E-Book 1151-1155 - Patricia Vandenberg - E-Book

E-Book 1151-1155 E-Book

Patricia Vandenberg

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Beschreibung

Jenny Behnisch, die Leiterin der gleichnamigen Klinik, kann einfach nicht mehr. Sie weiß, dass nur einer berufen ist, die Klinik in Zukunft mit seinem umfassenden, exzellenten Wissen zu lenken: Dr. Daniel Norden! So kommt eine neue große Herausforderung auf den sympathischen, begnadeten Mediziner zu. Das Gute an dieser neuen Entwicklung: Dr. Nordens eigene, bestens etablierte Praxis kann ab sofort Sohn Dr. Danny Norden in Eigenregie weiterführen. Die Familie Norden startet in eine neue Epoche! E-Book 1: Panikattacken E-Book 2: Dr. Aydin geht ins Kloster? E-Book 3: Sie hatte das Vertrauen verloren E-Book 4: Gefährliche Täuschung E-Book 5: Hunger nach Liebe

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Inhalt

Panikattacken

Dr. Aydin geht ins Kloster?

Sie hatte das Vertrauen verloren

Gefährliche Täuschung

Hunger nach Liebe

Chefarzt Dr. Norden – Box 9 –

E-Book 1151-1155

Patricia Vandenberg

Panikattacken

Er litt an gebrochenem Herzen

Roman von Vandenberg, Patricia

»Was hältst du davon, Enzo heute Mittag wieder einmal einen Besuch abzustatten? Das haben wir schon ewig nicht mehr gemacht.« Gemeinsam mit seiner Frau stand Dr. Daniel Norden am Tresen in der Lobby der Behnisch-Klinik und wartete auf seine Post.

Sofort hatte Felicitas ein Bild vor Augen. Glückliche Menschen, die sich über Teller mit Spaghetti beugten.

Enzo, der mit glühenden Wangen am Pizzaofen stand und seine Gäste mit seiner guten Laune unterhielt. Ein Glas Wein, das im Kerzenlicht schimmerte. Ein Besuch bei Enzo war immer ein bisschen so wie Urlaub.

Sie seufzte.

»Verlockender Gedanke. Wenn mir meine kleinen Patienten keinen Strich durch die Rechnung machen, bin ich dabei.«

Ein Quietschen hinter ihr ließ sie herumfahren.

»Sorry.« Der Kollege Aydin hatte seinen Rollstuhl nur wenige Zentimeter hinter ihr zum Stehen gebracht. »Ich habe Sie nicht gesehen.«

Daniel zog Fee zu sich.

»Ich weiß, dass meine Frau schlank ist. Aber so dünn ist sie nun auch wieder nicht.«

Ein prüfender Blick.

»Was ist los mit Ihnen? So grimmig habe ich Sie noch nie gesehen.« Seine Mitarbeiter waren das wichtigste Kapital des Klinikchefs. Ihr Wohlergehen stand weit oben auf der Prioritätenliste. »Ist etwas passiert?«

»Wie man es nimmt.« Dr. Aydin streckte sich nach den Unterlagen, die die Schwester ihm ungefragt, dafür aber mit einem süßen Lächeln, reichte.

Wieder einmal konnte Dr. Norden nur staunen. Was hatte dieser Mann nur an sich, dass die Frauen in seiner Nähe dahinschmolzen wie Eis in der Sonne? Sogar dann, wenn er schlechte Laune hatte.

»Mein Wecker hat nicht geklingelt. Die Heizung in meiner Wohnung streikt und die Kaffeemaschine ist explodiert. Alles in allem also ein gelungener Start in den Tag.« Achtlos warf Aydin die Akten in den Schoß und wendete den Rollstuhl.

Mit einem Kuss verabschiedete sich Daniel von seiner Frau. Dann nahm er die Verfolgung seines Mitarbeiters auf.

»Warum nehmen Sie nicht ein paar Tage frei und erholen sich? Wenn ich das im Dienstplan richtig gesehen habe, wird es höchste Zeit für eine Auszeit.«

Milan drosselte das Tempo. Sein Gesicht wirkte schon nicht mehr ganz so verkniffen.

»Ein freier Abend? Ist das Ihr Ernst?«

»Lieber zwei.«

»Noch besser.« Die feine Haut um Milan Aydins Augen kräuselte sich. »Das schreit förmlich nach einem romantischen Dinner zu zweit. Ich könnte Laura einladen. Oder wie wäre es mit Katja? Silvie habe ich auch schon lange nicht mehr gesehen.«

Die beiden Ärzte machten vor dem Aufzug Halt. Daniel lachte.

»Wer die Wahl hat, hat die Qual.«

»Was würden Sie denn an meiner Stelle tun?« Milan schickte einen schrägen Blick hinauf. »Die rassige Laura? Katja aus dem Labor? Oder der Schöngeist Silvie?«

»An Ihrer Stelle würde ich eine Pizza vom Lieferservice kommen lassen, die Füße hochlegen und einen Krimi im Fernsehen anschauen. Dazu eine Flasche Bier. Oder ein schönes Glas Wein …«

Die Aufzugtüren schoben sich auf. Milan ließ dem Chef den Vortritt.

»Ich sehe schon, wir haben sehr unterschiedliche Vorstellungen von einem entspannten Abend.« Die Aussicht auf ein paar freie Tage hatte die Falten gänzlich aus seinem Gesicht getilgt. Übrig blieb das spitzbübische Grinsen, mit dem er seine Umwelt im Normalfall beglückte. Der beste Beweis für Daniel, dass er mit seinem Vorschlag ins Schwarze getroffen hatte.

»Jedem das Seine«, erwiderte er belustigt. »Hauptsache, Sie kommen auf andere Gedanken und kehren gut erholt an Ihren Arbeitsplatz zurück.« Er nickte zum Gruß und trat aus dem Fahrstuhl.

»Darauf können Sie Gift nehmen«, rief Milan ihm nach. »Ach ja, und danke, Chef!«

*

Nach einem Kälteeinbruch vor ein paar Wochen hatte sich der Winter wieder zurückgezogen. Auch an diesem Vormittag herrschten Pullovertemperaturen. Am Himmel spielte die Sonne mit den Wolken Verstecken. Perfekte Bedingungen, um den Junggesellenabschied draußen zu begehen.

»Vorsichtig!« Moritz Loibl hielt seinen besten Freund Vincent am Arm fest. »Gleich hast du es geschafft.« Sehr zur Freude der Zuschauer führte er den Bräutigam Stufe um Stufe die schräg gestellte Leiter hinauf.

Immer mehr Zaungäste versammelten sich rund um die Mariensäule auf dem Münchner Marienplatz. Eine willkommene Abwechslung auf dem Weg zum Einkaufen oder zu einem Kundentermin. Touristen zückten Fotoapparate, um das ungewöhnliche Schauspiel festzuhalten.

»Wie weit ist es noch?«

Das Sprungtuch flatterte leise im Wind. Alle ahnten, was gleich passieren würde. Nur nicht der Mann mit den verbundenen Augen.

»Noch eine Stufe, dann bist du oben.« Moritz kletterte zuerst auf die Balustrade.

»Und wo ist oben?« Vincents Stimme klang dumpf unter dem Tuch, das die Hälfte seines Gesichts bedeckte. Mit der rechten Hand klammerte er sich an seinem Freund fest. Den linken Arm streckte er von sich, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Er schwankte wie eine Tanne im Wind.

Moritz blickte hinab in die erwartungsvollen Gesichter. Aber was war das? Warum wurde ihm plötzlich schlecht? Er hatte doch sonst kein Problem mit Höhe. Mal abgesehen davon, dass die Balustrade höchstens einen Meter hoch war. Er atmete ein paar Mal ein und aus. Nur jetzt nicht schwach werden! Dieser Tag gehörte seinem besten Freund. Nur ihm allein. Er legte den Arm um Vincents Schultern.

»Wir befinden uns auf dem Bungee Kran der Olympia Ruderregattastrecke. Gleich wirst du dich 50 Meter tief ins Wasser stürzen.«

»Bei diesen Temperaturen?« Vincents Ton ließ keinen Zweifel daran, was er von der Aktion hielt. »Seid ihr völlig übergeschnappt? Ihr habt mir versprochen, dass ihr es nicht zu bunt treibt.«

»Worüber regst du dich auf? Das ist nur ein kleiner Vorgeschmack auf die Gräuel, die dich in deiner Ehe mit Fabienne erwarten«, prophezeite Moritz, sehr zum Vergnügen seiner Freunde. »Auf drei wirst du springen. Bist du bereit?«

»Nein.« Mit verbundenen Augen starrte Vince hinab in die vermeintliche Tiefe. »Aber ich fürchte, ich habe keine Wahl.«

Moritz presste die Hand auf den Brustkorb.

»Stimmt auffallend«, keuchte er. »Machs gut, alter Junge.« Nur jetzt nicht schlapp machen! »Drei, zwei, eins!«

Mit einem Schrei stürzte sich Vincent in die Tiefe. Moritz stand oben. Sah, wie die Freunde den Bräutigam auffingen. Hörte das Kreischen und Johlen. Plötzlich wurden die Geräusche leiser. Das Bild vor seinen Augen verschwamm, bis es ganz erlosch. Als hätte jemand den Stecker aus einem Fernsehgerät gezogen.

*

Elena Rauch, Pflegedienstleitung an der Behnisch-Klinik, saß im Schwesternzimmer und brütete über dem Therapieplan eines Patienten, als ihre Freundin Fee gut gelaunt herein wirbelte. Sie hatte extra einen Umweg in Kauf genommen, um Elena zu überraschen.

»Schau mal, was ich uns Schönes aus Tatjanas Bäckerei mitgebracht habe!« Sie trat hinter Elena und hielt ihr eine Tüte unter die Nase. »Drei Mal darfst du raten, was drin ist.«

»Bienenstich. Bienenstich. Bienenstich.«

»Huh.« Fee richtete sich auf. Das Lächeln auf ihren Lippen verblasste. »Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?«

»Eine Laus namens Eric.« Ein Schubs mit den Füßen und der Stuhl drehte sich herum.

