E-Book 1126-1130 - Patricia Vandenberg - E-Book

E-Book 1126-1130 E-Book

Patricia Vandenberg

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Beschreibung

Jenny Behnisch, die Leiterin der gleichnamigen Klinik, kann einfach nicht mehr. Sie weiß, dass nur einer berufen ist, die Klinik in Zukunft mit seinem umfassenden, exzellenten Wissen zu lenken: Dr. Daniel Norden! So kommt eine neue große Herausforderung auf den sympathischen, begnadeten Mediziner zu. Das Gute an dieser neuen Entwicklung: Dr. Nordens eigene, bestens etablierte Praxis kann ab sofort Sohn Dr. Danny Norden in Eigenregie weiterführen. Die Familie Norden startet in eine neue Epoche! E-Book 1126: Der Traum von der ewigen Jugend E-Book 1127: Auf zu neuen Ufern E-Book 1128: Der blinde Passagier E-Book 1129: Ist eine Rettung möglich? E-Book 1130: Wir dürfen uns nicht verlieren! E-Book 1: Der Traum von der ewigen Jugend E-Book 2: Auf zu neuen Ufern E-Book 3: Der blinde Passagier E-Book 4: Ist eine Rettung möglich? E-Book 5: Wir dürfen uns nicht verlieren!

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Inhalt

Der Traum von der ewigen Jugend

Auf zu neuen Ufern

Der blinde Passagier

Ist eine Rettung möglich?

Wir dürfen uns nicht verlieren!

Chefarzt Dr. Norden – Box 4 –

E-Book 1126-1130

Patricia Vandenberg

Der Traum von der ewigen Jugend

Hat Andrea ausgeträumt?

Roman von Vandenberg, Patricia

»Ihre Handschrift ist so unterirdisch, da brauche ich ja eine Grubenlampe zum Lesen«, schimpfte Dr. Lammers. Gemeinsam mit seiner Kollegin und Vorgesetzten Dr. Felicitas Norden eilte er den Flur entlang Richtung Notaufnahme. Fees Notizen raschelten in seiner Hand.

»Dann lassen Sie es eben bleiben.« Sie riss ihm das Blatt aus der Hand. »Ich übernehme den Patienten.«

Lammers blieb stehen und sah ihrem flatternden Kittel nach.

»Meine Güte! Dass Frauen immer so empfindlich sein müssen.«

Ein Glück, dass Felicitas ihn nicht mehr hörte. Dazu hätte sie einiges zu sagen gehabt. Die Wortfetzen wehten hinter ihr her, als sie in der Notaufnahme ankam. Einen Wimpernschlag später schnappte sie nach Luft.

»Dr. Steinhilber.« Schlagartig hatte sie wieder den Geruch des Hörsaals in der Nase. Die Mischung aus altem Holz, PVC und muffiger Heizungsluft war im Winter fast heimelig gewesen. An heißen Sommertagen hatten sich die Räume allerdings viel zu oft in reine Folterkammern verwandelt. Ein Glück, dass es inzwischen Klimaanlagen gab, die auch in der Behnisch-Klinik lautlos ihren Dienst taten. »Das ist ja eine Überraschung. Sie haben sich kaum verändert.« Einem jungen Erwachsenen hätte sie mit diesen Worten die Schamröte ins Gesicht und eine ordentliche Wut in den Bauch getrieben. Anders sah es bei den älteren Herrschaften aus.

Trotzdem reagierte der Mann nicht sofort. Er raunte dem Jungen auf der Liege ein paar Worte zu. Erst dann richtete er sich auf und musterte die Frau, die ihn angesprochen hatte. Endlich erreichte sein Lächeln die Augen und kräuselte die feine Haut.

»Felicitas Cornelius. Ich glaube es nicht.«

»So lange ist das her? Ich heiße seit einer gefühlten Ewigkeit Norden.«

Der Rettungsarzt Erwin Huber trat zu ihnen.

»Das ist Julius Steinhilber.« Er deutete auf den Jungen. »Er ist vierzehn Jahre alt und klagt seit einem Sturz vom Roller …«

»Scooter heißt das«, korrigierte Julius den Kollegen.

Erwin schnitt eine Grimasse.

»Tut mir leid. Also, noch einmal von vorn. Der junge Mann ist mit seinem Scooter auf der Halfpipe gestürzt und klagt seitdem über starke Schmerzen im linken Arm.«

»Da dachte ich mir, ich rufe lieber den Notarzt«, erklärte Emil Steinhilber. »Es könnte ja sein, dass er sich weitere Verletzungen zugezogen hat.«

Fee bedankte sich bei dem Kollegen Huber, schenkte Dr. Steinhilber ein Lächeln und beugte sich über Julius.

»Wie du gerade beeindruckend unter Beweis gestellt hast, kannst du uns sehr gut hören.«

»Ja, klar.«

»Weißt du auch, wo du bist?«

»Behnisch-Klinik. Das habe ich im Funk gehört. Total cool, in so einem Krankenwagen mitzufahren. Ich habe meinen Freunden schon Fotos geschickt.« Er deutete auf das Handy, das auf seinem Bauch lag.

»Hoffentlich nehmen sich deine Freunde kein Beispiel an dir und stürmen die Notaufnahme.« Fee hob die Decke und warf einen Blick auf den verletzten Arm.

»Schockraum zwei«, sagte sie zu dem Pfleger, der zu ihnen getreten war. »Ich komme sofort nach.« Sie sah dem Krankentransport kurz nach, bevor sie sich zu ihrem ehemaligen Dozenten umdrehte.

»Wollen Sie Ihren …« Mitten im Satz hielt sie inne. Nur jetzt nichts falsch machen, »… Sohn …?«

Emil Steinhilbers Lachen unterbrach sie. Also doch ein Fehler!

»Für wen halten Sie mich, verehrte Fee? Das hier ist mein Enkelsohn. Seit dem Unfalltod seiner Eltern lebt er bei mir.«

»Oh, das tut mir leid.«

»Schon gut.« Emil winkte ab. »Das ist schon zwölf Jahre her, und das alte Sprichwort hat wieder einmal recht behalten: Die Zeit heilt alle Wunden.« Seine plötzliche Heiserkeit strafte ihn Lügen. Schnell wechselte er das Thema. »Biochemie ausgezeichnet, Molekularbiologie ungenügend. Das habe ich nie verstanden.«

»Sie erinnern sich noch an meine Leistungen?« Fee wollte eben fortfahren, als der Kollege Lammers wie zufällig vorbeischlenderte.

»Darf ich einen Kaffee vorbeibringen? Da plaudert es sich doch gleich viel besser.«

Felicitas ballte die Hände zu Fäusten. Irgendwann würde sie ihm den Hals umdrehen! Sie zwang sich ein Lächeln auf die Lippen und winkte Dr. Steinhilber mit sich.

»Gehen wir zu Julius.«

*

»Haben Sie Oskar erreicht? Und wer kümmert sich denn jetzt um den Klinikkiosk?« Die ehemalige Haushälterin der Familie Norden lag im Klinikbett. Auf dem Weg in den Operationsbereich flogen die Bilder an den Wänden als bunte Flecken an ihr vorbei. »Sollen wir das mit der Operation nicht doch lieber lassen? So schlecht sehe ich doch gar nicht.«

Dr. Daniel Norden begleitete den Transport. Er gab der Schwester ein Zeichen. Sie stoppte das Bett.

»Ach ja?« Seine Stimme war eine einzige Herausforderung. »Dann können Sie mir ja sicher sagen, was Sie auf diesem Foto sehen.«

Lenni sah hinüber zu dem psychedelischen Muster in verschiedensten Grüntönen. Es erinnerte sie an das Chamäleon, das im ­Behandlungszimmer des Professors für Augenheilkunde hing. Vielleicht …

»Hätten Sie Lust, dort Urlaub zu machen?«, fragte Daniel weiter.

Lenni schluckte. Also doch kein Chamäleon.

»Mir ist eine Fliege ins Auge geflogen«, jammerte sie und rieb sich demonstrativ die Augen, bis sie tränten.

Daniel Norden lachte und gab der Schwester ein weiteres Zeichen.

»Schon gut. Ich werde den Kammerjäger kommen lassen. Aber um Ihre Fragen zu beantworten: Von Oskar habe ich leider noch nichts gehört. Soweit ich weiß, ist er heute Nacht auch nicht nach Hause gekommen. Dafür hat Anneka versprochen, den Kiosk zu übernehmen, bis Sie zurück sind. Sie hat noch ein paar Tage Zeit, bis ihr Studium beginnt, und ist froh, sich ein Taschengeld zu verdienen.«

»Wenigstens etwas«, murmelte Lenni.

So kleinlaut hatte Dr. Norden seine ehemalige Haushälterin in all den Jahren nicht erlebt. Doch für Reue war im Augenblick kein Platz. Leise surrend schoben sich die Türen zum Operationsbereich auf. Wasserrauschen empfing sie. Professor Lutz stand am Waschbecken. Er warf einen Blick über die Schulter.

»Da sind Sie ja schon!« Ein Handtuch in den Händen trat er ans Bett. »Wie fühlen Sie sich, liebste Lenni?«

Mit einem Handkuss und einem Einfühlungsvermögen, das seinesgleichen suchte, hatte er ihr Herz tags zuvor noch zum Flattern gebracht. Dummerweise war Lennis Lebensgefährte Oskar von ihren Schwärmereien alles andere als amüsiert gewesen und hatte das Weite gesucht.

»Ich bin nicht Ihre liebste Lenni«, fauchte sie den Professor an.

Dank seiner langjährigen Erfahrungen mit ängstlichen Patienten war Lutz Krugs Lächeln unerschütterlich.

»Keine Sorge. Ich werde alles dafür tun, damit Sie nicht im Altenheim landen.«

Lenni schielte hinüber zu ihrem ehemaligen Chef.

»Was reden Sie denn da? Ich und ein Altenheim! Können Sie jetzt endlich anfangen? Mit Ihrem Gerede machen Sie mich noch ganz nervös.«

»Ihr Wunsch ist mir Befehl.«

Die beiden Ärzte tauschten einen amüsierten Blick. Professor Krug gab seine Anweisungen, und die Patientin wurde in den OP geschoben.

