dringlichkeit der Lage nicht zu begreifen.

»Das da!« Greer wies auf die Schabe, die jetzt auf der Nachttischlampe saß. »Das Ding, diese Kakerlake. Die ist geflogen! Direkt auf mich zu.«

»Das? Das ist doch nur eine kleine Skunk-Schabe.«

»Das ist eine Kakerlake! Herrgott nochmal, so eine große hab ich noch nie gesehen! In meinem ganzen Leben nicht!«

»Das ist ’ne Skunk-Schabe.« Er holte einen Besen von seinem Wägelchen.

»Nicht totschlagen!«

»Warum nicht?« Er holte mit dem Besen aus, doch das Insekt flog durchs Zimmer und landete auf dem Fernseher.

»Was soll das? Haben Sie mich nicht verstanden? Bringen Sie sie einfach raus! Lassen Sie das Ding frei. Ich will keine stinkende tote Kakerlake in meinem Zimmer.«

Der Hausmeister betrachtete die halbnackte Fremde. Mit seinen grauen Augen musterte er Greer belustigt.

Greer wurde bewusst, wie sie aussah. Sie zog am Saum ihres T-Shirts, das kaum bis zur Mitte des Oberschenkels reichte.

»Sehen Sie weg! Tun Sie einfach, was ich Ihnen sage, und entfernen Sie dieses Tier. Sonst rufe ich an der Rezeption an. Das ist ja ekelhaft.«

Achselzuckend drehte er sich zur Tür. »Dann rufen Sie doch an. Wenn ich die Skunk-Schabe nicht töten darf, ist meine Arbeit hier getan.«

Greer griff zum Hörer. »Ich beschwere mich über Sie.«

Er lachte. »Bitte sehr.«

Bei diesem Holzkopf kam sie nicht weiter. Greer seufzte, holte einen Zwanzig-Dollar-Schein aus ihrer Handtasche und drückte ihn dem Kerl auf die Brust. Zwanziger waren die internationale Währung der Leistungssteigerung. Das begriff selbst die größte Hohlbirne. »Entfernen Sie das Tier, ja? Aber bringen Sie es nicht um, verstanden? Nicht – um – brin – gen!«

»Nicht umbringen.« Er verstaute den Geldschein sorgfältig in der Tasche seiner Shorts, nahm einen Stapel Papier von der Kommode und näherte sich dem unglückseligen Insekt.

»Doch nicht damit!«, rief Greer. »Das ist mein Treatment! Was denken Sie sich bloß?« Sie riss ihm die Blätter aus den Händen und gab ihm stattdessen ein dünnes Telefonbüchlein.

»Hier. Und beeilen Sie sich! Danach reparieren Sie mir die verdammte Klimaanlage. Hier drin ist es ja heiß wie in der Sauna!«

Der Hausmeister nickte nachdenklich. Er nahm das Telefonbuch, schob es vorsichtig unter die Schabe und faltete die Enden darüber. Dann ging er zu Greers offenem Koffer, schüttelte das Insekt hinein und schloss schnell den Reißverschluss.

Zum ersten Mal in ihrem Leben war Greer sprachlos. Mit großen Augen und offenem Mund stand sie da.

»Sonst noch was?« Der Hausmeister steuerte auf die Tür zu, nicht ohne Greer vorher noch einmal gründlich vom Scheitel bis zur Sohle zu mustern. Seine grauen Augen funkelten vor Schalk.

Greer kniff die Augen zusammen. »Sehr witzig. Sind Sie der Clown vom Dienst?«

»Nö.« Seine Hand lag auf dem Türknauf.

»Was ist mit der Klimaanlage? Die kühlt kein bisschen. Und sie tropft.«

»Hm.« Er ging zu dem Gerät, hockte sich davor und ignorierte die Pfütze auf den Fliesen.