Felicitas erschrak.

»Du siehst aus wie ein Gespenst.«

»Ich fühle mich auch so.« Elena seufzte. »Eric sei Dank.«

Die Tüte mit den Leckereien landete auf dem Tisch. Fee zog sich einen Stuhl heran.

»Ich dachte, ihr hättet eine Lösung für euer Problem gefunden.«

»Das dachte ich auch.« Elena kratzte an einem unsichtbaren Fleck auf ihrem Kittel. »Aber als ich gestern – wohlgemerkt pünktlich – nach Hause gekommen bin, ging es schon wieder los. Er wolle keine Geschichten aus der Klinik mehr hören. Außerdem warf er mir vor, dass ich ihm nicht zuhören, mich nicht mehr für ihn interessieren würde.«

»Und? Stimmt das?«

Elena sah nicht hoch. Mit gesenktem Kopf saß sie da und starrte Löcher in den Kittel.

»Nur, weil ich nicht weiß, an welchem Gebäude sie gerade arbeiten, heißt das doch noch lange nicht, dass er mir egal ist«, platzte sie heraus. »Oder findest du auch, dass das ein Grund ist, unsere komplette Ehe in Frage zu stellen?«

Fee zog es vor, sich in eine Gegenfrage zu retten.

»Was ist denn deiner Ansicht nach wichtig in einer Beziehung?«

»Liebe« erwiderte Elena ohne Zögern. »Aber selbst darin sind Eric und ich uns nicht mehr einig. Ich verstehe überhaupt nicht …«

Auf dem Flur näherten sich Schritte. Fee wartete, bis sie vorüber waren. Doch sie gingen nicht etwa vorbei.

»Wow, noch mehr krasse Bräute!« Ein Mann steckte den Kopf durch die Tür. Schwarze Locken, griechisches Profil, glühende Kohleaugen. Er wirbelte herein. Verbeugte sich, als wollte er mit seinem bunten Schal den Boden wischen. »Kein Wunder, dass mein Bruderherz quasi in der Klinik wohnt.«

»Ihr Bruder?«, platzte Fee heraus. Das konnte eigentlich nur einer sein.

Obwohl sie Milan Aydin noch nie in zerrissener Jeans, ausgeleiertem Pullover und buntem Schal gesehen hatte, stach die Ähnlichkeit ins Auge.

»Sie meinen nicht etwa Dr. Aydin?« Elena schien den gleichen Gedanken gehabt zu haben.

Der Fremde strahlte sie an, als wäre sie die Frau seines Lebens.

»Deniz Aydin«, stellte er sich vor. »Milan ist mein älterer Bruder. Aber pssst.« Er legte den Zeigefinger auf die vollen Lippen. Seine Augen blitzten vor Vergnügen. »Ich will ihn überraschen. Wissen Sie, wo er steckt? Ich habe schon die halbe Klinik abgeklappert.«

Elena und Felicitas konnten die Augen nicht von Deniz wenden. Er bemerkte es und lachte.

»Oh, ich weiß, was Sie jetzt denken. Aber glauben Sie mir: Milan war nicht immer so ein Schnösel wie jetzt.« Sein Blick fiel auf die Tüte auf dem Schreibtisch. Eine Quarktasche lugte heraus. »Darf ich? Ich habe seit gestern nichts gegessen.« Zeit für eine Antwort ließ er den beiden Frauen nicht. Papier raschelte. Im nächsten Moment regneten Brösel auf den Boden. »Hmmm. Lecker.« Deniz leckte sich einen Klecks Zuckerguss aus dem Mundwinkel. »Früher war mein Bruderherz ein richtiger Hippie. Glaubt ihr mir nicht, was?«

Die beiden Freundinnen tauschten Blicke.

»Schwer vorstellbar«, sprach Elena das laut aus, was Fee dachte.

»Hat er euch nie von seiner Zeit als Straßenkünstler erzählt? Aber ich weiß schon.« Er winkte ab. »Die Feuerspucker-Nummer macht er nur, wenn er vier, fünf Bier intus hat.«

Ein schrilles Quietschen zerriss die Luft. Milan rollte durch die Tür. Er war auf dem Weg zu einem Patienten gewesen, als die Wortfetzen über den Flur wehten.

»Deniz? Was machst du denn hier?« Freude sah anders aus.

»Bruderherz! Da bist du ja!« Deniz stopfte den Rest der Quarktasche in den Mund, beugte sich hinunter und presste Milan an sich. »If wollte den Füfen hier gerade erfählen, wie …«

»Man spricht nicht mit vollem Mund!« Mit Gewalt befreite sich Milan aus der Umarmung.

Deniz schluckte brav.

»Ich wollte den beiden Süßen hier gerade erzählen, wie wir splitterfasernackt im Freibad …«

»Das interessiert die beiden Damen mit Sicherheit nicht«, fiel Milan seinem kleinen Bruder wütend ins Wort.

Fee überlegte nicht lange.

»Also, ich würde die Geschichte schon gern hören«, erwiderte sie. Sie stieß Elena in die Seite. Wenn das nicht genau die richtige Therapie gegen Liebeskummer war!

»Das kommt überhaupt nicht in Frage.« Milan packte seinen Bruder am Arm. »Komm! Wir gehen!«

»Tut mir leid, Schatzis.« Deniz konnte gerade noch winken, ehe Milan ihn aus dem Schwesternzimmer zerrte.

»Bist du total übergeschnappt?«, zischte der Neurochirurg auf der Suche nach einem Zimmer, in dem sie ihre Ruhe hatten.

Mit einem Ruck machte sich Deniz los und blieb stehen.

»Meine Güte! Immer noch derselbe Spießer!« Er machte ein Gesicht, als litte sein Bruder an einer unheilbaren Krankheit. »Hallo erst einmal. Ich freue mich auch, dich zu sehen.«

»Ja, ja, schon gut.« Milan Aydin packte die Greifräder und schob an.

Kurz bevor er um die Ecke verschwand, nahm Deniz die Verfolgung auf. Sein Blick glitt über die großformatigen Fotos an den Wänden. Die indirekte Beleuchtung. Den Vinylboden in Schiffsoptik.

»Cooler Schuppen hier«, keuchte er.

»Stimmt. Eine angenehme Arbeitsatmosphäre.« Ein Handgriff, und der Rollstuhl driftete um die Ecke.

»Jetzt bleib doch mal stehen!«, rief Deniz seinem Bruder nach. »Ich habe dir auch was mitgebracht.« Wieder holte er Milan ein. Seine Hand verschwand in der Tasche. Zog und zerrte, ehe er ein T-Shirt ans Tageslicht beförderte. »Na, wie gefällt’s dir? Selbstgemacht. Das ist gar nicht so schwer«, erklärte er atemlos. »Du brauchst nur Computer und Drucker, ein Transferpapier und ein Bügeleisen. Wenn du willst, zeige ich es dir.«

Endlich tat Milan ihm den Gefallen und hielt an. Er betrachtete die weiße Silhouette eines Cannabisblattes auf dem schwarzen Stoff.

»Bist du völlig übergeschnappt?« Er riss Deniz das Shirt aus der Hand und stopfte es sich in den Rücken. »Was sollen die Kollegen von mir denken, wenn sie das sehen?«

Statt einer Antwort legte Deniz den Kopf in den Nacken und lachte los.

»Dich zu besuchen, war die beste Idee seit Jahren. Wir werden eine Menge Spaß haben.«

Dasselbe befürchtete Milan auch. Er presste die Lippen aufeinander und fuhr weiter.

*

Das Martinshorn verhallte im Hof der Behnisch-Klinik. Bremsen quietschten. Wenige Augenblicke später sprang Dr. Erwin Huber aus dem Rettungswagen. Er lief um das Fahrzeug herum und riss die Türen auf.

»Moritz Loibl, 32 Jahre alt. Sturz nach Bewusstlosigkeit. Verdacht auf Unterschenkelfraktur. Seit er wieder zu sich gekommen ist, kämpft er zudem mit Atemnot.« Während er seinen Kollegen Dr. Matthias Weigand mit den nötigen Informationen versorgte, schoss ein schwarzer Wagen haarscharf um die Ecke der Notaufnahme. Einen Moment lang waren die beiden Ärzte abgelenkt. Sie starrten den Fahrer an, der aus dem Auto sprang.

»Wie geht es Moritz? Ist er wieder bei Bewusstsein? Was ist mit seinem Bein?«

»Parken Sie den Wagen erst einmal anständig auf dem Besucherparkplatz und stellen Sie den Motor ab. Dann reden wir weiter.« Matthias wandte sich ab und verschwand mit dem Kollegen Huber und der Transportliege in der Ambulanz.

»Ich krieg keine Luft«, japste Moritz auf dem Weg in die Schockbox. Die Sauerstoffmaske war verrutscht.

Dr. Huber rückte sie wieder an ihren Platz.

»Atmen Sie ruhig und gleichmäßig.« Dr. Weigand signierte das Protokoll, das der Kollege ihm hinhielt. Dann gehörte seine ganze Aufmerksamkeit dem Patienten. »So ist es gut.«

Ledersohlen klapperten auf dem Boden.

»Moritz ist in der Fußgängerzone zusammengebrochen und von der Balustrade gestürzt«, keuchte die Stimme von vorhin. So schnell hatte Matthias den Besucher nicht zurückerwartet.

»Wer sind Sie?«

»Wie? Was?« Vincent stemmte die Hände in die Hüften. Seine Brust hob und senkte sich stoßweise. Es dauerte einen Moment, bis er weitersprechen konnte. »Ach so. Ja. Natürlich. Vincent Trautmann. Moritz ist mein bester Freund. Mein Trauzeuge.« Er starrte auf Moritz, der noch immer verzweifelt nach Luft rang. »Was ist mit ihm?«

Ein schneller Blick auf das Protokoll.

»Vermutlich ein Herzinfarkt.« Dr. Weigand trat an die Seite seines Patienten und machte sich an die Arbeit.

Vince riss die Augen auf.

