E-Book 2048-2057 - Diverse Autoren - E-Book

E-Book 2048-2057 E-Book

Diverse Autoren

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Beschreibung

Die Familie ist ein Hort der Liebe, Geborgenheit und Zärtlichkeit. Wir alle sehnen uns nach diesem Flucht- und Orientierungspunkt, der unsere persönliche Welt zusammenhält und schön macht. Das wichtigste Bindeglied der Familie ist Mami. In diesen herzenswarmen Romanen wird davon mit meisterhafter Einfühlung erzählt. Die Romanreihe Mami setzt einen unerschütterlichen Wert der Liebe, begeistert die Menschen und lässt sie in unruhigen Zeiten Mut und Hoffnung schöpfen. Kinderglück und Elternfreuden sind durch nichts auf der Welt zu ersetzen. Genau davon kündet Mami. E-Book 1: Du bist doch der Vater! E-Book 2: Das Rätsel der doppelten Mama E-Book 3: Eine Rosskur für den Casanova E-Book 4: Ein Winzling versöhnt die ganze Welt E-Book 5: Line reicht's E-Book 6: Lass uns nach Hause gehen! E-Book 7: Die Schönste im ganzen Land … E-Book 8: Ich will für dich da sein, Dennis E-Book 9: Ich verstehe die Welt nicht mehr! E-Book 10: Ich soll mein Kind hergeben?

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Inhalt

Du bist doch der Vater!

Das Rätsel der doppelten Mama

Eine Rosskur für den Casanova

Ein Winzling versöhnt die ganze Welt

Line reicht’s

Lass uns nach Hause gehen!

Die Schönste im ganzen Land …

Ich will für dich da sein, Dennis

Ich verstehe die Welt nicht mehr!

Ich soll mein Kind hergeben?

Mami – Staffel 33 –

E-Book 2048-2057

Diverse Autoren

Du bist doch der Vater!

Alles andere war Lüge

Roman von von Kampen, Jutta

Hubertus Graf von Sutenau auf Sutenau stand auf dem Turm der Burg gleichen Namens und schaute hinunter auf das herrliche, reiche Land, das vor ihm lag.

Der Graf war ein hagerer Herr von Ende Fünfzig mit einem blassen, verbitterten Gesicht, weißem Haar und müden, hellgrauen Augen. Er konnte sich nicht an der Schönheit der in ihrer Frühlingspracht vor ihm liegenden Landschaft freuen, denn er wußte, daß er der letzte Herr auf Sutenau war.

Sein Sohn Erwin, der morgen seinen dreiundzwanzigsten Geburtstag feierte, würde sich nur mehr Graf von Sutenau nennen dürfen, denn alles, was von dem einst großen Besitz übriggeblieben war, waren ein verwildeter, tausend Quadrameter großer Park und diese Burg, die mehr eine Ruine als ein wohnliches Heim war.

Abgesehen davon, daß auch auf diesen bescheidenen Rest der jetzige Bürgermeister von Stenau bereits eine Option hatte. Er wollte nach dem Tode des letzten Herrn auf Sutenau – oder wenn irgend möglich auch früher! – ein Heimatmuseum in den wenigen noch nutzbaren Räumen der Burg einrichten.

Es war gewiß nicht die Schuld von Graf Hubertus, daß es so weit gekommen war: die beiden letzten Kriege, die verschiedenen Währungsreformen und die allgemeine schlechte Lage der Forst- und Landwirtschaft hatten die ehemals reichen Grundherren ruiniert.

Die Löhne waren zu hoch, die Einnahmen aus der Landwirtschaft zu gering – nur mehr ein Familienbetrieb, in dem alle anpackten, konnte sich heute halten, und auch der nur mit Schwierigkeiten.

Er hatte es ja versucht! Seine schöne, zarte Gemahlin war an Überanstrengung gestorben. Nein. Es war vorbei mit den Herren auf Sutenau.

Jetzt waren die ehemaligen Leibeigenen an der Reihe – vor allem dieser unverschämte Riedl, der reichste Bauer im Umkreis, der inzwischen fast drei Viertel des ehemals gräflichen Besitzes sein eigen nannte.

Noch zu Zeiten seines Vaters hatten diese Leute den Hut gezogen, wenn sie dem Herrn Grafen begegneten. – Jetzt schauten sie bestenfalls weg, und der Riedl, der lachte ihm sogar frech ins Gesicht, dieser – dieser Bauerntölpel!

Ein Glück, daß wenigstens der Prior des Benediktinerklosters nicht darauf vergessen hatte, daß es die Herren von Sutenau waren, die vor siebenhundertfünfzig Jahren dieses Kloster gründeten und mit reichem Besitz ausstatteten. Wahrscheinlich, weil auch die Klöster heute zu kämpfen hatten!

