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Diverse Autoren

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Beschreibung

Jenny Behnisch, die Leiterin der gleichnamigen Klinik, kann einfach nicht mehr. Sie weiß, dass nur einer berufen ist, die Klinik in Zukunft mit seinem umfassenden, exzellenten Wissen zu lenken: Dr. Daniel Norden! So kommt eine neue große Herausforderung auf den sympathischen, begnadeten Mediziner zu. Das Gute an dieser neuen Entwicklung: Dr. Nordens eigene, bestens etablierte Praxis kann ab sofort Sohn Dr. Danny Norden in Eigenregie weiterführen. Die Familie Norden startet in eine neue Epoche! E-Book 1: Meine Tochter braucht mich! E-Book 2: Ein Wunderkind in Gefahr E-Book 3: Wo ist Katja Baumann? E-Book 4: Im Stich gelassen! E-Book 5: Die geheimnisvolle Patientin E-Book 6: Angst um Melissa E-Book 7: Achtung: Fehldiagnose! E-Book 8: Schau nicht zurück, Alina! E-Book 9: Ein neues Leben E-Book 10: Gib mich frei!

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Inhalt

Meine Tochter braucht mich!

Ein Wunderkind in Gefahr

Wo ist Katja Baumann?

Im Stich gelassen!

Die geheimnisvolle Patientin

Angst um Melissa

Achtung: Fehldiagnose!

Schau nicht zurück, Alina!

Ein neues Leben

Gib mich frei!

Chefarzt Dr. Norden – Staffel 17 –

E-Book 1271-1280

Diverse Autoren

Meine Tochter braucht mich!

Unveröffentlichter Roman

Roman von Taylor, Amy

Stefanie Dudasch stand mit ihren 35 Jahren in der Blüte ihres Lebens. Eigentlich. Die Realität fühlte sich für die zarte, sehr schlanke Frau meistens anders an. Heute war auch wieder so ein Tag, an dem sie von ihren Sorgen und Nöten überrollt wurde. Den Brief ihres getrennt lebenden Ehemannes hätte sie längst öffnen müssen. Er lag schon seit drei Tagen auf ihrem Schreibtisch. Sie hatte sich in ihrer kleinen Zweizimmerwohnung in ihrem Wohn-Schlafzimmer eine Arbeitsecke eingerichtet. Von dort aus konnte sie ihren Job im Homeoffice ausüben.

Nach der Geburt ihrer Tochter Jenny vor fünf Jahren hatte sie ihren geliebten Beruf als Pharmareferentin aufgeben müssen. Außendienst und Mutter eines Säuglings – diese beiden Aufgaben ließen sich nicht miteinander vereinbaren. Um das verlorene Einkommen hatte sie sich damals keine Sorgen machen müssen, denn ihr Mann Robert verdiente als renommierter Rechtsanwalt für Familienrecht viel Geld.

Eigentlich hatte das Elternpaar damals vereinbart, dass Stefanie drei Jahre lang zu Hause bei der gemeinsamen Tochter bleiben und dann wieder in Teilzeit in ihren Beruf einsteigen sollte. Aber wie so oft im Leben war es anders gekommen.

Kurz vor dem dritten Geburtstag des Mädchens hatte sich Robert in eine andere Frau verliebt. Stefanie erinnerte sich noch genau an den Moment, als Robert ihr eröffnet hatte, dass er die kleine, bis dahin heile Familie verlassen würde. Von einer Minute auf die andere lag ihre Welt in Scherben. Sie hatte die Katastrophe nicht kommen sehen und dafür machte sie sich noch heute, zwei Jahre später, die größten Vorwürfe, dass sie die Vorzeichen nicht rechtzeitig erkannt hatte.

Robert kam öfter als üblich abends sehr spät nach Hause. Stets hatte er eine plausible Erklärung dafür. Mal hielt ihn ein Mandant länger als geplant auf, mal musste er sich auf ein Geschäftsessen mit Kollegen einlassen, auch wenn er ihr immer wieder erklärte, dass er viel lieber den jeweiligen Abend mit ihr und dem Kind verbringen würde. Sie war auch dann nicht misstrauisch geworden, wenn er manchmal sogar die ganze Nacht wegblieb.

»Ich wollte euch nicht wecken, wenn ich mitten in der Nacht nach Hause komme, deshalb habe ich mir ein Hotelzimmer genommen«, sagte er und Stefanie zweifelte kein einziges Mal an seinen Worten. Selbst dann nicht, als ihre feine Nase auf seiner Haut den Duft eines Damenparfums wahrgenommen hatte. Ohne mit der Wimper zu zucken hatte er ihr erklärt, dass seine Sekretärin neu verliebt sei und einen neuen Duft ausprobiert hatte. »Dabei hat sie wohl ein bisschen zu viel aufgetragen«, hatte er Stefanie schmunzelnd berichtet. Dann hatte er das Gespräch geschickt auf andere Themen gelenkt und sie vergaß den Vorfall. Niemals wäre sie auf die Idee gekommen, dass er sie angelogen hatte.

Bei seiner Ankündigung, die Familie verlassen zu wollen, dachte Stefanie zunächst an die Sekretärin. Aber ihr Verdacht war unbegründet. Stattdessen zog Robert schon wenige Tage später zu einer Anwaltskollegin, die er auf einer Veranstaltung der Anwaltskammer kennengelernt hatte.

Stefanie war damals in ein tiefes Loch gefallen. Von heute auf morgen, und völlig unvorbereitet, musste sie sich damit abfinden, eine alleinerziehende Mutter zu sein. Robert war die Liebe ihres Lebens gewesen und sie hatte keinerlei Vorstellung davon, wie sie ohne ihn an ihrer Seite zurechtkommen sollte.

Er hatte sich bereiterklärt, großzügig Unterhalt zu leisten, allerdings war schnell klar, dass sie sich trotzdem eine andere Wohnung suchen musste. Robert wollte die Villa, die er schon vor ihrer Hochzeit von seinen Eltern geerbt hatte und in der sie bis zu dem Unglückstag zusammen gelebt hatten, verkaufen. Er erklärte ihr, dass er sonst seinen Lebensstil nicht finanzieren könne, vor allem, weil er ja ihr und Jenny Unterhalt zahlen musste.

Sie hatte schnell eine Mietwohnung gefunden, allerdings musste sie sich spürbar einschränken. Bis dahin hatte sie in einer großzügigen Villa mit Garten in einem Nobelviertel von München gelebt. Jetzt wohnte sie mit Jenny in einer Zweizimmerwohnung, die nicht einmal einen Balkon hatte. Sie hatte von ihren Eltern gelernt, dass man sich nach der eigenen Decke strecken musste, und deshalb fügte sie sich dem finanziellen Zwang, die Mietkosten möglichst niedrig zu halten.

Trotz der Unterhaltszahlungen von ihrem Mann war das Geld knapp. Deshalb setzte sich Stefanie mit ihrem alten Arbeitgeber in Verbindung und fragte nach einem Job, den sie von zu Hause aus erledigen konnte. Sie hatte Glück im Unglück. Ihr Chef meinte, er brauche dringend eine Fachkraft für die längst überfällige Digitalisierung von Archivunterlagen. Wenn sie sich mit der Hälfte der normalen wöchentlichen Arbeitszeit darum kümmern könne, habe sie Arbeit für die nächsten zwei bis drei Jahre und danach würde man dann ja sehen. Als sie dann auch noch vereinbaren konnte, dass sie sich die tägliche Arbeitszeit frei einteilen konnte, sagte sie zu.

Das war vor zwei Jahren gewesen. Jenny wurde nun bald fünf Jahre alt. Sie hatte sich zu einem lieben Kind entwickelt. Im Kindergarten hatte sie eine Menge Freunde und Spielkameradinnen gefunden und meistens sprühte sie vor guter Laune. Außenstehende hätten auf den ersten Blick keine Probleme sehen können. Im Grunde hatte sich alles eingespielt, meistens lief der Alltag reibungslos. Stefanie hatte genug Zeit, sich um Jenny zu kümmern, verdiente ihr eigenes Geld und mit den regelmäßigen Zahlungen von Robert konnte sie ein einigermaßen angenehmes Leben führen.

Jenny verbrachte jedes zweite Wochenende bei ihrem Vater und seiner neuen Lebensgefährtin. Anfangs sprudelte sie nur so über vor Eifer, wenn sie von den Besuchen zurückkam und erzählte, was sie alles mit ihrem Vater unternommen hatte. Im Laufe der Zeit wurde sie aber immer stiller, bis sie schließlich gar nichts mehr erzählte. Das war ungefähr zu dem Zeitpunkt, an dem Robert offiziell die Scheidung eingereicht hatte. Das Trennungsjahr war längst vorüber und er fand, es sei an der Zeit, für klare Verhältnisse zu sorgen.

Stefanie hatte zwar damit gerechnet, aber als sie seine Mitteilung erhalten hatte, war das trotzdem ein Schock für sie gewesen.

Als Anwalt für Familienrecht konnte er für sich selbst agieren. Sie dagegen musste sich jetzt nach rechtlichem Beistand umschauen. Die Situation, vor der sie sich gefürchtet hatte, war eingetreten. Sie musste gegen den Mann kämpfen, den sie immer noch über alles liebte. Die Hoffnung auf eine einvernehmliche Scheidung war nämlich wie eine Seifenblase zerplatzt, denn fassungslos musste sie zur Kenntnis nehmen, dass Robert das alleinige Sorgerecht für Jenny beantragt hatte!