»Tut mir leid, dass Lenni so schlechte Laune hat«, entschuldigte sich Daniel für seine zickige Haushälterin. In all den gemeinsamen Jahren war sie der Familie wie eine Ersatzomi ans Herz gewachsen. Kein Wunder also, dass die Nordens sich verantwortlich fühlten, allen voran Daniel und seine Frau.

»Schon gut«, winkte der Professor ab. Er streckte die Arme aus, um sich von einer Schwester in den Operationskittel helfen zu lassen. »Als junger Arzt war ich regelmäßig beleidigt, wenn mich Patienten so behandelt haben. Heute weiß ich zum Glück, dass nicht ich, sondern die Angst für die schlechte Laune verantwortlich ist. Das macht mein Leben entschieden leichter.«

Wohlweislich behielt Daniel für sich, dass Oskar nicht unbeteiligt war an Lennis Gemütsverfassung. Er wünschte dem Kollegen viel Glück und versprach, rechtzeitig nach dem Eingriff wieder zur Stelle zu sein.

*

»Ich bin auf den Ellbogen gefallen«, erzählte Julius und verzog das Gesicht, als Fee den Arm vorsichtig betastete.

Dr. Steinhilber stand neben seinem Enkel und beobachtete die Bemühungen seiner ehemaligen Studentin.

»Ist er gebrochen?«

Julius riss die Augen auf.

»Nächste Woche ist der Scooter-Contest. Da muss ich unbedingt mitmachen, sonst verliere ich meine Sponsoren.«

»Sponsoren?« Fee zog eine Augenbraue hoch.

»Julius hat wochenlang herumtelefoniert und Videos verschickt, um Sportartikelhersteller von seinem Talent zu überzeugen«, lieferte Emil Steinhilber die Antwort. »Sie haben ihn mit Kleidung und Schuhen unterstützt und wollen nun natürlich Erfolge sehen.«

»Meine Güte, was es heutzutage alles gibt.« Felicitas konnte nur den Kopf schütteln. »Allerdings fürchte ich, dass sich die Sponsoren noch ein wenig gedulden müssen. Für Julius fällt der Wettbewerb nächste Woche leider aus.«

Der junge Sportler zischte wie eine Schlange. Allerdings weniger wegen Fees Prognose, sondern vielmehr, weil sie seinen Arm vorsichtig hin und her drehte.

»Hämatom mit starker Schwellung des Gelenks und Bewegungsunfähigkeit«, stellte sie schließlich fest. »Ich fürchte, wir haben es mit einer Olekranonfraktur zu tun.«

Emil legte den Kopf schief und musterte Fee mit sichtlichem Wohlwollen.

»Sieh mal einer an. Meine Studentin hat sich ganz schön gemausert.« Seine Stimme klang wie Sandpapier.

»Der Ellenbruch an der Oberkante des Unterarms hat zum Glück auch wenig mit Mikrobiologie zu tun.« Lächelnd sah sie zu ihrem ehemaligen Dozenten hinüber. Noch immer konnte sie nicht glauben, dass er sich so wenig verändert hatte. Möglich, dass er mit den Falten um Augen und Mund und dem silbernen Haar noch besser aussah als früher. Schon damals hatten ihn die Studentinnen umschwärmt wie Wespen eine Sahnetorte. Da hatte sie keine Ausnahme gebildet. Schnell verscheuchte Felicitas diesen Gedanken. »Im Übrigen müssen Sie sich keine Sorgen machen. Das wird ein kleiner Eingriff. Mit bleibenden Schäden ist nicht zu rechnen.«

»Das klingt doch gar nicht schlecht.« Dr. Steinhilber nickte seinem Enkel zu.

»Gut. Dann nehme ich jetzt noch Blut für ein großes Blutbild ab. Im Anschluss lasse ich Julius zum Röntgen bringen.« Fee setzte sich auf einen Hocker und rollte zum Schrank hinüber.

Dr. Steinhilber ließ sie nicht aus den Augen. Obwohl sie schon lange nicht mehr seine Studentin war, machte sein Blick sie nervös. Sie atmete tief durch, staute die Vene und wollte zustechen, als er sie unterbrach.

»Wenn man die Nadel flach ansetzt, dann tut es am wenigstens weh.«

»Genau das hatte ich gerade vor.« Ihre Stimme war spitz wie die Nadel in ihrer Hand.

»Entschuldigen Sie, meine Liebe. Was Julius angeht, bin ich immer übervorsichtig.«

Sofort hatte Felicitas ein schlechtes Gewissen. Emil Steinhilber hatte Sohn und Schwiegertochter bei einem Unfall verloren. Seine Frau hatte den Tod nicht verwunden und war den beiden nur zwei Jahre später gefolgt. Julius war das Einzige, das ihm geblieben war. Wie sollte er nicht übervorsichtig sein?

Das Lächeln, das sie ihm schenkte, kam von Herzen.

»Das ist doch nur natürlich«, sagte sie mit warmer Stimme, ehe sie sich endlich anschickte, ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen.

*

»In Ordnung. Bitte halten Sie mich auf dem Laufenden«, sagte Dr. Norden in den Hörer. Mit einer geschickten Drehung wich er einem Krankentransport und einer Gruppe Besucher aus, die ihm auf dem Flur entgegenkamen. »Wir hören uns.« Er beendete das Telefonat und ließ das Mobiltelefon in der Kitteltasche verschwinden. Der Kittel umwehte seine Beine, als er in sein Büro abbog. Noch in der Tür blieb er wie angewurzelt stehen. Nach ihrem Urlaub sollte seine Assistentin Andrea Sander heute den ersten Tag wieder hier sein. Doch wer war die Fremde, die an ihrem Schreibtisch saß?

»Was machen Sie hier?«

Sie zuckte zusammen und wagte kaum, den Kopf zu heben. Selbst das Makeup konnte die Tränenspuren kaum verbergen.

»Ist es so schlimm?«

Daniel zögerte. Diese Stimme kannte er doch, wenngleich sie sonst selbstbewusst und fest war!

»Um Gottes willen, Andrea! Was ist passiert? Sind sie in ein Wespennest gefallen? Das müssen wir sofort behan…«

»Ich wusste, dass es ein Fehler ist zu kommen«, heulte sie auf. Neue Tränen machten alles noch schlimmer. »Aber ich kann ja schlecht den Rest meines Lebens Urlaub machen.« Eines nach dem anderen nahm sie die Papiertücher, die ihr Chef ihr reichte.

Dr. Norden war überzeugt davon, dass Frauentränen nicht nur – wie von israelischen Forschern entschlüsselt – den Testosteronspiegel und somit das Aggressionspotenzial der Männer senkte. Sie mussten auch eine Art lähmende Wirkung haben. Wie sonst ließ sich erklären, dass er sich selten so hilflos fühlte wie beim Anblick einer weinenden Frau? Aber auch das war von der Natur bestimmt so gewollt. Endlich leerte sich das Reservoir, rollte nur noch ab und zu ein Tropfen über Andreas Wange.

Daniel atmete auf.

»Wollen Sie mir endlich erzählen, was passiert ist?«, fragte er sanft.

Andrea schluchzte ein letztes Mal auf.

»Ich … ich war in meinem Urlaub bei einer Schönheitschirurgin.«

Natürlich war Dr. Norden aufgefallen, dass er Frau Sander schon lange nicht mehr in ihren grünen Pumps mit den streicholzdünnen Absätzen gesehen hatte.

»Keine Sorge«, kommentierte sie seinen Blick auf ihre Schuhe. »Gerade habe ich ein kleines Vermögen für einen in der Schweiz gefertigten Schuh ausgegeben.« Sie schnitt eine Grimasse. »Und das nur, weil mich das Firmenschild an die Bergmassive erinnert, sie seit Jahrmillionen trotz extremer Faltenbildung unerschütterlich der Zeit trotzen.«

Daniel Norden musste lachen.

»Meine liebe Andrea, was wollen Sie denn? Für Ihr Alter sehen Sie doch toll aus.« Oder hätte er lieber ›sahen‹ sagen sollen? Ein Glück, dass Andrea seine Gedanken nicht lesen konnte.

Sie verzog das Gesicht.

»Komisch. Das sagt Dr. Kohler von der Orthopädie auch immer, wenn er mein knirschendes Knie begutachtet. Altersangemessen prima.« Wieder schimmerten ihre Augen verdächtig.

Daniel kam um den Schreibtisch herum und setzte sich auf die Tischkante.

»Also schön. Aber was ist denn nun bei der Schönheitschirurgin passiert?«

Andrea Sander putzte sich die Nase und dachte kurz nach, wo sie mit ihrer Leidensgeschichte beginnen sollte.

»Aus einem bestimmten Grund wollte ich einfach besser aussehen. Jünger, frischer. Deshalb habe ich mich für eine Unterspritzung mit Hyaluronsäure entschieden. Eine ultrafeine Nadel, kaum Schmerzen, und die ganze Behandlung dauert nur so lange wie ein Besuch bei der Kosmetikerin.«

»Klingt in der Tat verlockend«, gestand Daniel und konnte sich gerade noch zurückhalten, mit den Fingern über die Falten um seinen Mund zu fahren.

»Dummerweise ging bei mir irgendetwas schief. Direkt im Anschluss an die Behandlung schwoll mein Gesicht an wie ein Luftballon. Die Ärtzin selbst wäscht ihre Hände natürlich in Unschuld und will nichts von einem Behandlungsfehler wissen.« Andreas Stimme war immer leiser geworden und verstummte schließlich ganz. Das Tränendepot hatte sich wieder gefüllt.

Schon sah sich Daniel von einer weiteren Sturzflut bedroht.

