E-Book 1161-1210 - Patricia Vandenberg - E-Book

E-Book 1161-1210 E-Book

Patricia Vandenberg

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Beschreibung

Jenny Behnisch, die Leiterin der gleichnamigen Klinik, kann einfach nicht mehr. Sie weiß, dass nur einer berufen ist, die Klinik in Zukunft mit seinem umfassenden, exzellenten Wissen zu lenken: Dr. Daniel Norden! So kommt eine neue große Herausforderung auf den sympathischen, begnadeten Mediziner zu. Das Gute an dieser neuen Entwicklung: Dr. Nordens eigene, bestens etablierte Praxis kann ab sofort Sohn Dr. Danny Norden in Eigenregie weiterführen. Die Familie Norden startet in eine neue Epoche! E-Book 1: Weshalb bin ich hier? E-Book 2: Niemand sollte ohne Freunde sein E-Book 3: Ist es doch noch Liebe? E-Book 4: Eine Frage der Ehre E-Book 5: Der Ehrgeiz einer Mutter E-Book 6: Ein Held zum Verlieben E-Book 7: Während er um Hannes' Leben bangt … E-Book 8: Tage der Angst E-Book 9: Du hast sie nie gewollt! E-Book 10: Ein großer Korb voller Luftballons E-Book 11: Was ist mit Anita los? E-Book 12: Ein Häuschen am See E-Book 13: Gefährliches Erbe E-Book 14: Durchschaut! E-Book 15: Die Frau, die sie früher war E-Book 16: In einer Welt aus bunten Tönen E-Book 17: Wem kann Laura jetzt noch trauen? E-Book 18: Du hast deine Chance gehabt! E-Book 19: Auge um Auge, Zahn um Zahn E-Book 20: Wer einmal lügt … E-Book 21: Kekse, die nach Liebe schmecken E-Book 22: Mit dem Leben abgeschlossen? E-Book 23: Vermisst! E-Book 24: Ich bin deine Tochter! E-Book 25: Wenn Träume wahr werden E-Book 26: Dein Leben in meiner Hand E-Book 27: Mein Augenlicht bist du! E-Book 28: Doppelter Verrat! E-Book 29: Wenn jede Hoffnung schwindet E-Book 30: Entscheidung am Limit E-Book 31: Mehr als ein Versprechen E-Book 32: Ich muss dich verlassen! E-Book 33: Wenn die Wunden endlich heilen E-Book 34: Gefährliches Vergessen E-Book 35: Ist es wirklich meine Schuld? E-Book 36: Wenn der letzte Vorhang fällt E-Book 37: Eine Freundin für Dr. Berger? E-Book 38: Aber ich liebe dich doch! E-Book 39: Sehnsucht nach Liebe E-Book 40: Spiel mit dem Feuer E-Book 41: Mehr als ein Versprechen E-Book 42: Ich muss dich verlassen! E-Book 43: Wenn die Wunden endlich heilen E-Book 44: Gefährliches Vergessen E-Book 45: Ist es wirklich meine Schuld? E-Book 46: Wenn der letzte Vorhang fällt E-Book 47: Eine Freundin für Dr. Berger? E-Book 48: Aber ich liebe dich doch! E-Book 49: Sehnsucht nach Liebe E-Book 50: Spiel mit dem Feuer E-Book 51: Ein großer Chirurg E-Book 52: Tapfere kleine Isabell E-Book 53: Bitte vertrau auf meine Liebe! E-Book 54: Ich bin keine Diebin! E-Book 55: Warum liebe ich dich? E-Book 56: Ein Leben im Dunkeln? E-Book 57: Die Schuld des Vaters E-Book 58: Schwanger, verzweifelt und allein! E-Book 59: Die Fee und der Sturm E-Book 60: Ein Traum in Weiß

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Seitenzahl: 7017

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Inhalt

Weshalb bin ich hier?

Niemand sollte ohne Freunde sein

Ist es doch noch Liebe?

Eine Frage der Ehre

Der Ehrgeiz einer Mutter

Ein Held zum Verlieben

Während er um Hannes’ Leben bangt …

Tage der Angst

Du hast sie nie gewollt!

Ein großer Korb voller Luftballons

Was ist mit Anita los?

Ein Häuschen am See

Gefährliches Erbe

Durchschaut!

Die Frau, die sie früher war

In einer Welt aus bunten Tönen

Wem kann Laura jetzt noch trauen?

Du hast deine Chance gehabt!

Auge um Auge, Zahn um Zahn

Wer einmal lügt …

Kekse, die nach Liebe schmecken

Mit dem Leben abgeschlossen?

Vermisst!

Ich bin deine Tochter!

Wenn Träume wahr werden

Dein Leben in meiner Hand

Mein Augenlicht bist du!

Doppelter Verrat!

Wenn jede Hoffnung schwindet

Entscheidung am Limit

Mehr als ein Versprechen

Ich muss dich verlassen!

Wenn die Wunden endlich heilen

Gefährliches Vergessen

Ist es wirklich meine Schuld?

Wenn der letzte Vorhang fällt

Eine Freundin für Dr. Berger?

Aber ich liebe dich doch!

Sehnsucht nach Liebe

Spiel mit dem Feuer

Mehr als ein Versprechen

Ich muss dich verlassen!

Wenn die Wunden endlich heilen

Gefährliches Vergessen

Ist es wirklich meine Schuld?

Wenn der letzte Vorhang fällt

Eine Freundin für Dr. Berger?

Aber ich liebe dich doch!

Sehnsucht nach Liebe

Spiel mit dem Feuer

Ein großer Chirurg

Tapfere kleine Isabell

Bitte vertrau auf meine Liebe!

Ich bin keine Diebin!

Warum liebe ich dich?

Ein Leben im Dunkeln?

Die Schuld des Vaters

Schwanger, verzweifelt und allein!

Die Fee und der Sturm

Ein Traum in Weiß

Chefarzt Dr. Norden – Paket 2 –

E-Book 1161-1210

Patricia Vandenberg

Weshalb bin ich hier?

Vielleicht wartet jemand verzweifelt auf mich …

Roman von Patricia Vandenberg

Lisa Wagner blickte gedankenverloren aus dem Fenster. Staubgrau lag die Dämmerung des frühen Märzmorgens über dem weitläufigen, parkähnlichen Garten in einer der besseren Gegenden Münchens. Die Villa stammte aus der Zeit der letzten Jahrhundertwende. Ein reicher Tuchhändler hatte sie nach dem damaligen Geschmack für sich und seine Familie erbauen lassen. Das hieß hohe Räume, Stuck, knarrendes Parkett, Bleiglas und hier und da eine bunte Einlegearbeit aus Künstlerhand.

Der Tuchhändler hatte hier nur wenige Jahre gelebt, seine Frau war früh verstorben, eines der Kinder an Diphterie. Danach war er einsam gewesen, hatte das Haus verkauft, die Stadt verlassen. Ein arrivierter Kunstmaler hatte den Besitz erstanden, hier viele Jahre verbracht und war hoch betagt in seinem Schaukelstuhl auf der Veranda aus gesägtem Naturstein gestorben. Später war das Haus von wechselnden Regimes und Machthabern besetzt worden, abgewohnt, zerschlissen. Es hatte Jahre lang leer gestanden, war schließlich zu einem sehr moderaten Preis von Kai Wagner erstanden und grundsaniert worden.

Der begüterte Unternehmer hatte ein Schmuckkästchen daraus gemacht, umgeben von einem herrlichen Garten in englischen Stil.

Lisa hatte sich mit der Geschichte des Hauses beschäftigt, in langen, einsamen Stunden. Sie seufzte leise und fuhr sich mit einer unbewussten Geste über ihren rechten Unterarm. Ein unangenehmes Jucken hatte sich dort ausgebreitet. Sie strich über den Pulloverärmel aus feinstem Kaschmir, ohne ihn nach oben zu schieben und die bläulichen Verfärbungen zu offenbaren, die ihren Unterarm in Form von fünf Fingern überzogen.

Unvermittelt musste sie an das denken, was ihre Mutter immer gesagt hatte, wenn sie sich als Kind verletzt hatte. »Wenn’s juckt, dann heilt’s.«

Edith Hansen war eine einfache, aber kluge Frau gewesen, geboren und gestorben in Ulm, nach einem Leben mit Mann und zwei Kindern, Hausarbeit und ab und an einer Ferienreise in die Berge.

Es heilt nicht, Mama, dachte Lisa in einem Anflug von kalter Verzweiflung. Es kann nicht heilen …

Sie dachte an die wenigen Jahre mit Rolf, ihrer Jugendliebe. Rolf Schubert, der Junge von nebenan. Sie hatten sich verliebt und waren ein Pärchen gewesen, hatten am Samstagabend in der Disco Händchen gehalten und Zukunftspläne geschmiedet. Rolf hatte Mechaniker gelernt, war ganz verrück gewesen nach allem, was schnell und gefährlich war. Verliebt, verlobt, verheiratet. Und dann war Torben auf die Welt gekommen. Rolf hatte ihr hoch und heilig versprochen, endlich einen Kombi zu kaufen und sich von seinem Motorrad zu trennen. Ein letztes Mal noch eine Runde drehen, das hatte er gesagt mit Wehmut in den Augen. Eine letzte Runde im Novembernebel, bei schlechter Sicht und tückischer Straßenglätte. Und dann war Lisa Witwe geworden, mit Anfang zwanzig und einem Baby.