»Wie? Ein Herzinfarkt? Aber er ist doch noch so jung.«

»Trotzdem ist es möglich, schon im zarten Alter von 20 Jahren einen Herzinfarkt zu erleiden.« Eine Elektrode nach der anderen fand ihren Platz auf Moritz’ Brust. »Ein Grund dafür kann die frühzeitige Entstehung einer Arteriosklerose sein.«

»Aha.«

»Bevor wir uns aber irgendwelchen Spekulationen hingeben, schreiben wir ein EKG. Danach wissen wir mehr.« Matthias schaltete das Gerät ein.

Matthias erinnerte sich gut daran, als er zum ersten Mal bei einem EKG zugesehen hatte. Besonders fasziniert hatte ihn die Nadel, die leise ratternd über den Streifen Papier gesaust und die Ausschläge aufgezeichnet hatte. Damals war er noch ein Kind gewesen. Heute ratterte nichts mehr. Und auch die Nadel gehörte längst der Vergangenheit an.

Lautlos schob sich der Streifen Papier aus dem Drucker. Das einzige Geräusch war Vincents Schuhspitze, die unablässig auf den Boden tappte.

»Und? Sehen Sie schon was?«, fragte er nach einer Weile.

Dr. Weigand sah hinüber zu seinem Patienten. Die Sauerstoffgabe zeigte Wirkung. Moritz hatte sich inzwischen beruhigt. Er verstand die stumme Frage des Arztes und blinzelte eine stumme Zustimmung. Matthias betrachtete die Aufzeichnungen. Er wiegte den Kopf.

»Das EKG zeigt nur eine dezente ST-Hebung.«

»Wie bitte?«

Der Notarzt unterdrückte ein Seufzen. Natürlich verstand er, dass die Angehörigen informiert sein wollten. Aber dass er jede noch so kleine Bemerkung übersetzen musste, war manchmal anstrengend.

»Die ST-Hebung ist ein bestimmtes Muster im EKG. Sie spiegelt die Veränderung der Stromfrequenz wieder, die ein Infarkt im Herzen auslöst.«

»Also doch kein Herzinfarkt?«

Wenigstens dachte der Bräutigam mit.

»Das kann ich nicht mit Sicherheit sagen«, erwiderte Matthias. »Wir haben nämlich einen dritten Herzton, der durchaus ein Anzeichen für einen Infarkt sein kann. Um Gewissheit zu bekommen, machen wir einen Herzultraschall und eine Blutuntersuchung.« Er wandte sich an seinen Patienten. »Danach wissen wir, was mit Ihnen los ist.« Er nickte den beiden Männern zu, ehe er hinüber zur Schwester ging, um seine Anweisungen weiterzugeben.

*

»Mein Privatleben ist Verschlusssache. Das geht niemanden etwas an. Schon gar nicht die Kollegen in der Klinik.« Krachend fiel die Tür des Aufenthaltsraums hinter Milan Aydin ins Schloss. Wenigstens in dieser Hinsicht war ihm das Schicksal gnädig gestimmt. Das Zimmer war leer und würde es hoffentlich noch so lange bleiben, bis er seinem Bruder die Leviten gelesen hatte.

Deniz durchquerte in aller Seelenruhe den Raum. Öffnete das Fenster und sah hinunter auf den Platz vor der Klinik. Dort unten herrschte ein reges Kommen und Gehen. Der Anblick erinnerte ihn an den Hauptbahnhof. Menschen mit Rollkoffern und Reisetaschen strebten auf die Glastüren zu. Ein Paketbote zog einen vollbeladenen Wagen hinter sich her. Doch auch ganz normale Passanten überquerten den Platz. Deniz überlegte nicht lange. Er öffnete den Fensterflügel weiter und beugte sich hinaus.

»Hey, Leute! Dr. Aydin war nicht immer so spießig wie jetzt!« Seine Stimme hallte durch die Luft.

Die Menschen unten blieben stehen. Sahen sich suchend um.

Milan fiel fast in Ohnmacht.

»Bist du total übergesch …« Mitten im Satz hielt er inne. »Ach, was will ich überhaupt?« Er winkte ab. »Ein Mann, der mit dreißig Jahren noch T-Shirts bedruckt, ist nicht zurechnungsfähig.«

»Aber der Herr Neurochirurg hat natürlich die Weisheit mit Löffeln gefressen.« Deniz drehte sich um und musterte seinen Bruder. »Ist dir schon zu Ohren gekommen, dass Vielwisserei noch lange nicht Verstand bedeutet?«

»Verschone mich mit deinen Kalendersprüchen!«

»Und meine T-Shirts werden der Renner. Du wirst schon sehen.«

Milan saß im Rollstuhl vor seinem Bruder und musterte ihn von oben bis unten. Langsam schüttelte er den Kopf.

»Deniz, wann wirst du endlich erwachsen? Wann suchst du dir endlich einen richtigen Job? Nimm dir ein Beispiel an mir. Obwohl ich ein Krüppel bin, habe ich es geschafft.«

Deniz lächelte.

»Entspann dich, Mil! Ich bin nicht gekommen, um mir anzuhören, wie genial du bist. Eigentlich wollte ich nur ein bisschen Spaß mit dir haben, in Erinnerungen schwelgen, die Stadt unsicher machen. Solche Sachen.«

Milans rechter Mundwinkel wanderte ein Stück hoch.

»Und warum bist du wirklich hier?«

Schweigen. Deniz presste die Lippen aufeinander. Sah sich um und ließ sich schließlich auf einen der Stühle am Tisch fallen.

»Samantha hat mich verlassen.« Er nahm einen Keks vom Teller. Bevor Milan ihn warnen konnte, kaute er schon darauf herum. Verzog das Gesicht. »Wo habt ihr denn die Dinger her? Da schmeckt ja Sams Kuchen besser. Und die kann überhaupt nicht backen.«

»Restbestände vom alten Verwaltungschef«, erwiderte Milan knapp. »Samantha … Samantha … ist das nicht die Wünschelrutengängerin?«

Deniz’ schwarze Locken flogen hin und her.

»Das war Christa. Samantha verkauft Handarbeiten auf Märkten. Blumenampeln aus Makramee, gehäkelte Einkaufsnetze, solche Sachen.«

Milan Aydin schnalzte mit der Zunge.

»Du und deine Frauen.«

»Tu doch nicht so! Gut, du schleppst wahrscheinlich Ärztinnen und Unternehmerinnen ab. Trotzdem läuft es bei dir auch nicht besser.« Deniz fuhr sich durch die Mähne. Er konnte schon wieder lächeln. »Deshalb dachte ich, ich bleibe ein paar Tage bei dir. Dann können wir uns gegenseitig trösten.«

Milans Kehle wurde trocken.

»Nette Idee«, erwiderte er lahm. »Was meinst du genau mit ›ein paar Tage‹?«

»Keine Ahnung.« Inzwischen strahlte Deniz wieder von einem Ohr bis zum anderen. »Bekomme ich deinen Wohnungsschlüssel?«

Schon als Junge hatte er seinen großen Bruder um den kleinen Finger gewickelt. Hatte ihm das größte Spielzeugauto und die roten Gummibärchen abgeschwatzt. Wirkte sein Charme immer noch?

Der Schlüssel klimperte, als Milan ihn aus der Tasche zog. Laura, Katja und Silvie mussten wohl oder übel warten. Na ja, wenigstens steigerte das seine Attraktivität. Diese Erfahrung hatte Milan inzwischen mehr als ein Mal gemacht. Getreu dem Motto ›Willst du was gelten, mach dich selten.‹ Sonst wäre ihm die Entscheidung wohl nicht so leicht gefallen.

»Also schön«, gab er sich geschlagen. »Bleib, solange du willst. Unter einer Bedingung.«

»Alles, was du willst, Bruderherz.«

»Du lässt dich nicht in der Klinik blicken. Versprochen?«

Deniz schnappte nach dem Schlüssel und stand auf.

»Wir sehen uns später, Mil.«

*

Die Vene in der Armbeuge schimmerte bläulich und wölbte sich. Wie eine Schlange!, ging es Moritz durch den Sinn. Dr. Weigand war mit dem Ergebnis seiner Bemühungen zufrieden. Er versenkte die Nadel unter der Haut. Während sich das erste Röhrchen mit Blut füllte, öffnete er den Stauschlauch.

»Sie können die Faust jetzt öffnen.«

Moritz wackelte mit den Fingern. Er lächelte hinüber zu seinem Freund Vincent.

»Siehst du, sogar das Blutabnehmen habe ich ohne Ohnmachtsanfall überstanden. Du kannst wirklich zurück zu den anderen gehen. Schließlich feiert man nicht jeden Tag seinen Junggesellenabschied.«

Vincent stemmte die Hände in die Hüften. Er machte ein paar Schritte. Kehrte an die Behandlungsliege zurück.

»Vergiss den Junggesellenabschied. Du bist doch viel wichtiger als diese alberne Veranstaltung.« Ein Blick hinüber zu Dr. Weigand. Das letzte Röhrchen war gefüllt. »Haben Sie schon eine Erklärung für Moritz’ Herzinfarkt?«

»Wie vorhin schon erwähnt, kann eine erbliche Vorbelastung dafür verantwortlich sein. Als weiterer Grund kommt ein bisher unentdeckter Herzfehler in Frage.« Matthias drückte einen Tupfer auf die Einstichstelle und zog die Nadel heraus. »Oder Spasmen. Gerade in ungewöhnlichen Situationen kann sich ein Herzkranzgefäß verkrampfen.« Dr. Weigand schickte die Schwester mit den Blutproben ins Labor. Dann nahm er noch einmal die Ausdrucke zur Hand, die er während der Ultraschalluntersuchung gemacht hatte.

Zu Beginn seiner Ausbildung war es ihm wie allen anderen Menschen ergangen. Er hätte genausogut in einen wolkenverhangenen Himmel starren können. Erst mit der Zeit und vielen Kursen war es ihm gelungen, einen Gallenstein zu identifizieren. Er wusste, wie eine Gefäßverengung im Hirn aussah und erkannte die Strukturen einer Fettleber.