Dabei hatte sie doch für ihre Tochter immer alles getan! Niemals hatte sie das Kind auch nur ansatzweise vernachlässigt. Seit er ausgezogen war, war sie nicht ein einziges Mal abends ausgegangen! Sie wollte Jenny keiner Babysitterin überlassen, das kam für sie überhaupt nicht infrage. Stefanie war überzeugt davon, die ideale Mutter zu sein. Aufopferungsvoll hatte sie ihre eigenen Interessen immer hintenan gestellt. Wenn Jenny krank war und nicht in den Kindergarten konnte, hatte sie ihre Arbeitszeiten auf die ruhigen Nachtstunden verlegt. Sogar die Leiterin des Kindergartens hatte sich schon mehrfach lobend darüber geäußert, wie Stefanie ihren Alltag alleine mit Kind meisterte. Auch ihre Nachbarin hatte es ähnlich formuliert. »Eine bessere Mutter als Sie gibt es nicht, Frau Dudasch«, hatte sie gesagt und Stefanie war sehr stolz auf diese Bemerkung gewesen. Sie fand aber auch, dass sie die Anerkennung verdient hatte. Jenny war zum Mittelpunkt ihres Lebens geworden. Ihre Gedanken und all ihre Liebe konzentrierten sich auf ihre Tochter. Sie hielt sich für eine gute Mutter und das musste doch jeder sehen!

Und jetzt war es ausgerechnet der Vater des Kindes, der ihre Sorgfaltspflicht infrage stellte. Damit hatte er nämlich den Antrag auf das alleinige Sorgerecht begründet. Jenny sei nicht umfassend betreut und er könne, vor allem mit seinen finanziellen Mitteln, seiner Tochter mehr Sicherheit bieten.

Jenny war in den vergangenen Monaten oft krank gewesen. Das hatte Robert unter anderem auch deshalb mitbekommen, weil die Krankheitszeiten häufig auf die Wochenenden gefallen waren, an denen Jenny eigentlich bei ihrem Vater hätte sein sollen. Den Grund für die labile Gesundheit und die vielen Krankheiten hatte er in der allzu sorglosen Betreuung durch die Mutter des Kindes vermutet – so lautete die offizielle Begründung seines Antrags.

Stefanie wusste, dass er als Fachanwalt für Familienrecht ganz genau wusste, wie er einen solchen Antrag begründen musste. Ihr war klar, dass sie kaum Chancen hatte. Sogar das ursprünglich anvisierte geteilte Sorgerecht stand damit infrage.

Seitdem waren einige Monate ins Land gegangen. Jenny freute sich auf ihren fünften Geburtstag und machte Pläne, wen sie alles zu ihrer Feier einladen wollte. Währenddessen wartete Stefanie jeden Tag darauf, dass das Familiengericht einen Scheidungstermin anberaumte und damit verbunden auch eine Entscheidung über das Sorgerecht treffen würde. Und da lag nun dieser Brief, vor dessen Inhalt sie so große Angst hatte, dass sie den nötigen Mut nicht aufbringen konnte, ihn zu öffnen.

*

Dr. Felicitas Norden hatte – wie so oft – einen anstrengenden Arbeitstag fast hinter sich. In einer halben Stunde war ihre offizielle Arbeitszeit vorbei, aber als Leitende Ärztin der Kinderabteilung in der renommierten Behnisch-Klinik konnte sie selten pünktlich nach Hause gehen. Ihre kleinen Patienten lagen ihr viel zu sehr am Herzen. Bevor sie sich nicht, wie jeden Tag, von ihren Mitarbeiterinnen einen detaillierten Bericht über jedes einzelne Kind auf ihrer Station hatte geben lassen, ging sie niemals nach Hause. Da konnte es schon mal vorkommen, dass ihr Ehemann auf sie warten musste, obwohl er selbst in einer verantwortlichen Position arbeitete. Als Chefarzt derselben Klinik hatte Dr. Daniel Norden schließlich die volle Verantwortung für alle Abteilungen, für sämtliche Mitarbeiter und natürlich auch für alles, was mit der Klinik zu tun hatte.

Auch an diesem Abend musste er sich mit ihrer Antwort auf sein kurzes Telefonat mit seiner geliebten Fee, wie er sie nannte, zufriedengeben.

»Ich bin gleich bei dir und hole dich in deinem Büro ab«, hörte er ihre zauberhafte Stimme am anderen Ende der Leitung. »Nur noch eine Viertelstunde, dann bin ich fertig.«

Später, als er das Auto sicher durch den Münchner Berufsverkehr steuerte und Fee sich auf dem Beifahrersitz ein wenig entspannen konnte, wollte er wissen, was sie so lange aufgehalten hatte.

»Ach, da ist wieder die kleine Jenny bei uns, du weißt schon, der kleine Pechvogel, ich habe dir von ihr erzählt.«

»Klar, ich erinnere mich. Sie war in den letzten Monaten öfter bei uns als man das von einem an sich gesunden Kind erwarten könnte. Wie alt ist sie nochmal?«

»Fünf. Und wenn sie so weiter macht, stellt sie noch einen heimlichen Rekord auf. So viele Wochen im Krankenhaus, wie sie, verbringt selten ein Kind, das dem Grunde nach gesund ist. Du hast das ganz richtig erkannt.«

»Was ist es denn diesmal? Hat sie sich wieder beim Radeln verletzt wie beim letzten Mal? Oder ist sie erneut über etwas gestolpert? An die anderen Male erinnere ich mich gar nicht mehr«, überlegte Daniel laut.

»Viermal war die Kleine schon bei uns. Der Sturz vom Fahrrad war das letzte Mal die Ursache für ziemlich starke Prellungen. Das andere Ereignis, das du ansprichst, war ein Baustein aus ihrer Spielkiste, der unglücklicherweise am Treppenabsatz im Hausflur lag und über den sie gestolpert ist. Wie der dorthin gekommen ist, konnte sich die besorgte Mutter nicht erklären. Jenny musste nur eine Nacht zur Beobachtung bei uns bleiben, weil wir eine Gehirnerschütterung ausschließen wollten. Davor hat sie sich mit heißem Wasser die Hand verbrüht und als sie zum ersten Mal bei uns war, kam sie mit dem Notarzt, der sie in ihrem Kindergarten leblos vorgefunden hatte. Das war ein großer Schreck für alle. Zum Glück konnten wir sie sehr schnell stabilisieren und sie schon nach wenigen Tagen wieder entlassen. Sie hatte eine allergische Reaktion, das war vielleicht eine Aufregung für die Mutter.«

»Das weißt du jetzt alles auswendig?«, fragte Daniel mit einem anerkennenden Seitenblick.

»Nein, ich gestehe, dass ich mich erst vorhin mit der Patientenakte beschäftigt habe.«

»Du hast meine Frage noch nicht beantwortet«, erinnerte Daniel seine Frau.

»Stimmt.« Fee lächelte ihren Mann zärtlich an. »Das arme Ding hat wohl etwas genascht, was sie nicht sollte. Sie hatte einen allergischen Schock. Wovon weiß ich noch nicht, aber das bekomme ich schon raus. Ich hoffe nur, dass sie nicht wieder Erdnussbutter erwischt hat.«

»Wie kommst du denn jetzt auf Erdnussbutter?«, wollte Daniel wissen.

»Das war doch die Ursache der allergischen Reaktion bei ihrem ersten Aufenthalt bei mir in der Kinderklinik. Wir wussten erst nicht, was der Auslöser sein könnte. Die Überraschung war groß, denn dass Jenny Erdnussbutter nicht verträgt, hatte ihre Mutter bis dato auch noch nicht gewusst. Im Kindergarten hatte ein anderes Kind eine Stulle mit dieser Leckerei dabei und Jenny hat wohl mehrmals davon abgebissen.«

»Nun ja, wir beide wissen es ja selbst am besten, dass Kinder in einem bestimmten Alter unberechenbar sind. Und man kann nicht immer hintendran stehen und aufpassen, dass ihnen nichts zustößt.«

»Ja, Dan«, stimmte ihm Fee versonnen zu. »Mit unseren fünf Kindern hatten wir aber auch immer Glück. Aber trotzdem bin ich froh, dass sie inzwischen alle erwachsen sind und fest im Leben stehen. Die Zwillinge sind ja auch schon fast flügge.«

»Unsere beiden Jüngsten … wenn es nach mir ginge, können Janni und Dési ruhig noch eine Weile bei uns wohnen bleiben, sonst wird es uns am Ende noch zu ruhig in unserem Haus. Apropos … sind wir heute Abend zum Essen eigentlich vollzählig, mal so nebenbei gefragt?«

»Ich denke schon.«

»Dann lass uns reingehen.« Das Ehepaar Norden hatte zwischenzeitlich das gemeinsame Zuhause erreicht. »Ich freue mich auf einen gemütlichen Feierabend«, meinte er zufrieden lächelnd.

Aber im Gegensatz zu ihm konnte Felicitas den gesamten Abend nicht so richtig abschalten. Noch immer steckten ihr die bangen Momente des Nachmittags in den Knochen, bis klar war, dass dank ihres sicheren Eingreifens die kleine Jenny ihren allergischen Schock wohl gut überstanden hatte.

Trotzdem konnte die engagierte Ärztin nicht vollends beruhigt sein. Irgendeine Stimme in ihrem Kopf sagte ihr, dass sie sich den Fall nochmal genauer anschauen sollte. Sie nahm sich vor, am nächsten Tag mit der überaus besorgten Mutter zu sprechen, um herauszufinden, wie es so kurz nach dem zurückliegenden Ereignis schon wieder zu einer derart gefährlichen Situation kommen konnte.