Lisas Eltern hatten sich gekümmert, auch Mark, ihr älterer Bruder war regelmäßig heim nach Ulm gekommen, um ihr zu helfen, ihr Leben wieder in den Griff zu kriegen. Damals, fünf Jahre war das nun her, hatte er noch in München studiert. In der Zwischenzeit war er Wasserbauingenieur, projektierte überall auf der Welt, zuletzt eine riesige Brückenanlage im westlichen Kenia. Lisa und Mark standen sich sehr nahe, noch näher jetzt, nachdem die Eltern kurz hintereinander gestorben waren und sie nur noch einander hatten. Trotzdem hatte Lisa sich einsam gefühlt in ihrer Heimatstadt, überall nur noch Erinnerungen, Vergangenheit. Sie wollte weg, irgendwo neu anfangen. Und dann hatte sie eine Stelle in der PR-Agentur Wagner in München angenommen. Der Ortswechsel hatte ihr gut getan, Torben hatte sich problemlos im neuen Kindergarten eingewöhnt. Nach und nach verblassten die Bilder ihres früheren Lebens, vernarbten die Wunden, die Schmerz und Trauer gerissen hatten. Und dann hatte Lisa sich wieder verliebt, in ihren Chef Kai Wagner. Der schlimmste Fehler ihres Lebens, wie sie nun wusste.

Kai war gut aussehend, charmant und begütert. Er besaß Geschmack, war gebildet. All das, was man sich nur wünschen konnte. Als er angefangen hatte, Lisa zu umwerben, hatte sie sich gefühlt wie im Märchen. Kai liebte sie. Er war ein wunderbarer Vater für Torben. Lisa tauschte ihr altes Durchschnittsleben gegen einen Traum, aus dem es jedoch schon sehr bald ein überaus bitteres Erwachen geben sollte.

Es fing wenige Monate nach ihrer Hochzeit mit Kleinigkeiten an. Lisa musste feststellen, dass ihr Mann kleinlich war, pingelig. Alles hatte genau so zu sein, wie er das wollte. Wenn nicht, reagierte er gereizt, auffahrend. Er bestimmte alles in ihrem Leben, jedes Detail. Sie durfte nicht mehr arbeiten, hatte zu Hause auf ihn zu warten, obwohl sie nicht mehr zu tun hatte, als Torben zur Schule zu bringen und abzuholen, seine Hausaufgaben zu kontrollieren. Die tüchtige Haushälterin Elfriede Kramer hatte alles im Griff, zudem kam mehrmals die Woche eine junge Frau für die groben Arbeiten. Lisa blieb nur, daheim auf ihren Mann zu warten, bis er, meist übellaunig und abweisend heimkam. Er ließ sie nicht mehr an dem Leben außerhalb der Villa teilhaben. Er schloss sie von allem aus. Im Gegenzug verlangte er von ihr über jede Minute ihres Tages Rechenschaft. Er entpuppt sich als Tyrann, krankhaft eifersüchtig und ein echter Kontrollfreak. Doch das war nicht alles. Lisa konnte sich noch genau an den Tag erinnern, als ihm zum ersten Mal die Hand gegen sie ausgerutscht war. Es war nur eine leichte Ohrfeige gewesen. Doch sie wusste heute, dass Kai damit eine Grenze überschritten hatte. Das Land, das dahinter lag, hieß Demütigung, Gewalt, Verzweiflung.

Lisa stöhnte gepeinigt auf bei diesem Gedanken. Sie war in den vergangenen Monaten durch die Hölle gegangen. Unzählige Male hatte sie versucht, sich von ihrem Mann zu trennen. Sie war mit Torben fortgefahren, sie war weggelaufen, einmal sogar nachts und barfuß. Doch Kai hatte sie immer wieder zurückgeholt. Er duldete keine Flucht, er betrachtete sie mittlerweile als sein Eigentum. Lisa war zutiefst verzweifelt, sie sah keinen Ausweg. Einzig mit Mark hatte sie darüber gesprochen. Er hatte sie holen wollen, aber sie mochte ihn nicht in ihr Unglück hinein ziehen. Dachte sie an Kais Anfälle von Jähzorn, die immer heftiger wurden, fürchtete sie nicht nur für ihr eigenes Leben, sondern auch für jeden anderen, den sie um Hilfe anging. Elfriede Kramer stand auf ihrer Seite. Sie war schon lange im Haus, hatte die Dramen der beiden vorangegangenen Ehen miterlebt, von denen Lisa nicht einmal etwas geahnt hatte. Die Haushälterin hatte es gewagt, ihr bei jeder Flucht zu helfen, doch sie hatten nichts erreichen können. Es war wie ein Anrennen gegen Betonmauern.

Nun hatte sich etwas geändert. Am Vortag hatte Kai Torben wegen einer Kleinigkeit geschlagen. Das hatte für Lisa den Ausschlag gegeben, sich nun nachdrücklich um Hilfe zu bemühen. Es konnte so nicht weitergehen. Schlimm genug, was sie zu erdulden hatte. Doch sie würde es nicht zulassen, dass ihr Sohn nun ebenfalls zum Opfer wurde. Etwas musste geschehen!

»Fertig, Mama!« Torbens Stimme holte Lisa aus ihren trüben Gedanken. Die schlanke Blondine mit den tiefblauen Augen wandte sich vom Fenster ab, trat neben den Küchentisch, an dem der Junge eben seine Müslischüssel gelehrt hatte, wuschelte ihm die blonden Locken und sagte mit erzwungener Fröhlichkeit: »Schön, dann zieh deine Jacke an, wir müssen allmählich los.«

Elfriede Kramer betrat die Küche, die beiden Frauen tauschten einen einvernehmlichen Blick. Die rundliche Mittfünfzigerin besaß ein mütterlich mitfühlendes Herz. Sie hatte mit Kai Wagners beiden ersten Frauen gelitten, doch für Lisa empfand sie beinahe wie für ihre eigene Tochter. Und der kleine Bub war ihr ganz fest ans Herz gewachsen.

Die Haushälterin stellte das Frühstücksgeschirr aus dem Esszimmer ab, wo Kai Wagner stets allein aß, dann strich sie Lisa mit einem aufmunternden Lächeln über den Arm.

»Das wird schon. Denken Sie daran, Ihren Bruder anzurufen. Er müsste längst wieder in Ulm sein.« Sie schaute die junge Frau ernst an. »Sie dürfen keine Zeit mehr verlieren, Lisa.«

»Ja, ich weiß«, murmelte diese mit brüchiger Stimme.

Torben wartete bereits gestiefelt und gespornt in der weitläufigen Diele. Lisa zog ihren Mantel über und folgte dem Buben, der es nun eilig hatte. Torben ging gern in die Schule, er hatte viele Freunde und lernte leicht. Alles hätte so schön sein können, wenn … Ja, wenn sie sich nicht in Kai Wagner verliebt hätte und seine Frau geworden wäre.

Lisa nahm ihren Sohn an die Hand, sie verließen das Haus, spazierten durch die ruhige Allee. Die hohen Bäume waren noch kahl, die breiten Stämme feucht vom Nacht­regen. Doch die Knospen schwollen jeden Tag ein wenig mehr, und erste Meisen hüpften zwitschernd in den Ästen herum.

»Mama, guck mal, da vorne sind Nils und Lucy! Darf ich mit denen gehen? Sie sind in meiner Klasse, weißt du?«

»Ja, ich weiß, lauf nur«, sagte sie lächelnd.

Torben strahlte sie mit seiner Zahnlücke an, die sie immer wieder daran erinnerte, dass er bald die letzten Milchzähne verloren hatte. Ein weiterer Schritt ins Leben, weg von der Zeit an Mamas Rockzipfel, voller Neugierde auf das, was hinter dem Horizont der frühen Kindheit wartete und lockte.

»Bis heute Mittag, Mama!« Weg war, wuselte auf seinen noch kurzen Beinen zu den beiden anderen ABC-Schützen, die lachend und knuffend Richtung Schultor stiefelten. Unbeschwerte Kindheit. Was für ein Hohn. Bitterkeit stieg in Lisa auf. Sie war nun dafür verantwortlich, dass er wieder so wurde und blieb. Torben hatte die Ohrfeige klaglos weggesteckt, er war ein robustes Kind, das nicht so leicht erschrak. Doch das, was am Vortag geschehen war, durfte sich nicht wiederholen. Nie mehr.

Die junge Frau hatte die Grundschule erreicht, es klingelte eben zur ersten Stunde. Lisa blieb vor dem großen, geöffneten Tor stehen, schaute zu, wie die Kinder schreiend und lachend ins Gebäude strömten. Das Trampeln ungezählter Füße, das leiser wurde und schließlich verstummte. Dann senkte sich Stille über den Platz. Im nahen Park sang ein Buchfink sein Frühlingslied.

Mit einem leisen Seufzen kehrte Lisa nach Hause zurück.

Elfriede Kramer war damit beschäftigt, das Mittagessen vorzubereiten. Lisa setzte sich an den großen Küchentisch und begann, Kartoffeln zu schälen. »Das sollen Sie doch nicht tun«, mahnte die Haushälterin nachsichtig. »Rufen Sie lieber Ihren Bruder an.«

»Ich weiß nicht, ob das richtig ist.«

»Aber, Lisa, Sie brauchen Hilfe. Mehr, als ich Ihnen bieten kann. Sie brauchen jemanden, dem Sie ganz vertrauen können.«

»Ja, ich weiß.« Sie schloss die Augen, denn sie spürte nun Tränen in sich aufsteigen. Aber sie wollte nicht weinen, nicht mehr. Sie hatte viel zu viele Tränen vergossen. »Ich habe nur Angst, dass ich Mark auch in Gefahr bringe. Kai mag meinen Bruder nicht, das wissen Sie. Und wenn er mir nun hilft …«

»Was wollen Sie sonst tun?« Elfriede Kramer blieb sachlich, auch wenn sie wusste, dass es die junge Frau große Überwindung kosten würde, ihren geliebten Bruder in diese unglückliche Geschichte hineinzuziehen. Aber es musste sein. Lisa musste überzeugt werden. Nur dann konnte dieses Drama noch einen halbwegs guten Ausgang nehmen.

»Ich weiß nicht …« Sie atmete tief durch und nickte. »Ja, Sie haben vermutlich recht. Es gibt keinen anderen Weg. Ich werde wieder nach Ulm ziehen und die Scheidung einreichen.«

»Eine weise Entscheidung. Sie brauchen dabei aber Hilfe«, erinnerte die Haushälterin sie noch einmal eindringlich. »Jemanden, der Sie schützt, wenn Ihr Mann herausfindet, wo Sie sind. Jemanden, der Ihnen nach der Trennung beisteht.«

Lisa erhob sich mit einem Seufzen. »Ich rufe Mark an.«

Elfriede Kramer nickte und schaute ihr bekümmert hinterher. Es würde schwer werden, sie fort zu lassen. Das Haus würde dann wieder leer und trostlos sein. Doch es gab keinen anderen Weg.