Greer nutzte die Gelegenheit, um ihn abzuschätzen. Der Mann war mittelgroß, etwas über eins achtzig, Mitte bis Ende dreißig, und sein Körperbau verriet, dass er sportlich, aber kein Gesundheitsapostel war. Er sah nicht wie ein typischer Hausmeister aus, aber schließlich war sie in Florida. In diesem Bundesstaat lebten die sonderbarsten Menschen. Er stellte die Klimaanlage aus und wieder an. Das Rattern im Fenster begann von neuem. »Hört sich gut an. Aber ich bin kein Techniker.«

»Was sind Sie eigentlich für ein armseliger Hausmeister?«

»Och, ich kenne mich ein bisschen mit Klempnern aus, bekomme ein verstopftes Rohr frei, so was. Brauchen Sie Handtücher?« Er wies auf den Wagen in der offenen Tür. »Handtücher habe ich in rauen Mengen.«

»Verschwinden Sie einfach«, fuhr Greer ihn an.

»Okay.« Er salutierte. »Eins noch.«

»Was?«

Er wies auf ihren Koffer. »Da Sie’s ja so mit Käfern haben, sollten Sie wissen, dass die Skunk-Schabe in Ihrem Koffer ein Weibchen ist. Wahrscheinlich legt sie gerade Eier.«

Kreischend stürzte sich Greer auf den Koffer, zog den Reißverschluss auf und riss ihre Klamotten heraus. Als die Schabe davonhuschte, zögerte sie nur eine Sekunde, dann erschlug sie sie mit ihrem Gummiflipflop.

Laut fiel die Tür ins Schloss. Greer hörte das unverkennbare Lachen des Hausmeisters.

Er schob den Wagen in die Wäschekammer und begann, die benutzten Handtücher in eine große Industriewaschmaschine zu stopfen. Dann drückte er auf die Start-Taste, und als das heiße Wasser in die große Edelstahltrommel strömte, lehnte er sich gegen den Klapptisch und dachte an die exzentrische Frau aus Zimmer Nr. 7.

Sie war kein typischer Gast des Silver Sands. Wirre blonde Locken, hübsche Beine. Und als sie sich vorgebeugt hatte, um die Schabe zu erschlagen, war er mit einem Blick auf ihren hübschen Hintern in einem knappen Höschen mit Leopardendruck belohnt worden. Er fand, sie sah mehr nach Miami aus, vielleicht nach Longboat Key oder Palm Beach. Was hatte sie abseits der ausgetretenen Pfade in Cypress Key zu suchen? Er hatte nach einem Ehering gesucht, doch sie trug keinen. Angelausrüstung hatte sie keine, außerdem nur einen Koffer. Sie war solo, reiste allein und war mit Sicherheit nicht auf der Jagd nach dem größten Fisch des Sommers, so viel stand fest. Was wollte sie hier bloß?

Vor ihrem Zimmer stand ein gemieteter Kia mit einem Kennzeichen aus Tampa. Vielleicht würde er die Polizeichefin morgen nach der Nummer suchen lassen. Mal sehen, was diese Frau im Schilde führte.

Er war so tief in Gedanken über den geheimnisvollen Gast in Zimmer Nr. 7 versunken, dass er beinahe das Waschmittel vergessen hätte.

5

Greer war auf halbem Weg zum Büro des Motels, um sich offiziell zu beschweren, als ihr Handy klingelte.

»Hallo, Greer, hier ist Bennett Wheeler. Bryce Levys Assistent. Wir haben uns letztens bei ihm kennengelernt.«

»Oh, hallo, Bennett.«

»Hast du meine E-Mails bekommen?« Bennett klang leicht pikiert.

»Nein, tut mir leid. Das Motel, in dem ich wohne, hat kein WLAN. Ich wollte jetzt gleich in den Ort und versuchen, da meine E-Mails zu checken.«

»Kein WLAN?« Er klang so ungläubig wie Greer, als sie es erfahren hatte.