Einen ersten Hinweis auf die Ursache des Vorfalls konnte sie dann aber bereits am Vormittag des nächsten Tages gewinnen. Bei der täglichen Visite traf sie Jenny ohne ihre Mutter in ihrem Krankenbett an. Das Kind machte einen fröhlichen und vollständig gesunden Eindruck auf sie. Die Kleine saß in ihrem buntgestreiften Schlafanzug mit baumelnden Beinen auf der Bettkante und strahlte Fee an, als sie die Ärztin erkannte, die sie bereits am Tag vorher kennengelernt hatte.

»Na, Jenny? Wie gehts dir denn?«, wollte Fee wissen, auch wenn sie die Antwort zu kennen glaubte. Die rosige Gesichtsfarbe, der klare Blick und die Fröhlichkeit des Mädchens bestätigte ihre Vermutung, dass sie Jenny vermutlich noch am selben Tag entlassen konnte. Ein Blick in die Patientendokumentation bekräftigte ihren Entschluss.

»Gut, Tante Doktor«, antwortete das Kind.

Fee lächelte. Die Anrede ›Tante Doktor‹ hörte sie öfter von Kindern im Kindergarten- oder Grundschulalter und sie hatte nichts dagegen, so angesprochen zu werden.

»Dann werde ich mal deine Mama anrufen, sie kann dich dann abholen. Du darfst nach Hause gehen, aber vorher möchte ich noch herausbekommen, wieso du überhaupt hier warst. Sagst du mir, was du gestern gegessen hast, bevor der Krankenwagen kam und dich zu mir gebracht hat?«

Jenny hörte auf, mit den Beinen hin und her zu baumeln. Sie schien angestrengt nachzudenken. Ihre blauen Augen waren starr nach oben gerichtet, auf ihrer Stirn zeigten sich steile Falten und um den Mund entdeckte Fee einen ernsten Zug.

»Hast du im Kindergarten wieder vom Brot deiner Freundin abgebissen?«, fragte Fee.

Energisch schüttelte Jenny ihren blonden Lockenkopf. Amüsiert streifte Fee ein kurzer Gedanke. Jenny hatte Ähnlichkeit mit ihr. Mit ihren blonden Locken und den blauen Augen hätte sie durchaus ihre Enkelin sein können.

»Das darf ich doch nicht, hat Mama gesagt«, antwortete Jenny entrüstet.

»Ja, das ist sehr gut, dass du dich daran hältst«, lobte Fee das Kind. »Hast du vielleicht zu Hause irgendwas gegessen, was du vorher noch nie gegessen hast?«, forschte Fee nach.

»Weiß nicht. Mama hat mir ein Brot gemacht, weil ich so Hunger hatte und das Essen noch nicht fertig war.«

»So, und was war drauf auf dem Brot?« Fee war alarmiert. Sie hatte das Gefühl, der Lösung sehr nahe zu sein.

»Die Creme, die so gut schmeckt. Ich weiß nicht, wie das heißt. Das Glas steht ganz oben im Küchenschrank, ich komm da nicht alleine rauf.« Jenny zog eine Schnute, als ob sie sich bei Fee darüber beschweren wollte, dass sie an die Leckerei nicht ohne die Hilfe ihrer Mutter herankam.

Fee fühlte eine dunkle Vorahnung in sich aufsteigen. Wenn sie mit ihrer Befürchtung recht haben sollte, hätte Jennys Mutter ihrem Kind Erdnussbuttercreme gegeben! Das konnte doch nur ein Versehen gewesen sein! Schlimm genug, dass der Brotaufstrich überhaupt im Haushalt war!

Zärtlich strich Fee ihrer kleinen Patientin über die Wange. »Ich ruf jetzt deine Mama an«, kündigte sie an.

»Oder meinen Papa«, rief Jenny unternehmungslustig. »Papa kann mich doch auch abholen, oder?«

»Klar, einer von beiden kommt bestimmt gleich.« Fee winkte der Kleinen noch einmal zu, bevor sie sich den anderen Kindern im Krankenzimmer widmete. Zum Glück gab es keine ernsteren Fälle auf der Kinderstation und sie war schnell am Ende ihrer Visite angelangt. Noch bevor sie sich in ihr Büro zurückziehen konnte, um mit Jennys Mutter zu telefonieren, wurde ihre Aufmerksamkeit von einer aufgeregten Frauenstimme in Beschlag genommen. Sie klang unangenehm hoch, nahezu schrill und Fee brauchte eine Sekunde, bis sie begriff, wen sie hörte. Sie drehte sich um und lief in die Richtung zurück, aus der sie soeben gekommen war. Als sie die Frau sah, die hektisch auf den Mann in ihrer Begleitung einredete, wusste Fee, dass sie sich den Anruf bei Jennys Mutter sparen konnte. Sie hatte die Eltern des Mädchens jetzt direkt vor sich stehen.

»Du bist so ungerecht«, hörte Fee die junge Frau sagen, der die Aufregung ins Gesicht geschrieben stand. »Wer kümmert sich den tagein tagaus um unser gemeinsames Kind? Das bin doch wohl ich!«

Bevor der junge Vater antworten konnte, schritt Fee ein. »Sie beruhigen sich bitte erst einmal«, sagte sie energisch in seine Richtung. »Frau Dudasch, wir kennen uns ja bereits und Sie sind Jennys Vater, nehme ich an?«, sagte Fee bestimmt und trotzdem so ruhig und freundlich wie möglich.

»Ja, Robert Dudasch, wir kennen uns auch bereits. Meine Tochter war ja schon ein paar Mal in der Behnisch-Klinik und in Ihrer Obhut, Frau Doktor Norden«, sagte er mit einem Blick auf das Namensschild, das Fee auf ihrem weißen Arztkittel trug. »Leider …«, fügte er noch hinzu.

»Was meinen Sie?«, fragte Fee nach.

»Leider war Jenny schon viel zu oft in der Klinik und jetzt schon wieder! Das kann doch nicht wahr sein!« Die hektischen Flecken auf seinen Wangen vergrößerten sich rasant. Fee betrachtete den aufgebrachten Mann interessiert. Jetzt erinnerte sie sich. Er war schon mehrmals in ihrer Sprechstunde für Eltern gewesen, immer dann, wenn seine Tochter Jenny in der Behnisch-Klinik zur Behandlung gewesen war. Sein markantes Gesicht war nicht so leicht zu vergessen. Er wirkte selbstbewusst und so, als habe er beinahe jede Situation im Griff. Aber wenn es um seine kleine Tochter ging, verlor er seine Souveränität. Fee verfügte über eine feine Beobachtungsgabe und entdeckte hinter dieser Fassade sehr schnell die Spuren von Sorgen und Ängsten. Seine Augen und der ernste Zug um seine Lippen sprachen Bände.

Fee fand, er war ein ausgesprochen attraktiver Mann. Groß, sportlich schlank, markante Gesichtszüge und gut gekleidet. Aber das war jetzt Nebensache. Sie musste die Eltern ihrer kleinen Patientin beruhigen und sie hatte Fragen, die sie nur stellen konnte, wenn beide ihre Auseinandersetzungen zurückstellten.

»Bitte, ich fordere Sie noch einmal auf, Ruhe zu bewahren. Sie wollen doch nicht in diesem aufgebrachten Zustand zu Ihrem Kind gehen?«, sagte sie eindringlich. »Möchten Sie mir bitte in mein Büro folgen, ich möchte Ihnen gern ein paar Fragen stellen. Dann können Sie Ihre Tochter mit nach Hause nehmen, allerdings …«

»Was meinen Sie, Frau Doktor Norden?«, fragte Stefanie Dudasch nach, als Fee einen Moment zögerte.

»Ich würde gern mit Ihnen etwas klären, aber nicht hier im Flur«, erklärte Fee. Sie hätte die Eltern durchaus auch hier fragen können, ob Jenny etwas zu sich genommen hatte, was die allergische Reaktion erklären könnte, aber sie spürte deutlich die kritische Stimmung unter den beiden und hoffte, etwas Ruhe in die Situation hineinbringen zu können.

Wenige Minuten später saßen Robert und Stefanie Dudasch ihr gegenüber und schauten sie erwartungsvoll an. Die feindselige Stimmung zwischen ihnen stand nahezu greifbar im Raum.

»Jenny hatte eine allergische Reaktion«, begann Fee. »Das wissen Sie ja schon. Ich könnte eine aufwendige Untersuchungsreihe starten, um mögliche Allergien ihrer Tochter herauszubekommen, aber ich möchte Jenny diese Prozedur erstens ersparen und zweitens können Sie das auch ohne Weiteres bei Ihrem Kinderarzt machen lassen. Oder ist das vielleicht sogar bereits geschehen?«

»Natürlich, wo denken Sie denn hin?« Jennys Mutter war sofort wieder aufgebracht. Ihre Augen funkelten und die geröteten Wangen zeigten ihre Aufregung. »Selbstverständlich habe ich bei Jenny die Tests machen lassen. Ich habe mir sogar drei Tage von der Arbeit frei genommen, um mein Baby betreuen zu können. Außer der Erdnussallergie ist nichts dabei herausgekommen.«

»Mein Baby«, höhnte Robert. »Sie ist fünf Jahre alt. Von einem Baby kann man da wohl nicht sprechen. Du behandelst sie aber trotzdem so. Das ist nicht gut für ihre Entwicklung, wie oft habe ich dir das schon gesagt?«

»Ach sei doch still«, fuhr sie ihn an. »Du könntest es doch auch nicht besser machen, du hast ja gar keine Zeit für sie. Als Rechtsanwalt bist du doch den ganzen Tag lang beschäftigt und manchmal arbeitest du bis in die Nacht hinein. Das wird jetzt auch nicht anders sein als während der Zeit, wo wir noch zusammen lebten. Wie kommt deine Freundin überhaupt damit klar? Toleriert sie deine Arbeitswut auch so wie ich es getan habe?«

Fee entging der Schatten über seinem Gesicht nicht, auch wenn sich der Vater ihrer Patientin sofort wieder im Griff hatte. »Mit einer Erdnussallergie ist nicht zu spaßen, das ist Ihnen beiden sicherlich bewusst. In so vielen Lebensmitteln stecken oft Spuren von Erdnüssen drin. Da muss man beim Einkaufen sehr aufpassen, aber das tun Sie ja sicherlich?«, fragte Fee nach.