»Immer mit der Ruhe, Frau Sander.« Die Wärme seiner Hand auf ihrer Schulter war tröstlich. »Ich werde mich der Sache annehmen. Mit etwas Glück bekommen wir das schon wieder hin.« Er beugte sich über sie und nahm das Gesicht in Augenschein. »So, wie das aussieht, leiden Sie an einer Fillerkomplikation mit einer lokalen Entzündung. Die werden wir zuerst behandeln. Anschließend versuchen wir es mit einer Hyaluronidase. Dabei handelt es sich um Enzyme, die die eingebrachte Hyaluronsäure auf natürliche Art und Weise abbaut. Hilft das alles nichts, bringt ein kleiner Eingriff den gewünschten Erfolg. Und jetzt hören Sie bitte auf zu weinen. Sonst kann ich ja gar nicht erkennen, ob mein Trost fruchtet.«

Andrea rang sich ein Lächeln ab.

»Ihr Wunsch ist mir Befehl«, nuschelte sie in ihr Taschentuch.

Dr. Norden rutschte von der Schreibtischkante. Höchste Zeit, sich nach Lenni zu erkundigen.

»Ich mag es, wenn Frauen so handsam sind.« Er zwinkerte ihr zu und freute sich über das Lachen, das ihn hinaus begleitete. Klein zwar und verhalten, aber immerhin.

*

Die Reifen des Rollstuhls quietschten leise auf dem PVC-Boden, der so ganz anders aussah als der Boden im Hörsaal damals. Heutzutage gab es Vinylböden in Holzoptik, die der Behnisch-Klinik eine fast wohnliche Atmosphäre verliehen, wie Fee insgeheim wieder einmal feststellte. Ihr Patient Julius dagegen hatte ganz andere Sachen im Sinn. Er sah von seinem Handy hoch.

»Mit einem Rollstuhl auf die Halfpipe. Das wäre mal was.«

»Du machst mir Spaß«, stöhnte Emil. »Ein Glück, dass du jetzt erst einmal hier festsitzt.« Und zu Felicitas gewandt fragte er: »Und die Operation ist also am Ellbogen?«

»Es handelt sich nur um einen kleinen Eingriff, der allerdings unumgänglich ist.« Felicitas bugsierte das Bett auf die Seite, um eine Schwester mit einem Wäschewagen vorbeizulassen. Ihr Patient hatte sich wieder in sein Handy vertieft. »Der Knochen heilt leider nicht von selbst so, wie wir das gern hätten. Chronische Schmerzen und eine eingeschränkte Beweglichkeit wären die Folge. Aber keine Sorge.« Vor der Tür eines Krankenzimmers machte sie halt. »Wir kriegen das schon wieder hin.«

Stimmen näherten sich.

Dr. Lammers ging mit einer Schwester über den Flur. Die beiden unterhielten sich leise und schienen keinerlei Notiz von ihrer Umwelt zu nehmen. Fee war das nur recht.

»Nimmst du irgendwelche Medikamente?«, erkundigte sie sich bei Julius, der selbstvergessen im Rollstuhl saß und auf seinem Mobiltelefon herumtippte.

»Als Biologe schwöre ich auf Naturheilverfahren«, antwortete Emil anstelle seines Enkels. »Sind da irgendwelche Wechselwirkungen mit der Narkose zu befürchten?«

»Nicht mal, wenn Sie ein ganzes Kräuterfeld vertilgen«, bemerkte Volker Lammers im Vorbeigehen. Sein Lachen dröhnte über den Flur.

Bevor Felicitas eine passende Antwort einfiel, war er auch schon um die Ecke verschwunden.

Dr. Steinhilber schickte ihm einen Blick aus schmalen Augen nach.

»Ein Anwärter für den Friedensnobelpreis ist dieser Typ aber nicht.« Er hielt Felicitas die Tür zum Krankenzimmer auf. »Ist er Ihr Vorgesetzter?«

Sie lächelte.

»Im Gegenteil. Ich bin die Chefin der Pädiatrie und er mein Stellvertreter.«

»Sieht ganz so aus, als könnte sich das demnächst ändern.« Leise klappernd fiel die Tür hinter ihnen ins Schloss.

Fee zählte still bis drei, wie sie es inzwischen automatisch tat, um sich in einer schwierigen Situation zu beruhigen. Nomalerweise ging es dabei um kleine Patienten. Aber auch in anderen Situationen hatte sich diese Praktik bewährt. Doch in diesem Fall war es nicht so einfach wie sonst. Sie zählte bis fünf, bis sechs, dann atmete sie tief durch, parkte den Rollstuhl vor dem Bett und drehte sich zu ihrem ehemaligen Dozenten um.

»Sie irren, Herr Dr. Steinhilber.«

Emil lachte.

»Immer noch kämpferisch wie eh und je.« Er zwinkerte ihr zu. »Ich erinnere mich noch gut an Sie. Und an Ihre Liebesbriefe.«

Felicitas wurde es heiß und kalt. Schnell sah sie hinüber zu Julius. Doch der war zum Glück immer noch in seiner eigenen Welt versunken. »Daran erinnern Sie sich noch?« Sie ärgerte sich darüber, dass ihre Stimme zitterte.

Dr. Steinhilber zwinkerte ihr zu.

»Keine Sorge. Ich verrate Sie nicht.«

»Vielen Dank.« Felicitas rang sich ein Lächeln ab. Nicht auszudenken, was passierte, wenn Lammers erfuhr … Nein, daran wollte sie noch nicht einmal denken! Sie klatschte in die Hände. »Dann wollen wir Julius mal in sein Bett verfrachten. Komm, ich helfe dir aus dem Stuhl.«

Sie wartete, bis der junge Mann das Mobiltelefon aus der Hand gelegt hatte.

»Kann ich ich nach der Operation wieder Scooter fahren?« fragte er, als Felicitas die Bettdecke über ihn breitete und glatt strich.

»Mach dir keine Sorgen«, sagte Emil und schüttelte das Kopfkissen aus. Er schickte Fee einen fragenden Blick. »Die Ärzte hier wissen doch, was zu tun ist, oder?«

»Natürlich wissen wir das.« Sie stand am Bett und dachte kurz nach. »Dr. Steinhilber, Sie waren ein hervorragender Dozent. Einer der besten, die ich hatte. Und jetzt habe ich endlich Gelegenheit, Ihnen zu beweisen, dass auch ich mein Fach beherrsche.« Sie nickte ihm zu, wuschelte Julius durch das Haar und verabschiedete sich in der Hoffnung, Emils offensichtliche Zweifel zum Schweigen gebracht zu haben.

*

»Die sind immer noch da drin?« Wie ein werdender Vater wanderte Dr. Norden vor dem Operationssaal auf und ab. »Das gibt’s doch nicht! Es geht um eine Augenoperation. Warum dauert das denn so lange?«

»Das solltest du den Professor fragen.« Lächelnd deutete Schwester Elena auf Lutz Krug, der eben aus dem Operationssaal trat.

Die Miene des Kollegen war alles andere als ermutigend. Daniel hielt die Luft an.

»Was ist? Wie geht es Lenni? Wie ist die OP verlaufen?«

Der Professor ließ sich Zeit mit einer Antwort. Er zog den Mundschutz vom Gesicht und zupfte die Haube vom Kopf.

»Tja, was soll ich sagen …« Lutz sah hinüber zum Anästhesisten Klaiber, der ihm gefolgt war. Auch sein Gesicht sprach Bände.

»Meine Güte!«, rief Dr. Norden händeringend. »Jetzt schaut doch nicht so. Sagt doch etwas!«

Ein Lächeln zuckte um Lutz Krugs Mundwinkel.

»Die Patientin lebt noch. Wenn es das ist, was Sie hören wollen.« Er klopfte Daniel auf die Schulter. »Keine Sorge, der Verlauf war optimal. Ich hoffe für Sie, dass wir Lennis schlechte Laune gleich mitentfernt haben.«

»Das hoffe ich auch«, seufzte Dr. Norden und nahm seine ehemalige Haushälterin im Bett in Empfang. Er brachte sie höchstpersönlich in den Wachraum, stellte ihr Bett an seinen Platz, kontrollierte den Sitz des Pulsoxymeters am Finger und den Fluss des Tropfs.

»Was machen Sie denn schon wieder hier? Haben Sie keine Arbeit?«, krächzte Lenni. Sie wollte ins gedämpfte Licht blinzeln, das durch die halb heruntergelassenen Jalousien fiel. Vergeblich. Da war etwas in ihrem Gesicht, was dort auf keinen Fall hingehörte. Beim Versuch, die Augen zu betasten, riss sie den Pulsoxymeter vom Finger. Ein durchdringender Alarm ertönte. Rasch beseitigte Daniel das Problem. »Warum kann ich nichts sehen?«, fragte sie eine Oktave höher.

»Keine Sorge, es ist alles in Ordnung. Professor Krug hat sich lediglich entschlossen, beide Augen gleichzeitig zu operieren, um Sie nicht unnötig großen Belastungen auszusetzen.«

Es klopfte. Im nächsten Augenblick wurde die Klinke heruntergedrückt. Ein Rascheln ließ Lenni aufhorchen. Schnuppernd hob sie die Nase.

»Oskar? Mit Blumen?« Die Falten auf ihrem Gesicht glätteten sich.

Die Zwillinge Jan und Dési, die ältere Schwester Anneka und ihre Mutter schickten sich vielsagende Blicke.

»Tut uns leid. Wir sind es nur«, bemerkte Fee verschnupft.

Janni zeigte sich weniger empfindlich.

»Komm schon, Lenni, das wird schon wieder!« Er beugte sich zu seiner Ersatzomi und drückte ihr einen schmatzenden Kuss auf die Wange.

»Das werden wir ja sehen. Wann kann ich nach Hause?«

Daniel Norden machte ein paar Notizen in der Krankenakte.

»Sie sind ja schon wieder voller Energie. Das ist ein gutes Zeichen.« Der Kugelschreiber kratzte über das Papier. »Aber ein paar Tage wird es schon noch dauern.«

Lenni verschränkte die Arme und presste die Lippen aufeinander. Wie ein See, über den der Wind­ strich, bewegten sich die Falten in ihrem Gesicht.