Früher hatten an die hundert Mönche in dem prächtigen Gebäude mit der weithin berühmten Kirche gelebt, heute waren es nur mehr neun Herren, den Prior mit eingeschlossen – und die Hälfte weit über Fünfzig!

Doch im Gegensatz zu ihm hatten sie genug Geld, um die weitläufigen Gebäude zu erhalten und sie zu einem Gymnasium von bestem Ruf umzufunktionieren. Die meisten Lehrer und Lehrerinnen waren weltlich. Und natürlich gingen heute auch Mädchen in diese Klosterschule! Zum Beispiel die einzige Tochter von diesem unverschämten Riedl.

Aber immerhin hatte der Prior Erwein damals einen Freiplatz zugestanden und war bereit, ihm das Studium zu bezahlen – sollte er sich für eine geistliche Laufbahn entschließen.

Warum nicht, dachte Graf Hubertus: In seiner Familie gab es viele Bischöfe, mehrere Kardinäle, von den Äbtissinnen und Nonnen ganz zu schweigen! Und sogar eine Heilige!

Als Priester hätte Erwein mit seinem bemerkenswerten Verstand garantiert die Chance zu einer echten Karriere.

Natürlich war es schade – aber was sollte sonst aus ihm werden?

Geld heiraten? Womöglich unter seinem Stand? Niemals!

Der Stolz war den Sutenaus geblieben. Auch Erwein. Dessen war sein Vater sich sicher.

Vorläufig war er noch beim Bund, machte dort seinen Reserveoffizier. Beim Bund bleiben – das wäre natürlich auch eine standesgemäße Lösung. Aber Erwein hatte bereits erklärt, daß ihm das nicht liegen würde.

Ob ihm die geistliche Laufbahn lag?

Wenn er das nächste Mal nach Hause kam, mußte er ernsthaft mit ihm reden!

Jetzt hörte Graf Hubertus die Glocken der Klosterkirchen zur Messe läuten.

Er beeilte sich, die brüchigen Stufen hinunter zu steigen. Er versäumte nie die Messe an den Feiertagen. Die Sutenaus waren, seit das Kloster bestand, Patronatsherren. Dies war der letzte Ehrenposten, der ihnen geblieben war. Sie hatte ihren eigenen Kirchenstuhl, dessen Tür mit ihrem Wappen geschmückt war. Das konnte ihnen niemand nehmen, gleichgültig, wie reich man sein mochte. Jedenfalls nicht, solange das Kloster bestand.

Dieses verbriefte Vorrecht nicht – und auch nicht ihren Stolz.

Auch wenn manche diesen Stolz mit Hochmut bezeichneten.

Der Neid sprach da aus ihnen!

Graf Hubertus lachte verächtlich.

Er zog die Trachtenjacke aus Schilfleinen an, setzte den Trachtenhut auf und steckte an seine Linke den Siegelring mit dem alten Wappen.

Er war ihm sehr weit geworden! Besser, er trug ihn am Mittelfinger, damit er ihn nicht verlor.

Dann stieg er in seinen alten Wagen und ratterte über die steinerne Brücke, die über den Burggraben führte, hinunter ins Dorf zur Kirche.

*

Vor der Kirche standen, wie es auf dem Lande üblich war, die sonntäglichen Meßbesucher und Besucherinnen in ihren Feiertagskleidern und tauschten die letzten Neuigkeiten aus der Umgebung aus.

Früher, dachte Graf Hubertus, als er seinen schäbigen Wagen zwischen den protzigen Gefährten der Bauern parkte, da trugen die Frauen ihre schönen Trachten und die Männer ebenfalls und das hat zu ihnen gepaßt und sie würdig aussehen lassen. Heute zwängten sie sich in modische Kleidung – und wirkten nur mehr komisch und etwas unbeholfen.

Wenn nur Erwein da wäre! Er haßte es, so allein zwischen ihnen durchzugehen und von ihnen übersehen oder mit einem flüchtigen, unhöflichen Gruß bedacht zu werden. Er merkte nicht, wie er diese Leute trotz allem immer noch herausforderte.

Wenn wenigstens der Riedl nicht auch da wäre!

Aber da stand er! Groß, dick und protzig, die wertvolle, antike Scharivarikette über der Weste mit den Silberknöpfen, den Hut mit dem teuren Gamsbart in den Nacken geschoben und grinste ihm entgegen, geradeso, als erwartete er, daß er zuerst grüßte.

»Grüß Gott, alle zusammen«, sagte der Graf, und ein hochmütiges Lächeln glitt über seine Züge, ein dumpfes Murmeln antwortete ihm. So hatte er eine spezielle Begrüßung des am feindseligsten eingestellten Mannes übergangen.