*

Mark Hansen saß an seinem Schreibtisch in seiner geräumigen Wohnung mit Blick auf das Ulmer Münster und war damit beschäftigt, seine Unterlagen zu ordnen. Er war am Vortag aus Nairobi zurückgekehrt und litt noch unter dem Jetlag. Er konnte nicht schlafen, musste erst mal mit der Klimaumstellung zurecht kommen. Das beste Rezept war für ihn in einer solchen Situation, seinen Schreibtisch aufzuräumen. Er war zwei Monate in Kenia gewesen und hatte nun eine Woche Urlaub. Die brauchte er nach einem solchen Projekt erfahrungsgemäß, um wieder fit zu werden und seinen Bürojob auszufüllen, bis sein Boss mit einem neuen Projekt aufkreuzte. Er hielt große Stücke auf Mark, der ganz in seinem Beruf aufging und schon viel geleistet hatte.

Projekte in Afrika, Asien und Europa wechselten sich für die Hochtief Schuhmann ab. Mark hatte quasi auf allen Kontinenten seine baulichen Spuren hinterlassen. Er war auf Dämme, Brücken und maritime Bauwerke spezialisiert und liebte seine Tätigkeit.

Sein Privatleben litt unter seinem beruflichen Engagement. Er betrachtete Lisa und Torben als seine Familie. Eine eigene zu gründen, das wollte er schon, aber dafür hatten ihm bislang schlicht Zeit und Gelegenheit gefehlt. Er war nicht der Typ, der gern in Bars ging oder zu gesellschaftlichen Anlässen. Dating-Plattformen wie Tinder waren ihm fremd und peinlich. Wenn er nach einem langen Auslandsaufenthalt heimkam, rief er Lisa an. Ihre Stimme zu hören, ihr Lachen, das bedeutete für ihn Heimat.

Als das Telefon sich nun meldete, lächelte der junge Mann mit dem gut geschnittenen Gesicht und den erstaunlich blauen Augen.

»Lisa, ich habe gerade an dich gedacht. Wie geht’s euch?«

Eine kurze Pause entstand, die bereits nicht Gutes verhieß. Dann die Stimme seiner Schwester, sehr bemüht, ruhig und gefasst zu klingen. Doch er hörte die unterdrückten Tränen darin und machte sich sofort Sorgen. »Nicht gut. Es hat sich nichts geändert seit unserem letzten Gespräch, Mark. Es ist … eher noch schlimmer geworden. Viel schlimmer.« Sie verstummte, als ihre Stimme kippte.

Der junge Mann schwieg einen Moment, dann bat er behutsam: »Erzähl mir, was passiert ist. Erzähl mir alles, bitte.«

Lisa brauchte eine Weile, um das zu tun. Immer wieder musste sie Pausen einlegen, weil die Tränen sich nicht länger zurückhalten ließen, weil die Verzweiflung sie so massiv überwältigte, dass ihr einfach die Worte fehlten, sie ihr Leid nicht mehr ausdrücken konnte. Mark kannte das bereits.

Der junge Mann litt mit seiner Schwester. Und er spürte Zorn und Empörung, wenn er an seinen Schwager dachte. Diesen eingebildeten Schnösel, der ihn wie einen Bittsteller behandelt hatte, der sich ihm gegenüber stets hochnäsig und gönnerhaft gab. Wie hätte es ihm wohl gefallen zu wissen, dass Lisas Bruder über ihn Bescheid wusste, sein kleines, dreckiges Geheimnis kannte? Seine Schwäche, seine Minderwertigkeitsgefühle, die er mit Schreien und Schlagen zu kompensieren suchte? Gerne hätte Mark ihm all das einmal ins Gesicht gesagt. Doch es ging hier nicht um seinen gekränkten Stolz oder eine persönliche Abneigung, sondern nur um Lisa, darum, ihr Leben endlich wieder in Ordnung zu bringen.

Schließlich hatte sie ihre Schilderung beendet und war erschöpft verstummt. Mark lauschte in den Hörer, auf das flache, gequälten Atmen seiner Schwester, aus dem nur Angst und kalte Verzweiflung sprachen. Seine Hand krampfte sich um das Telefon, er fühlte sich hilflos, wie stets, wenn es um Lisas Leid ging, ohnmächtig und schwach. Zu weit weg, um sie tröstend in den Arm zu nehmen, unfähig, sie vor diesem Monster, das sie geheiratet hatte, zu beschützen. Ein Gefühl, das er ebenso hasste wie Kai Wagner, der nur Leid und Unglück in das Leben seiner Schwester gebracht hatte. In einem Anflug von naiver Sehnsucht wünschte er sich in eine bessere Vergangenheit, in eine Zeit, als er ein Schulbub gewesen war und die kleine Schwester vor den großen Rüpeln bewahrt, sie getröstet hatte, wenn sie sich die Knie aufgeschürft hatte, als er einfach für sie da gewesen war. Ganz selbstverständlich. Niemals hätte er sich vorstellen können, dass sich daran je etwas ändern könnte. Aber die Zeit änderte so vieles, das Meiste nicht zum Guten. Wie sehr hatte er Lisa nach Rolfs frühem Tod ein neues Glück gegönnt. Doch es war gründlich schief gegangen. Und nun blieb ihm nichts, als ihr dabei zu helfen, die Scherben zusammenzufegen und einmal mehr die Reset-Taste zu drücken. Wenn es denn möglich war.

»Ich komme morgen nach München und hole euch ab«, sagte er schließlich entschlossen. »Das kann keinen Tag so weitergehen, Lisa. Ihr müsst weg von dort.«

»Ja, ich weiß. Aber so schnell geht es nicht. Ich muss das erst vorbereiten, einen sicheren Platz suchen, an dem wir uns treffen können. Heimlich ein paar Sachen packen. Und einen geeigneten Moment abwarten.«

»Also wann?«, hakte er geduldig nach.

»Sagen wir, übermorgen. Du kannst morgen schon nach München kommen, wenn du willst. Ich rufe dich an und sage dir, in welcher Pension wir uns treffen. Dort kannst du dich dann einmieten, damit alles reibungslos abläuft.«

»Das klingt wie eine Flucht aus Alcatraz.«

»Es ist nichts anderes.« Lisa seufzte schwer. »Ich habe schon so oft versucht wegzugehen. Kai hat mich immer zurückgeholt. Und danach wurde es dann schlimmer und schlimmer. Diesmal darf nichts schiefgehen, hörst du? Ich möchte mir nicht mal vorstellen, was danach kommen würde.«

»Keine Sorge, es wird alles klappen, verlass dich auf mich.«

»Ja, das tue ich doch schon immer. Eigentlich ist es mir nicht recht, dass ich dich in diese Sache hineinziehen muss. Aber ich sehe einfach keine andere Möglichkeit.«

»Darüber müssen wir nicht reden. Ich helfe dir gern. Und ich werde erst wieder ruhig schlafen können, wenn du in Sicherheit bist. Ich nehme morgen den Spätzug, dann hast du noch genügend Zeit, mich wegen der Pension anzurufen, okay?«

Lisa lächelte ein wenig, schloss kurz die Augen und murmelte: »Okay. Ich bin trotz allem froh, dass du herkommst.«

»Übermorgen um diese Zeit werden wir in meiner Wohnung Kaffee trinken und über unseren konspirativen Plan lachen.«

»Das glaube ich nicht. Ich weiß gar nicht mehr, wie das geht.«

»Du wirst es wieder lernen. Dann bis übermorgen, Lisa.«

»Ja, bis übermorgen.«

Mark lauschte noch einen Augenblick ihren letzten Worten nach, dann legte er das Telefon beiseite. Er blickte bekümmert vor sich hin, war nun bemüht, seine Gedanken ebenso zu ordnen wie eben noch seine Akten. Lisa und Torben konnten in seinem Gästezimmer wohnen, zumindest fürs Erste. Seine Wohnung war geräumig, es gab genügend Platz für sie alle. Er überlegte, ob er einen guten Scheidungsanwalt kannte, durchforstete sein Filoflex nach Adressen und wurde schließlich fündig. Der gute alte Simon Berger, ein Studienfreund von ihm. Er hatte Lisa sehr gemocht, war sogar ein wenig in sie verliebt gewesen. Er würde den Fall übernehmen, sie mit einer dicken Abfindung von dem Monster befreien und ihr vielleicht auch wieder neuen Lebensmut geben. Soviel Mark wusste, war er noch nicht verheiratet.

Der Ingenieur lächelte schmal. Schon seine Mutter hatte ihm immer vorgeworfen, ein Johnny Kontrolleti zu sein. Er plante zu sehr in die Zukunft und verlor sich manchmal in Details. Bei seinen Projekten war das nicht unbedingt ein Nachteil, im wahren Leben aber manchmal doch.

Wie auch immer, am nächsten Tag ging die Reise nach München. Mark musste noch einiges vorbereiten, schließlich sollte seine Rettungsaktion ohne Pannen über die Bühne gehen.

»Es wird schon werden«, sagte er, wie um sich selbst ein wenig aufzumuntern. Was sollte auch schief gehen? Noch ehe Kai Wagner ahnte, was los war, würden sie bereits im Zug nach Ulm sitzen.

Mark Hansen ahnte nicht, dass alles ganz anders kommen sollte.