»Hat sich Oskar schon gemeldet?«

Alle sahen hinüber zu Anneka, die die Aufgabe übernommen hatte, sich um den Klinikkiosk ›Allerlei‹ zu kümmern. Neben Artikeln des täglichen Bedarfs gab es dort Leckereien aus der Bäckerei ›Schöne Aussichten‹. Saftige Vanilleschnecken, Quarkbällchen, aber auch so exotische Köstlichkeiten wie Zitronentarte mit Minze konnten unter Palmen bei einer Tasse Kaffee genossen werden. Anneka hatte alle Hände voll zu tun gehabt, um die Wünsche der zahlreichen Gäste zu erfüllen.

»Im Kiosk war er auf jeden Fall nicht«, beantwortete sie Lennis Frage. »Zumindest habe ich ihn in dem Trubel nicht bemerkt.«

»Zu Hause haben wir ihn auch nicht gesehen«, sagte Janni.

»Du siehst doch sowieso nichts, weil du den ganzen Tag hinter dem Computer steckst.« Dési knuffte ihren Zwillingsbruder in die Seite.

Früher hatte so eine Bemerkung genügt, um den schönsten Streit zu entfachen. Doch die Zeiten hatten sich geändert, wie Fee insgeheim feststellte.

Jan schob seine schwarz umrandete Brille zurecht und lächelte sein Eiswürfellächeln. Ein untrügliches Zeichen für einen bevorstehenden Vortrag.

»Erstens habe ich nur einen halben Tag zur Verfügung, um mich mit den wirklich sinnvollen Dingen des Lebens zu beschäftigen.« Er warf das Haar auf die Seite. »Und zweitens ist das Haus kameraüberwacht. Ergo habe ich durchaus einen Überblick darüber, was sich bei uns abspielt.«

Die sprichwörtliche Ruhe vor dem Sturm war beinahe mit Händen greifbar. Dann brach das Unwetter los.

»Bist du jetzt total übergeschnappt?«, fauchte Dési.

»Was soll das heißen? Kameras?« Daniel schnappte nach Luft. Sofort dachte er an die Überwachungssysteme in Kaufhäusern oder Tiefgaragen, wo Detektive vor Dutzenden von Bildschirmen saßen und jede Bewegung innerhalb des Gebäudes verfolgten.

Anneka hatte ähnliche Gedanken wie ihr Vater.

»Schon mal was von Privatsphäre gehört?«, ereiferte sie sich. Ihr Freund Sascha war am vergangenen Abend zu Besuch gewesen. Nicht auszudenken, wenn Janni sie beobachtet hatte … »Ich … ich … ich könnte dich anzeigen.«

Doch ihr Bruder winkte nur ab.

»So gut solltet ihr mich inzwischen kennen, um zu wissen, dass ich mich an Recht und Ordnung halte. Daher habe ich auf die Installation von Kameras im Haus verzichtet, da ich hierfür eine Einwilligung der Bewohner benötige. Die Anbringung einer Kamera im Eingangsbereich eines Hauses ist jedoch erlaubt und bedarf keiner besonderen Einwilligung der gefilmten Personen.«

Das Schnauben aus dem Bett erinnerte die Familie an den Grund ihres Besuchs. »Kamera hin oder her.« Lenni fuchtelte mit der Hand durch die Luft. »Ich weiß trotzdem nicht, wo Oskar steckt. Was soll ich denn jetzt machen?«

Diese Frage war schwer zu beantworten. Daniel und Fee sahen sich an. Die Gelegenheit war günstig, der ehemaligen Haushälterin ins Gewissen zu reden. So wehrlos wie jetzt war Lenni selten.

Fee legte die Hand auf ihren Arm.

»Im Augenblick bleibt Ihnen nichts anderes übrig, als abzuwarten. Nicht nur Sie haben eine schwere Zeit hinter sich«, gab sie zu bedenken. »Auch Oskar hat ziemlich viele Federn gelassen. Die Arbeit im Kiosk, Ihre schlechte Laune. Und dann noch Ihre Schwärmerei für den Professor …«

»Meine Güte. Seit wann ist er denn so empfindlich …«

»Lenni«, mahnte Dr. Norden.

Sie kannte ihn lange genug, um diesen Tonfall einordnen zu können.

»Ist ja schon gut.« Beleidigt drehte sie den Kopf weg. »Ich hätte mir ja denken können, dass eine Krähe der anderen kein Auge aushackt.«

Daniels Mundwinkel zogen sich nach oben.

»Wenn Sie Oskar zurückgewinnen wollen, müssen Sie sich schon etwas Mühe geben. Und vor allen Dingen nicht mehr so viel herummeckern. Schließlich ist es keine Selbstverständlichkeit, in diesem Lebensabschnitt noch einmal einen Partner zu finden.«

»Schon gar nicht für eine Frau«, stimmte Janni seinem Vater zu. »Erwiesenermaßen haben Frauen es im Alter schwerer, einen neuen Partner zu finden«, erklärte er und erntete überraschte Blicke. Kein Thema, zu dem er nicht irgendwelche Weisheiten beisteuern konnte. Mit auf dem Rücken verschränkten Händen begann er, vor dem Bett auf und ab zu gehen. Lenni konnte ihn nicht sehen, hörte aber sehr wohl seine Schritte. »Das liegt zum einen an ihren hohen Ansprüchen. Ein weiterer Grund ist die unterschiedlich hohe Lebenserwartung. Heutzutage werden Frauen im Schnitt fünf Jahre älter als Männer. Das bedeutet, dass mit zunehmendem Alter die Auswahl für das weibliche Geschlecht kleiner wird. Oder um es mit Bildern aus dem Tierreich darzustellen: Immer mehr Weibchen kämpfen um immer weniger Männchen.« Er blieb vor dem Bett stehen und seufzte tief. Lenni reckte den Kopf in seine Richtung.

»Willst du damit sagen, dass Oskar an jeder Ecke eine Neue findet?«

»Wenn er will, dann lautet die Antwort eindeutig ja.«

Bis auf Janni hielt die ganze Familie Norden die Luft an. Niemand hätte es gewagt, Lenni die Wahrheit so unverblümt mitten ins Gesicht zu sagen. Doch das erwartete Donnerwetter blieb aus.

»Soll er sich doch eine andere suchen. Wird er schon sehen, was er davon hat«, murrte Lenni.

Sie hatte schon überzeugender geklungen.

*

Nach der Begegnung mit ihrem Chef fühlte sich Andrea Sander besser. Das Gesicht hinter einer riesigen Sonnenbrille verborgen, machte sie sich daran, die Unterlagen aufzuarbeiten, die in ihrer Abewesenheit liegen geblieben waren.

Obwohl eine Kollegin eingesprungen war, stapelten sich die Akten auf ihrem Schreibtisch. Sie erledigte die Korrespondenz, notierte Termine in ihren Kalender, erstellte eine Statistik, um die der Verwaltungsdirektor Dieter Fuchs gebeten hatte, und leitete alles für die geplante Fortbildung der Assistenzärzte ein.

Zwischendurch führte sie Telefonate mit einem Unternehmen für Medizintechnik. Derart gefangen in ihren Aufgaben, vergaß sie sogar ihr entstelltes Gesicht. Es fiel ihr erst wieder ein, als Clemens Kremling im Büro auftauchte. Wie jedes Mal, wenn sie dem neuen Leiter der Sozialstation begegnete, verwandelten sich ihre Knie in Pudding. Bisher nicht immer mit gutem Ausgang. Ein Mal war sie in seine Arme gesunken und hatte deutliche Make-up-Spuren auf dem weißen Hemd hinterlassen. Ein anderes Mal musste er den Apfelstrudel mit Vanillesauce von der Hose pflücken, den sie sich aus dem Klinikkiosk geholt hatte. Es sprach für Clemens, das er jeden dieser Unfälle mit einem Lachen quittiert hatte und sich obendrein auch noch über jede weitere Begegnung freute. Wenn das nicht ein Grund war, sich in diesen Mann zu verlieben!

»Frau Sander, das ist ja eine schöne Überraschung. Sie sind endlich wieder da!« Die Freude strahlte aus seinen Augen wie die Sonne persönlich. Als Clemens näherkam, glätteten sich die Lachfalten aber wieder. »Was ist denn mit Ihrem Gesicht passiert?«

Andrea hielt die Luft an. Unmöglich, ihm die Wahrheit zu sagen.

»Ich …. mich … mir …«, stammelte sie, als ihr glücklicherweise die Frage ihres Chefs wieder in den Sinn kam. »Ich hatte einen Zusammenstoß mit einem Wespennest.«

»Sie Ärmste.« Clemens Kremlings Mitgefühl war echt. »Das muss ja schrecklich weh tun.«

»Zum Glück arbeiten wir ja in einer Klinik. Da gibt es Ärzte und Schmerzmittel im Überfluss.« Was redete sie denn da? Und dann erst ihr Lachen! Am liebsten hätte sich Andrea unter dem Tisch versteckt.

Zum Glück schien Clemens nichts zu bemerken.

»Zumindest haben Sie Ihren Humor nicht verloren.« Er lachte und hielte eine Mappe hoch. »Das hier ist die Akte Gerda Kraft. Dr. Norden hat mich darum gebeten, mir Gedanken zu machen. Die Vorschläge bezüglich der Reha-Maßnahmen liegen bei. Er soll sich bitte mit mir in Verbindung setzen. Dann können wir alles weiter besprechen.«

»Natürlich.« Andrea Sander nickte abwesend und legte die Akte zur Seite.

Clemens hätte eigentlich gehen können. Warum nur stand er immer noch vor ihrem Schreibtisch und bewegte sich keinen Millimeter?

»Zu dumm, dass Ihnen so etwas ausgerechnet im Urlaub passiert«, stellte er nach einer Weile fest.

»Na ja, das kann man sich nicht aussuchen.« Andrea Sander betete, dass ihre Stimme sie nicht verriet.

»Sie hätten sich krankschreiben lassen können.«

»Um allein zu Hause herumzusitzen und über mein schlimmes Schicksal nachzudenken?« Sie schüttelte den Kopf, dass ihre Sonnenbrille von der Nase rutschte. Schnell schob sie sie zurück an ihren Platz. »Nein, das ist nichts für mich. Da gehe ich lieber arbeiten. Das lenkt ab.«

»Weise Worte aus dem Mund einer schönen Frau.« Clemens griff nach ihrer Hand und zog sie an die Lippen.