»Ich soll dir von Bryce ausrichten, dass er am Montag eintrifft. Dann würde er sich gerne alle Drehorte ansehen, die du ausgesucht hast.«

»Am Montag?« In Greer stieg Panik auf. »Aber heute ist Freitag. Ich bin erst gestern angekommen.«

»Gut. Bryce kann es nicht erwarten, endlich loszulegen. Ähm, wegen Cypress Key. Wie genau kommt man da hin?«

»Ich glaube, der nächste Flughafen ist in Gainesville. Ich weiß aber nicht, welche Airlines von L.A. rüberfliegen.«

»Oh, Bryce fliegt nie Linie. Sag mir einfach, auf welchem Flughafen eine Gulfstream G650 landen kann.«

»Ich kümmere mich darum.«

»Super. Dann wegen der Unterbringung …«

»Ich habe hier auf Cypress Key ein Motel als Drehort gebucht. Ich denke, da können auch der Großteil der Schauspieler und die Crew untergebracht werden.«

»Dein Motel ist bestimmt absolut reizend, aber Bryce braucht auf jeden Fall ein Haus für sich. Mindestens vier Schlafzimmer und vier Bäder. Natürlich mit Pool. Ein Kinosaal und ein Whirlpool draußen wären auch nicht schlecht …«

Greer dachte an das, was sie bislang von der Insel gesehen hatte. Die Küste nördlich und südlich des Motels war von bescheidenen Cottages gesäumt. Nichts, was sie erblickt hatte, genügte dem Standard eines Mannes, der in L.A. wie ein Pascha lebte.

»Ich gehe zu einem Immobilienmakler und schaue mal, was möglich ist«, versprach Greer. »Aber Cypress Key ist nicht Brentwood. Es gibt nicht viele Häuser, auf die deine Beschreibung passt. Außerdem ist es ziemlich kurzfristig.«

»CeeJay sagt, du könntest Wunder vollbringen«, flötete Bennett. »Kregg und seine Leute brauchen auch ein Haus. Um Adelyn Davis musst du dich nicht kümmern. Ihre Assistentin hat schon eine Unterkunft ein bisschen weiter die Küste runter gebucht.«

»Moment mal! Kregg? Also, der Kregg? Der hat die männliche Hauptrolle?«

Greer hörte nicht viel Hiphop, doch selbst ihr war bekannt, dass der vierundzwanzigjährige Künstler, früher bekannt unter dem Namen Craig White, zwei Platinalben veröffentlicht hatte und von sämtlichen Plattenfirmen hofiert wurde. Sie schenkten ihm sogar Luxuskarossen, um an seinem neugewonnenen Ruhm mitverdienen zu können.

»Hiermit verpflichte ich dich zur Geheimhaltung«, sagte der Assistent. »Bryce will sofort mit ihm anfangen zu proben. Wir haben Kregg nur wenige Wochen, dann geht er auf Sommertour. Mit seinen Leuten braucht er sechs Schlafzimmer. Für seine Sicherheit muss gesorgt sein, das Haus muss in einer überwachten Wohnanlage liegen. Natürlich mit Swimmingpool und Basketballfeld. Da wirft er zum Entspannen gern ein paar Körbe …«

»Bennett? Also, ich bin mir ziemlich sicher, dass es so ein Haus hier nicht gibt.«

»Mach keine Witze.«

»Das ist mein Ernst«, versicherte Greer. »Sag Bryce, ich tue mein Bestes. Aber ich kann nichts versprechen.«

Als Greer das Büro betrat, schaute Ginny Buckalew von ihrem Taschenbuch auf. »Morgen! Alles in Ordnung mit dem Zimmer?«

»Da Sie fragen …« Greer zögerte, sie wollte die alte Dame nicht vor den Kopf stoßen. In den nächsten Wochen würde sie eine Verbündete brauchen.

»Was denn?«

»Nun ja, die Klimaanlage scheint nicht richtig zu funktionieren. Sie leckt und rattert, aber kühlt das Zimmer nicht runter. Im Fernseher gibt es nur drei Programme, und das Bild ist ziemlich verschwommen. Heute Morgen hatte ich eine riesengroße Schabe im Bett! Direkt auf meinem Kopfkissen! Und da Sie fragen, muss ich sagen, dass Ihr Hausmeister ein ziemlich unhöflicher Kerl ist.«

Ginny nickte, während Greer ihre Beschwerden aufzählte. Sie stand auf und verließ den Raum. Zwei Minuten später kehrte sie zurück und stellte einen dreißig Zentimeter hohen Ventilator auf die Theke. Daneben legte sie eine Fliegenklatsche und eine Dose Insektenspray.