Dr. Daniel Norden hat dem Kollegen Berger Urlaub verordnet, trotzdem taucht Erik Berger ständig in der Notaufnahme auf und nervt seine Vertretung, Dr. Christina Rohde. Da erteilt Daniel Norden ihm vorübergehend Hausverbot, womit Erik überhaupt nicht zurecht kommt. Ihm fällt zu Hause die Decke auf den Kopf … Um sich ein wenig zu zerstreuen, sucht er eines Abends ganz gegen seine Gewohnheiten einen Club auf. Da hat das Schicksal ihm einen bösen Streich gespielt, denn was ihm hier widerfährt, war weiß Gott nicht vorauszusehen. Erik gerät in Lebensgefahr und erfährt in dieser Situation etwas, was er nie erwartet hätte: dass jemand sein Leben für ihn riskiert!»Ja, das ist so okay. Der Kunde war zufrieden. Aber bei dem neuen Projekt musst du noch nacharbeiten, Silvia. Tut mir leid, das ist so noch längst nicht vorzeigbar.«

»Okay, Chef, wie du meinst. Schiebe ich eben mal wieder ein paar Überstunden«, sagte die junge Angestellte.

»Braves Mädchen.« Kai Wagner lächelte ihr charmant zu und kehrte dann in sein eigenes Büro zurück. Der große, sportliche Unternehmer mit dem dichten, dunklen Haar und den rehbraunen Augen blickte eine Weile aus der verspiegelten Stirnseite des Raums auf die abendliche Münchner City. Sein Büro wie die ganze PR-Agentur war hypermodern gestylt, sollte die Kundschaft gleich beim ersten Besuch beeindrucken und für ihn einnehmen. Er pflegte ein freundschaftliches Verhältnis zu all seinen Mitarbeitern, legte große Wert auf ein entspanntes, lockeres Betriebsklima. Der sympathische Strahlemann, den man einfach gern haben musste, das war sein sorgsam aufgebautes Image. Wie es dahinter aussah, ging keinen was an.

Ein kleines, hartes Lächeln legte sich um seine schmalen Lippen, als er an diesen Spruch dachte, den sein Vater bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit vom Stapel gelassen hatte.

»Wie’s drinnen aussieht, geht keinen was an, Jungchen.« Der begüterte Geschäftsmann mit den eisblauen Augen hatte eine Vorliebe für solche Lebensweisheiten gehabt. Besonders als krönende Belehrung nach einer unvorbereitet heftigen Ohrfeige oder einem gemeinen Schlag mit einem seiner unzähligen Spazierstöcke, die fast alle ein harter Knauf als Silber geziert hatte. Fein ziserliert, in ihrer wuchtigen Wirkung auf den blassen, ängstlichen Knaben aber nicht zu unterschätzen.

Hubert Wagner war ein passionierter Jäger gewesen, ein Weiberheld, wie er das gerne selbstgefällig ausgedrückt hatte. Und das Hascherl mit dem schönen Erbe, Kais Mutter, hatte nie den Mund aufgetan und die veilchenblauen Augen vor jedem Schlag verschlossen, ob dieser nun auf den Sohn oder sie selbst niedergegangen war.

Kai hatte viele Jahre die unverhältnismäßig brutalen Züchtigungen des Vaters ertragen, nicht schweigend wie die Mutter, meist weinend und dem Hohn und Spott des Alten zudem ausgesetzt. Dann war er vierzehn geworden, hoch aufgeschossen, hatte nach dem Stimmbruch angefangen, Sport zu machen. Irgendwann hatte der Alte es nicht mehr gewagt, die Hand gegen ihn zu heben. Mit seinem Bierbauch und dem vom Bluthochdruck geröteten Gesicht war er schließlich in den Fünfzigern einer koronaren Verstopfung zum Opfer gefallen, standesgemäß auf seinem Lieblingshochsitz in seinem Revier, in der Rechten noch die geladene Flinte, in der Linken den versilberten Flachmann.

Kai hatte bittere Tränen an seinem Grab geweint, und nur er hatte gewusst, dass er den Jahren nachweinte, in denen er diesen Schinder hatte ertragen müssen. Warum nur hatte seine Pumpe nicht viel früher den Geist aufgegeben?

Die Mutter war wenige Jahre später in einem Sanatorium bei Meran verstorben, dement und bar aller bösen Erinnerungen.

Dann endlich war Kai frei gewesen. Begütert, beruflich erfolgreich, blendend aussehend. Die Münchner Schickeria hatte ihm zu Füßen gelegen, die Frauen waren hinter ihm her wie der Teufel hinter der armen Seele. Er hatte viele erobert, er hatte zweimal geheiratet. Doch er hatte nichts empfunden, keine Freude, keine Liebe, keine Lust. Nur den Wunsch, etwas von den Hieben und Schmerzen weiterzugeben, die der kleine, blasse Knabe im Jagdzimmer der elterlichen Villa empfangen hatte.

»Wie’s drinnen aussieht, geht keinen was an.«

Er lachte kalt und spöttisch auf. Selbst heute noch, nach all den Jahren, wäre es ihm eine Lust gewesen, es seinem Vater heimzuzahlen, einmal nur einen von dessen glatt polierten Gehstöcken aus Erle oder Rosenholz auf seinem massigen Rücken zu zertrümmern. Doch der Alte war fort. Und die Sammlung seiner Stöcke hatte Kai im offnen Kamin seines Elternhauses zu Asche verbrannt.

Der Unternehmer kehrte an seinen Schreibtisch zurück, um noch einige Telefonate zu führen. Dabei betrachtete er das Foto von Lisa und Torben, das in einem schweren Silberrahmen aus der Zeit des Jugendstils steckte. Lisa, die süße Lisa. Ihr Blick hatte etwas in seinem Herzen berührt. Das war niemals zuvor geschehen. Er wusste nun, dass es Schmerz gewesen war, Verlust und Trauer. Sie hatte ihren ersten Mann sehr früh und plötzlich verloren. Die Tränen hatten einen Schatten auf ihrer Seele hinterlassen, einen Schmerz in ihren Augen, dem er sich spontan verwandt gefühlt hatte. Er hatte sie heiraten müssen, es war ihm einfach ein Bedürfnis gewesen.

Als die hübsche kleine Sekretärin und ihr pflegeleichter Sohn in sein Haus gekommen waren, da hatte er tief im Herzen in beinahe naiver Inbrunst darauf gewartet, dass sich etwas ändern würde. Dass er endlich in der Lage sein würde, zu fühlen, zu empfinden, so wie alle anderen. Dass Lisas zarte, schmale Hände den Eispanzer schmelzen würden, der sein Herz umgab.

Aber das heimlich ersehnte Wunder war nicht geschehen. Kai hatte erkennen müssen, dass hinter dem Eispanzer nichts war, nur weiteres Eis, Kälte und Gefühllosigkeit. Sein Herz war lange gestorben, tot und gefühllos lag es wie ein Stein in seiner Brust. Diese Erkenntnis hatte wieder seinen alten Freund geweckt; den Jähzorn.

Vor Jahren, kurz nach seiner ersten Scheidung, hatte er sich in Therapie begeben, um diesen unkontrollierbaren, weißglühenden Kerl endlich aus seinem Kopf zu verbannen. Er hatte über Monate in seiner Kindheit gewühlt, mit beiden Armen tief in Herzblut und Innereien, ohne aber etwas zu erreichen. Der Therapeut war der Meinung gewesen, dass er zu schnell aufgab, doch Kai hatte schließlich keinen Sinn mehr in dieser ergebnislosen Selbstzerfleischung gesehen. Er hatte sich damit abgefunden, dass der andere er war, dass er zu ihm gehörte. Geboren aus dem Schmerz der frühen Kindheit, war er mit seinem Denken und Fühlen untrennbar verwachsen. Es gab keinen Ausweg, keine Heilung. Schnitt man die Geschwulst weg, blieb nichts übrig. Das war die nackte Wahrheit.

Und als auch Lisa versagt hatte, ihn enttäuscht, zu schnell zurückgezuckt war, nachdem sie einen kleinen Blick hinter die Fassade geworfen hatte, da musste er dem alten Freund die Zügel lassen, um wieder klar denken zu können.

Die Angst in Lisas Augen, der Schmerz, die Verzweiflung, sie waren anders als alles zuvor. Sie verschafften ihm keine Befriedigung, kein Gefühl der Macht und Überlegenheit. Sie schmerzten ihn in zunehmendem Maße. Je härter er zuschlug, desto tiefer verletzte er sich selbst. Es gab keinen Ausweg. Er liebte Lisa, aber er würde diese Liebe niemals leben können.

»Wie’s drinnen aussieht …«

Wenig später verließ Kai Wagner seine Firma, um nach Hause zu fahren. Er stoppte seinen dunkelblauen Jaguar Roadster vor einer kleinen Bar am Stachus, um schnell noch zwei Whisky zu kippen. Der Alkohol entspannte ihn ein wenig, brachte das Mühlrad in seinem Kopf zwar nicht zum Stehen, verlangsamte seine Umdrehungen aber zumindest.

Als er dann darauf wartete, dass das übermannshohe Tor aus kunstvoll geschmiedetem Eisen vor seiner Auffahrt lautlos aufschwang, spürte er bereits wieder, wie sein weißglühender Freund sich regte. Ärger stieg in ihm auf. Er biss die Zähne zusammen, gab etwas zu heftig Gas, was der schwere Motor mit einem unangenehm hohen Kreischen kommentierte. Plötzlich sah er seinen Vater in der Auffahrt stehen, im grünen Loden, beide Arme in die Hüften gestemmt, und den Mund zu einem hähmischen, bösen Grinsen verzogen.

Kai gab Gas und musste dann vor den Garagen eine Vollbremsung hinlegen. Er atmete tief durch, doch sein Herz schlug viel zu schnell und der Zorn, der ihn erfüllte, wurde zu einem spitzen, schmerzhaften Kratzen, so als ziehe jemand in seinem Hals eine Nadel hin und her. Er knallte die Autotür zu, dass es sich anhörte wie ein Schuss. Dann stampfte er mit geballten Fäusten ins Haus. Und in diesem Moment hätte man ihn tatsächlich mit seinem Vater verwechseln können.