Wie oft hatte Andrea von so etwas geträumt! Doch es war wie verhext. Jetzt, da ihr Traum Wirklichkeit wurde, konnte sie sich nichts Schlimmeres vorstellen, als dass er ihr zu nahe kam.

»Sie machen sich lustig über mich.« Schnell zog sie die Hand zurück.

»So denken Sie über mich?« Clemens machte keinen Hehl aus seiner Fassungslosigkeit.

»Nein, nein, natürlich nicht. Es ist nur … es ist … ich fühle mich so schrecklich hässlich«, jammerte Andrea und hatte das Gefühl, mit jedem Wort alles nur noch schlimmer zu machen. Am besten, sie hielt für den Rest des Tages den Mund. Um den Tränen keine Macht zu geben, starrte sie auf den Brief, der vor ihr auf dem Tisch lag. So bemerkte sie nicht, dass Clemens Kremling amüsiert lächelte.

»Einen schönen Menschen entstellt nichts. So sagt man doch, oder? Und ich komme so oft wieder und sage Ihnen das, bis Sie es selbst glauben.«

Als Andrea wieder hochblickte, war der Platz vor dem Schreibtisch leer. Im ersten Moment fühlte sie sich, als hätte sie einen viel zu warmen Mantel ausgezogen. Doch die Erleichterung währte nur kurz.

»Das war DIE Chance, auf die du so lange gewartet hast«, schalt sie sich selbst. »Und was tust du, dumme Pute? Du vermasselst alles und lügst ihn obendrein noch an.« Konnte es noch schlimmer kommen?

*

Das EKG piepte gleichmäßig. Einem Blasebalg gleich pumpte das Beatmungsgerät durch einen Tubus Luft in die Lunge des kleinen Patienten auf dem Operationstisch. Die Anästhesistin beantwortete die stumme Frage der Kinderärztin mit einem Nicken. Fee beugte sich wieder über das Operationsfeld. Ihr Blick streifte Lammers’ Hände. Künstlerhände, ging es ihr durch den Sinn. Ein Künstler war er tatsächlich. Leider nur auf seinem Spezialgebiet, der Kinderchirurgie. Ansonsten ließ er jede Eigenschaft vermissen, die man einem Künstler zuschrieb. Sensibilität, Fantasie, Neugier, Leidenschaft … All das waren böhmische Dörfer für den ungeliebten Kollegen, der nichts anderes im Sinn hatte, als ihr ihren Platz als Chefin der Pädiatrie streitig zu machen.

Zu Fees Leidwesen hatte sich an diesem Nachmittag kein anderer Arzt für die Operationsassistenz gefunden. Einen kurzen Moment hatte sie an Sabotage gedacht, diesen Gedanken aber schnell wieder aus ihrem Kopf verbannt. An der Behnisch-Klinik arbeitete ein Team aus Ärzten und Schwestern Hand in Hand, um die besten Ergebnisse für die Patienten zu erzielen. Keine Feinde, wie Volker Lammers sie immer wieder vermuten ließ. Wenn sie nur lange genug dagegen hielt, würde er irgendwann klein beigeben. Davon war Felicitas Norden zutiefst überzeugt. Selbst, wenn diese Überzeugung manchmal wankte. Wie in diesem Moment.

»Warum behandeln Sie den Bruch eigentlich nicht konservativ?«, fragte er in ihre Gedanken hinein.

Felicitas umklammerte die Pinzette, die zuerst angenehm kühl in ihren Fingern gelegen hatte. Inzwischen hatte das Metall fast Körpertemperatur angenommen. Wenn Lammers sie weiter ärgerte, würde es demnächst glühen.

»Sie sehen doch selbst, dass die Bruchstücke des Olekranoms verschoben sind. Allein diese Tatsache schließt eine Heilung ohne Operation aus. Oder verfügen Sie über Geheimwissen, das mir bislang verborgen geblieben ist?«

»Das mit Sicherheit.« Lammers’ Gesichtsmaske blähte sich, als er lachte. »Aber ich finde, Sie machen das sehr gut. Diese Zuggurte aus Kirschnerdraht. Die haben Sie sehr schön an den gebrochenen Enden fixiert. Trotzdem sollten Sie nach der OP ein MRT anfertigen lassen.«

»Vielen Dank für den Hinweis«, presste Felicitas durch die Lippen. Warum nur erlaubte sie es ihm immer wieder zu bewirken, sich in seiner Gegenwart wie ein Schulmädchen zu fühlen? Sogar ihr ehemaliger Dozent Steinhilber hatte sie durchschaut. »Aber der Patient ist bereits angemeldet. Die Bewegungseinschränkung von Julius’ Arm hat nämlich mit der Fraktur nichts zu tun.«

»Ah, deshalb also das große Blutbild.« Lammers’ Augen über der Maske wurden kugelrund. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass er sich über seine Chefin lustig machte. »Sie vermuten eine neurologische Einschränkung?«

»Bin ich Ärztin oder Wahrsagerin?« Fee bat die Schwester, ihr den Schweiß von der Stirn zu tupfen. Das Operationsbesteck klirrte, als sie es in die Nierenschale warf. »Machen Sie bitte fertig, Lammers!« Sie nickte in Richtung der Wunde, die, umgeben von grünen Tüchern, unter der Operationslampe leuchtete. »Ich muss noch meine Glaskugel polieren.« Ohne eine Antwort abzuwarten, rauschte sie aus dem Operationssaal.

Hier und da war ein unterdrücktes Kichern, ein Schnauben hinter den Masken zu hören. Dr. Lammers schickte einen furchterregenden Blick in die Runde. Schlagartig wurde es still im OP. Nur das Schnaufen und Piepen der Überwachungsgeräte war zu hören, als sich Volker Nadel und Faden reichen ließ.

*

Schwerfällig ließ sich Oskar ­Roeckl auf die Bank am Ufer des Kleinhesseloher Sees fallen. Es war ein schöner, aber kühler Tag im Herbst. In einer Art Torschlusspanik zog es die Menschen noch einmal nach draußen, bevor der November mit seinen Herbststürmen, Schauern und Gewittern über die Lande zog. Vom nahen Biergarten wehten Stimmen und Gelächter herüber. Kinder kreischten am Spielplatz. Ein Schwan dümpelte auf dem Wasser, ein Jogger in engen Hosen zog seine Runden auf dem Kiesweg.

Als sich kurz darauf eine ältere Dame zu Oskar auf die Bank setzte, dachte er wieder an Lenni, die jetzt wahrscheinlich frisch operiert war. Der Professor an ihrem Bett hielt vermutlich ihre Hand und die beiden raunten sich Zärtlichkeiten zu. Oskar klammerte sich am splittrigen Holz der Bank fest. So hatte er sich das nicht vorgestellt, als er Lenni vor ein paar Jahren begegnet war. Nie würde er den Zusammenstoß im Klinikkiosk und Lennis Anblick vergessen, auf dem Boden sitzend, ein Meer Sahne auf dem Schoß. Ihre kleinen, blauen Augen hatten wütend gefunkelt. Damals und viele Monate lang empfand er ihre Schroffheit als charmante Eigenheit. Zumal sich hinter der rauen Schale ein butterweiches Herz versteckte.

Doch die Zeiten hatten sich geändert. Oskars Seufzen war tief wie ein Bergwerk.

»Einsamkeit ist eine heimtückische Krankheit.«

Oskar Roeckl hatte die Frau neben sich völlig vergessen. Er zuckte zusammen und starrte sie an. Auch sie schien ihn gar nicht zu sehen. Saß nur da und blickte ins graublaue Wasser. Ein Tretboot schickte glucksende Wellen ans Ufer.

»Man sieht sie nicht. Es gibt keine Medikamente dagegen«, fuhr sie fort. »Und sie frisst uns innerlich auf.«

Oskar nickte langsam.

»Sie sprechen mir aus der Seele.«

Wie aus einem Traum erwacht, wandte die Frau den Kopf. So ein Gesicht machte Lenni immer, wenn sie Schmerzen hatte. Um ein Haar hätte Oskar sich nach ihrem Wohlergehen erkundigt. Doch sie kam ihm zuvor.

»Darf ich Sie auf eine Tasse Kaffee einladen?« Sie deutete hinüber zum Biergarten.

Oskars Augen folgte ihrem Fingerzeig.

»Ehrlich gesagt wäre mir ein Bier lieber. Wussten Sie, dass Bier vor Fettablagerungen im Herzen schützen kann? Damals, als ich noch als Unternehmer in der Modebranche gearbeitet habe …«

»Ach, Sie waren in der Modebranche tätig?«, unterbrach ihn die Fremde und hielt ihm die Hand hin. »Hannah Bloch, vielleicht haben Sie irgendwann von mir gehört.«

»Hannah Bloch, Hannah Bloch.« Oskar suchte in seinem Gedächtnis nach einer Spur. Eine vage Ahnung stieg in ihm auf. Wie ein lange vergessener Duft. Er spürte förmlich, wie sich die Rädchen in seinem Kopf drehten. Schubladen öffneten und schlossen sich wieder. Bis die richtige an der Reihe war. »Natürlich, Hannah Bloch, die Chef-­Designerin von Esmeralda. Der ­bedeutendsten Modemarke im Deutschland der 80er Jahre.«

Hannah scharrte mit den Füßen im Kies. Beim Anblick ihrer Schuhe musste Oskar lächeln. Sie trug die Sorte Schuhe, die Lenni stets als Hühneraugenfarm bezeichnet hatte. Zum Glück bemerkte Hannah Bloch sein Lachen nicht. Ihre Augen ruhten wieder auf dem Wasser.

»Dass Sie sich daran noch erinnern.«

Oskar räusperte sich und verbannte Lenni so gut es ging aus seinem Kopf.

»Esmeralda war eine unserer besten Marken. Die Kollektionen gingen damals weg wie warme Brötchen.«

Hannah zog eine Augenbraue hoch.

»Interessante Wortwahl.«

Schlagartig fühlte sich Oskar in seine Schulzeit versetzt.