»Wir sind hier in Florida«, sagte sie. »Mein Vater hat das Silver Sands 1946 gebaut. Hier gibt’s halt Schaben. Ist einfach so.«

Greer wollte protestieren, besann sich aber eines Besseren. Dass Bryce Levy mit seiner Entourage in drei Tagen anrückte, bereitete ihr dringlichere Probleme.

»Hören Sie, Ginny, was können Sie mir über das alte Kasino am Ende des Piers sagen?«

»Das ist geschlossen.«

»Ja, das habe ich gesehen. Aber was ist damit los? Es wäre eine Wahnsinnskulisse für den Film. Wissen Sie, wem es gehört?«

»Reden Sie mit Eb«, sagte Ginny.

»Wer ist Eb?«

»Der Bürgermeister.«

»Dem gehört es?«

»Das müssen Sie mit Eb besprechen.«

»Wie kann ich ihn erreichen?«

Ginny öffnete die Tür ihres Büros und wies den Gang hinunter. Zum ersten Mal bemerkte Greer ein kleines Holzbrett neben einem der Motelzimmer. Aus der Entfernung konnte sie die Beschriftung nicht entziffern.

»Das ist sein Büro«, sagte Ginny.

Das Zimmer am Ende des Korridors ähnelte nicht den anderen im Motel. Es hatte eine Glastür, doch der Raum war dunkel, das Rollo heruntergezogen. Das Holzschild verkündete Immobilien Thibadeaux – Eben Thibadeaux, Immobilienmakler.

Ein handgeschriebener Zettel an der Tür teilte dem Besucher mit: Bin unterwegs.

An einem Schwarzen Brett neben der Tür waren mit Reißzwecken Infoblätter über verschiedene Häuser befestigt.

Ein halbes Dutzend unauffälliger Holzhäuser, die hier »Cracker Cottages« hießen, war im Angebot, keins teurer als hunderfünfzigtausend Dollar. Dann noch einige gewerbliche Immobilien im Zentrum, ein geschlossenes Restaurant, eine ehemalige Kunstgalerie und auch die Damenboutique, die Greer am Vortag fotografiert hatte.

Besonderes Augenmerk widmete sie drei imposant wirkenden Villen direkt am Strand, die sich in einer geschlossenen Wohnanlage namens Bluewater Bay befanden. Ein Verkaufspreis war nicht angegeben, aber auf den Infoblättern sah man Swimmingpools, topmoderne, riesige Küchen und gewaltige Räume mit Kuppeldecken und spektakulärem Meeresblick.

Greer riss die Infoblätter vom Schwarzen Brett und ging zurück ins Büro.

»Eb ist nicht da«, verkündete sie.

»Versuchen Sie es im Markt«, sagte Ginny, offensichtlich nicht interessiert an Eben Thibadeauxs Aufenthaltsort.

»Welcher Markt?« Sie fragte sich, ob es Ginny Spaß machte, ihre Informationen nur häppchenweise herauszurücken.

»Im Hometown-Markt«, erwiderte die alte Frau. »Drei Häuserblocks weiter, dann rechts, können Sie nicht verfehlen.«

»Hab ihn nicht gesehen«, sagte die Kassiererin im Supermarkt. »Versuchen Sie’s im Rathaus.«

Die Angestellte im Rathaus lächelte entschuldigend. »Sie haben ihn gerade verpasst.« Sie wandte sich einem jungen Mann mit langen Koteletten zu, der wild auf seiner Tastatur herumtippte. »Hat Eb gesagt, wo er hinwollte?«

»Ich meine, er hat einen Besichtigungstermin in einer der Wohnungen am South End.«

»Könnten Sie mir vielleicht seine Handynummer geben?«, fragte Greer. »Ich muss dringend mit ihm sprechen.«

Die beiden Angestellten beratschlagten leise. »Ich denke, das ist in Ordnung«, sagte die Frau dann. »Er will für seine Bürger eigentlich immer erreichbar sein.«

Greer stellte fest, dass ihr Handy auf der obersten Treppenstufe des Rathauses genau einen Balken Empfang hatte.