Aber der Riedl war nicht auf den Kopf gefallen und fühlte sich vor allem in der stärkeren Position, was er vielleicht auch war.

»Da geht er hin, der Herr Graf von Habenichts und Hättegern«, sagte er laut und deutlich, nachdem Graf Sutenau an ihm vorbeigegangen war.

Sutenau spürte, wie ihm das Blut erst in den Kopf und dann zum Herzen strömte. Ich darf mich nicht aufregen! Ermahnte er sich und atmete langsam durch. Ich darf ihnen ganz einfach nicht die Genugtuung geben, daß ich die Fassung verliere.

Er drehte sich langsam um und maß Riedl mit einem spöttischen Blick vom Kopf bis zu den teuer beschuhten Füßen, Größe 48 mindestens.

»Wie schade, Herr Riedl«, bemerkte er leise – aber laut genug, daß alle, deren Gespräche schlagartig verstummt waren, ihn hören konnten, »daß Sie sich für all das Geld, mit dem Sie meine Gründe gekauft haben, nicht auch ein bißchen gutes Benehmen und Bildung erstanden haben. Aber wahrscheinlich sollte man es Ihnen nicht übel nehmen. Das ist eben nicht käuflich zu erwerben.«

Und damit wendete er sich um und ging an der schweigenden Menge vorbei in die Kirche. Als erster. So wie es früher einmal üblich war.

Der Riedl bekam vor Wut einen dunkelroten Kopf.

»Dieser arrogante Kerl! Was ist er denn schon? Der meint, weil meine Vorfahren bei den seinen Leibeigene waren, könnte er sich heute noch so aufblasen! Aber dem werd ich es zeigen!«

»Geh, laß ihn doch«, versuchten einige, ihn zu beruhigen. »Er hat doch nichts mehr außer seiner Einbildung! Und daß du ein gescherter Hammel bist, das wissen wir doch alle!«

Die Umstehenden lachten, und langsam gingen sie alle in die Kirche, denn die Orgel spielte bereits das Eingangslied.

Nur der Riedl hatte sich noch nicht so weit beruhigt, daß er es ertragen hätte, den Grafen vorn in seinem Patronatsstuhl sitzen zu sehen.

Daß die anderen Bauern über ihn lachten und ihn auf grobe Art hochnnahmen, nahm er ihnen nicht übel. Das war der Ton, der zwischen ihnen herrschte, und er wußte nur zu gut, daß sie ihn trotzdem bewunderten, weil er so reich und auch so erfolgreich war.

Aber dieser Habenichts! Daß der sich erfrechte –!

Jakob Riedl stand noch immer schwer atmend vor der Kirchentür, als seine Tochter Veronika wieder herauskam.

Vroni hatte die Szene nicht mitbekommen, da sie nicht zu denen gehörte, die vor der Messe erst einmal die letzten Ereignisse durchhecheln mußten. Ihr Vater hatte sie zu den Benediktinern aufs Gymansium geschickt, damit sie das lernen sollte, was der Graf ihm eben abgesprochen hatte.

Als er seine Tochter sah, glätteten sich seine wutverzerrten Züge zu einem stolzen Grinsen.

So ein hübsche Mädel! Und fein sah sie aus! Ganz anders, als die meisten der Bauerntöchter aus der Gegend. Freilich, ihre Mutter war ja auch eine Feine gewesen: von der großen Brauerei in der Stadt. Noch heute war der Riedl stolz auf seine verstorbene Frau.

Ehrlich gesagt, oft stolzer als zu ihren Lebzeiten, wo ihr vornehmes Gehabe ihm gelegentlich auf den Geist gegangen war.

Aber die Vroni war anders, als die Mathilde gewesen war: sie war zwar hübsch und fein, aber dabei lieb und lustig, fleißig und gescheit.

Sie trug ihr hellblondes, lockiges Haar in einem langen, dicken Zopf, der ihr bis auf die schlanke Taille herabhing. Ihre Augen waren groß und veilchenblau, mit dichten, geschwungenen Wimpern und zart gezeichneten Brauen auf der hohen Stirn. Ihr Näschen war fein und ihr Mund so rot wie ein Röschen. Und ihre Hände sahen aus, als wären sie für die Stallarbeit viel zu zart – dabei war sie tüchtig und konnte ordentlich mit zulangen, wenn sie aus ihrer vornehmen Schule nach Hause kam.

Kein Wunder, daß die Bauernburschen aus der ganzen Gegend seinen Hof umschlichen wie die raunzigen Kater. Aber da tat sich nichts! Mit der Vroni wollte er höher hinaus!