»Tut mir leid. Ein besserer Vergleich ist mir auf die Schnelle nicht eingefallen.«

»Schon gut.« Hannah erhob sich und strich ihren Faltenrock glatt. »Was ist denn jetzt mit meinem Kaffee?«

»Natürlich. Wie unaufmerksam von mir.«

Oskar sprang auf und bot ihr den Arm. Der Kies knirschte unter ihren Füßen, als sie sich Richtung Seecafé aufmachten.

*

»Welcher Idiot hat sich ausgerechnet vor meinen Wagen gestellt? Ich habe Feierabend!« Volker Lammers’ Stimme hallte durch die Lobby der Behnisch-Klinik.

Patienten, Besucher und Kollegen drehten sich ebenso nach ihm um wie die Dame im Kostüm, die vor dem Tresen stand.

»Mea culpa!«, räumte sie ohne Umschweife ein, klemmte sich eine blonde Locke hinters Ohr und lächelte wie ein Engel. »Ich habe keinen anderen Platz gefunden.«

Auch wenn Fee Norden heftig widersprochen hätte: Volker Lammers war ein Mann. In dieser Eigenschaft war er alles andere als immun gegen die Reize einer schönen Frau.

»Oh là là!«, entfuhr es ihm. »Ein Schwan in einem Stall voller hässlicher Enten.« Er ignorierte den Blick, den ihm die Schwester hinter dem Tresen zuwarf. Seine Aufmerksamkeit gehörte Dr. Paulsen. »Wenn Sie mich rauslassen, überlasse ich Ihnen meinen Parkplatz. Vorausgesetzt, Sie sind morgen früh noch da, damit wir unser kleines Gespräch fortsetzen können.«

»Tut mir leid.« Mia Paulsens Lachen perlte durch die Halle, als sie den Mann bemerkte, der im flatternden Kittel auf sie zueilte. »So lange wird mein Gespräch mit Dr. Norden nicht dauern.«

Lammers ballte die Hände zu Fäusten. Norden! Norden! Immer wieder und überall diese Nordens! Am liebsten hätte Volker auf dem Boden ausgespuckt.

»Frau Dr. Paulsen, tut mir leid, dass Sie warten mussten.« Daniel begrüßte die Schönheitschirurgin. Er nickte Lammers zu, legte die Hand auf Mias Schulter und wollte sie zu einer ruhigen Sitzgruppe am Fenster führen. Doch Dr. Paulsen hatte noch eine Bitte.

»Mein Wagen hindert den Kollegen am Wegfahren.« Der Schlüssel klimperte in ihrer Hand.

Daniel überlegte nur kurz. Als er Annekas Freund Sascha durch die Lobby schlendern sah, winkte er ihn zu sich. Der lehnte die Bitte natürlich nicht ab. Schon gar nicht, als er den knallroten Schlüsselanhänger sah, auf dem sich ein goldenes Pferd aufbäumte.

»Mache ich doch gern.« Mit Siegerlächeln lief Sascha an Dr. Lammers vorbei.

Der folgte ihm zähneknirschend. Zu gern hätte er gewusst, was die blonde Schönheit vom Chef wollte. Aber erfuhr er nicht immer, was er erfahren wollte? Er schickte noch einen kurzen Blick zurück, sah den beiden zu, wie sie sich setzten, ehe auch er durch die Türen trat. Dr. Nordens Stimme wehte hinter ihm her.

»Vielen Dank, dass Sie meiner Bitte gleich gefolgt sind.«

Mia schlug die Beine übereinander. Der Rock ihres Kostüms rutschte über ihr Knie. Jeder Orthopäde hätte seine Freude an dem Anblick dieser wohlgeformten Kniescheibe gehabt, die von der Patellasehne an ihrem Platz gehalten wurde. Leider war keiner der Kollegen anwesend. Nur eine Schwester, die zwei Gläser Wasser auf den niedrigen Tisch zwischen ihnen stellte. Sie drehte sich um und wäre um ein Haar mit Sascha zusammengestoßen.

»Tolle Karre! Echt wahr.« Er gab Dr. Paulsen die Schlüssel zurück. Seine Wangen leuchteten mit seinen Augen um die Wette. »So eine kaufe ich mir, wenn ich genug Geld gespart habe.«

»Das wird ein paar Diskussionen mit Anneka geben.« Daniel zwinkerte ihm zu. »Wenn ich mich nicht irre, träumt sie von einem Campingbus.«

»Keine Sorge. Ich überzeuge Sie schon noch von den Vorzügen schnittiger Autos«, versprach Sascha, ehe er sich verabschiedete und an die Arbeit zurückkehrte.

Mia sah ihm lächelnd nach.

»Netter junger Mann. Kennen Sie sich privat?«

»Er ist der Freund meiner ältesten Tochter.«

»Sie haben Kinder?« Täuschte sich Daniel oder huschte ein Schatten über Mias hübsches Gesicht? »Noch dazu so große? Das hätte ich nie vermutet.«

»Anneka hat sogar noch zwei ältere Brüder. Und zwei jüngere Geschwister. Aber ich will Sie nicht mit Geschichten über meine Familie langweilen. Es geht um meine Assistentin Frau Sander.«

»Sie erwähnten es bereits am Telefon.« Mia beugte sich vor und nahm einen Schluck Wasser. Ihr Lippenstift hinterließ keine Spuren auf dem Glas. »Ich fühle mich nach wie vor für meine Patientin verantwortlich und möchte sie gern bei mir in der Klinik weiterbehandeln.«

»Schon möglich. Leider hat Frau Sander das Vertrauen in Sie und Ihre Fähigkeiten verloren.«

Das Glas klirrte leise, als Dr. Paulsen es auf den Tisch zurückstellte.

»Ich kann das nur zur Kenntnis nehmen.« Ihr Gesicht erinnerte Daniel an die Gipsmasken, die er früher einmal in der Jugendgruppe gebastelt hatte. Er dachte an die glitschigen Gipsverbände auf der Haut und das seltsame Gefühl, wenn sie nach und nach erstarrten. Später hatte er sie mit Farbe bemalt, mit künstlichem Haar beklebt und Mädchen erschreckt. So einen Unsinn hatte Mia Paulsen bestimmt nie angestellt. Sie wirkte wie ein Mensch, der als Kind schon erwachsen gewesen war. »Die ganze Angelegenheit ist mir sehr unangenehm. Als Leidensgenosse wissen Sie ja, wie schnell der Ruf einer Klinik ruiniert ist.«

Schnell schob Daniel Norden die Erinnerungen beiseite und konzentrierte sich auf das Gespräch.

»Was ist denn überhaupt passiert?«

Mia seufzte.

»Ich kann mir das selbst nicht erklären. Kurz nach der Unterspritzung reagierte Frau Sanders Haut in einer Weise, wie ich sie nie zuvor beobachtet habe.«

»Eine allergische Reaktion?«

»Schwer vorstellbar. Das Mittel ist allgemein sehr gut verträglich. Aber ausschließen kann ich es natürlich nicht. Leider gab mir die Patientin nicht die Möglichkeit, weitere Untersuchungen durchzuführen. Frau Sander hat die Klinik Hals über Kopf verlassen. Und ich bin alles andere als zufrieden mit dem Ergebnis. Ich habe mehrfach versucht, mich mit ihr in Verbindung zu setzen. Leider ohne Erfolg. Umso dankbarer bin ich für Ihren Anruf, Herr Kollege.« Als Dr. Paulsen wieder nach ihrem Glas griff, streifte sie wie zufällig Daniels Hand.

Er gab vor, es nicht bemerkt zu haben.

»Gut, dass Andrea in dieser Klinik arbeitet. Sie können sich auf mich verlassen, dass ich ihr die beste Behandlung angedeihen lasse.«

Mia verzog den Mund.

»Im Gegensatz zu vielen anderen Kollegen glaube ich Ihnen aufs Wort.«

Daniel hatte das Gefühl, als wollte sie auf den Grund seiner Seele blicken. Das gefiel ihm nicht.

»Vielen Dank für die Blumen.«

Mia spürte seinen Widerstand.

»Das sollte kein Kompliment sein, sondern entspricht nur der Wahrheit.« Sie lenkte ihre Aufmerksamkeit auf das Glas in ihren Händen. Kohlensäurebläschen stiegen auf und zerplatzten an der Oberfläche. Sie zählte bis zehn. Daniel warf einen Blick auf die Uhr. Allmählich wurde es Zeit, in sein Büro zurückzukehren. Das Gespräch hatte nicht den erwünschten Erfolg gebracht. Schon wollte er sich verabschieden, als sie sagte: »Was halten Sie davon, wenn wir die Akte Sander gemeinsam durchgehen? Da wir beide vielbeschäftigte Menschen sind, würde ich ein Abendessen vorschlagen.«

Hatte sie seine Fluchtpläne durchschaut? Daniels Augen wurden schmal.

»Sie denken an ein Arbeitsessen?«

»Rein geschäftlich«, versicherte die Kollegin und schob ihm ein Kärtchen über den Tisch. »Sagen wir in zwei Stunden?« Daniel Norden griff nach der Karte des Restaurants. ›Seehaus‹ stand in geschwungenen Lettern über dem Foto. Mia erhob sich. »Bis später!« Sie hob die Hand zum Gruß und durchquerte die Lobby. Wie Schüsse aus einer Pistole hallten ihre Schritte von den Wänden wider. Daniel sah ihr kurz nach, als seine Kitteltasche vibrierte. Er zog das Mobiltelefon heraus.

»Feelein! Was kann ich für dich tun?« Ganz im Gegensatz zu Volker Lammers hatte er die Dr. Mia Paulsen sofort vergessen und verließ die Halle mit dem Telefon am Ohr.

Volker dagegen wartete in seinem silbergrauen Allerweltswagen am Straßenrand. Feierabend. Er hatte alle Zeit der Welt, um seine Umwelt zu beobachten.