Und sie war nicht überrascht, als beim Bürgermeister sofort die Mailbox ansprang.

»Hallo, Eben«, sagte sie fröhlich. »Ich heiße Greer Hennessy und bin Locationscout aus der Filmbranche. Ich würde gerne mit Ihnen über Cypress Key sprechen, weil wir hier bald einen Film drehen möchten. Das wird eine tolle Gelegenheit für Ihren hübschen kleinen Ort, vor der ganzen Welt zu glänzen. Aber dafür muss ich dringend noch heute mit Ihnen sprechen. Ich wohne im Motel Silver Sands, aber Sie können mich jederzeit unter dieser Nummer erreichen. Ich freue mich, Sie kennenzulernen!«

Sie steckte den Kopf nochmals ins Rathaus. Die Angestellte sah sie erwartungsvoll an.

»Ich habe dem Bürgermeister auf die Mailbox gesprochen. Haben Sie noch eine Idee, wo ich ihn finden könnte?«

»Hmmm … heute ist Freitag, wir haben Mittag. Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, dass er entweder im Deck oder im Bootshaus ist.«

»Sind das Restaurants?«

»Das Deck schon. Liegt auf der anderen Seite der Bucht, kurz hinter Kiss-Me-Quick.«

Greers Gesicht spiegelte ihre Verwirrung.

Die Angestellte grinste. »Kiss-Me-Quick ist die letzte Brücke, wenn Sie über den Damm vom Festland kommen. Das Deck liegt auf der rechten Seite. Davor stehen immer jede Menge Lkws. Heute ist Freitag, da kann man so viel Krabben essen, wie man schafft.«

Greer nickte. »Und das Bootshaus? Was gibt’s da Besonderes?«

»Nichts. Da hat Eb bloß sein Boot stehen, wenn es nicht fährt, und das tut es fast nie. Bleiben Sie einfach auf der Straße, wenn Sie Kiss-Me-Quick überquert haben. Das Schild ist so stark verblasst, dass man es kaum lesen kann, aber ich meine, darauf steht Maring Marina. Ist auf der rechten Seite, vor der Bogenbrücke.«

Greer fand das Deck ohne große Probleme. Wie die Rathausangestellte vorhergesagt hatte, war der sandige Parkplatz fast komplett belegt. Es war ein flaches, weitläufiges Gebäude aus verwittertem Treibholz mit Terrassen an zwei Seiten, von denen man auf die Bucht sah.

Innen schlug ihr der stechende Geruch von stark gewürzter Brühe, gebratenem Fisch und Bier entgegen. Als Greer sich in dem überfüllten Raum umschaute, wurde ihr klar, dass sie gar nicht wusste, wie Eben Thibadeaux aussah.

Eine Bedienung hinter der Kasse blickte hoch. Sie war jung und hübsch, hatte ihre kurzen blonden Haare hinters Ohr geklemmt. Ein winziges goldenes Piercing zierte ihr linkes Nasenloch. »Wie viele sind Sie?«

»Ich bin allein, aber, ähm, eigentlich suche ich jemanden. Ist der Bürgermeister hier?«

»Eb?« Das Mädchen sah sich über die Schulter um. »Nee, der ist nicht hier.«

Greer hinterließ noch eine Nachricht auf Eben Thibadeauxs Mailbox, dann fuhr sie fünf Kilometer weiter, wie die Rathausangestellte ihr empfohlen hatte.

Das Bootshaus war genau da, wo es sein sollte. Greer holte ihr Handy heraus und machte ein paar Aufnahmen. Selbst wenn Eben Thibadeaux nicht aufzutreiben sein sollte, wäre seine Bootshalle eine Spitzenlocation für den Film.