»Im Ultraschall ist nichts Auffälliges zu sehen. Keine Veränderung der Herzkammern. Auch Wandbewegungsstörungen konnte ich keine erkennen.«

Moritz nickte seinem Freund zu.

»Siehst du, du musst dir keine Sorgen machen. Also ab mit dir auf deine Party.«

»Vergiss es! Ich gehe erst, wenn ich weiß, was mit dir los ist.«

Matthias Weigand steckte die Bilder zu den anderen Unterlagen in die Akte.

»Dann können wir uns jetzt guten Gewissens der anderen Baustelle widmen.« Er rollte ans Fußende der Liege. »Zähne zusammenbeißen. Jetzt tut es wahrscheinlich ein bisschen weh.« Er legte Hand an.

»Neigen Sie immer zu Untertreibungen?«, stöhnte Moritz.

Matthias stopfte den Socken in den Turnschuh und beförderte beides auf den Boden. Er bewegte den Patientenfuß hin und her. Moritz zischte wie eine Schlange. Der Arzt nickte.

»Dachte ich es mir doch. Es knirscht.«

»Und was heißt das?«

»Eine Krepitation ist ein hör- und fühlbares Knistergeräusch, das entsteht, wenn Knochensplitter aneinanderreiben.«

»Klingt fantastisch.«

Matthias verzog den Mund. Für ein Lächeln reichte es allerdings nicht.

»Sehen Sie Ihrem Freund bitte mal tief in die Augen.«

»Darf ich auch die Dame nehmen? Die wäre mir lieber.« Moritz zwinkerte der jungen Frau zu, die in diesem Moment in der Tür des Schockraums auftauchte.

Matthias warf einen Blick über die Schulter.

»Das ist doch aber kein Teilnehmer des Junggesellenabschieds, oder?«, scherzte er.

»Ich bin die Braut.« Rebecca lächelte schmal. »Vince hat mich angerufen und mir von dem Unfall erzählt. Darf ich reinkommen?«

»Wenn Sie meinen Patienten ablenken …«

»Mache ich.« Rebecca trat an Moritz’ Seite.

Diese Gelegenheit nutzte Dr. Weigand. Er zog einen Kugelschreiber aus der Brusttasche und fuhr an der Fußsohle entlang.

»Spüren Sie das?«

Moritz sah Rebecca ins Gesicht. Wie oft hatte er schon versucht, die Sommersprossen zu zählen? Bisher vergeblich. Er runzelte die Stirn.

»Nein.«

Der Notarzt streckte sich nach einer Nadel auf dem Beistelltisch.

»Und das?«

»Auch nicht.« Moritz’ Augen lösten sich von der Braut. Flogen ans Fußende zu dem Notarzt. »Was hat das zu bedeuten, Doktor?«

»Das kann ich erst sagen, wenn ich Aufnahmen habe.« Matthias winkte Schwester Regine. »Sagen Sie bitte in der Radiologie Bescheid. Ich brauche Röntgenaufnahmen in zwei Schichten. Außerdem eine CT, um das ganze Ausmaß der Fraktur und Begleitverletzungen sichtbar zu machen.«

Moritz’ Herz begann zu flattern.

»Mein Bein muss schnell wieder in Ordnung kommen. Ich bin Lehrer für Sport und Wirtschaft an einem Sportgymnasium. Meine Schüler brauchen mich.«

Dr. Weigand stand auf. Die Handschuhe schnalzten, als er sie von den Fingern zog.

»Meine Kollegen und ich tun, was in unserer Macht steht. Aber versprechen kann ich nichts.«

*

Ein Liedchen auf den Lippen schlenderte Deniz Aydin durch die Behnisch-Klinik. Wie gut, dass er seinem Bruder kein Versprechen gegeben hatte. Frei von jeglichen Verpflichtungen genoss er die Muße, sich alles ganz genau anzusehen. Der Anblick großformatiger Berglandschaften, von Blumenwiesen und Ozeanen an den Wänden lud ebenso zum Verweilen ein wie die netten Schwestern hinter den Tresen. Deniz ließ es sich nicht nehmen, seinen Charme zu versprühen. Das Lachen der Frauen war Musik in seinen Ohren. Warum nur gönnte Milan ihm dieses Vergnügen nicht?

»Wahrscheinlich will er alles für sich selbst haben.«

Vor einer Tafel mit Wegweisern blieb Deniz stehen. Der rechte Gang führte Richtung Ausgang. Doch der linke Flur erschien ihm wesentlich vielversprechender. Ein vager Duft nach Kaffee erfüllte die Luft. Dazu das Rauschen von Wasser. Deniz überlegte nicht lange. Magisch angezogen von der Aussicht auf irdische Genüsse wählte er den linken Flur. Die richtige Wahl, wie er beim Anblick der von Palmen und Philodendren gesäumten Ladenstraße feststellte. Von einer Wand aus künstlichem Stein stürzte sich ein Wasserfall in die Tiefe. Daneben entdeckte er weiße Tische und Stühle unter dem grünen Blätterdach. Wenn das keine Einladung war! Deniz schlenderte hinüber und ließ den Blick schweifen. Was war er doch für ein Glückspilz!

»Eine schöne Frau sollte nicht allein sein. Darf ich Ihnen Gesellschaft leisten?« Ohne auf eine Antwort zu warten, setzte er sich zu Schwester Elena an den Tisch. »Ich lade Sie ein. Was wollen Sie trinken?«

»Oh! Herr Aydin.«

»Nicht so förmlich. Ich bin Deniz. Und du bist Elena. Darf ich Helena zu dir sagen. Das passt viel besser zu dir. Die schöne Helena.«

Mit einem Schlag fühlte sich Elena wieder wie sechzehn. Zurückversetzt in die Zeit der Unsicherheit. Des vorsichtigen Annäherns. Des ersten, schüchternen Flirts. Doch da war noch ein anderes Gefühl. Was war das nur? Endlich fiel es ihr wieder ein: Sie fühlte sich geschmeichelt.

»Sie … du kommst ein bisschen zu spät.« Ein koketter Augenaufschlag garnierte ihre Worte. »Leider muss ich jetzt zurück an die Arbeit.« Schon lange hatte sie nicht mehr an die verlorene Unbeschwertheit der Jugend gedacht. In diesem Moment tat sie es.

»Schade, schade.« Deniz’ bewundernder Blick folgte ihr, als sie aufstand und die Tasse vor zum Tresen brachte.

Was für ein Pech, dass sie sich heute Morgen doch gegen Rock und Stiefel entschieden hatte. Doch so, wie Milan Aydins Bruder ihr nachsah, bekam sie sicher die Gelegenheit, ihr Versäumnis nachzuholen.

*

Die Schiebetüren vor der Radiologie öffneten sich. Das Fußende eines Bettes tauchte auf.

Rebecca sprang vom Stuhl auf.

»Da bist du ja endlich. Wie geht’s dir?«

»Ich werde gleich operiert.« Moritz lächelte schief. »Hab mein Todesurteil schon unterschrieben.« Seine Augen wanderten durch den offenen Wartesaal. »Wo ist Vince?«

»Ich soll dir schöne Grüße sagen. Er ist mit den anderen zum Essen gegangen und kommt später wieder.«

Moritz’ Augen wurden schmal.

»Du hast ihn weggeschickt.«

Rebecca senkte den Kopf und blickte auf ihre ineinander verschlungenen Finger. Sie atmete ein und wieder aus. Endlich sah sie wieder hoch.

»Was ist mit deinem Herzen? Können Sie dich trotzdem operieren?«

Moritz zog eine Augenbraue hoch.

»Vor dem Eingriff am Bein wird noch eine spezielle Herzuntersuchung gemacht.« Er musterte sie mit Röntgenblick. »Was ist los?«

Wieder sah Rebecca weg.

Allmählich wurde Schwester Regine ungeduldig.

»Ich will ja nicht stören. Aber der Chef persönlich wartet auf uns.«

Rebecca erschrak.

»Oh, das tut mir leid. Ich wollte Sie nicht aufhalten.« Sie beugte sich über Moritz. Hauchte einen Kuss auf seine Wange. Ihre Lippen streiften sein Ohr. »Wir bekommen ein Baby«, flüsterte sie und trat einen Schritt zurück.

Vom Weg ins Untersuchungszimmer bekam Moritz nicht viel mit. Von einem Moment auf den anderen war der Elefant auf seinem Brustkorb wieder da. Verzweifelt rang er nach Luft.

Schwester Regine erschrak.

»Herr Loibl? Alles in Ordnung?« Ein Glück, dass es nicht mehr weit war. Mit glänzender Stirn und hochroten Wangen bugsierte sie das Bett ins Untersuchungszimmer.

Dr. Norden sprang vom Stuhl auf, wo er gesessen und die Akte Loibl auf dem Tablet studiert hatte. Ein paar Schritte, und er war an Moritz’ Seite.

»Was ist passiert?«

»Ich … ich glaube … er … er hat wieder eine Attacke«, keuchte Regine.

Daniel beugte sich über seinen Patienten.

»Atmen Sie, Herr Loibl. Ganz ruhig. Ein und aus. Ein uns aus«, diktierte er den Takt.

Während die Schwester Moritz mit Sauerstoff versorgte, befestigte der Klinikchef die Elektroden eines mobilen EKGs auf der Brust des jungen Mannes. Wie gebannt starrte er auf die Kurve.

»Wieder nur eine dezente ST-Hebung. Genau wie beim ersten Mal.« Daniel schüttelte den Kopf. »Meiner Ansicht nach ist das kein Herzinfarkt. Dagegen sprechen auch die Ultraschallbilder und das Ergebnis der Blutuntersuchung.« Er wandte sich ab. Ging hinüber zum Beistelltisch und bereitete eine Injektion vor. »Keine Sorge. Das ist nur ein Beruhigungsmittel.« Der Klinikchef ließ es sich nicht nehmen, die Nadel höchstpersönlich unter der Haut seines Patienten zu versenken. »Gleich geht es Ihnen besser.«

Dr. Norden hatte nicht zu viel versprochen.