»Ich passe sehr genau auf«, rief Stefanie Dudasch trotzig. »Mir entgeht nichts! Das könntest du ja gar nicht«, blaffte sie wieder ihren Mann an. »Wir leben getrennt, müssen Sie wissen«, fügte sie zu Fee erklärend hinzu.

Fee hätte am liebsten geantwortet, dass sie sich das schon gedacht hatte, aber sie schwieg und nickte stattdessen lediglich verständnisvoll.

»So kann man es auch nennen«, knurrte Robert Dudasch.

»Was meinen Sie?«, fragte Fee interessiert nach. Für sie war alles wichtig, was in irgendeiner Weise Einfluss auf das Wohlergehen ihrer Patientin nehmen könnte und wenn sich Eltern trennen, hat das auf jeden Fall eine Wirkung auf die Kinder.

»Na sag schon, dass du mir meine Jenny wegnehmen willst«, presste Stefanie zwischen ihren schmalen Lippen hervor. »Was sagen Sie dazu, Frau Doktor? Einer Mutter ihr Kind wegnehmen zu wollen, ist doch wohl das Allerletzte! Niemand kann so gut für ein Kind sorgen wie eine Mutter!«

»Nun ja, auch Väter können sich sehr gut um ihre Kinder kümmern, das kommt immer auf den Einzelfall an«, warf Fee ein, aber sie kam gar nicht dazu, ihren Satz zu Ende zu bringen. Robert Dudasch hatte sie nicht ausreden lassen.

»Dann hast du also endlich meinen Brief gelesen! Ich warte schon die ganze Zeit auf eine Reaktion von dir und hoffe immer noch, dass wir uns irgendwie einigen können. Aber du verfällst in Schweigen und du willst es wohl nicht anders. Der Scheidungstermin steht fest, ich werde das alleinige Sorgerecht für Jenny bekommen, da bin ich mir sicher. Und nach dieser Nummer hier wird wohl auch der Richter keine Zweifel mehr daran haben, dass du unser Kind nicht ausreichend gut betreust.«

»Was willst du damit sagen?«, hauchte Stefanie schreckensbleich. »Ich habe ihr nichts getan!«

Fee horchte auf. Irgendetwas bei Stefanies Worten irritierte sie, aber ihr fehlte die Gelegenheit, darüber nachzudenken.

»Als ich merkte, dass Jennys Gesicht anschwoll, habe ich sofort den Notarzt gerufen. Ich bin eine verantwortliche Mutter, das kann doch niemand ernsthaft bezweifeln.« Bei ihren Worten liefen der jungen Mutter Tränen über die Wangen und Fee empfand tiefes Mitleid. Trotzdem wollte und musste sie diesen Moment nutzen, um die Frage zu stellen, die für sie als Kinderärztin jetzt wichtig war. »Frau Dudasch, was hat Jenny zu sich genommen, bevor sie die ersten Anzeichen der allergischen Reaktion hatte?«

»Sie … hat … ach, ich weiß ja selbst nicht, wie das passieren konnte, ich passe doch immer so auf. Ich muss einen Moment nicht hingeschaut haben, wahrscheinlich war ich kurz auf der Toilette.«

Fee bohrte nach. »Bitte sagen Sie, was es war. Es ist wichtig, damit Sie für die Zukunft wissen, worauf Sie bei Jennys Ernährung achten müssen.«

»Nun sag schon«, drängte nun auch Robert Dudasch.

»Sie muss das Glas mit Erdnussbuttercreme im Schrank entdeckt haben. Ich habe es doch so gut versteckt, sie hätte es eigentlich nicht sehen können und schon gar nicht einfach so herankommen können. Sie muss sich wohl einen Stuhl an den Küchenschrank geschoben haben, um hochklettern zu können. Anders kann ich mir das nicht vorstellen.« Stefanie machte eine kurze Pause, um durchatmen zu können. »Ich kann nichts dafür und mache mir trotzdem so große Vorwürfe«, setzte sie leise hinzu.

»Frau Dudasch, ich frage Sie dennoch, warum Sie das nicht gleich gesagt haben, als sie Jenny bei ihrer Aufnahme in unserer Klinik begleitet hatten?«

»Weil ich es doch nicht gewusst habe! Bitte, Sie müssen mir das glauben. Ich habe doch daheim alles liegen und stehen lassen. Wer räumt denn erst auf, bevor der Notarzt kommt? Das offene Glas habe ich erst heute Morgen entdeckt, als ich endlich die Küche aufgeräumt habe. Ich war doch die halbe Nacht hier bei meinem Kind.«

Das leuchtete Fee zwar ein, sie wunderte sich aber trotzdem, denn Jenny hatte ihr etwas anderes gesagt. Sie rief sich die Worte des Mädchens noch einmal ins Gedächtnis: »Mama hat mir ein Brot gemacht, weil ich so Hunger hatte und das Essen noch nicht fertig war.« Fee beschloss, in Gegenwart des Vaters nicht auf diese Diskrepanz einzugehen, nahm sich aber fest vor, später in aller Ruhe nochmal darauf zurückzukommen. Robert Dudasch zeigte sich allerdings nicht so geduldig. Er wollte sofort wissen, weshalb es im mütterlichen Haushalt ausgerechnet das Lebensmittel gab, das der gemeinsamen Tochter im Ernstfall sogar das Leben kosten könnte.

»Daran sieht man doch, dass man dir Jenny nicht überlassen kann! Bei mir zu Hause gibt es jedenfalls keine Erdnussbuttercreme!« Er war wütend aufgesprungen. Mit ausladenden Schritten lief er im Büro von Fee hin und her.

»Bitte setzen Sie sich wieder«, forderte Fee ihn mit Nachdruck in der Stimme auf. »Machen Sie das bitte unter sich aus. Mein Büro ist nicht der geeignete Ort dafür.«

»Selbstverständlich.« Robert hatte sich sofort wieder unter Kontrolle. Er nahm wieder auf seinem Stuhl Platz und stützte seine Hände auf seine Knie. »Frau Doktor Norden, ich brauche von Ihnen eine Stellungnahme über die Geschehnisse. Sie schreiben mir doch eine Bestätigung darüber, dass mein Kind in der Obhut meiner … meiner Ex-Frau nicht sicher genug aufgehoben ist.«

Fee überlegte nicht lange. Gerade weil die Situation für sie im Moment undurchschaubar war, wollte und konnte sie sich nicht festlegen. Jennys Mutter hatte leichtsinnig gehandelt, soweit hatte Robert Dudasch durchaus recht. Aber daraus zu schließen, dass das Kind zu keiner Zeit sicher betreut war, wäre für Fee auch nicht richtig gewesen. Zum Glück hatte sie die passende Antwort parat, auch wenn sie sich nicht wohl dabei fühlte, eine Art Ausrede zu verwenden. »Wenn ich vom Familiengericht als Gutachterin verpflichtet werde, kann ich prüfen, inwieweit Sie, Frau Dudasch, in der Lage sind, Ihr Kind ausreichend zu versorgen und zu betreuen. Vollkommen neutral und unvoreingenommen. Aber in dieser Situation gehört das nicht zu meinen Aufgaben. Ich werde einen Entlassungsbericht erstellen, den können Sie selbstverständlich auch erhalten, Herr Dudasch. Aber ich sage Ihnen jetzt schon, dass dieser Bericht frei von irgendwelchen Schuldzuweisungen sein wird.«

Robert seufzte. »Ja, natürlich. Als Fachanwalt für Familienrecht weiß ich, dass Sie recht haben. Aber als Vater sieht man manches halt anders.« Er legte eine flache Hand über seine Augen und wirkte in diesem Moment sehr zerbrechlich und verzweifelt. »Kann ich Jenny jetzt mitnehmen?«, fragte er, nachdem er seinen schwachen Moment überwunden hatte.

»Nein! Ich nehme Jenny mit nach Hause!«, rief Stefanie, noch bevor Fee etwas sagen konnte.

»Noch hat der Richter nicht gegen mich entschieden und so lange das so ist, bleibt Jenny bei mir.« Als ob sie ihren Worten Nachdruck verleihen wollte, stand sie auf und reichte Fee die Hand zum Abschied. »Vielen Dank Frau Doktor, dass Sie meiner Kleinen geholfen haben. Ich kann mir gar nicht vorstellen, was passiert wäre, wenn …«

»Bitte entsorgen Sie das Glas Erdnussbuttercreme, aber das muss ich Ihnen wahrscheinlich nicht sagen«, antwortete Fee. »Ich bringe Sie jetzt zu Ihrer Tochter, dort warten Sie bitte noch einen Moment, bis ich den Entlassungsbericht geschrieben habe. Dann können Sie mit Ihrem Kind nach Hause gehen. Alles Gute!«

»Sie geben meine Tochter also tatsächlich in die Obhut meiner verantwortungslosen Ex-Frau«, stellte Robert Dudasch resigniert fest.

»Es gibt für mich keinen Grund, es nicht zu tun«, antwortete Fee. Innerlich hoffte sie, richtig entschieden zu haben.