*

Mark Hansen nahm den Intercity, der am nächsten Abend kurz nach zehn in Ulm abfuhr. Er hatte vor zwei Stunden noch einmal mit seiner Schwester telefoniert und wusste nun, dass sie sich in einer kleinen Pension am Stachus treffen würden. Pension Mecking. Er hatte den Namen und die Adresse in sein Filoflex geschrieben, um sie ja nicht zu vergessen. Während der Zug durch den Frühlingsabend rauschte, dachte Mark an ein anderes Telefonat, das er noch am Vorabend mit seinem Studienfreund Simon Berger geführt hatte. Simon war erfreut gewesen, von ihm zu hören, sie hatten sich eine ganze Weile nett unterhalten, bis Mark auf den eigentlichen Grund seines Anrufs zu sprechen kam. Er kannte Simon gut genug, um ganz ehrlich zu ihm zu sein, und der hatte sich sehr betroffen gezeigt.

»Klar übernehme ich den Fall«, war seine spontane Reaktion gewesen. »Aber ich dachte, deine Schwester wäre mit diesem KFZ-Fritzen verheiratet, wie war doch gleich sein Name …«

»Rolf Schubert. Nein, der ist vor ein paar Jahren mit dem Motorrad tödlich verunglückt. Lisa ist nach München gezogen, um neu anzufangen. Sie hat zuerst als Sekretärin für Wagner gearbeitet und sich dann in ihn verliebt. Er ist so ein Frauentyp, weißt du, kann jeder den Kopf verdrehen. Es dauert, bis sie hinter seine Fassade sehen können. Und dann ist es meist schon zu spät, um unbeschadet da heraus zu kommen. Für ihn war es bereits die dritte Ehe. Lisa wusste nichts davon, auch nicht, dass er seine beiden ersten Frauen krankenhausreif geprügelt hat, bevor sie die Scheidung einreichten.«

»So ein Schwein. Ich kenne solche Fälle, leider kommt das gar nicht mal selten vor. Und ich kann dir ver­sichern, dass es einem keine wirkliche Befriedigung verschafft, diesen ›Herren‹ ihr Geld abzunehmen. Eine Abfindung ist in einem solchen Fall nichts weiter als ein Trostpflaster.«

»Das klingt, als würdest du sie gerne zusammenschlagen.«

Simon hatte zwar gelacht, doch ein wenig Befangenheit hatte darin durchaus mitgeschwungen. Mark konnte ihn verstehen. Und er fand es gut, dass der Freund sich emotional nicht abkapselte, sondern Mitleid mit seinen Klientinnen zeigte. Das machte ihn vermutlich zu einem guten Anwalt und zu einem sympathischen Menschen. Was Lisas Scheidung betraf, erschien dem jungen Ingenieur also alles in trockenen Tüchern. Simon würde den Fall übernehmen, und schon bald war Kai Wagner für Lisa nur noch eine schlechte Erinnerung …

Die Fahrt nach München verlief entspannt. Kurz nach elf Uhr abends kam der junge Ingenieur am Münchner Hauptbahnhof an. Immer wenn er hierher reiste, erinnerte ihn das an seine Studienzeit. Es waren angenehme Erinnerungen. Mark kaufte sich an einem Kiosk noch eine Zeitung und strebte dann zum Ausgang. Er wollte ein Taxi zur Pension Mecking nehmen, wo er bereits vorbestellt hatte. Schließlich durfte er nichts dem Zufall überlassen, das war nun wichtiger denn je.

Ganz in Gedanken versunken passierte er die langen Wände mit den Schließfächern und sah bereits den Ausgang vor sich, als er unvermittelt Schritte direkt hinter sich hörte. Da erst wurde ihm bewusst, dass um diese Zeit hier nicht mehr viel Betrieb herrschte. Obwohl alles hell erleuchtet war, man sich sicher fühlte, war der große Komplex doch fast menschenleer. Die wenigen Mitreisenden, die mit ihm zusammen ausgestiegen waren, hatten sich rasch verlaufen. Mark stoppte und drehte sich irritiert herum. Unvermittelt sah er sich einer Gestalt gegenüber, die sehr nah vor ihm stand. Er sah ein schmutziges, dunkelgraues Hoody, dessen Kapuze tief in die Stirn gezogen worden war. Ausgeleierte Jogginghosen und auffällige Sneaker, orange und gelb abgesetzt mit einer dicken, weißen Sohle. Er roch ein seltsames Gemisch aus Alkohol, altem Schweiß und noch etwas, das er nicht näher bestimmen konnte. Der Kerl blies ihm seine Fahne ins Gesicht, öffnete den Mund, in dem einige Zähne fehlten, und bellte: »Geld her, Alter!« Dann machte er noch einen Schritt auf Mark zu, der sah, dass der andere etwas in der Hand hielt, das er aber nicht genau erkennen konnte. Es war länglich, hatte die Farbe von Eisen und eine stumpfe Spitze. Der Angreifer hielt es Mark unters Kinn und wiederholte seine Forderung.

Der junge Ingenieur ließ sich nicht so leicht einschüchtern. Er war kein ängstlicher Mensch und konnte sich verteidigen. »Verschwinde!«, war alles, was er erwiderte, dann wandte er sich zum Gehen. Doch der Angreifer war nicht allein gekommen.

Im nächsten Moment sah Mark sich zwei weiteren Kerlen gegenüber. Einer trug nur ein weißes, geripptes Unterhemd und war opulent tätowiert. Sein Gesicht verschwand hinter einer Skimaske. Der Dritte war klein und dick. Sein rötliches Haar stand fettig von seinem runden Kopf ab. Er trug eine billige Sonnenbrille und erinnerte Mark an Schweinchen Dick. Doch das Ganze war nicht zum Lachen, das schien klar.

»Los, rück die Penunze raus, Alter, oder du wirst es bereuen«, forderte der Tätowierte rüde.

»Ich gebe euch was, aber bleibt ruhig!«, erwiderte Mark.

Der kleine Dicke kicherte. »Spendabel, was?«

Als Mark nach seiner Brieftasche griff, traf ihn ein brachialer Schlag auf den Hinterkopf. Er hatte das Gefühl, als müsse sein Schädel bersten, meinte, ein hässliches Knirschen zu hören, und sah zugleich tausend Sterne vor seinen Augen explodieren. Kaum eine Sekunde später verglühten sie im Schwarz einer Neumondnacht. Der junge Ingenieur ging zu Boden. Die drei Kerle machten sich wie Aasgeier über seine Sachen her, stahlen alles von Wert und waren kaum zwei Minuten später wie vom Erdboden verschluckt.

Es dauerte noch gut eine halbe Stunde, bis zwei Beamte der Bahnhofspolizei den Bewusstlosen auf ihrer Streife fanden. »Sieht übel aus«, sagte einer von ihnen, der einen Notarzt und die Kollegen von der Kriminalpolizei alarmierte. »Raubüberfall. Der Mann hat nichts mehr bei sich, keine Papiere, kein Geld.«

Sein Kollege hatte Mark vorsichtig in eine entlastende Lage gebracht und erhob sich nun. »Er lebt noch. Aber der Puls ist sehr schwach. Hoffentlich kommt der Notarzt bald.«

*

»Sie sollten jetzt gleich los fahren.« Elfriede Kramer schaute Lisa beklommen an. Sie dachte an den Streit, den ihr Mann am Vorabend wegen einer Nichtigkeit vom Zaun gebrochen hatte. Lisa war sehr bemüht gewesen, ruhig zu bleiben, Kai nicht unnötig zu provozieren. Doch er fand immer einen Grund, sie zu beschimpfen, ihr absurde Vorwürfe zu machen und sie mit seiner sinnlosen Eifersucht zu quälen. Schließlich hatte der Abend mit einem blauen Auge für Lisa geendet. Torben war weinend und verschreckt in seinem Zimmer verschwunden und bislang nicht mehr heraus gekommen. Der Junge hatte den ganzen Tag nichts gegessen, war nicht zur Schule gegangen. Elfriede Kramer ahnte, dass dies die letzte Gelegenheit war, Lisa und ihren Buben aus dem Haus zu schaffen. Wer konnte sagen, was als Nächstes kam?

»Ich habe mit meinem Bruder ausgemacht, dass wir uns erst morgen in der Pension treffen. Vielleicht ist er noch gar nicht dort«, murmelte Lisa bekümmert. Sie war einmal mehr völlig eingeschüchtert und wagte es kaum, einen Fuß vor das Haus zu setzen. Obwohl nun alles mit Mark abgesprochen war, fühlte Lisa sich unsicher und voller Angst.

»Das ist egal. Sie müssen hier raus!«, beharrte Elfriede.

Lisa seufzte schwer. »Ja, Sie haben recht. Kai kommt erst später, da ist ein Empfang im Interconti, an dem er teilnimmt. Es ist wohl die beste Möglichkeit, die sich uns bietet.«

»Die beste und vielleicht die einzige Möglichkeit. Ich hole Torben und rufe Ihnen ein Taxi.«

Lisa atmete tief durch und bemühte sich, halbwegs ruhig zu bleiben, was alles andere als einfach war. Der vergangene Abend schwebte wie eine dunkle Wolke über ihr, die Erinnerung daran machte ihr noch immer so sehr zu schaffen, dass ihr die Tränen kamen. Sie konnte den Ausdruck in Kais Augen nicht vergessen, als er sie geschlagen hatte. Dunkel waren sie gewesen, fast schwarz vor Zorn und unbändiger Wut. Sie fragte sich, was mit ihrem Mann los war. Hatte er den Verstand verloren? War er einer jener Irren, die nach außen eine nette und freundliche Maske trugen, um in der Nacht heimlich als Dunkelmänner ihr Unwesen zu treiben? Sie schob diesen Gedanken entsetzt von sich, während sie ins Schlafzimmer eilte, um ihre bereit gestellten Koffer zu holen. Doch so sehr sie sich auch gegen diese Vorstellung wehrte, sie nicht wahr haben wollte, Tatsache blieb, dass mit Kai etwas nicht stimmte. Diese Wut war nicht normal. Sie kam scheinbar aus dem Nichts, ohne Sinn und Grund. Und sie entlud sich in immer schlimmeren Gewaltexzessen.