Moritz’ Atem beruhigte sich. Nach und nach trockneten die Schweißperlen auf seiner Stirn.

»Was ist das, wenn kein Herzinfarkt?«, fragte er endlich.

Daniel hatte die Gelegenheit genutzt, um nachzudenken. Eine tiefe Falte auf der Stirn, blickte er auf seinen Patienten hinab.

»Herr Loibl, leiden Sie momentan unter emotionalem oder psychischem Stress? Hat sich vielleicht kürzlich Ihre Partnerin von Ihnen getrennt? Haben Sie Liebeskummer?«

Mit jeder Frage wurden Moritz’ Augen größer.

»Sind Sie Psychiater, oder was soll das hier werden?«

»Herr Loibl!« Daniel zog eine Augenbraue hoch.

»Tut mir leid.« Moritz zog es vor, an die Decke zu starren. »Wenn Sie es unbedingt wissen wollen: Ja. Ich habe emotionalen Stress«, brach es plötzlich aus ihm heraus. »Ich weiß ja nicht, wie es Ihnen gehen würde, wenn die Liebe Ihres Lebens einen anderen heiratet. Noch dazu Ihren besten Freund. Und sie dummerweise schwanger ist. Von Ihnen.«

»Oh.« Dr. Norden räusperte sich. Mit so einem umfangreichen Geständnis hatte er nicht gerechnet. »Sie haben recht. Das würde mich auch umhauen.« Was war nun zu tun? Er griff nach dem Tablet. Ein kleiner Umschlag blinkte in der rechten Ecke des Bildschirms. Post aus der Radiologie. Ein paar Minuten herrschte Schweigen im Raum. »Auch wenn das nur ein schwacher Trost ist.« Dr. Norden blickte vom Tablet auf. »Die Herzkatheteruntersuchung kann ich Ihnen ersparen. Wir können uns also voll und ganz auf Ihr Bein konzentrieren. Das trifft sich eigentlich ganz gut. Bei dem Sturz wurde ein Nerv geschädigt. Wenn wir nicht schnell operieren, ist es möglich, dass er sich nie wieder erholt.«

»Klingt ja ganz so, als wäre heute mein Glückstag«, presste Moritz durch die Lippen.

*

Rebecca hatte es sich anders überlegt. Statt nach Hause zu gehen und auf die Rückkehr ihres Bräutigams zu warten, suchte sie das Behandlungszimmer, in das Moritz gebracht worden war. Ihre Bemühungen zeigten Erfolg.

»Wir sehen uns in einer halben Stunde im OP«, sagte Dr. Norden an der Tür und verließ das Zimmer. Beim Anblick der jungen Frau stutzte er. Öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Kein Ton kam über seine Lippen. Er begnügte sich mit einem Nicken, ehe er davon eilte.

»Ich bin gleich wieder bei Ihnen!«, ertönte gleich darauf eine weibliche Stimme, ehe auch Schwester Regine das Zimmer verließ.

Im Gegensatz zu Daniel bemerkte sie die Besucherin nicht. Rebecca wartete, bis sie am Ende des Flurs um die Ecke bog. Erst dann schlüpfte sie ins Zimmer.

»Hey. Wie geht es dir?«

Moritz zuckte zusammen. Er öffnete die Augen und starrte die Braut an, als hätte er eine Erscheinung.

»Rekordverdächtig«, ätzte er. »Die Frau meines Lebens heiratet meinen besten Freund, mit dem sie mein Kind aufziehen wird. Was auch gut …« Er hielt inne. Tausend Gedanken wirbelten durch seinen Kopf. Es war schwer, einen zu fassen zu bekommen. »Moment mal. Ist das Kind auch wirklich von mir?«

Rebeccas Augen glitzerten gefährlich.

»Glaubst du, es macht mir Spaß, dich zu quälen?«

Moritz winkte ab. Er drehte den Kopf und starrte wieder an die Decke.

»Wie auch immer. Ich könnte uns sowieso nicht ernähren.«

Rebecca schluckte.

»Dein Herz?«, fragte sie heiser.

»Das Bein. Der Bruch muss operiert und mit Platten und Schrauben fixiert werden. Danach wird Dr. Norden die Enden des geschädigten Nervs vernähen. Und dann hilft nur Beten und Hoffen.« Er zwang ein Lächeln auf seine Lippen. »Aber warum erzähle ich dir das alles? Morgen heiratest du Vincent, und in zwei Wochen seid ihr auf Hochzeitsreise.« Er hob die Hand und winkte. »Adieu, holde Maid. Ich wünsche dir ein schönes Leben.«

Rebecca traute ihren Ohren nicht.

»Bist du jetzt total übergeschnappt? Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich Vincent heiraten werde.«

»Was denn sonst? Willst du ihm etwa sagen, dass du und ich …?« Der Rest des Satzes hing unausgesprochen in der Luft.

Mit einem stummen Knall verpuffte Rebeccas Zorn. Sie fühlte sich so leer wie die Hülle eines geplatzten Luftballons.

»Ich weiß nicht, was ich tun soll«, murmelte sie, als sich die Tür öffnete und Schwester Regine zurückkehrte.

»Oh, Entschuldigung. Ich wusste nicht …«

»Schon gut. Ich wollte eh gerade gehen.« Rebecca durchquerte den Raum und verließ das Zimmer, ohne sich noch einmal umzudrehen.

*

Die Schatten wurden länger und verschwanden schließlich ganz.

»Wollen Sie nicht endlich nach Hause gehen?«

Daniel Norden schreckte hoch. Stieß sich den Kopf an der Schreibtischlampe.

»Aua!« Er rieb sich die schmerzende Stelle. »Was sind das hier für Sitten? Warum gehen Sie denn schon?«

»Weil es schon nach sieben Uhr ist und ich auch noch etwas von meiner Wohnung haben will, wenn ich schon eine so horrende Miete bezahlen muss.«

»Nach sieben?« Der Schreck ließ den Schmerz in Vergessenheit geraten. Daniel klappte die Akte zu, in der er gerade gelesen hatte, und schaltete den Computer aus. »Hoffentlich ist Fee nicht zu wütend auf mich, dass es schon wieder so spät geworden ist.«

»Nur, wenn du dein Versprechen von heute Morgen einlöst.«

Fee tauchte hinter Andrea Sander auf. Auf dem Weg ins Büro ihres Mannes hatte sie ein paar Wortfetzen aufgeschnappt. Die beiden Frauen tauschten ein paar freundliche Worte miteinander.

»Dann kann ich mich ja jetzt mit gutem Gewissen in den Feierabend verabschieden.« Andrea winkte und machte sich auf den Weg. Ihre Schritte verhallten auf dem Flur.

»Welches Versprechen meinst du?«, erkundigte sich Daniel. Er tauchte wieder auf und stellte die Aktentasche auf den Tisch. Verstaute ein paar Unterlagen und ließ die Schlösser zuschnappen.

Fee stand in der Tür und beobachtete ihren Mann. Sie wusste selbst nicht, warum ihr Elena und Eric in den Sinn kamen.

»Spätestens jetzt würde Eric seiner Frau den Kopf abreißen.«

»Habe ich ein Glück, dass du nicht Eric heißt.«

Fee lachte leise und beschloss aber, schnell das Thema zu wechseln.

»Du wolltest mit mir zu Enzo gehen.«

»Ach ja, richtig. Tut mir leid. Heute ging es mal wieder drunter und drüber.« An der Tür drehte er sich noch einmal um. Ein letzter Blick zurück. Hatte er auch nichts vergessen?

»Was war los?«, erkundigte sich Felicitas, als sie Hand in Hand Richtung Ausgang schlenderten.

»Die Sitzung der Fachaufsichten. Die Tumorkonferenz. Ein Treffen mit Vertretern der Arzneimittelkommission. Die Sprechstunde für Privatpatienten. Eine heikle Operation mit ungewissem Ausgang«, zählte Daniel Norden die Ereignisse des Tages auf.

Die großen Schiebetüren aus Glas öffneten sich surrend. Daniel ließ seiner Frau den Vortritt. Die Luft war angenehm kühl und trocken, der Himmel sternenklar. Trotzdem lag der Geruch nach Schnee in der Luft. Doch Felicitas achtete kaum darauf.

»Eine heikle Operation mit ungewissem Ausgang?« Sie schickte ihrem Mann einen Seitenblick. »Das klingt nicht danach, als ob du zufrieden wärst.«

Die Straßenlaterne beleuchtete das Gesicht des Klinikchefs.

»Der Nerv des Patienten ist derart geschädigt, dass ich ihn nicht nähen konnte. Das ist insofern tragisch, als der Mann Sportlehrer an einem Sportgymnasium ist.«

Jeder einzelne Fall, jedes Schicksal war eine kleine Tragödie für sich. Manchmal auch eine große. Felicitas wusste, dass sie sich nie daran gewöhnen würde. Aber Mitleid war kein guter Ratgeber. Schon gar nicht am OP-Tisch. Anders sah es mit Mitgefühl aus. Eine Portion Empathie hatte noch nie geschadet.

»Wirst du ihm helfen können?«

»Auf jeden Fall muss ich ihn ein zweites Mal operieren. Aber auch das ist ein Risiko. Der junge Mann hat mit Herzproblemen zu kämpfen. Broken-Heart-Syndrom.« Auf dem Weg zum Wagen erzählte er Moritz Loibls Geschichte.

Schon von Weitem blinkten die Lichter auf. Eine praktische Erfindung. Nach solchen Tagen konnte sich Daniel abends oft nicht daran erinnern, wo er sein Auto abgestellt hatte.

»Meine Güte!« Kopfschüttelnd ließ sich Felicitas auf den Beifahrersitz fallen. »Kein Regisseur würde so ein Drehbuch verfilmen. Zu unglaubwürdig.«

»Und doch sind diese Geschichten wahr.« Der Motor schnurrte wie ein Kätzchen. »Wie ist es bei dir gelaufen?«

»Willst du die Wahrheit hören?«

»Natürlich.«

»Ich freue mich auf ein schönes Glas Wein und einen Teller Nudeln, um die Klinik und ihre Bewohner für ein paar Stunden zu vergessen.«

Daniel lachte.