*

Robert Dudasch hatte sich nach dem Gespräch mit Dr. Felicitas Norden nur langsam beruhigt. Schweren Herzens hatte er darauf verzichtet, Jenny sofort mit nach Hause zu nehmen. Er hatte seine Tochter nicht einmal besucht und nach ihr gesehen, um der Kleinen den inneren Zwiespalt zu ersparen. Es würde schon reichen, dass Jenny demnächst unweigerlich mitbekommen würde, dass sich ihre Eltern darum stritten, bei wem sie zukünftig leben sollte.

Ein Blick auf seine teure Armbanduhr sagte ihm, dass er vermutlich längst in seiner Kanzlei erwartet wurde. Er hatte seinen Terminkalender nicht im Kopf, aber da er zu den angesehensten Fachanwälten für Familienrecht in München zählte, gaben sich normalerweise seine Klienten die Türklinke in die Hand. Er hatte seine Sekretärin gebeten, die ersten zwei Termine an diesem Tag abzusagen, damit er zu Jenny in die Klinik konnte und nun war er nicht einmal bei seiner Tochter im Krankenzimmer gewesen.

Was war nur aus ihm geworden?

Er fühlte sich ausgelaugt. Seine Beine schienen zentnerschwer zu sein und obwohl er auch jetzt, in dieser schweren Zeit, regelmäßig Sport machte, hatte er das Gefühl, am ganzen Körper geschwächt zu sein. Er griff nach seinem Handy und rief in der Kanzlei an. Seine Sekretärin war zuverlässig und loyal. Auf sie konnte er sich verlassen. Wenigstens ein Mensch in seinem aktuellen Leben, mit dem er keine Konflikte hatte.

»Monika, sagen Sie, wann habe ich den nächsten Termin?«

»Um dreizehn Uhr, Chef. Sie haben noch ein bisschen Zeit«, antwortete seine Assistentin wie aus der Pistole geschossen.

»Gut, ich bin rechtzeitig da«, kündigte Robert erleichtert an. Er hatte sein Fahrzeug nur wenige Meter von der Behnisch-Klinik entfernt geparkt und war froh, nur diese kurze Strecke zu Fuß zurücklegen zu müssen. Schwerfällig ließ er sich auf den Fahrersitz fallen, aber er startete den Motor noch nicht. Er war unschlüssig, was er jetzt tun sollte. Vielleicht nach Hause fahren und ein bisschen entspannen? Normalerweise wäre ihm diese Aussicht sehr gelegen gekommen, aber heute scheute er davor zurück. Daheim, in seiner großzügig bemessenen und luxuriös eingerichteten Vierzimmerwohnung träfe er sicherlich auf seine Freundin Daniela, mit der er kurz nach seiner Trennung von Stefanie zusammengezogen war. Ausgerechnet mit ihr wollte er jetzt nicht zusammen sein, falls sie überhaupt zu Hause war. Daniela war selbst eine erfolgreiche Anwältin, allerdings betrieb sie keine eigene Kanzlei, sondern war in der Kanzlei ihres Vaters angestellt. Sie arbeitete oft von zu Hause aus und deshalb konnte es gut sein, dass er dort auf sie treffen würde. Was ihm bis vor wenigen Wochen noch verlockend erschienen wäre, hielt ihn heute davon ab, nach Hause zu gehen.

Seit jenem Tag, an dem Danielas Vater nach einem kleinen Abendessen, bei dem wenig gegessen aber dafür sehr viel teurer Wein getrunken wurde, seine Zukunftspläne offengelegt hatte, war in Roberts Innerem etwas verschoben worden. Zunächst war er beeindruckt gewesen. Es gab in ganz München nur eine Kanzlei, die noch angesehener war als seine eigene und das war die von Danielas Vater, Dr. Helmut Vorndran. Und genau der hatte ihm bei jenem Abendessen angeboten, bei ihm einsteigen zu können. »Nach einer gewissen Einarbeitungszeit - und natürlich, nachdem ihr beiden Turteltauben geheiratet habt – ziehe ich mich dann aus dem Geschäft zurück. Ich will meinen Ruhestand genießen und es nicht so wie manche Kollegen von uns tun – arbeiten bis zum Umfallen. Ich möchte noch etwas von meinem Leben haben und deshalb werde ich euch zwei das Feld überlassen. Natürlich stehe ich euch als Senior zur Seite, wenn ihr mich braucht. Das ist doch klar! Na, mein Junge, was sagst du dazu?« Sichtlich zufrieden hatte er ein breites Grinsen aufgesetzt und wartete nun ab, wie Robert reagieren würde.

Aber es war anders gekommen als Danielas Vater es erwartet hatte. Robert hatte nur ein paar Momente gebraucht, um zu wissen, dass er das Angebot nicht annehmen würde.

Weder Daniela noch ihr Vater hatten Verständnis für seine Entscheidung gehabt. Es war sogar zum Streit zwischen den beiden Männern gekommen. Der Abend hatte damit geendet, dass Danielas Vater vom Tisch aufgesprungen war und die kleine Runde wütend verlassen hatte. Von den Schimpftiraden, die er beim Hinausgehen von sich stieß, hatte Robert Wortfetzen wie ›undankbar‹ und ›wird schon sehen, wo er bleibt‹ aufgeschnappt. Daniela hatte mit ihrer Meinung auch nicht hinter dem Berg gehalten. Sie konnte ihn einfach nicht verstehen.

»Es wäre doch so schön! Stell dir vor, du und ich in einer gemeinsamen Kanzlei. Mit Vaters Namen im Hintergrund können wir die Konkurrenz allesamt in die Tasche stecken. Wir werden die besten in München sein, ach was, in ganz Bayern!«

»Ich hatte nicht vor, etwas zu verändern«, hatte er geantwortet. »Meine Kanzlei läuft bestens, ich bin mein eigener Herr und das will ich eigentlich auch bleiben.«

»Aber es kann doch immer noch besser werden! Bist du denn gar nicht ehrgeizig?«

»Ehrgeizig?« Robert war erstaunt. Wieso hielt sie ihn nicht für ehrgeizig? Was glaubte sie denn, wie es ihm gelungen war, seine kleine unbekannte Kanzlei zu einer der bekanntesten im Umkreis zu machen? »Natürlich bin ich ehrgeizig, aber ich denke, ich habe genug erreicht. Worauf willst du denn hinaus?«, hatte er gefragt.

»Nun, es kann doch immer noch mehr werden, ich weiß nicht, warum du dich mit dem zufriedengibst, was du hast, wenn du mehr haben kannst. Nein, es muss heißen: wenn wir mehr haben können«, verbesserte sie sich.

»Warum übernimmst du denn nicht alleine die Kanzlei deines Vaters und führst sie unter deinem Namen weiter?«, schlug er vor.

»Ach du Dummerchen«, hatte sie nachsichtig gemeint. »Das ist wieder mal typisch Mann.« Sie lächelte mit ihren perfekt geschminkten Lippen. »Du verstehst wieder mal nur das, was du hörst, und denkst kein bisschen weiter.«

Robert hatte sich ertappt gefühlt. Teilweise stimmte ihr Vorwurf, auch wenn er halb witzig gemeint war. Er dachte meistens geradlinig, klar und schnörkellos. Um die Ecke zu denken, fiel ihm nur vor Gericht leicht, wenn er juristische Winkelzüge anwenden musste. Privat war er aber das glatte Gegenteil. Als sie aber nicht aufhörte, ihn vielsagend anzulächeln, wusste er auf einmal, worauf sie hinauswollte. Die Worte ihres Vaters fielen ihm wie Schuppen vor den Augen. »Wenn ihr verheiratet seid«, hatte er gesagt. Klar! Daniela legte es darauf an, von Robert geheiratet zu werden. Mit diesem Gedanken hatte er sich bisher noch nicht auseinandergesetzt, vor allem, weil die Ehe mit Stefanie ja noch gar nicht geschieden war.

Irgendetwas an der Vorstellung, so schnell wieder den Bund der Ehe zu schließen, hatte ihm nicht gefallen. Dazu kam noch die Erkenntnis, dass offensichtlich von ihm erwartet wurde, den Familiennamen seiner zukünftigen Ehefrau anzunehmen. Seine Kanzlei Dudasch würde aus der juristischen Landschaft verschwinden. Um nicht auf seine eigenen Ideen hereinzufallen, hatte er vorsichtshalber nochmal nachgefragt. »Dudasch und Vorndran? Oder wie soll nach deiner Vorstellung unsere gemeinsame Kanzlei heißen?«

»Na sie heißt weiter Vorndran, das ist doch klar. Wir werden doch den bekannten Namen nicht aufgeben«, antwortete sie, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt.

Robert wollte das alles nicht – seine eigene Kanzlei zugunsten der seines Schwiegervaters aufgeben, seinen Namen hergeben und … er wollte auch Daniela nicht heiraten. Es hatte erst dieses Erlebnis gebraucht, um in ihm das Bewusstsein dafür zu wecken, dass Daniela nicht die Frau seines Lebens war und auch niemals werden konnte. Diese Position war bereits besetzt und zwar von Stefanie, von der Frau, von der er im Begriff war, sich scheiden zu lassen. Was war er nur für ein selbstsüchtiger Mensch! Wie hatte er es nur so weit kommen lassen, dass ein hübsches Gesicht wie das von Daniela ihn aus seinem Lebenstraum herausreißen konnte. Er hatte einen riesengroßen Fehler gemacht! Aber wie kam er aus der Sache wieder heraus? Daniela hatte mit ihm Zukunftspläne, die für sie unumstößlich waren. Sie glaubte, dass er sie liebte und dafür hasste er sich. Immer, wenn er ihr sagte, wie sehr er sie liebte, hatte er es auch so gemeint. Niemals hatte er vor, sie hinters Licht zu führen, insofern hatte er sich nichts vorzuwerfen. Dass ihm das Schicksal nur auf die Probe stellen wollte, hatte er zu spät begriffen. Was er jetzt bräuchte, wäre Mut und Tatkraft, Daniela zu gestehen, dass das alles nichts als ein großer Irrtum war. Aber genau das zu sagen, hatte er bisher nicht gewagt.