Elfriede Kramer hatte recht; sie musste dieses Haus so schnell wie möglich verlassen. Alles war besser als das. Und wenn sie in einem Schlafsack an der Isar hätte übernachten müssen …

Wenige Minuten später kam das Taxi.

Die Haushälterin half Lisa dabei, ihre Koffer einzuladen. Torben stand blass und stumm neben dem Wagen und rührte sich nicht.

Erst als seine Mutter davon sprach, dass sie Onkel Mark besuchen würden, kam wieder ein wenig Leben in den Jungen.

»Fahren wir wirklich nach Ulm, Mama? Heute Abend?«

»Wir fahren morgen nach Ulm, jetzt erst mal in ein Hotel. Du wirst sehen, das wird lustig«, versicherte sie ihm mit erzwungener Ruhe. »Steig ein, mein Schatz, wir müssen los.«

»Und ich muss morgen nicht in die Schule? Ich habe ja schon heute gefehlt …«

»Ich habe dir ein paar Tage frei genommen«, schwindelte Lisa.

Nun war Torben zufrieden und kletterte ohne weitere Widerworte auf die Rückbank des Taxis.

»Ich danke Ihnen, Elfriede. Für alles.« Lisa umarmte die Haushälterin mit feuchten Augen, und auch diese weinte leise.

»Geben Sie gut auf sich und den Jungen acht. Alles Gute!«

Schon fuhr das Taxi ab. Auch wenn den beiden so verschiedenen Frauen der Abschied schwer fiel, durften sie ihn doch nicht unnötig in die Länge ziehen. Erst wenn Lisa und Torben vor Kai Wagner in Sicherheit waren, konnten sie alle aufatmen.

Elfriede Kramer kehrte ins Haus zurück und räumte noch ein wenig auf, bevor sie zu Bett ging. Es war noch nicht spät, doch sie brauchte ihren Schlaf. Der nächste Tag würde ganz sicher nicht leicht werden, auch für sie nicht.

*

Die Pension Mecking am Stachus war ein schmalbrüstiges, unauffälliges Haus in einer ebenso unauffälligen Seitenstraße. Lisa hatte sie eher durch Zufall entdeckt und war gleich sicher gewesen, dass sie sich für ihre Flucht eignete. Trotzdem achtete sie darauf, keine direkten Spuren zu hinterlassen. Sie ließ das Taxi zwei Straßen früher anhalten und schleppte ihre Koffer dann selbst zur Pension. Außer Atem und bis aufs Äußerste angespannt erreichte sie ihr Ziel.

Die gepflegte Dame in mittleren Jahren hinter der Rezeption begrüßte sie freundlich. Lisa meldete sich unter ihrem Mädchennamen an. Alles ging glatt. Als der Hausbursche ihre Koffer aufs Zimmer brachte, fragte sie nach ihrem Bruder.

»Herr Hansen hat ein Zimmer vorbestellt«, gab die Dame freundlich Auskunft.

»Er ist noch nicht hier? Ich dachte…«

»Bis jetzt ist er nicht angekommen. Soll ich Ihnen vielleicht Bescheid geben, wenn er eincheckt?«

Lisa bemerkte den leicht ironischen Unterton in ihrer Stimme und fühlte sich bemüßigt, richtig zu stellen: »Herr Hansen ist mein Bruder. Es geht um eine Familienangelegenheit.«

»Ah, verstehe. Möchten Sie morgen geweckt werden?«

»Nicht nötig, vielen Dank.« Sie gab ein großzügiges Trinkgeld und hoffte, sich damit auch das Schweigen der Dame erkauft zu haben. Zumindest so lange, bis Mark sie am nächsten Morgen abholte. Dass er noch nicht angekommen war, beunruhigte Lisa. Sie kannte Mark gut genug, um zu wissen, dass er stets Wort hielt. Er hatte ihr gesagt, dass er an diesem Abend bereits nach München kommen und in der Pension einchecken wolle. Wieso war er noch nicht hier? Sie beschloss, ihn später anzurufen, um zu erfahren, was los war. Vermutlich war er einfach aufgehalten worden, und es gab einen harmlosen Grund dafür.

Torben schaute sich im Zimmer neugierig um und war viel zu munter, um schlafen zu gehen. Lisa brauchte eine Weile, bis sie ihn so weit beruhigt hatte, dass ihm die Augen zufielen. Immerhin war seine Schlafenszeit längst überschritten.

Als der Junge endlich im Bett lag, trat sie kurz auf den Gang, um Mark anzurufen, erreichte aber nur die Mailbox. Sie hinterließ eine Nachricht und kehrte dann gleich ins Zimmer zurück, denn sie wollte kein Aufsehen erregen oder die Aufmerksamkeit eines neugierigen Gastes auf sich lenken, der sich später an sie erinnerte. Denn dass Kai die Pension über kurz oder lang ausfindig machen würde, daran bestand für Lisa nicht der geringste Zweifel …

In dieser Nacht fand die junge Frau keinen Schlaf. Sie wanderte voller Angst und Unruhe in dem kleinen Zimmer auf und ab, lauschte auf Torbens gleichmäßige Atemzüge und wünschte sich nur, dass Mark endlich bei ihr wäre.

Als es hell wurde, hielt es Lisa nicht länger in dem Zimmer, das ihr zunehmend wie eine Falle vorkam. Sie ging hinüber ins Badezimmer und versuchte noch einmal, ihren Bruder anzurufen. Wieder nur die Mailbox. Nun war sie überzeugt, dass etwas nicht stimmte. Panik fiel sie an wie ein wildes Tier. Tapfer kämpfte sie das Gefühl nieder, bemühte sich krampfhaft, wieder ruhig zu werden, nicht die Nerven zu verlieren. Was sollte sie tun?

Es gab niemanden, den sie anrufen, niemanden, an den sie sich wenden konnte. Sobald Kai erfuhr, dass sie ihn verlassen hatte, durfte sie auch zu Elfriede Kramer keinen Kontakt mehr aufnehmen. Was sollte sie nur tun?

Das Einzige, was ihr blieb, war abzuwarten. Mark würde kommen, darauf baute sie fest. Er hatte sie noch nie im Stich gelassen. Sie musste nur die Nerven behalten und abwarten.

Als Lisa schließlich in ihr Zimmer zurückkehrte, saß Torben wach im Bett und schaute sie unsicher an. »Wo sind wir, Mama? Was machen wir hier? Muss ich denn nicht zur Schule?«, quengelte er unleidlich. »Hier gefällt es mir gar nicht …«

»Wir fahren nach Ulm, Onkel Mark besuchen. Das habe ich dir doch gestern schon erklärt. Du hast ein paar Tage schulfrei. Freust du dich denn gar nicht darüber?«

»Ich wäre lieber zu Hause, da ist es viel schöner.«

»Aber bei Onkel Mark ist es auch schön. Und du magst ihn doch, nicht wahr?«

»Ja, er ist nett.«

Torben blinzelte scheu zu seiner Mutter auf, die sich neben ihn aufs Bett gesetzt hatte. »Warum hat Papa das gemacht? Tut es sehr weh?«, fragte er leise.

»Wir haben uns gestritten, so was kommt vor. Aber damit ist nun Schluss, ein für alle Mal, das verspreche ich dir.«

»Wirklich? Wird Papa dich nie wieder hauen?«

»Er wird es nicht können, weil wir nicht mehr zu ihm zurück gehen. Mama und Papa lassen sich scheiden, Torben. Jetzt gibt es nur noch uns beide. Wir halten fest zusammen, dann wird alles gut. Und wir lassen nicht mehr zu, dass uns einer schlecht behandelt. Nie wieder.«

Torben schwieg eine Weile, dann stellte er fest: »Das ist gut. Wir halten fest zusammen!«

»Ja, das tun wir.« Lisa drückte ihren Sohn und küsste ihn auf die Stirn, dann bestimmte sie: »Jetzt wird aber aufgestanden, dann frühstücken wir. Und bald wird Onkel Mark uns abholen.«

»Au fein!« Der Bub war nun wieder ganz munter, hüpfte aus dem Bett und ließ sich sogar ohne Widerrede waschen. Beim Frühstück in dem kleinen Speisesaal der Pension plapperte Torben dann unbekümmert und schien sich schon sehr auf das Wiedersehen mit seinem Onkel zu freuen.

Lisa hingegen blieb einsilbig. Immer wieder wanderte ihr Blick über die wenigen Tische in dem nicht sonderlich großen Raum. Sie maß jeden anderen Gast mit Argusaugen, immer die Frage im Hinterkopf, ob sie schon entdeckt worden waren. Sie wusste natürlich, dass das unmöglich war. Doch das Martyrium, das sie in ihrer Ehe durchlitten hatte, ließ Kai in ihrem Kopf zu einer Art Pate werden, der wie ein großer, dunkler Schatten über der ganzen Stadt lag, der alles wusste und kontrollierte.

Sie versuchte mit aller Kraft, ihre Ängste in den Griff zu bekommen, um keinen Fehler zu begehen, der ihre Flucht im letzten Moment vereitelte. Um nichts in der Welt wollte sie noch einmal einen Fuß in die alte Villa setzen.

Doch je länger sie mit Torben hierblieb, umso größer wurde die Gefahr, dass Kai sie letztendlich doch wieder ausfindig machte und zurückholte. Und dass er sie bestrafte. Ihr Herz klopfte angstvoll bei diesem Gedanken. Das durfte einfach nicht geschehen! Nicht dieses Mal! Wenn nur Mark endlich eintraf. Wo mochte er bloß sein?

*

»Monitor anschließen, Blutdruck, EKG, Sättigung. Wir brauchen in den nächsten zehn Minuten eine Schädel- und Wirbelsäulen CT, geben Sie oben Bescheid, presto.« Dr. Erik Berger, Leiter der Notfallambulanz in der Münchner Behnisch-Klinik, untersuchte die Kopfwunde des Bewusstlosen, der gerade gebracht worden war. Schwester Anna ging ihm zur Hand, reichte ihm geduldig und präzise jedes Instrument, das er mit kurzen, bellenden Befehlen verlangte. Als ihre Kollegin Schwester Inga sagte: »Dr. Heinrich ist noch im Haus. Sollen wir …«, reagierte er unwirsch.