»Du sprichst mir aus der Seele.« Er setzte den Blinker und reihte sich in dem Moment in die Kette aus Lichtern ein, in dem Schwester Elena aus der Klinik trat.

Sehnsüchtig blickte sie ihren Freunden nach. Was hätte sie darum gegeben, mit ihrem Mann in die Dunkelheit zu fahren. Über den Arbeitstag zu plaudern. Probleme zu besprechen. Erfolge zu feiern. Doch all das gab es bei ihr nicht. Stattdessen wartete wahrscheinlich wieder ein schlecht gelaunter Eric auf sie.

Seufzend wandte sie sich ab. Vielleicht hatte ihr Freund Matthias Weigand doch recht: Ein Partner aus derselben Berufssparte wäre die bessere Wahl gewesen. Besonders dann, wenn man in einer Klinik arbeitete und mit Leib und Seele bei der Sache war.

*

Für alle Fälle hatte Dr. Milan Aydin einen Schlüssel bei der Nachbarin deponiert. Von dem machte er Gebrauch, als er an diesem Abend nach Hause kam. Er schloss die Tür auf. Eine süßliche Wolke empfing ihn. Marihuana? Sein Magen zog sich zusammen. Die Klänge einer Kalimba gaben ihm den Rest. Er rollte in den Flur und warf die Tür so laut ins Schloss, dass das Krachen die Musik übertönte. Oder war es Milans Husten, das Deniz anlockte?

»Bruderherz, willkommen in unserem Zuhause. Komm und entspann dich!« Deniz nahm ihn am Arm.

»Lass mich sofort los!«, krächzte Milan. Mit einem Ruck machte er sich los. »In meiner Wohnung Gras rauchen? Bist du total bescheuert? Weißt du, was los ist, wenn das jemand rausfindet? Dann bin ich meinen Job los! Ein Arzt, der Drogen nimmt …« Die Miene seines Bruders ließ ihn innehalten.

»Bist du immer so geladen, wenn du aus der Arbeit kommst? Dann bin ich ja froh, dass ich keine habe.« Deniz drehte sich um und ging auf Socken – handgestrickt, wenn Milan das richtig beurteilen konnte – ins Wohnzimmer. »Ich habe kein Gras geraucht. Das ist Vanilletabak. Der beste Wasserpfeifentabak, den es gibt. Na, komm schon.« Er setzte sich im Schneidersitz auf die Couch und hielt Milan den Schlauch hin. »Nimm einen Zug. Oder lieber eine Tasse Ingwertee? Stärkt die Abwehrkräfte.«

»Das ist genau das, was ich jetzt brauche«, murrte Milan. Er rollte hinüber zum Sofa. Zwei, drei Handgriffe, eine Drehung und er saß neben seinem Bruder.

»Wow, das ist ja zirkusreif.«

»Gelernt ist gelernt.« Milan beugte sich vor. Er nahm die Tasse vom Tisch und trank einen Schluck. Eine Augenbraue wanderte hoch. »Gar nicht mal so übel.« Er lehnte sich zurück. Über den Rand der Tasse hinweg musterte er seinen Bruder. »Raus mit der Sprache! Was ist diesmal schief gegangen?«

Deniz saugte am Schlauch. Die Wasserpfeife gurgelte und blubberte.

»Ich verstehe die Frauen einfach nicht. Zuerst erzählen sie dir, wie wichtig ihnen ihre Freiheit ist. Und kaum bist du mit ihnen zusammen, träumen sie von Hochzeit, Kindern und und Eigenheim.«

Milan lachte.

»Das kenne ich.«

»Du verstehst mich? Ich will mit einer Frau einfach eine gute Zeit haben. Dazu muss man doch nicht gleich zusammenziehen. Na ja.« Deniz zuckte mit den Schultern. »Dann suche ich eben weiter nach meiner Amazone.« Seine Augen blitzten. »Bei dir in der Klinik laufen ein paar hübsche Exemplare herum. Besonders die schöne Helena. Die würde ich nicht von der Bettkante schubsen.«

Milan verschluckte sich an seinem Tee.

»Du meinst Schwester Elena?«, krächzte er. »Lass bloß die Finger von ihr!«

Deniz warf den Kopf in den Nacken und lachte.

»Sag bloß, du bist selbst scharf auf sie?«

»Schwachsinn. Die Frau ist verheiratet.«

»Aber nicht besonders glücklich. Ich kenne mich mit so was aus. Dieser traurige Ausdruck in den Augen … höchste Zeit, dass sie jemand zum Lachen bringt.«

Milan stellte die Tasse zurück auf den Tisch. Der Tee schwappte über.

»Ich habe dich gewarnt. Keine amourösen Abenteuer mit meinen Kollegen.«

Die Wasserpfeife gluckerte. Deniz grinste sein Spitzbubengrinsen. Mehr Antwort bekam Milan Aydin nicht.

*

Je näher Elena ihrem Haus kam, umso schwerer wurde ihr Herz. Kein Lichtschein fiel aus einem der oberen Zimmer hinaus auf den Asphalt. Wie schade, dass keines der Kinder mehr zu Hause wohnte. Julius war im letzten Lehrjahr seiner Ausbildung zum Schreiner. Seine Schwester Laura studierte Umweltmanagement in Landshut und kam nur an den Wochenenden nach Hause.

In diesen wenigen Stunden konnte Elena wieder frei atmen, wusste sie doch, dass Eric sich in Anwesenheit der Kinder zurückhielt. Auf diese Zurückhaltung konnte sie an diesem Abend nicht hoffen.

Sie drehte den Schlüssel im Schloss. Schon an der Tür sah sie Erics Schatten. Er hatte sich ein Glas Wein in der Küche geholt und war auf dem Rückweg ins Wohnzimmer. Beim Anblick seiner Frau blieb er stehen.

»Guten Abend.«

»Hallo, Eric.« Elena stellte die Handtasche auf den Boden. Der Schlüssel klapperte in der Schale auf der Kommode. Sie machte ein paar Schritte auf ihn zu. Er sah sie an.

»Du siehst müde aus.«

»Es war ein anstrengender Tag.« Sie seufzte und nahm einen Schluck Wein aus dem Glas, das er ihr hinhielt. »Außerdem habe ich heute Nacht nicht viel geschlafen.«

»Das habe ich gemerkt.« Mit einer Geste bat Eric seine Frau ins Wohnzimmer.

»Ich denke unentwegt über uns nach«, gestand sie und nahm ihm gegenüber im Sessel Platz.

Eric drehte das Glas in den Händen.

»Und? Zu welchem Schluss bist du gekommen?«

Die Antwort fiel Elena nicht leicht.

»Es war nicht meine Entscheidung allein, Pflegedienstleitung zu werden.« Sie knetete die Finger. »Du hast mich dabei unterstützt, dahin zu kommen, wo ich jetzt bin. Dafür bin ich dir sehr dankbar.« Elena hob den Kopf. Suchte Erics Blick. »Aber jetzt entziehst du mir deine Unterstützung. Damit habe ich nicht gerechnet. Ich weiß einfach nicht, wie ich mit dieser Situation umgehen soll.«

»Und ich habe nicht damit gerechnet, dass du so viel mehr Zeit in der Klinik verbringen wirst.«

»Das habe ich dir von Anfang an gesagt.« Der Ton wurde schärfer. »Die Pflegedienstleitung ist neben dem ärztlichen Direktor und dem Verwaltungschef Teil der Klinikleitung. Ich habe einen verantwortungsvollen Posten übernommen. Du kannst nicht behaupten, dass du das nicht wusstest.«

»Ich wusste nicht, dass du in dieser Position an nichts anderes mehr denken kannst als an die Klinik«, hielt Eric dagegen und trank einen großen Schluck Wein.

Adrenalin flutete Elenas Adern. Ihr Herz schlug schneller, die Bronchien weiteten sich.

»Ich. Ich. Ich. Alles ist meine Schuld. Aber weißt du was? Ich glaube, das Problem liegt nicht bei mir.« Die feinen Schweißperlen auf der Oberlippe fühlten sich kühl an. Sie ballte die Hände zu Fäusten. »Ich glaube, du bist eifersüchtig auf meinen Erfolg, den du längst hinter dir hast.« Elena gab sich selbst das Stichwort. »Erinnerst du dich an früher? Damals war ich diejenige, die immer allein zu Hause saß. Noch dazu mit kleinen Kindern. Aber wenn ich mich mal beschwert habe, hieß es immer, dass du ja das Geld für die Familie verdienen musst.« Ihre Augen waren fast schwarz, als sie ihren Mann anfunkelte. »Deshalb erwarte ich jetzt auch, dass du hinter mir stehst. Mich weiterhin unterstützt. So, wie ich dich immer unterstützt habe.« Sie beugte sich über den Tisch.

Griff nach dem Glas Wein und leerte es in einem tiefen Zug. Als sie es zurück auf den Tisch stellte, stand Eric auf. Ohne ein Wort zu sagen, verließ er das Wohnzimmer. Er kehrte nicht zurück.

*

Am nächsten Morgen wollte es gar nicht richtig hell werden. Über Nacht hatten sich Wolken über den Himmel geschoben. Tief, als klebten sie an Dächern fest, hingen sie über der Stadt.

»Der Wetterbericht hatte recht.« Dr. Daniel Norden hastete auf den Eingang der Klinik zu. »Heute schneit es bestimmt.«

Normale Menschen dachten bei Schnee an Vergnügen. An Schneeballschlachten, romantische Winterlandschaften und Schlittenfahrten. Ärzte dachten häufig daran, welche Gefahren die weiße Pracht mit sich brachte. In der klinikeigenen Statistik führten Autounfälle die Tabelle ganz klar an, gefolgt von Stürzen wegen falschen Schuhwerks oder schlecht geräumter Wege.

»Dann kannst du gleich das Team in der Notaufnahme verstärken«, unkte Felicitas.