Noch immer saß er auf dem Fahrersitz seines Wagens und hing seinen Gedanken nach. Er hatte den Eingang zur Behnisch-Klinik im Blick, ohne darauf zu achten, wer ein- und ausging. Die schlanke Silhouette erkannte er jedoch sofort! Stefanie trat mit Jenny an der Hand durch die automatisch sich öffnende Ein- und Ausgangstür.

Wie schön wäre es jetzt, wenn sie auf ihn zusteuern und sich mit dem Kind auf den Rücksitz setzen würde. Beide wären glücklich, ihr gesundes Kind in ihrer Mitte zu haben und als Familie nach Hause zu fahren, als hätten die letzten zwei Jahre nicht stattgefunden.

Halt! Er holte sich selbst mit einem Ruck zurück aus seiner Traumwelt in die Realität. Sein Kind war ihm nie ferner als jetzt gewesen, auch wenn sein Antrag auf das alleinige Sorgerecht Aussicht auf Erfolg hatte. Allerdings hatte er, als er den Antrag in die Wege geleitet hatte, noch nicht gewusst, dass er sich von Daniela trennen musste, weil er sie nicht liebte.

Traurig schaute er den beiden hinterher, bis sie aus seinem Blickfeld verschwunden waren. Die Situation war mehr als verfahren. Hätte sich Stefanie nicht so seltsam benommen in den letzten Monaten, wäre es für ihn ein Leichtes gewesen, seinen Antrag zurückzuziehen und einem gemeinsamen Sorgerecht zuzustimmen. Aber was er damals als Begründung vorgeschoben hatte, war zwischenzeitlich tatsächlich eingetreten. Stefanie schien sich nicht mehr ausreichend um Jenny zu kümmern. Die Anzeichen einer Vernachlässigung häuften sich und das konnte Robert nicht hinnehmen. Erneut fragte er sich, wie es zu den vielen Krankheiten und Verletzungen seiner Tochter kommen konnte. Stefanie arbeitete von zu Hause aus und Jenny ging in den Kindergarten. Es dürfte also überhaupt keine Zeiten geben, in denen das Kind sich selbst überlassen blieb und nicht ausreichend betreut war. Trotzdem war es zum Beispiel zu einem Treppensturz gekommen, weil ein Baustein aus dem Holzbaukasten außerhalb der Wohnung am oberen Absatz der Treppe lag. Wie war der dorthin gekommen und warum hatte Stefanie die gemeinsame Tochter nicht sicher an der Hand geführt? Oder wie war das mit der Verbrühung? Wie konnte denn Jenny an den Topf mit heißem Wasser kommen? Gab es denn keine Kindersicherung für den Herd und wo hatte Stefanie in diesem Augenblick ihre Augen?

Eine Stimme in seinem Kopf sagte ihm, dass jedem Kind mal etwas zustoßen konnte. Kleinere Unfälle im häuslichen Umfeld waren nicht unbedingt immer der Sorglosigkeit von Eltern zuzuschreiben. Aus seiner Kanzlei wusste er, dass auch solchen Eltern, die sich rund um die Uhr um ihre Kinder kümmerten, mal kleine Unaufmerksamkeiten passieren können, ohne dass man ihnen eine Vernachlässigung ihrer Kinder vorwerfen konnte. Er wollte Stefanie nicht unrecht tun, aber er wollte auch auf keinen Fall etwas übersehen oder gar bewusst ignorieren.

So schwer es ihm auch fiel, aber er musste Jenny zu sich holen. Auch wenn er im Moment noch nicht wusste, wie er seinen Alltag mit einem fünfjährigen Kind organisieren sollte. Daniela kam als Ersatzmutter nicht infrage. Diese Idee war wie eine Seifenblase zerplatzt, spätestens seit dem folgenschweren Abendessen mit ihrem Vater.

Daniela! Er musste sich von ihr trennen und sich schon wieder eine eigene Wohnung suchen. Diesmal eine, die für einen alleinerziehenden Vater mit Kind geeignet war. Wo er auch hinsah, überall warteten Probleme und Sorgen auf ihn. Dabei wusste er im Prinzip ganz genau, wie sein Leben wieder schön werden könnte. Tief in seinem Inneren war ihm klar, dass er Stefanie zurückgewinnen wollte. Das Leben, das sie vor seinem Treuebruch geführt hatten, war paradiesisch gewesen. Warum nur hatte er alles aufs Spiel gesetzt, was ihn glücklich gemacht hatte? Ausgerechnet der einzige Ausweg aus dem ganzen Dilemma war unerreichbar!

In der Zwischenzeit waren viele Menschen durch den Eingang zur Behnisch-Klinik gegangen. Robert hatte nicht auf die einzelnen Personen geachtet, während er seinen schweren Gedanken nachhing, ohne auch nur ansatzweise eine machbare Lösung für all seine Probleme zu finden. Aber als er Frau Dr. Norden durch die Tür kommen sah, sprang er spontan aus seinem Auto und rannte ihr nach. Er brauchte nur wenige Minuten, bis er sie eingeholt hatte.

*

Stefanie hatte, wie so oft in letzter Zeit, schon den ganzen Tag dröhnende Kopfschmerzen gehabt. Endlich war Ruhe in den Alltag eingekehrt, Jenny lag seit einer Stunde in ihrem Bettchen und schlief. Es war noch nicht spät, erst kurz nach 20 Uhr und trotzdem war Stefanie todmüde. Eigentlich hätte sie dringend noch etwas an ihrem Computer arbeiten müssen, aber sie saß seit einer Stunde wie gelähmt an ihrem Schreibtisch und starrte auf den leeren Bildschirm. Neben der Tastatur lag der Brief, dessen Inhalt ihr so eine große Angst machte. Sie dachte an Roberts Bemerkung im Krankenhaus.

›Dann hast du also endlich meinen Brief gelesen!‹, hatte er ihr entgegengeschleudert, und ›der Scheidungstermin steht fest, ich werde das alleinige Sorgerecht für Jenny bekommen, da bin ich mir sicher. Und nach dieser Nummer hier wird wohl auch der gutmütigste Richter keine Zweifel mehr daran haben, dass du unser Kind nicht ausreichend gut betreust.‹

Dass du unser Kind nicht ausreichend gut betreust … das stimmte doch nicht! Warum nur um alles in der Welt sah niemand, dass nur sie auf Jenny aufpassen konnte, nur sie für sie sorgen und sich um sie kümmern konnte! Was sollte sie denn noch alles tun, um das beweisen zu können?

Das Glas mit der Erdnussbuttercreme hatte sie gleich nachdem sie mit Jenny aus dem Krankenhaus nach Hause gekommen war, in den Müll geworfen. Sie hatte gedacht, dass die Fünfjährige niemals in der Lage gewesen wäre, das Glas alleine aus dem Oberschrank der Küchenzeile zu holen. Dass sie es schließlich selbst war, die dem Kind ein Brot damit gemacht hatte, war nur ihrer ständigen Überforderung zuzuschreiben. Kein Wunder – diese Doppelbelastung Haushalt, Kind und Beruf forderte eben seinen Tribut. Das war doch ganz normal. Aber im Gegensatz zu manch anderer Mutter hatte sie sofort den Notarzt verständigt, als sie die ersten Anzeichen der allergischen Reaktion bemerkt hatte. Das konnte nur deshalb so schnell geschehen, weil sie ihr Kind schließlich ununterbrochen im Auge behielt.

Daher kamen bestimmt auch die schrecklichen Kopfschmerzen und ihre bleierne Erschöpfung. Sie stand auf und holte sich eine Kopfschmerztablette aus dem Medikamentenschrank im Badezimmer, der selbstverständlich abgesperrt war. Den Schlüssel dazu hatte sie immer zusammen mit den Wohnungs- und Kellerschlüsseln an ihrem großen Schlüsselbund sicher verwahrt. Diesen Schlüsselbund trug sie immer bei sich und wenn sie ihn ablegte, hängte sie ihn an das Schlüsselboard neben ihrer Wohnungstür. Es war hoch genug, um für Jenny nicht erreichbar zu sein. Sie war eben eine gute und vorsichtige Mutter.

Sie musste noch eine zweite Tablette nehmen, weil die erste so gut wie keine Wirkung zeigte. Die Schachtel legte sie wieder in den Medikamentenschrank zurück. Dabei fiel ihr Blick auf eine blaue Schachtel – Schlaftabletten. Sie hatte schon ewig keine mehr genommen. Sollte sie heute, ausnahmsweise? Stefanie überlegte. Sie konnte sich nicht entschließen. Bestimmt waren die Tabletten längst abgelaufen. Stefanie kramte die Schachtel hervor und staunte, als sie das Ablaufdatum las. War es Glück oder ein hinterlistiger Trick des Schicksals? Die Schlaftabletten liefen erst in einem halben Jahr ab. Sie musste lange überlegen, bis ihr einfiel, woher sie das Medikament überhaupt hatte. Damals, als Robert sie verlassen hatte, war sie bei ihrem Hausarzt gewesen. Der hatte ihr das Schlafmittel verschrieben, sie aber gleichzeitig davor gewarnt, zu häufig davon Gebrauch zu machen. »Das ist ein richtig starkes Mittel, Frau Dudasch.« Stefanie erinnerte sich genau an seine Worte, als sei es gestern gewesen. »Zu oft und zu regelmäßig eingenommen, machen sie abhängig. Ich vertraue auf Ihre Vernunft«, hatte er gesagt. »Und dass die Dosis genau eingehalten werden muss und keinesfalls überschritten werden darf, brauche ich Ihnen als verantwortungsvolle Mutter nicht zu sagen.« Eine Welle der Dankbarkeit stieg in ihr auf, während sie sich an das Gespräch mit ihrem Arzt erinnerte. Wenigstens einer hatte erkannt, dass sie eine gute Mutter war!