*

Der Zustand ihrer ehemaligen Haushälterin bereitete Fee Norden Kopfzerbrechen. Die Erfahrung zeigte fast jeden Tag aufs Neue, dass Wunden bei gestressten Patienten oft deutlich schlechter heilten als bei entspannten. Das konnten selbst Wissenschaftler bestätigen, die herausgefunden hatten, dass Rötungen, Schwellungen und Schmerzen im Bereich einer Wunde bei fast der Hälfte aller unglücklichen Menschen vorkamen. Zudem gab es Hinweise, dass Menschen in einer Beziehung mit aggressivem Umgangston wesentlich später gesund wurden als Menschen in harmonischen Beziehungen.

»Und dass Lenni alles andere als harmoniebedürftig ist, ist ein offenes Geheimnis«, murmelte Felicitas vor sich hin. Inzwischen war sie vor Julius’ Krankenzimmer angekommen. Zeit, sich auf ihren Patienten zu konzentrieren.

Emil Steinhilber begrüßte sie wie einen alten Freund. Julius dagegen sah kaum hoch. Als wäre nichts geschehen, lag er im blau-weiß gestreiften Bett. Der Zugang an seiner linken Hand war mit einem Pflaster auf dem Handrücken festgeklebt. Ein durchsichtiger Schlauch führte hinauf zum Infusionsbeutel. Mit der rechten Hand tippte er unverdrossen auf seinem Handy herum.

»Ich hoffe, Sie haben gute Nachrichten für uns.« Emil Steinhilber sah seine ehemalige Studentin an.

Fee rang sich ein Lächeln ab.

»Der Eingriff verlief wie erwartet, der Bruch ist versorgt.«

»Hast du gehört?« Emil klopfte auf den meerblauen Gips seines Enkels. »Du kannst deinen Arm bald wieder bewegen.«

»Hoffentlich. Ich muss ja scootern.« Der Junge machte sich noch nicht einmal die Mühe, vom Bildschirm aufzusehen.

Fees Herz wurde schwer.

»Dass Julius die Finger nicht bewegen konnte, hat leider nichts mit dem Bruch zu tun.«

»Das verstehe ich jetzt nicht ganz.« Emil stemmte die Hände in die Hüften.

Er musterte sie von oben herab. »Sie sagten doch, die Operation sei gut verlaufen.«

»Das ist richtig. Leider hat die Befundung des MRTs ergeben, dass Jonas an einer vermutlich angeborenen Einengung eines Wirbelkanals leidet. Eine der Nervenwurzeln wird zusammengedrückt.« Obwohl sie die Diagnose kannte, nahm sie das Tablet und berührte mehrmals den Bildschirm. »Die Bewegungsprobleme der Hand rühren nicht von dem Bruch, sondern von diesem verengten Nervenwurzelkanal.«

»Moment mal.« Alle Freundlichkeit war aus Emil Steinhilbers Gesicht verschwunden. »Aber er hatte doch vorher keine Probleme. Nicht wahr, Julius?«

Julius’ Blick klebte an seinem Handy. Er nickte so mechanisch wie die kleinen Figuren, die über den Bildschirm hopsten.

»Ich gehe davon aus, dass er das taube Gefühl einfach ignoriert hat. Der Sturz hat die Problematik allerdings verschlimmert.«

»Und was kann man dagegen tun?« Emils Pupillen färbten die Iris schwarz.

Fee klickte sich durch die Bilder, ehe sie das Tablet ausschaltete und auf das Bett legte.

»Da leider keine Chance auf eine spontane Besserung besteht, müssen wir noch einmal operieren.«

»Am Rückenmark?« Emil schüttelte den Kopf. »Ausgeschlossen. Dieses Risiko ist viel zu hoch.«

Dieser Widerspruch wunderte Felicitas nicht. Schon im Vorfeld hatte sie sich Gedanken darüber gemacht, wie sie an seiner Stelle reagiert hätte. Mit dieser Vorgeschichte. Nicht für viel Geld wollte sie mit ihrem ehemaligen Dozenten tauschen.

»Ich verstehe Ihre Sorge. Auf der anderen Seite können wir nicht zulassen, dass Julius’ Stenose schlimmer wird. Er ist noch so jung. Viel zu jung für eine dauerhafte Einschränkung.«

Emil Steinhilber fuhr sich über die Augen. Plötzlich wirkte er wie der alte Mann, der er tatsächlich war.

»Gibt es denn keine Alternativen?« Seine Stimme hatte ihre jugendliche Leichtigkeit verloren.

»Das Problem an der Sache ist, dass Wirbelsäulenstenosen normalerweise eine Alterserscheinung sind«, erklärte Felicitas. »Bei Senioren wird meist auf einen operativen Eingriff verzichtet. Die symptomatische Behandlung steht im Vordergrund. Dabei sind Schmerz- und Cortisonspritzen das Mittel der Wahl.« Sie schüttelte den Kopf. »Aber in Julius’ Fall hat das wenig Sinn. Er leidet bereits unter motorischen Ausfällen. Und das in seinem Alter! Da haben Kinder doch wahrlich andere Probleme.« Unwillkürlich gaukelte ein Bild durch ihren Kopf. Sie sah sich selbst – ein kleines Mädchen, das weißblonde Haar zu Affenschaukeln geflochten –, wie sie wie ein Äffchen an den Beinen des Vaters hing und um ein Eis bettelte. Lebenswichtig war das damals gewesen. Sie seufzte. Manchmal wünschte sie sich die Probleme und Sorgen ihrer Kindheit zurück.

Emil hatte ihr Schweigen genutzt, um sich mit seinem Enkel zu unterhalten. Als er sich wieder aufrichtete, drückte er die Hände in den Rücken. Seine Miene war entschlossen.

»Wir versuchen es erst einmal mit den Spritzen.«

Felicitas Norden machte gar nicht erst den Versuch, ihr Bedauern zu verbergen.

»Ihre Entscheidung«, seufzte sie und ging zur Tür. Die Hand auf der Klinke drehte sie sich noch einmal um. »Wenn Sie wollen, dass ich Julius dauerhaft helfe … Sie wissen, wo Sie mich finden können.« Sie nickte Emil Steinhilber zu und verließ das Zimmer.

*

»Bereit für die nächste Behandlung?«, fragte Dr. Norden, der schwungvoll in sein Büro eingebogen war.

Andrea Sander zuckte zusammen. »Meine Güte, Sie dürfen eine alte Frau nicht so erschrecken.« Sie presste die Hände auf ihr Herz.

»Alte Frau?« Daniel sah sich um. »Wo?« Er drehte sich um die eigene Achse. »Ich kann keine sehen.«

»Sie Schmeichler.«

»Und Sie sind eine Tagträumerin.« Dr. Norden trat an den Schreibtisch und versuchte, den Ausdruck in Andreas Augen hinter den dunkel getönten Brillengläsern zu erkennen. Vergeblich. »Oder können Sie gar nicht anders als träumen, weil Sie nichts sehen?« Er machte die Probe auf’s Exempel und winkte sie mit sich in sein Büro.

Ohne Zögern stand Andrea Sander auf, griff nach einer Akte und folgte ihm. Daran konnte es also nicht liegen.

»Das hier hat Herr Kremling für Sie abgegeben«, sagte sie leise. So verhalten war sie doch sonst nicht.

»Kremling?« Daniel sah sie verwundert an. Nach einem Blick in die Unterlagen ging ihm ein Licht auf. »Ach, Sie meinen den neuen Leiter der Sozialstation.« Er sah kurz hoch, wieder hinunter und dann wieder zu Andrea. Nie zuvor war sie in seiner Gegenwart rot geworden. Doch jetzt leuchtete ihr Gesicht wie eine Mohnblume. Und das lag mit Sicherheit nicht an den Anti-Falten-Spritzen.

»Er … er meinte, Sie sollen ihn wegen der Reha für Gerda Kraft anrufen«, fuhr sie fort, ehe ihr Chef eine Frage stellen konnte. »Ein Plan liegt in den Unterlagen.«

»Das wird Lenni gar nicht gefallen, wenn sie jetzt auch noch von hier fort soll«, murmelte Daniel, während sich Andrea auf einen der Stühle setzte. Er legte die Akte weg, schlüpfte in ein Paar Handschuhe und griff nach einer Tube. »Bitte die Brille abnehmen … den Kopf ein wenig zurück … so ist es gut.« Vorsichtig betupfte er die entzündeten Hautpartien mit Salbe. »Sagen Sie, könnte es sein, dass es Ihnen dieser Herr Kremling angetan hat?«, erkundigte er sich beiläufig.

Im ersten Moment wollte Andrea leugnen. Im zweiten war ihr klar, dass sie ihrem Chef nichts vormachen konnte. Und wollte.

»Ich bitte Sie! Männer in meinem Alter interessieren sich doch nicht für alte Schrullen wie mich.« Andrea erschrak selbst über die Bitterkeit in ihrer Stimme. Genauso erschrocken war sie, als sie vom Fenster aus beobachtet hatte, wie Clemens von einer Frau abgeholt worden war.

Das junge Ding war auf ihn zugeflogen und hatte sich an ihm festgesaugt wie eine Stechmücke. Ekelhaft!

Als Daniel eine besonders empfindliche Stelle berührte, zerplatzte das Bild wie eine Seifenblase. Andrea zuckte zusammen.

»Tut mir leid.« Er trat einen Schritt zurück und begutachtete seine Arbeit. »Wenn ich geahnt hätte, dass Sie solche Probleme mit dem Alter haben, hätte ich Sie zu einem Psychologen geschickt. Sie können aufstehen.«

Doch Andrea rührte sich nicht vom Fleck.

»Man muss den Tatsachen ins Auge schauen. Ab einem gewissen Alter haben Frauen bei Männern nichts mehr zu melden.«

»Bitte kein Schubladendenken!«, verwahrte sich Dr. Norden gegen diese Behauptung. Ihm war jede Art von Verallgemeinerung zuwider.

Doch wenn er ehrlich zu sich selbst war, fand er sich durchaus selbst als Täter wieder. Ertappte sich bei durchschaubaren Verallgemeinerungen. Politiker logen, Unternehmer nützten aus, Vertreter täuschten, Banker betrogen, Musiker nahmen Drogen. Und Männer liebten nur junge Frauen. Dabei befanden sich genügend Politiker, Unternehmer, Vertreter, Banker, Musiker und Männer unter seinen Patienten, die das Gegenteil bewiesen. Selbst ein Mann, fühlte sich Daniel Norden genötigt, eine Lanze für sich und seine Geschlechtsgenossen zu brechen.