»Meine kluge Fee.« Bevor sich ihre Wege trennten, küsste der Klinikchef seine Frau. Es machte ihm nichts aus, dass sie sich mitten in der Lobby befanden, die gerade, wie die übrige Klinik, zum Leben erwachte. In jeder Ecke schien es zu rumoren. Lieferanten schoben Wagen mit allen erdenklichen Waren Richtung Ladenstraße. Schlaflose Patienten schlurften über die Flure, um sich im Klinikkiosk den ersten Kaffee des Tages zu kaufen, eine Tageszeitung, oder einfach nur ein bisschen Ablenkung zu suchen. »Vorher mache ich aber einen Abstecher in die Orthopädie.«

»Die Unterschenkelfraktur.« Fee nickte. »Bernhard ist ein herausragender Arzt. Er weiß bestimmt Rat.«

Daniel legte den Kopf schief.

»Weißt du, dass du mir manchmal ein bisschen unheimlich bist?«

Felicitas lachte.

»Weil ich deine Gedanken lesen kann?«

Was sollte er dazu sagen?

Kopfschüttelnd machte er sich auf den Weg und stand fünf Minuten später im Büro des Kollegen Kohler. Er schilderte den Fall. Bernhard saß auf der Tischkante und hörte zu. Nachdem sein Chef geendet hatte, stand er auf und setzte sich an den Computer.

»Letztes Jahr hatte ich tatsächlich einen ähnlich gelagerten Fall.« Die Tastatur klapperte unter seinen Fingern. »Wenn ich nur wüsste, wie der Patient hieß. Reinhold, nein … Reinhardt … auch nicht … Reinberg … aaaah, da ist er ja. Günther Reinberg.« Er vertiefte sich in die elektronische Patientenakte.

Dr. Norden trat hinter den Kollegen und beugte sich über seine Schulter.

»Wusste ich es doch. Reinberg hatte ebenfalls eine Unterschenkelfraktur. Tibia und Fabia, wie bei Ihrem Patienten. Der Nervus tibialis war beschädigt. Problem war damals, dass der Bruch mit Platten und Schrauben reponiert werden musste.«

»Wie in meinem Fall.«

»Durch die Verletzung waren die beiden Nervenenden so weit voneinander entfernt, dass sie nicht mehr spannungsfrei zusammengefügt werden konnten.«

»Und die Lösung des Problems?«

»Eine Nerventransplantation.«

Daniel richtete sich auf. Sein Blick schweifte durchs Zimmer, blieb an einem gerahmten Poster hängen. Eine Lehrtafel mit der Abbildung des menschlichen Skeletts.

»Sie haben einen entbehrlichen Hautnerv entnommen und so das fehlende Nervenstück ersetzt?«, dachte er laut nach.

»Ganz genau.« Dr. Kohler drehte sich zu seinem Chef um. Er brauchte die Akte nicht mehr. Das Erlebte war wieder präsent, als hätte die Operation gerade erst stattgefunden. »Das könnte in Ihrem Fall auch klappen. Allerdings müssen Sie daran denken, dass nach einer Nerventransplantation eine Ruhigstellung erforderlich ist.«

Daniel wusste, was der Chef der Orthopädie meinte.

»Die Platten müssen zunächst an Ort und Stelle verbleiben.«

Kohler nickte.

»Auch dann, wenn der Patient Probleme damit haben sollte. Andernfalls ist der Behandlungserfolg zweifelhaft. Das ist die Kehrseite der Medaille.« Er verschränkte die Finger ineinander und sah seinen Chef von unten herauf an. »Bei unserem Patienten ist es damals gut gegangen. Aber ein Restrisiko bleibt natürlich.«

Dr. Norden wiegte den Kopf.

»Gibt es irgendeine Alternative?«

»Nein. Bisher nicht. Meiner Ansicht nach ist die Nerventransplantation die Therapie der Wahl.« Dr. Kohler zwinkerte Daniel zu. »Wie sagt man so schön auf neudeutsch: No risk, no fun!«

Diese Bemerkung gab den Ausschlag.

»Dann bitte ich Sie, Risiko und Spaß mit mir zu teilen und mich bei dem Eingriff zu unterstützten. Heute um elf?«

»Ich werde da sein.«

*

»Fahr doch nicht so schnell!« Der bunte Schal wehte hinter Deniz Aydin her. Obwohl er zwei gesunde Beine hatte, fiel es ihm schwer, seinen Bruder einzuholen.

Milan dachte nicht daran, das Tempo zu drosseln.

»Weniger rauchen und mehr Sport«, rief er über die Schulter. »Außerdem bist du selber schuld. Warum hast du auch meinen Radiowecker ausgestellt?«

»Weil sich die elektrische Strahlung ungünstig auf die Libido auswirkt.«

Trotz allem musste Milan lachen.

»Davon habe ich bisher nichts gemerkt.«

Die Glastüren schoben sich vor ihm auf. Eine Mischung aus Desinfektionsmittel, Milchkaffee und Orangenduft hieß ihn willkommen. Stimmen, Schritte, hier und da ein Lachen verschmolzen zu einem geschäftigen Summen, das ihn an einen Bienenstock erinnerte. Ein wohliges Gefühl breitete sich in ihm aus. Hier fühlte er sich sicher. Zumindest sicherer als derzeit in seiner eigenen Wohnung.

Er grüßte nach links und rechts, während er den Rollstuhl Richtung Aufzug bugsierte. Doch alles Ignorieren half nichts.

»Warum verfolgst du mich eigentlich auf Schritt und Tritt?«, fragte er, während er vor der silberfarbenen Tür wartete. »Wolltest du dir nicht das Winter-Tollwood ansehen?«

»Das öffnet erst um 14 Uhr.« Deniz stand hinter dem Rollstuhl und fächelte sich Luft zu.

»Aha.« Die Aufzugtüren öffneten und schlossen sich wieder. Milan stand immer noch davor. Eine Idee hatte ihn aufgehalten. »Übrigens treffe ich mich heute Abend mit Silvie. Du musst nicht auf mich warten.«

»Kein Problem. Ich brauche keinen Babysitter.«

»Hoffentlich auch keine Babysitterin. Und schon gar keine aus der Klinik.« Ein warnender Unterton schwang in Milans Stimme.

Deniz beugte sich vor und drückte auf die Taste mit dem Pfeil nach oben. Surrend schoben sich die Türen wieder auf.

»Hattest du es nicht eilig?« Er packte die Griffe des Rollstuhls und schob seinen Bruder hinein.

Mit einem Satz war er wieder draußen und winkte, bis Milan ­hinter dem Silbervorhang verschwand. Ein Rumpeln, und der Fahrstuhl setzte sich in Bewegung. Darauf hatte Deniz nur gewartet! Mit wenigen großen Schritten eilte er an den Tresen, der wie eine Insel mitten in der Lobby schwamm.

»Entschuldigung, können Sie mir sagen, wo ich die schöne Helena … ich meine, die Pflegedienstleitung finde?«

*

Elena war nicht allein mit ihren Schlafproblemen. Auch Moritz Loibl hatte die ganze Nacht kein Auge zugetan. Genauso fühlte er sich, als es an seiner Tür klopfte. Er hoffte auf eine Schwester, die er um ein Mittel gegen die quälenden Gedanken bitten wollte. Seine Hoffnung erfüllte sich nicht.

»Hey, altes Haus! Beck hat erzählt, dass die OP nicht geklappt hat. Was machst du nur für Sachen?« Vincents Stimme ließ die Wände wackeln.

Vince! Ausgerechnet! Moritz hielt sich die Ohren zu. Er presste die Lippen aufeinander.

»Lass mich raten!«, fuhr sein bester Freund fort. »Du hast Muffensausen vor der Hochzeit und willst dich drücken.«

»O Mann, Vince, musst du immer so brüllen?«, tadelte Rebecca, die ihren Bräutigam begleitete. »Wir sind alle nicht schwerhörig.«

»Du klingst wie ein zänkisches Eheweib«, konterte Vince und bog sich vor Lachen.

Rebecca trat an Moritz’ Bett.

»Wie geht’s dir?« Im Gegensatz zu ihrem Bräutigam flüsterte sie.

»So ähnlich, wie ich aussehe.«

Sie nickte.

»Dachte ich mir.«

Vincent wischte sich eine Lachträne aus dem Augenwinkel. Er trat an die andere Bettseite.

»Tut mir echt leid, dass du jetzt doch nicht mein Trauzeuge sein kannst.«

Moritz biss sich auf die Unterlippe.

»Wer übernimmt meinen Job?«

»Joe. Aber du bist und bleibst mein bester Freund. Das ist doch klar«, versicherte Vincent. »Und die Feier holen wir einfach nach, wenn du wieder gesund bist. Welches Paar hat schon zwei Hochzeitsfeiern? Nicht wahr, Schatz?« Er streckte die Hände nach Rebecca aus. Wollte sie übers Bett ziehen, um sie zu küssen. Aber was war das? »Komm schon! Du bist doch sonst nicht so schüchtern.«

Rebecca schluckte. Sah ihrem Zukünftigen in die Augen.

»Ich bin schwanger.«

Moritz’ Herz setzte aus, um mit doppelter Geschwindigkeit weiterzuschlagen. Ruhig atmen!, mahnte er sich. Genauso, wie Dr. Norden es ihm gezeigt hatte.

Vincent dagegen starrte seine Braut an. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis sich seine Mundwinkel ein paar Millimeter nach oben bewegten.

»Wie kann das sein? Ich meine, wir haben in letzter Zeit doch gar nicht … du weißt schon.« Ein schneller Blick zu Moritz. »Du hast doch gesagt, du hättest Blasenentzündung. Deshalb wolltest du nicht.«

Rebecca starrte auf die Wasserflasche auf dem Nachttisch. Ihre Kehle war so trocken, dass sie sie am liebsten in einem Zug geleert hätte. Doch das musste warten.