Sie nahm die Schachtel an sich, auch wenn sie sich noch nicht dazu entschlossen hatte. Dass sie dabei auch die Schmerztabletten wieder mitnahm, war ihr nicht bewusst.

Vorsichtig warf Stefanie einen Blick in das Zimmer, in dem Jenny friedlich schlief. Das Kind hatte die Aufregungen und den Krankenhausaufenthalt offensichtlich gut verkraftet. Stefanie lächelte still. Sie war so stolz auf ihre Kleine.

Leise schloss sie die Tür und griff wahllos in ihr Weinregal. Das kam selten vor und deshalb lag auf der Rotweinflasche eine dicke Schicht Staub. Stefanie zögerte nicht, holte eines ihrer guten Rotweingläser aus der Vitrine und goss es randvoll. Nachdem sie erst vorsichtig genippt hatte, nahm sie einen großen Schluck. Süß und betörend rann der zimmerwarme Wein die Kehle hinunter. Jetzt erst fiel ihr ein, dass die Kombination aus Schmerztabletten und Alkohol nicht empfehlenswert war. Aber ihre Einsicht kam zu spät. Das erste Glas hatte sie bereits gierig in einem Zug geleert. Jetzt war es auch schon egal. Sollte sie vielleicht doch noch eine Schlaftablette nehmen, um wenigstens diese eine Nacht einmal ruhig und fest schlafen zu können? Sie Sorgen und Ängste der vergangenen Wochen und Monate hatten sie nachts kaum zur Ruhe kommen lassen und sie sehnte sich nach Schlaf. Einmal eine ganze Nacht durchschlafen – welch eine paradiesische Vorstellung. Ihr Blick fiel wieder auf den Brief, der geöffnet auf dem Schreibtisch lag. Sie kannte den Inhalt auswendig. Mittlerweile hatte sie ihn wieder und wieder gelesen. Es stand im Grund nichts drin, was sie nicht sowieso schon wusste und was sie erwartet hatte. Aber die Realität schwarz auf weiß vor sich liegen zu haben, war etwas anderes als lediglich darüber zu sprechen oder nachzudenken.

Robert brauchte keinen eigenen Anwalt, er vertrat sich in der Scheidungs- und Sorgerechtsangelegenheit selbst. Daher hatte er den Brief sachlich und kühl verfasst, als hätte ein Fremder ihn geschrieben. Er teilte ihr den Scheidungstermin mit, mittlerweile hatte sie auch schon die Ladung vom Gericht erhalten. In zwei Wochen sollte es soweit sein.

Hätte sie sich doch auch besser einen Anwalt genommen? Stefanie hatte sich nicht vorstellen können, dass Robert ihr so zusetzen würde, dass sie ohne rechtlichen Beistand nicht zurechtkommen würde. Er zeigte sich großzügig beim Unterhalt und auch sonst hatte sie keine Probleme zu erwarten – außer wegen Jenny. Trotzdem hatte sie bis vor Kurzem daran geglaubt, dass kein Richter der Welt ausgerechnet ihr das Kind wegnehmen könnte. Jetzt war es bestimmt zu spät, um noch einen Anwalt einzuschalten und davon abgesehen – sie konnte sich nicht vorstellen, einen Rechtsbeistand zu finden, der es mit einem angesehenen Kollegen aufnehmen würde.

Stefanie fühlte die eisige Kälte der Verzweiflung in sich aufsteigen. Der Wein hatte bereits Wirkung gezeigt. Sie hatte sich nicht mehr im Griff. Auch wenn das Unterbewusstsein heftige Warnungen aussandte, sie goss sich trotzdem ihr Glas bis zum Rand voll und trank es in einem Zug leer.

›Nur diese eine Nacht‹, wisperte eine verlockende Stimme in ihrem Kopf. ›Nur eine Nacht ruhig schlafen, weit weg von allen Sorgen.‹ Dann griff sie nach der Schachtel mit den Schlaftabletten und spülte vier Stück davon mit einem weiteren großzügigen Schluck Wein hinunter, direkt aus der Flasche.

*

Fee nahm sich vor, in ihrer Mittagspause ein wenig spazieren zu gehen. Wann immer es möglich war, verbrachte sie die Zeit mit ihrem Mann Dan. Aber als Chefarzt der Behnisch-Klinik hatte er oft keine Zeit für eine Pause, so auch heute.

Sie lenkte ihre Schritte vom Ausgang der Klinik weg, ohne ein konkretes Ziel vor Augen zu haben. Hauptsache frische Luft und ein wenig Bewegung.

Die schnellen Schritte hinter sich hörte sie zwar kommen, aber sie erschrak dann doch, als eine männliche Stimme rief, sie möge stehenbleiben. Sie spürte eine fremde Hand an ihrer Schulter und reagierte erst abweisend. Dann aber erkannte sie den Mann, der unbedingt mit ihr sprechen wollte.

Robert hatte Felicitas eingeholt, noch bevor er sich überlegt hatte, was genau er mit der Ärztin besprechen wollte. Entsprechend überrumpelt von seiner spontanen Aktion stand er dann vor der Kinderärztin und rang nach Worten.

»Herr Dudasch? Was kann ich denn für Sie tun?«, fragte Fee. Ihr war seine Unsicherheit aufgefallen und sie schenkte ihm ein liebenswürdiges Lächeln.

»Verzeihen Sie diesen Überfall, ich würde gerne noch einmal mit Ihnen sprechen«, stotterte er.

»Gern, kommen Sie doch bitte in einer Stunde in meine Sprechstunde, wenn Sie es einrichten können?«

»Ja«, versprach er. »Ich werde da sein. Danke.«

Seine Assistentin Monika würde es schaffen, ihm eine weitere Stunde Zeit zu verschaffen.

Zur verabredeten Zeit klopfte er an die Tür des Büros der Leitenden Ärztin der Kinderabteilung. Mittlerweile hatte er sich auf das Gespräch gezielt vorbereiten können und so war er in der Lage, sich klar und deutlich auszudrücken.

Fee hatte ihm wortlos zugehört. Er hatte lange gesprochen und sich dabei mehrfach entschuldigt, dass er von ihr ein Gutachten zu seinen Gunsten verlangt hatte und seine Beweggründe erklärt.

Auch Fee hatte die zurückliegende Stunde dazu genutzt, sich darüber Gedanken zu machen, was Jennys Vater von ihr wollen könnte und so war sie nicht überrascht, dass er über die gewünschte Stellungnahme zum Sorgerecht sprach. Sie hatte aber nicht damit gerechnet, dass er sich für sein Ansinnen entschuldigte.

»Ich habe Sie verstanden, Herr Dudasch, machen Sie sich keine Gedanken, aber ich bin froh, dass Sie davon abgekommen sind. Falls Sie auf eine Stellungnahme bestehen, müssten Sie das Gericht dazu bringen, eine solche zu veranlassen. Aber das wissen Sie ja alles besser als ich, da bin ich mir sicher.«

»Natürlich, das war unüberlegt von mir. Ich würde Ihnen gerne erklären, warum es mir so wichtig ist – und weshalb ich doch immer wieder davor zurückschrecke, die ganz großen Werkzeuge aufzufahren.«

»Bitte, sprechen Sie ganz offen, ich habe Zeit, Ihnen zuzuhören«, forderte Fee ihn auf, auch wenn sie ihm nicht sagte, dass sie sich eine Stunde in ihrem Terminkalender extra dafür freischaufeln musste. Sie hätte seine Bitte nach einem Gespräch auch ablehnen können, denn Jenny war aktuell nicht ihre Patientin und für Scheidungsangelegenheiten fühlte sie sich nicht zuständig. Aber irgendwie spürte sie, dass ein Gespräch mit Jennys Vater auch für sie als behandelnde Ärztin neue Erkenntnisse bringen könnte, die ihr bei einem eventuellen nächsten Krankenhausaufenthalt der Kleinen helfen könnten, die Situation besser zu beurteilen. Falls es ein nächstes Mal geben sollte.

»Ich weiß nicht, was in meine Ex-Frau gefahren ist«, begann Robert stockend zu erzählen. »Normalerweise kenne ich sie als fürsorgliche und verantwortungsbewusste Mutter. Ich hätte eigentlich keinerlei Bedenken, mich wenigstens auf ein geteiltes Sorgerecht einzulassen. Sie hat ja recht mit ihrem Vorwurf, dass ich mich seit der Trennung nicht ausreichend um meine Tochter gekümmert habe.«

»Sie hatten Ihren Beruf, der sie voll und ganz in Anspruch genommen hat, nehme ich an und vielleicht hat sich auch in Ihrem Privatleben eine Veränderung ergeben?« Fee versuchte, es ihm leicht zu machen, sich vollständig zu öffnen.

»Ja, das auch. Eine private Veränderung, meine ich, aber das spielt jetzt keine Rolle. Mein Beruf hat mich sehr in Beschlag genommen, das ist richtig, aber ich hätte das auch anders handhaben können. Stefanie nimmt ja auch Rücksicht auf unsere Tochter. Sie wartet mit ihren beruflichen Plänen, bis Jenny etwas älter ist.«

»Es ist auch in unserer modernen Gesellschaft immer noch sehr häufig üblich, dass der Mann sich ums Familieneinkommen kümmert und die Frau die Familienarbeit übernimmt. Insofern bilden Sie und Ihre getrennt lebende Frau keinen Unterschied.«

»Schon. Trotzdem führte das dazu, dass ich meine Vaterpflichten vernachlässigt habe und nur so kann ich es mir erklären, dass ich die Entwicklung nicht früher erkannt habe.« Robert stützte seine Unterarme auf seine Knie und ließ den Kopf hängen. Als er weitersprach, konnte Fee ihn kaum verstehen.