»Es gibt durchaus Männer, für die noch andere Qualitäten zählen als reine Äußerlichkeiten.«

»Das sagen Sie jetzt nur, um mich zu trösten.« Schließlich stand Andrea Sander nun doch auf und zog die dunkelblaue Bluse glatt. »Ein Auto kann man auch nicht beliebig oft reparieren. Irgendwann ist es nun einmal ein Haufen alter Schrott.«

Daniel lachte.

»Falls es Sie beruhigt: Mit einem Auto haben Sie so viel gemein wie ein Model mit einem Gartenzwerg.« Ein besserer Vergleich fiel ihm auf die Schnelle nicht ein.

Trotzdem wurden seine Bemühungen belohnt. Andrea Sander lachte, wenn auch verhalten, ehe sie ins Vorzimmer zurückkehrte. Doch die gute Laune war nicht von langer Dauer. Es war ihrem Chef zwar gelungen, sie zumindest halbwegs von ihren Qualitäten zu überzeugen. Die junge Frau, die Clemens Kremling so unverblümt auf den Mund geküsst hatte, konnte er allerdings nicht wegzaubern.

*

»Sie tanzen gern! Oh, das ist ja fabelhaft.« Hannah Bloch klatschte in die Hände. Der rosafarbene Lack ihrer Nägel glänzte im Licht der untergehenden Sonne. »Dann haben Sie sicherlich Lust, mich einmal in den Bayerischen Hof zu begleiten.«

Oskar verschluckte sich an seinem Bier. Er hustete, bis ihm die Tränen über die Wangen liefen. Mit Mühe gelang es ihm, das Glas zurück auf den Tisch zu stellen. Bayerischer Hof! Auf so eine Idee wäre Lenni nie gekommen. Zwei, drei Mal war es ihm gelungen, sie zum Tanztee im Bürgerhaus zu überreden. Statt kostbarer Teppiche und edlem Parkett lag dort pflegeleichter Laminatboden. Deckenfluter statt Kronleuchtern, Plastikbezüge anstelle von Brokatstoffen. Auf den Tischen hatten Vasen mit Plastikblumen gestanden. Im Bayerischen Hof waren es mit Sicherheit silberne Leuchter. Und doch hatten sie ihren Spaß gehabt. Er mehr, Lenni weniger, was aber nicht am Ambiente lag, sondern vielmehr an ihrer Abneigung gegenüber Schlagern.

»Das ist doch was für alte Leute«, hatte sie in ihrer unvergleichlichen Art geschimpft.

»Was ist? Warum lachen Sie?«, fragte Hannah verschnupft und betastete das violett schimmernde Haar. »Stimmt was nicht mit meiner Frisur? Ist mein Make-up verwischt? Ein Fleck auf dem Kleid.« Mit spitzen Fingern suchte sie in ihrem Täschchen nach einem Spiegel.

»Nein, nein, alles in bester Ordnung«, versicherte Oskar schnell. »Sie sehen bezaubernd aus.«

Seine Versicherung beruhigte sie nicht. Erst, nachdem sie sich selbst davon überzeugt hatte, lehnte sie sich wieder zurück.

»Schön. Dann begleiten Sie mich also. Die nächste Veranstaltung ist kommenden Samstag.«

»Das ist ja schon übermorgen.« Oskar wurde es heiß und kalt. Es war lange her, dass er sich auf dem Parkett der Schönen und Reichen bewegt hatte. Wenn er ehrlich war, hatte es ihm auch nicht gefehlt. Ganz und gar nicht. Und das lag nicht nur daran, dass er keinen Smoking besaß. Doch wie nun den Kopf aus der Schlinge ziehen? »Wir kennen uns doch kaum.«

Hannahs Lachen klirrte wie ein Eiswürfel im Glas.

»Wissen Sie, ich vergleiche das Leben immer mit einem Urlaub. Am Anfang erkundet man die neue Umgebung. Man entdeckt unbekannte Gerüche, neue Landschaften, lernt aufregende Menschen kennen.« Sie ließ ihren Blick über den See schweifen. »Die Zeit scheint sich bis in die Unendlichkeit zu dehnen. Doch nach ein paar Tagen wird das Neue schon zur Gewohnheit. Man schaut nach dem Aufstehen immer auf die gleiche Palme vor demselben Horizont, sitzt mit denselben Leuten am Tisch. Sogar das Buffet wiederholt sich irgendwann.« Ihr Blick kehrte zurück. »Und plötzlich ist der Urlaub viel zu früh vorbei.« Mit spitzen Fingern griff sie nach der Tasse. Beim Nippen spreizte sie den kleinen Finger ab. Dabei ließ sie Oskar nicht aus den Augen. »In unserem Alter hat man keine Zeit mehr zu verschwenden. Ich will noch etwas erleben, bevor mein Urlaub vorbei ist. Sie etwa nicht?«

Oskar griff nach seiner Tasse, bemerkte, dass sie leer war, und stellte sie zurück auf den Tisch.

»Ja, ja, doch, schon«, antwortete er fahrig, als eine wohlbekannte Stimme an sein Ohr wehte.

»Passt es Ihnen hier?«

Oskar drehte sich um. Und traute seinen Augen kaum. Ein paar Tische weiter bot ausgerechnet Dr. Daniel Norden seiner schönen Begleiterin einen Platz an. Die Blicke der beiden Männer begegneten sich. Im ersten Moment wollte Daniel Lennis Lebensgefährten freudig begrüßen. Erst im zweiten entdeckte er Oskars Begleiterin. Ausgerechnet in diesem Moment legte Hannah die Hand auf Oskars Arm.

Oskar zuckte zusammen. Daniel sah weg. Die Gelegenheit, einander vorzustellen, war vorbei.

»Vielen Dank für die Einladung zum Kaffee.« Hannah Bloch bedeutete ihrem Begleiter, dass sie aufstehen wollte.

Oskar blieb nichts anderes übrig, als ihrem stummen Wunsch nachzukommen. Der Stuhl kratzte über den Asphalt. Strahlend hängte sie sich bei ihm ein, lehnte den Kopf an seine Schulter.

»Ich hätte nie gedacht, in meinem Alter noch einmal einen derart attraktiven Mann kennenzulernen. Ich freue mich sehr auf Samstag«, flötete sie laut und deutlich, dass der ganze Biergarten es hören konnte. Zumindest bildete sich Oskar das ein.

Hilfesuchend sah er hinüber zu Daniel Norden. Doch der war ins Gespräch vertieft mit der schönen Frau.

Die beiden schienen sich zu kennen. Sehr gut sogar. Oder hätte sie sonst die Hand so vertraulich auf seinen Arm gelegt? War es möglich, dass ausgerechnet Dr. Daniel Norden … Nein! Oskar verbot sich, diesen Gedanken zu Ende zu denken.

Daniel schienen ähnliche Gedanken zu bewegen. Er sah demonstrativ zur Seite, als der Lebensgefährte seiner ehemaligen Haushälterin an ihnen vorbeiging.

*

Erst als das Paar vorbeigegangen war, hob Dr. Norden den Kopf und sah den beiden nach, bis sie um die Ecke des ehrwürdigen Hauses mit dem glänzend schwarzen Dach und den weißen Bogenfenstern verschwunden waren. Mia Paulsen entging sein Blick nicht.

»Eine Flasche Champagner, bitte!«, bestellte sie beim Kellner.

Ihr Plan ging auf. Sofort gehörte ihr die ungeteilte Aufmerksamkeit ihres Tischherrn.

»Champagner? Gibt es etwas zu feiern?«

»Eventuell den Beginn einer wunderbaren Freundschaft.«

Daniel zog eine Augenbraue hoch.

»Gute Zusammenarbeit würde völlig ausreichen.« Er klappte die Speisekarte auf. »Haben Sie die Unterlagen von Frau Sander dabei?«, fragte er beiläufig.

Viele andere Frauen hätten sich beleidigt zurückgezogen. Nicht so Mia. Daniel musste sie nicht ansehen, um zu wissen, dass sie ihn taxierte wie ein Jäger seine Beute. In einem früheren Leben musste sie eine Amazone gewesen sein. Jenes Volk in der griechischen Mythologie, dessen Frauen männergleich in den Kampf gezogen waren.

»So ein Pech! Die habe ich jetzt doch tatsächlich im Wagen liegen gelassen.« Über den Rand der Karte hinweg sah Daniel die Kollegin an.

Sie verstand ihn auch ohne Worte.

»Was denn? Wollen Sie mir etwa Absicht unterstellen?«

Daniel klappte die Karte wieder zu und legte sie auf den Tisch. Der Ober kam und servierte den Champagner.

»Ich unterstelle Ihnen gar nichts.« Die Gläser klangen hell aneinander. »Aber was halten Sie davon, wenn ich die Bestellung aufgebe und Sie zum Wagen gehen und die Unterlagen holen, die Sie dort – ganz ohne jeden Hintergedanken – vergessen haben?«

Mia nippte an ihrem Champagner.

»Was halten Sie davon, wenn wir zuerst die Vorspeise essen? Wenn ich Ihnen etwas empfehlen darf.« Sie nickte hinüber zu der fast mannshohen Tafel, die an der Hauswand lehnte. »Die Hummer-Rollen sind ganz fantastisch. Mit Koriander, Minze und Limette. Ein besonderes Geschmackserlebnis.«

Daniel Norden ballte die Hand zur Faust. Diese Frau verstand offenbar nur Klartext.

»Ehrlich gesagt ist mir der Appetit vergangen.«

Mia zögerte den Bruchteil einer Sekunde. Dann warf sie den Kopf in den Nacken und lachte. Ihre Stimme war eine Nuance zu tief für ihr Aussehen, was ihr interessierte Blicke der Tischnachbarn einbrachte.

»Sie werden sich von einer faulen Ausrede doch nicht den Abend verderben lassen.«

Daniel Norden blieb ernst.