»Ich habe mich geirrt«, krächzte sie. »Keine Blasenentzündung. Das war nur die Hormonumstellung.«

»Oh, okay.« Vincent rieb die Handflächen an der Jeans. »Ehrlich gesagt kommt das ein bisschen plötzlich.« Ein verlegenes Lachen. »Wir hatten doch ausgemacht, dass wir das Leben erst einmal ein bisschen genießen wollen, bevor wir über unsere Reproduktion nachdenken. Wenn überhaupt.«

Das war der Moment. Jetzt oder nie. Rebecca nahm allen Mut zusammen.

»Du bist nicht der Vater. Das Kind ist von Moritz.«

Die folgende Stille war ohrenbetäubend.

»Du machst Witze«, sagte Vincent irgendwann. Er lachte verlegen. »Nicht wahr, das ist ein Witz.« Sein Blick flog zu seinem besten Freund. »Das habt ihr euch ausgedacht! Für den verpatzten Junggesellenabschied. Genau! So muss es sein.«

»Nein.« Langsam schüttelte Moritz den Kopf. »Becky … ich meine … Rebecca hat recht. Ich bin der Vater.« Er fuhr sich mit den Händen durch das Haar. »Vince, wir …«

»Halt die Klappe!«

Die Flasche klirrte auf dem Nachttisch. Vincent fuhr zu seiner Braut herum.

»Habt ihr noch alle Tassen im Schrank?«

»Jetzt schrei doch nicht so rum! Das macht die Sache auch nicht besser«, schimpfte Rebecca. Ihre Stimme schwamm in Tränen.

Vincent hob die Hand. Schüttelte die Faust vor ihrem Gesicht. Ein Glück, dass das Bett zwischen ihnen stand. Sonst hätte er für nichts garantieren können.

»Du hast mir überhaupt nichts mehr zu sagen. Und du«, die Faust schwenkte hinunter zu Moritz. »Du … du … du … Verräter.«

Spucketröpfchen regneten auf Moritz hinab. Doch er wagte nicht, sie fortzuwischen. Er wagte überhaupt nicht, sich zu bewegen. Selbst das Luftholen fiel ihm schwer. Zum Glück hielt Vincent es nicht mehr aus.

»Ich brauche Luft!« Er zerrte am Kragen seines Hemdes. Der Knopf sprang ab und tanzte über den Boden.

Niemand achtete darauf. Kurz darauf fiel die Tür krachend ins Schloss.

*

Auf den Fluren der Behnisch-Klinik herrschte Hochbetrieb. Schwestern und Pfleger eilten vorbei. Ihre Gummisohlen quietschten auf dem Vinylboden. In einer Ecke steckten zwei Ärzte die Köpfe über einer Patientenakte zusammen. Irgendwo klingelte ein Telefon.

Deniz wanderte den Gang entlang. Studierte jedes Namensschild an den Türen. Kaffeeküche. Aufenthaltsraum. Verband. Patientenzimmer. Personal. Wo versteckte sich nur das Büro der Pflegedienstleitung? Er machte der Visite Platz, die ihm entgegenkam. Hüpfte hoch, um einen Blick zu erhaschen.

Da sah er sie!

Elena stand in einer Tür. Mit hoch erhobenem Zeigefinger und verkniffenem Gesicht redete sie auf einen Mann ein, seiner Kleidung nach zu schließen ein Pfleger. Deniz wollte nicht in seiner Haut stecken. Blitzschnell sah er sich um. Lief zurück zur Tür mit der Aufschrift Verband und verschwand. Eine Minute später ging er mit schmerzverzerrtem Gesicht über den Flur.

»Aaah, aua, das tut weh«, stöhnte er.

Elena sah hoch. Sein Anblick tilgte den Zorn aus ihrem Gesicht.

»Deniz! Ist etwas passiert?«

»Ja. Ja, ich fürchte schon.« Er hielt die Hand hoch. Aus einer Wunde quoll ein Tropfen Blut. »Ich war auf dem Weg zu Milan. Auf einem Flur lagen Scherben. Ich wollte nicht, dass sich jemand verletzt, deshalb habe ich sie aufgehoben.«

»Und dich geschnitten«, beendete Elena den Satz. Sie dachten nicht lange nach. »Ich sehe mir das mal an. Kommen Sie!« Sie winkte ihn in ein Behandlungszimmer und schloss die Tür. »Legen Sie sich auf bitte auf die Liege.«

»Wir waren gestern schon beim ›du‹.« Deniz lächelte sein Spitzbubengrinsen. »Erinnerst du dich nicht?«

Elena streifte Handschuhe über. Setzte sich auf einen Hocker und rollte hinüber zu ihrem Patienten.

»Gib mir deine Hand.« Sie musste ihn nicht zwei Mal bitten. Sie besprühte einen Tupfer mit Desinfektionslösung und wischte den Tropfen Blutweg. Auf den ersten Blick erkannte sie, dass die Wunde nicht von einer Scherbe stammte. »Hmm, das sieht nicht gut aus«, murmelte sie vor sich hin. »Ich fürchte, das muss ich nähen.«

»Wie bitte?« Ein Ruck, und ihre Hände waren leer. »Nicht nötig, schöne Helena. Das ist nur ein Kratzer«, versicherte Deniz hastig.

Sie lachte in sich hinein.

»Du bist ein echter Mann.« Nicht das kleinste Zucken verriet sie. »Aber wie sieht es mit deinem Tetanusschutz aus?«

»Tetanus?« Deniz hatte sich auf der Liege aufgesetzt.

Elena nickte gewichtig.

»Viele Menschen unterschätzen diese Krankheit. Dabei kann man sich selbst bei der kleinsten Verletzung, einer minimalen Schürfwunde oder dem kleinsten Kratzer mit Tetanus-Bakterien infizieren.«

Ihre Rede zeigte Wirkung. Deniz riss die Augen auf.

»Und was passiert dann?«

»Sind die Erreger erst einmal in den Körper eingedrungen, vermehren sie sich dort. Dabei geben sie ein Gift ab, das zu extremen Krämpfen der Muskulatur führt. Häufig ist zunächst die Kau-Muskulatur und später der ganze Körper betroffen. Alle Erkrankten müssen auf der Intensivstation behandelt werden.«

»Und was, wenn das nicht geht?«, fragte Deniz atemlos.

»Unbehandelt führt diese Krankheit zu einer Atemlähmung und damit zum Tod. Deshalb werde ich dich jetzt impfen.« Elena rollte hinüber zum Schrank, um alles Nötige vorzubereiten.

Blitzschnell dachte Deniz nach.

»Aber nur, wenn du danach einen Kaffee mit mir trinken gehst«, verlangte er, als sie ihn bat, den Arm freizumachen.

»Tut mir leid.« Sie versenkte die Nadel unter der Haut. »Ich habe keine Zeit.«

»Du hast Angst vor mir.« Deniz rollte den Ärmel wieder herunter. Dabei ließ er Elena nicht aus den Augen.

Sein Blick trieb ihren Blutdruck in die Höhe. Da war es wieder, das Prickeln in der Luft. Seine Aufmerksamkeit tat ihr gut. Umso mehr, als zwischen ihr und Eric am Morgen Eiszeit geherrscht hatte.

»Ja«, gestand sie leise. »Du hast recht. Ich habe wirklich ein bisschen Angst vor dir.« Sie zielte. Die Spritze landete neben dem Abfalleimer.

Mit einem Satz sprang Deniz von der Liege, ging vor Elena auf die Knie und beförderte den Müll dorthin, wo er hingehörte. Im nächsten Moment lagen seine Hände in den ihren. Sein Blick hätte einen Eisblock zum Schmelzen gebracht.

»Wovor hast du Angst?« Er schnurrte er wie ein Kater.

Dieser Blick aus den glühenden Kohleaugen! Elenas Kehle wurde eng.

»Ich bin verheiratet.« Hoffentlich bemerkte er das Zittern in ihrer Stimme nicht.

»Aber glücklich bist du nicht.«

Elena zupfte mit den Zähnen an der Unterlippe. Etwas an Deniz machte sie willenlos.

»Mein Mann und ich … Wir haben momentan Probleme.«

»Aaahh, das stimmt nicht.« Die Locken flogen hin und her. »Eine Frau wie du, aufopfernd, großzügig, mitfühlend … Du hast keine Probleme. Ich glaube, er ist derjenige, der euch das Leben schwer macht.« Er legte den Kopf schief. Eine Locke fiel ihm in die Stirn. Er blinzelte durch sie hindurch. »Wahrscheinlich ist er eifersüchtig.«

Elena stand der Mund offen vor Staunen.

»Woher weißt du das?«

Volltreffer! Am liebsten hätte Deniz die Faust in die Luft gestoßen. Was war er doch für ein Frauenkenner!

»Ich habe einfach ein bisschen nachgedacht. Und weißt du was: Du hast es nicht verdient, unglücklich zu sein.« Deniz streckte die Hand aus. Strich eine Strähne aus ihrem Gesicht. Die Berührung war kaum mehr als der Flügelschlag eines Schmetterlings. Trotzdem durchzuckte sie Elena wie ein Stromschlag. »Ich bin hier, um dich glücklich zu machen.« Sein Kopf näherte sich dem ihren.

Elena zog die Notbremse. Sie sprang auf und wandte sich ab.

»Aber … aber … das geht nicht.« Schwer atmend stand sie am Tisch.

Sie hörte Schritte. Eine Stimme dicht an ihrem Ohr.

»Was denn? Ich will dich doch nur zum Essen einladen.«

Das Blut schoss Elena in die Wangen. Was hatte sie denn gedacht?

»Ach so, ein Essen.« Hilflos lachend drehte sie sich zu ihm um. »Ein Essen ist natürlich etwas anderes.«

Deniz fühlte sich nicht nur wie ein Sieger. Er lächelte auch so.

»Wunderbar. Wann hast du heute Mittagspause? Ich koche für dich. Weißt du, wo mein Bruder wohnt?«

*

»Meine Güte. Sie sind ja schon wieder ganz schön in Fahrt!« Schwester Regine zog das Stethoskop von den Ohren und hängte es um den Hals.

»Ehrlich gesagt bin ich auch froh, wenn Sie mich gleich einschlafen lassen«, murmelte Moritz.