»Jetzt nicht.« Dr. Bergers eisblaue Augen streiften sie mit einem unwilligen Blick, der zugleich Zurechtweisung war. »Verdammt noch mal …«

Schwester Inga biss sich auf die Lippen. Sie konnte es nicht leiden, wenn ihr Chef verbal entgleiste. Das war bei ihm leider Dauerzustand und begleitete fast immer seine ansonsten brillante Arbeit. Angesichts der späten Stunde und der Tatsache, dass der Notfallmediziner bereits eine Doppelschicht schob, weil die Unfälle in dieser Nacht einfach kein Ende zu nehmen schienen, verkniff sie sich aber die sonst übliche Zurechtweisung.

Dr. Berger hatte es wohl bemerkt. »Keine Abmahnung?«, hakte er nach, während er die stark blutende Platzwunde an Mark Hansens Hinterkopf behandelte. »Sie lassen nach. Müde?«

»Ich hole den Patienten ab, wenn Sie so weit sind«, war alles, was sie erwiderte. Es waren nicht nur Dr. Bergers Kraftausdrücke, die Schwester Inga gegen den Strich gingen. Sie mochte es auch nicht, wenn er locker daher redete, während er einen Patienten in kritischem Zustand versorgte. Und der junge Mann auf der Behandlungsliege war in sehr kritischem Zustand.

»Blutdruck 80 zu 40, sackt ab«, mahnte Schwester Anna. »Die Sättigung liegt unter vierzig. EKG-Linien alle unter Niveau. Der Blutverlust war sehr hoch.«

»Ich werde den Verdacht nicht los, dass er noch mehr abbekommen hat«, murmelte Dr. Berger konzentriert. »Der Kollege Heinrich soll ihn mal ganz durchleuchten. Ich will nichts übersehen. Die subkutane Einblutung ist erheblich. Da könnte sich ein Ödem bilden, das müssen wir im Auge behalten.«

Wenig später war Mark Hansen so weit stabilisiert, dass Schwester Inga ihn hinauf zur Radiologie bringen konnte. Noch immer war der Verletzte ohne Bewusstsein. Man kannte weder seinen Namen noch wusste jemand, was ihm zugestoßen war. Außer dem, was rein äußerlich sichtbar war und darauf hinwies, dass er zum Opfer eines Überfalls geworden war. Was sich in dieser Nacht tatsächlich abgespielt hatte, das sollte allerdings noch eine ganze Weile im Unklaren bleiben …

Dr. Nils Heinrich, der Chef der Radiologie, untersuchte Mark Hansen gründlich. Bald stand fest, dass er keine inneren Verletzungen hatte, sein schlechter Zustand einzig auf das Schädel-Hirn-Trauma zurückzuführen war, das der Schlag ausgelöst hatte. Dr. Heinrich riet dazu, ihn auf die Intensivstation zu verlegen, denn die Einblutung unter der Schädelhaut, von der Dr. Berger gesprochen hatte, war schwer zu stillen.

So wurde der junge Ingenieur noch in dieser Nacht auf Intensiv verlegt, wo sein Zustand permanent überwacht werden konnte. Bis zum Morgen kam Mark nicht zu sich. ­Seine Vitalwerte stabilisierten sich, doch sein Allgemeinzustand blieb schlecht.

Dr. Daniel Norden, der Chefarzt und Leiter der Behnisch-Klinik, erfuhr am nächsten Morgen von dem Fall. Er besprach die Details bei der täglichen Visite mit dem Intensivmediziner Dr. Schulz.

»Diese Einblutung macht uns Sorgen«, sagte er zu Dr. Norden und wies auf eine Stelle des Monitors, die dunkel aussah. Es handelte sich um die CT-Aufnahmen, die Dr. Berger noch in der vorigen Nacht angefertigt hatte. Dr. Norden betrachtete sie aufmerksam, dann sagte er: »Das sieht nach einem Ödem aus.«

»Wir haben die Blutung gestoppt, aber der Pfopf ist ziemlich groß. Bei dem jetzigen Zustand des Patienten verbietet sich eigentlich eine operative Entfernung.«

»Warten wir, bis die Schwellung abklingt.«

Dr. Schulz nickte. »Das scheint mir momentan auch die einzige Option zu sein.«

»Sagen Sie mir Bescheid, wenn der Patient zu sich kommt«, bat der Chefarzt noch, dann ging es weiter zum nächsten Bett.

Dr. Daniel Norden nahm sich für jeden Patienten die Zeit, die nötig war, um den Fall ganz zu erfassen und seiner Pflicht als Mediziner gerecht zu werden. Er hatte dadurch schon oft den Unmut seiner Kollegen auf sich gezogen, doch das nahm er in Kauf. Er war Arzt mit Leib und Seele und engagierte sich immer voll und ganz. Nur so sah er in seinem anspruchsvollen und sehr anstrengenden Beruf einen wirklichen Sinn.

Als der Chefarzt der Behnisch-Klinik eine ganze Weile später in sein Büro zurückkehrte, warteten dort zwei Besucher auf ihn. Katja Baumann, Dr. Nordens Assistentin, hatte sie bereits mit Kaffee versorgt und sagte nun halblaut zu ihrem Chef: »Kripo. Es geht um den Mann, der letzte Nacht im Hauptbahnhof ausgeraubt worden ist.«

Dr. Norden nickte, wandte sich an die Besucher und drückte beiden die Hand. »Kommen Sie in mein Büro.«

»Kommissar Müller, das ist mein Kollege Schindler«, stellte der untersetzte Mann in Jeans und Lederjacke sich vor.

»Setzen Sie sich«, bat Dr. Norden.

Der Jüngere der beiden, ein sportlicher Typ mit dichtem, blondem Haar und Sommersprossen, hatte seinen Kaffee mitgebracht und suchte nun nach einer Möglichkeit, die Tasse abzustellen. Etwas verschämt schob er sie auf die äußerste Kante von Dr. Nordens Schreibtisch, der wissen wollte: »Was kann ich für Sie tun, meine Herren?«

»Wir haben keine Anhaltspunkte, was den Überfall angeht«, gab Kommissar Müller zu. »Der Geschädigte hatte keine Papiere mehr, nichts, was auf seine Identität schließen lässt. Die Überwachungsbänder aus dem Bahnhofsgebäude bringen uns da auch nicht weiter. Können Sie uns sagen, wie sein Zustand ist, Herr Doktor? Eventuell, wann wir mit ihm reden dürfen?«

»Er liegt auf der Intensivstation und ist noch ohne Bewusstsein. Ich kann leider keine Prognose abgeben. Es tut mir leid, aber momentan kann ich Ihnen nicht weiterhelfen.«

Die Polizisten wechselten einen betretenen Blick, dann erhob der Kommissar sich und bat: »Geben Sie uns Bescheid, wenn der Mann vernehmungsfähig ist. Auf dem Video sind die Angreifer nicht zu identifizieren. Wir sind auf seine Aussage angewiesen, er hat sie ja vermutlich genau gesehen.«

»Es waren demnach mehrere?«

»Ja, drei, wie es aussieht, junge Kerle. Sie sind sehr brutal vorgegangen, wir schätzen, dass sie der Drogenszene zuzurechnen sind. Je eher wir sie festnehmen können, umso besser. Solche Typen leben von Beschaffungskriminalität. Es wird vermutlich nicht lange dauern, bis sie wieder zuschlagen.«

»Ich melde mich bei Ihnen«, versprach Dr. Norden, dann verabschiedeten die Polizisten sich.

Katja Baumann brachte frischen Kaffee und die Post. »Schlimm, nicht wahr? Manchmal kommt es mir so vor, als ob man nirgends mehr seines Lebens sicher wäre.«

Daniel Norden seufzte. Er warf einen Blick auf das Foto seiner Zwillinge, das neben dem seiner Frau Fee auf seinem Schreibtisch stand. Sie waren eben neunzehn geworden, wohl geratene Abiturienten mit vielerlei Plänen und Ideen im Kopf. Mit ein bisschen weniger Glück hätte alles auch ganz anders sein können. Er dankte dem Schicksal im Stillen, dass es nicht so war. »Es ist nicht schlecht, wenn man ab und zu an die harte Realität erinnert wird«, sinnierte er, während er die Post überflog. »Es gibt einfach zu viele soziale Schieflagen in unserer Gesellschaft. Ein Grund mehr, nicht nur die medizinischen Aspekte eines solchen Falles zu sehen.«

*

»Wo ist meine Frau?« Kai Wagner stand in der offenen Tür zur Küche, wo Elfriede Kramer gerade damit beschäftigt war, sein Frühstück zu richten. Die Haushälterin warf ihm einen kurzen Blick zu und fand ihre Vermutung bestätigt. Sie schob das Tablett mit dem Frühstück beiseite und nahm eine Packung Aspirin aus einem der Hängeschränke. Der Unternehmer war weiß wie die Wand, er hatte es am gestrigen Abend wieder einmal übertrieben.

Seit er mit Lisa verheiratet war, hatte er sich seltener solche intensiven Absacker gegönnt. Früher war das häufig vorgekommen. Kein Wochenende, an dem Kai Wagner nicht zumindest einen Vollrausch gehabt hatte.