Das Gebäude bestand aus sonnengebleichtem Holz und salzzerfressenem Zinkblech. MARING MARINA – Trockendock, Werkstatt, Schweißarbeiten; die Wörter auf dem Schild waren kaum noch lesbar. Auf dem Parkplatz standen drei Fahrzeuge: zwei Pick-ups und ein müde wirkender blauer Wagen mit vier platten Reifen.

Neben der Bürotür pickten Möwen lustlos an etwas herum, das wie der Rest eines Hamburgerbrötchens aussah. Sie machten nicht Platz, als Greer vorbeiging. Die Tür quietschte in den Angeln. Im Raum stand ein hoher Empfangstresen, dahinter ein Schreibtisch. Leer.

»Hallo?« Greer ging um den Tresen herum und spähte in ein weiteres Büro, das mit einem altmodischen Schreibtisch und einem Aktenschrank aus Metall eingerichtet war. Unterlagen, Kataloge, Päckchen mit Ersatzteilen waren zu sehen, nur nichts vom Inhaber.

Greer kehrte in den großen Raum zurück und drückte eine Schwingtür auf, die in ein feuchtkaltes Gebäude führte. Es roch nach vergammeltem Fisch und Motoröl. Nach einer Minute hatten sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt.

Schließlich erkannte sie, dass sie sich in einer riesigen Halle befand. Bis unter die Decke hingen Boote, jeweils drei übereinander, von dicken Gurten gehalten. In der Mitte eines Ganges, der die Halle unterteilte, stand ein mächtiges Fahrzeug, ähnlich einem Gabelstapler.

»Hallo?« Greers Stimme hallte durch die Dunkelheit. Hinten fiel ein heller Lichtstrahl durch ein halbgeöffnetes Rolltor.

Sie folgte dem Licht, ging nach draußen und entdeckte endlich ein Zeichen von Leben. Ein Mann stand mit dem Rücken zu Greer direkt vor dem Tor, über zwei Sägeböcke gebeugt, auf denen ein großer schwarzer Außenbordmotor lag. Er trug ein weißes T-Shirt, eine Jeans und eine Baseballkappe.

»Hallo«, rief sie. »Ich suche Eben Thibadeaux!«

»Moment«, murmelte der Mann und nestelte am Motor herum. Etwas fiel zu Boden, und er fluchte leise.

»Ja?« Sein Gesicht war verschwitzt und mit Fett verschmiert. Er schob die Schildpattbrille von der Nasenspitze nach oben und runzelte die Stirn, als er seinen Gast erblickte.

Es war der bärbeißige Hausmeister aus dem Motel. »O Gott. Was ist denn jetzt schon wieder?«

»Sie!« Greer blinzelte ins Sonnenlicht.

»Ja, ich.« Er zog ein blaues Bandana aus der Gesäßtasche seiner Jeans, wischte sich die Hände ab und stopfte es zurück.

»Sie sind Eben Thibadeaux? Der Hausmeister vom Motel? Sie verkaufen Immobilien? Und Sie sind der Bürgermeister?«

»Besitzer des Lebensmittelladens haben Sie noch vergessen«, antwortete Eb Thibadeaux und wies auf den Außenborder. »Und erfolgloser Bootsmechaniker. Wem oder was verdanke ich die Ehre Ihres Besuchs?«

6

»Ich suche Sie schon den ganzen Vormittag. Bin durch den gesamten Ort gefahren, war zweimal im Rathaus und habe drei Nachrichten auf Ihrer Mailbox hinterlassen«, sagte Greer.

Er runzelte die Stirn, klopfte auf seine Gesäßtasche. »Tut mir leid. Hab mein Handy wohl im Pick-up liegen lassen. Was ist denn so wichtig?«

»Sind Sie wirklich der Bürgermeister?« Sie konnte sich die Frage nicht verkneifen. Noch nie hatte sie jemanden gesehen, der weniger wie ein Bürgermeister aussah als Eben Thibadeaux.