»Was haben Sie gesagt?«, fragte sie nach.

»Ich sagte, dass ich alles falsch gemacht habe, was ein Mann nur falsch machen kann.« Abrupt richtete er seinen Oberkörper wieder auf und sah nun seiner Gesprächspartnerin offen ins Gesicht.

»Wollen Sie mir erklären, was Sie damit meinen?«, fragte ihn Fee freundlich, aber ernst.

»Ach, das sind private Dinge, mit denen will ich Sie nicht belasten, im Grunde bin ich ja wegen Jenny hier.« Er schlug die Hände vors Gesicht und machte auf Fee einen sehr verzweifelten Eindruck.

»Wissen Sie«, sagte sie sanft, »als Ärztin ist es mir durchaus bewusst, dass die Sorgen der Eltern sich auch auf die Gesundheit der Kinder auswirkt. Insofern interessiert mich wirklich alles, was Sie mir anvertrauen wollen. Ganz besonders natürlich, was Jenny betrifft.«

Roberts Blick wanderte zum Fenster, aber er schaute ins Leere. Dann gab er sich einen Ruck und begann zu erzählen.

Fee erfuhr von seiner neuen Beziehung, die er nun für einen großen Irrtum hielt und schwer bereute. Er versicherte ihr, sich von seiner Freundin zu trennen, sobald sich die Gelegenheit dazu böte.

»Die Gelegenheiten für unangenehme Dinge kommen selten von selbst«, bemerkte Fee trocken.

»Ich verstehe, was Sie mir damit sagen wollen und ich weiß auch genau, dass ich fair sein muss und Daniela gegenüber ehrlich sein werde.« Den Grund für seinen Sinneswandel verschwieg er nicht. Als er Fee erklärte, dass er nie aufgehört habe, Stefanie zu lieben, war es für ihn, als hätte er die Wahrheit endlich ausgesprochen.

»Ich werde versuchen, mich mit Stefanie zu einigen, denn sie wird mich nicht zurücknehmen, nach all dem, was ich ihr angetan habe. Aber auf ein gemeinsames Sorgerecht wird sie sich bestimmt einlassen – hoffentlich.«

»Glauben Sie denn, dass es nun doch zur Scheidung kommen muss?«, setzte Fee nach. »Von anderen Fällen weiß ich, dass man einen Scheidungstermin auch absagen kann. Wenn Sie Ihre Frau zurückhaben wollen, werden Sie Zeit dafür brauchen. Warum nehmen Sie sich diese Zeit nicht?«

»Weil ich nicht weiß, ob Stefanie mitspielen würde. Ich habe sie zu sehr verletzt und sie ist eine verdammt stolze Frau.«

»Ja, das ist sie«, pflichtete Fee ihm bei. »Aber ich habe das Gefühl, dass das nicht der einzige Grund für unser Gespräch ist. Was haben Sie noch auf dem Herzen?«

»Das ist richtig. Eigentlich wollte ich über meine Liebesgefühle nicht mit Ihnen sprechen, das ist mir so rausgerutscht.« Er lächelte verlegen und Fee fand, dass diesem gut aussehenden Mann eine sensible Seite durchaus gut stand.

»Geht es um Jenny?«

»Ja. Allerdings nicht nur. Es geht um meine Beobachtungen, die ich in letzter Zeit machen musste und die mich sehr beunruhigen.« Dann erzählte er erst stockend und dann immer flüssiger und lebhafter von seiner Befürchtung, Stefanie sei mit der Betreuung des Kindes deutlich überfordert.

»Sie deuteten so etwas in der Richtung an, als wir vorhin im Flur der Kinderstation aufeinandertrafen. Woraus ziehen Sie denn Ihre Sorgen?«

Robert überlegte einen Augenblick, bevor er weitersprach. Dann erzählte er davon, wie aufmerksam und sorgfältig Stefanie normalerweise mit dem Kind war. »Jenny stand immer an erster Stelle. Stefanie hat auf vieles verzichtet, Hauptsache, Jenny ging es gut. So eine Sache mit dem Erdnussbutterglas wäre ihr normalerweise niemals passiert. Sie hätte es sofort entsorgt, damit unsere Tochter erst gar nicht in Gefahr geraten kann. Es wäre auch niemals vorgekommen, dass Spielzeug außerhalb der Wohnung im Treppenhaus herumlag und falls doch, dann hätte meine Frau darauf geachtet, dass Jenny nicht darüber stolpert.«

Fee überlegte eine Weile, dann fragte sie Robert, ob ihm denn bei seinen ›Papa-Wochenenden‹ an Jenny irgendeine Veränderung aufgefallen sei.

»Sie war stiller als sonst, das stimmt. Aber dasselbe sagte Stefanie auch. Sie hat mir vorgeworfen, es läge an meiner neuen Freundin, die sich mit Jenny nicht besonders gut verstand.«

»Ist das denn so?«, wollte Fee wissen.

»Sie hat ihr nie etwas getan, das auf keinen Fall. Aber Daniela ist keine besonders mütterliche Frau und ich glaube, sie hat Jenny nur akzeptiert, weil ihr nichts anderes übrig geblieben war.«

»Wie steht ihre Freundin denn zu ihrem Plan, Jenny ganz zu sich nehmen zu wollen?«

»Sie war nicht besonders begeistert davon und hat immer wieder deutlich gemacht, dass sie sich keinesfalls als Ersatzmutter sieht.«

»Da stecken Sie in einem ganz schönen Dilemma«, stellte Fee fest. »Ich habe einen Vorschlag für Sie, wenn Sie erlauben. Darf ich?«

»Natürlich«, erwiderte Robert erfreut. »Ich wäre dankbar, von Ihnen einen Rat zu bekommen.«

»Verschaffen Sie sich Zeit, um Ihre private Situation klären zu können und signalisieren Sie Stefanie, dass sich Ihre Ziele geändert haben. Vielleicht gibt Ihnen und Ihrer Familie das Schicksal eine zweite Chance.« Sie schenkte ihm ein ermutigendes Lächeln.

»Das werde ich tun.« Robert schlug sich mit beiden flachen Händen auf die Oberschenkel, bevor er sich schwungvoll erhob und sich herzlich bei der Kinderärztin seiner Tochter bedankte. »Jetzt, wo alles ausgesprochen ist, erscheint mir alles viel klarer. Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll, Frau Doktor Norden.«

»Ach, passen Sie gut auf Jenny auf, damit ist uns allen geholfen.«

Nachdem Robert Dudasch ihr Büro verlassen hatte, blieb Fee noch einen Moment sitzen, bevor sie sich wieder ihren Pflichten auf der Kinderstation widmete. Vorhin, als Robert von der Veränderung im Wesen seiner Frau erzählt hatte, war ihr urplötzlich ein Satz eingefallen, denn Stefanie gesagt hatte: »Ich habe ihr nichts getan.« Was hatte sie damit gemeint? Fee nahm sich vor, später mit ihrem Mann darüber zu sprechen. Als erfahrener Arzt, hatte er vielleicht eine Idee, einen Gedanken, der ihr bei ihren weiteren Überlegungen helfen könnte.

Robert hatte fast fluchtartig die Klinik verlassen. Eilig hastete er zu seinem Wagen. Er wusste jetzt, was er zu tun hatte.

Zum wiederholten Mal an diesem Tag griff er zu seinem Handy und rief seine Assistentin an. Er bat Monika, nun auch die restlichen Termine für heute abzusagen.

»Aber Chef, das wird jetzt schon ein bisschen schwierig«, protestierte sie.

»Sie machen das schon, Monika«, sagte er und legte auf. Er musste seine Entschlossenheit nutzen. Es machte keinen Sinn, das aufzuschieben, was am besten sofort erledigt werden sollte.

Am Abend desselben Tages saß er aufgewühlt aber erleichtert auf seinem Sofa in der Vierzimmerwohnung, die ab sofort von ihm alleine bewohnt wurde. Daniela hatte sein Geständnis, dass er sie nicht mehr liebe – womöglich noch nie richtig geliebt hatte – erstaunlich gelassen aufgenommen. Es gab zwar einen kurzen Streit, in dem sie mit verletzenden Worten nicht gespart hatte, aber schließlich gab sie ihm recht. »Wir passen nicht zusammen, Robert. Glaubst du, das habe ich nicht schon längst selbst bemerkt?« Dann sprach sie noch über ihre Enttäuschung über seine Entscheidung, nicht mit ihr gemeinsam die Kanzlei ihres Vaters weiterführen zu wollen und vor allem darüber, dass er ihr noch keinen Heiratsantrag gemacht hatte. Erstaunlich schnell verkündete sie, dass sie jetzt sofort die nötigsten Sachen packen werde und in die Villa ihres Vaters vorübergehend einziehen werde. Den Rest ihres Hab und Gutes werde sie abholen lassen. Noch bevor Robert realisieren konnte, dass sie für ihren Plan vermutlich schon einen anderen Kandidaten im Auge hatte, war sie weg und Robert fragte sich, weshalb er vor der Aussprache so eine Angst gehabt hatte.

*

Fee freute sich auf den Feierabend mit Dan. Wie durch ein Wunder konnten sie beide gleichzeitig die Klinik verlassen und nach Hause fahren.