Elfriede Kramer füllte ein Glas mit Wasser und stellte es auf den Küchentisch. Daneben legte sie die Tabletten. »Sie sollten wieder ins Bett gehen«, riet sie ihm mit ruhiger Stimme. »Sie sehen aus wie der Tod.«

»Sie haben meine Frage nicht beantwortet. Ich bin nicht blind, ich weiß, was los ist. Lisa hat ihre Sachen und den Jungen mitgenommen. Wo ist sie?«

»Ich weiß es nicht, sie hat es mir nicht gesagt.«

»Das glauben Sie doch selbst nicht.« Er warf drei Tabletten ein und spülte sie mit dem Glas Wasser herunter. »Bei dem ewigen Getue zwischen Ihnen soll Lisa Sie nicht eingeweiht haben?«

»Ich weiß nur, dass sie sehr unglücklich gewesen ist und weg wollte.« Die Haushälterin schnaubte verächtlich. »Was nicht schwer zu verstehen ist, nicht wahr? Welche Frau läuft schon gerne mit einem Veilchen herum? Nicht sehr schmeichelnd.«

»Lassen Sie das dumme Gerede. Sie wissen genau, dass Lisa es verdient hatte. Es war ihre eigene Schuld. Sie hätte mich nicht provozieren sollen.«

»Sie hatte keine Chance, es nicht zu tun.«

Kai bekam schmale Augen. Er rieb sich über das bartstopplige Kinn und bellte: »Schluss mit dem Unsinn! Ich will auf der Stelle wissen, wo meine Frau ist. Machen Sie den Mund auf, oder aber Sie werden es bereuen, Kramerin! Sie wissen ganz genau, dass ich in der Beziehung keinen Spaß verstehe!«

»Ich auch nicht.« Als der Unternehmer einen Schritt auf sie zu machte, schloss sich ihre Rechte um den Griff der schweren Pfanne aus Gusseisen, die sie vorsorglich parat gelegt hatte. »Ich warne Sie, das könnte schmerzhaft werden …«

Kai Wagner starrte sie einen Moment lang mit einer Mischung aus Verblüffung und Wut an, die aber allmählich verrauchte. Schließlich ließ er sich schwer auf einen der Küchenstühle fallen, fuhr sich durchs Haar und brummte: »Ich liebe Lisa, ich will sie nicht verlieren.«

»Damit kommen Sie bei mir auch nicht weiter. Ich weiß nicht, wohin sie wollte. Ich weiß nur eins: Ganz egal, wo sie jetzt ist, es geht ihr besser als bei Ihnen.«

»Verdammt!« Er schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte, dass es knallte.

»Nehmen Sie sich mal zusammen, Herr Wagner, sonst sind Sie mich auch los«, mahnte sie streng, stellte die Pfanne fort und trat neben den Tisch. »Wie sehr Sie Ihrem Vater ähneln, es ist manchmal wirklich zum Erschrecken.«

Er blickte zu ihr auf, etwas wie Reue spiegelte sich in seinen Augen. Und – Elfriede meinte, sich zu täuschen – Scham.

»Ich habe ihn gehasst. Ich bin froh, dass er tot ist.«

»Das meinen Sie ja nicht im Ernst.«

»Was soll ich jetzt tun? Ich kann ohne Lisa nicht leben.«

»Das hätten Sie sich früher überlegen müssen«, ließ sie ihn lapidar wissen, drehte sich um und nahm das Tablett mit dem Frühstück. »Jetzt ist es zu spät.«

Während Elfriede Kramer den Tisch im Esszimmer für eine Person deckte und dabei sehr hoffte, dass es noch lange so bleiben würde, telefonierte Kai Wagner mit einem Bekannten. Sein Name war Thilo Groß, er betrieb eine große Detektei in München. Es war nicht das erste Mal, dass Kai sich an ihn wandte, der Detektiv wusste gleich Bescheid.

»Wie ist ihr Name und der des Jungen?«, fragte er knapp.

»Lisa. Ihr Sohn ist sieben und heißt Torben.« Er beschrieb die beiden bis ins Detail, während Thilo Groß sich Notizen machte.

»Wann sind sie verschwunden?«

»Gestern Abend, die genaue Uhrzeit kann ich dir nicht sagen, ich war nicht zu Hause.«

»Kein Anhaltspunkt, wohin oder zu wem sie wollte? Hat sie Freunde, gute Bekannte, Verwandte in der Stadt?«

»Nur einen Bruder, der lebt in Ulm.«

»Gut, ich mache mich gleich dran und melde mich, sobald ich sie gefunden habe.«

»Danke, Thilo. Ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen kann.« Kai Wagner beendete das Gespräch ein wenig erleichtert, auch wenn die Unsicherheit noch immer sein Denken bestimmte. Was, wenn Lisa ihre Flucht diesmal besser geplant hatte als bei den letzten Versuchen, was, wenn sie entkam?

Nein, das durfte nicht geschehen! Das würde er nie erlauben! Thilo würde sie ausfindig machen. Und dann gnade ihr Gott …

Elfriede Kramer bedachte ihren Brotherren mit einem kühlen Blick, als er im Esszimmer erschien, um noch einen Kaffee zu trinken, bevor er in die Agentur fuhr. Schließlich musste nach außen hin alles so weitergehen wie bisher. Kein Fleck sollte seine weiße Weste beschmutzen.

»Was ist?«, fragte er irritiert.

»Sie werden sie nicht finden, diesmal nicht. Selbst wenn Sie den ganzen Münchner Polizeiapperat in Bewegung setzen könnten. Sie ist fort. Und das ist gut so. Sie haben ihr lange genug das Leben zur Hölle gemacht.«

»Der Kaffee ist zu bitter, Kramerin. Nehmen Sie das nächste Mal etwas weniger. Sonst könnte ich auf den Gedanken kommen, eine neue Haushälterin einzustellen.«

»Tun Sie, was Sie nicht lassen können«, war alles, was sie darauf antwortete.

Kai Wagner betrachtete sie spöttisch. »Kommen Sie lieber von Ihrem hohen Ross herunter, meine Gute. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis ich weiß, wo Lisa ist. Und Sie sollten beten, dass es nicht allzu lange dauert. Denn je länger ich auf ihre Heimkehr warten muss, desto höher wird ihre Strafe ausfallen. Und, wer weiß, vielleicht auch die Ihre …«

*

»Die Commotio ist nicht das eigentliche Problem. Das sitzt nach wie vor hier.« Dr. Daniel Norden deutete auf die Einblutung unterhalb der Haut an Mark Hansens Hinterkopf. »Das Ödem hat sich noch vergrößert und beeinträchtigt diese Areale.«

Die Neuropsychologin Dr. Amelie Gruber nickte. »Ich habe eben das erste Gespräch mit dem Patienten geführt. Er leidet unter einer retrograden Amnesie, das heißt, alles, was vor dem Trauma geschehen ist, ist zunächst einmal verloren.«

»Sie sagen, zunächst einmal, Frau Kollegin.«

Die dunkelhaarige Fachärztin warf einen Blick auf ihre Notizen. »Bei der Erstprüfung der Gedächtnisleistung, von Aufmerksamkeit und Exekutivfunktionen, also den gesamten höheren mentalen Prozessen, hat sich eine komplette Amnesie abgezeichnet. Dieser Zustand ist allerdings nicht von Dauer. Erfahrungsgemäß wird der Patient innerhalb von achtundvierzig Stunden grundlegende, tief eingeprägte Fähigkeiten und Fakten zurückerlangen. Klartext: Wir können damit rechnen, dass er dann wieder seinen Namen kennt, seine Adresse, seinen Beruf. Alles Persönliche.«

»Und der Überfall?«

»Der wird weiterhin im Dunkel bleiben. Das Trauma aufzulösen, damit die Erinnerung daran zurückkehrt, ist ein etwas längerfristiger Prozess. Und zwar therapeutisch wie medikamentös.«

»Die Polizei wartete auf seine Aussage.«

Dr. Grubers tiefblaue Augen begannen ironisch zu funkeln. »Sie werden warten müssen. Das Gehirn lässt sich nichts befehlen. Wir können es bitten, uns seine Geheimnisse zu verraten. Aber ein Trauma ist eine zähe Angelegenheit, die Zeit braucht.«

Dr. Norden hatte bereits etwas Ähnliches erwartet. »Wie werden Sie behandeln, Frau Kollegin?«, wollte er noch wissen.

»Neben der regelmäßigen Prüfung seiner kognitiven Fähigkeiten und einer Gesprächstherapie mit Donepezil und Rivastignin. Beide Wirkstoffe erhöhen die Konzentration des Neurotransmitters Acetylcholin.«

»Gut, halten Sie mich bitte auf dem Laufenden, Frau Kollegin. Sie wissen ja, es gibt ein besonderes Interesse daran, dass der Patient sein Gedächtnis wieder erlangt.«

»Das habe ich bei all meinen Patienten«, erwiderte Dr. Gruber mit einem kleinen, vielsagenden Lächeln. Sie verließ das Büro des Chefarztes und kehrte auf die Innere zurück. Mark Hansen war am Morgen dorthin verlegt worden, nachdem sein Zustand sich nachhaltig stabilisiert hatte. Physisch ging es langsam bergauf mit ihm, doch er hatte sich sehr verwirrt und unsicher gezeigt. Amelie Gruber war eine erfahrene Psychologin und recht schnell auf den Grund seines Verhaltens gestoßen. Der schwere Schlag auf dem Hinterkopf hatte bei Mark Hansen einen kompletten Gedächtnisverlust ausgelöst. Er hatte das Gefühl, dass sein Kopf leer sei, hatte er beim ersten Gespräch angegeben. Dieser Zustand war mehr als beängstigend, denn er konnte sich tatsächlich an nichts erinnern.

Als Dr. Gruber nun sein Krankenzimmer betrat, schaute er ihr noch immer verstört entgegen.

»Wie fühlen Sie sich?«, fragte sie freundlich, griff sich einen Rollhocker und ließ sich neben dem Bett nieder.

»Mein Kopf tut höllisch weh. Außerdem ist mir übel.«

»Sie haben eine Gehirnerschütterung.«

»Und da ist dieser Druck, sehr unangenehm.«

»Ein Ödem. Es ist entstanden, weil Blut unter die Haut geflossen ist. Der Bereich ist entzündet und geschwollen. Es wird ein paar Tage dauern, bis der Körper es abtransportiert hat. Danach werden Sie sich besser fühlen.«

»Das würde ich jetzt schon, wenn ich wüsste, wer ich bin.«

»Auch das werden Sie bald wieder wissen. Sie müssen nur ein bisschen Geduld haben.«

»Sagen Sie das zu all Ihren Patienten?«

»Nur zu denen, die Geduld brauchen.«