Mindestens einen Akademiker! Aber keinen wo notigen – sondern einen, mit dem er rundherum angeben konnte. Und um seine Tochter für einen Akademiker interessant zu machen, wollte der Riedl seinen großen Hof zumindest zu einem kleinen Gutsbetrieb ausbauen.

Das Dirndl, das sie trug, betonte ihre hübsche Figur, und wie sie so auf ihn zuschritt, konnte er nicht mal mehr dem Grafen böse sein, sondern sagte nur zufrieden:

»Fesch bist, Vroni!«

»Warum kommst denn nicht, Vater? Die Messe hat schon angefangen!« ermahnte sie ihn.

»Ach, dieser eingebildete Tropf!« fing er prompt wieder zu schimpfen an.

Die Vroni wußte gleich, um wen es sich handelte. Sie fühlte, wie sie rot wurde, und wendete sich schnell ab.

»Jetzt komm schon, Vater! Unser Kirchenstuhl ist doch so weit vorne!«

»Wie es sich gehört!« erwiderte er zornig. »Die was sind, die sollten nach vorn – und deren Vorfahren vor ein paar hundert Jahren vielleicht einmal was waren, die gehören nach hinten!«

»Ach, Vater! Laß das doch! Auch wenn sie kein Geld mehr haben, sind die Grafen Sutenau doch eine gute, traditionsreiche Familie.«

»Was redest du da für einen Schmarren?« fuhr er auf. »Lernst du das in deiner feinen Schule?«

»Im Geschichtsunterricht, da wird immer wieder der Name Sutenau erwähnt. Die waren beim Kaiser und später bei den bayrischen Herrschern – «

»Ich hör immer ›waren‹! Und das streite ich ja nicht ab! Aber jetzt! Was sind sie jetzt? Und wieso verteidigst du sie plötzlich?« fragte er auf einmal aufmerksam und mißtrauisch.

»Ich will nur gerecht sein«, erwiderte sie unwillig und fühlte, wie sie wieder dunkelrot wurde. »Und jetzt geh ich in die Kirche, sonst ist die Messe aus! Und du kannst meinetwegen hier stehen bleiben und dich weiterärgern!«

Aber das wollte der Riedl natürlich nicht, sondern er hakte sich bei seiner Tochter unter und marschierte mit ihr durch das Kirchenschiff, bis nach vorn zu seinem angestammten Platz, von wo er den Grafen Sutenau gut im Blick hatte.

Und dieser ihn.

*

Natürlich hatte das verlegene Erröten der Vroni Riedl einen Grund. Und dieser Grund war niemand anderer als ein besonders gut aussehender, fröhlicher junger Mann, der eben seine Ausbildung zum Reserve-Offizier bei der Bundeswehr machte.

Auch der Veronika Riedl wäre es als stolze Bauerntochter lieber gewesen, wenn es sich bei dem jungen Herrn, der sie so tief beeindruckt hatte, nicht um den Grafen Erwein von Sutenau gehandelt hätte.

Aber – was konnte man schon gegen das Schicksal unternehmen?!

Die frommen Herren des Benediktinerordens hatten als Zugeständnis an die modernen Zeiten, wie alle anderen Gymnasien, denen ein Internat angeschlossen war, für die 16- und 17-jährigen einen Tanzkurs eingeführt. Und weil es sich bei den Besuchern der Schule in dem ländlichen Gebiet zumeist um Landwirtssöhne handelte und diese sehr oft nach dem Einjährigen bereits die Schule verließen und somit den Kurs nicht mehr mitmachten, waren sie auf die Idee gekommen, als Tanzstundenpartner die Soldaten aus der naheliegenden Kaserne einzuladen, vorzugsweise die Offiziersanwärter.

Und zu denen gehörte der elegante junge Graf.

Natürlich gefiel er nicht nur der Vroni Riedl, er gefiel eigentlich allen jungen Mädchen, mit denen er zu tun hatte, und dies nicht nur im Tanzkurs. Und er wäre nicht Anfang Zwanzig gewesen, wenn ihm das keinen Spaß gemacht hätte.

Natürlich hatte man sie streng ermahnt, wie man sich den Schülerinnen einer Klosterschule gegenüber zu benehmen hatte und daß es bei einem bißchen Schmusen bleiben müsse, wenn überhaupt, sonst…

Und die jungen Männer hielten sich auch daran, weil sie keinen Ärger haben wollten. Aber ausgerechnet bei Vroni und Erwein hatte es richtig gefunkt. Schon bei der ersten Tanzstunde.

Und das, bevor sie wußten, wer der andere war.

Der Tanzlehrer, Herr Uli Mertens, klatschte in die Hände.

»Aufstellen, meine Damen und Herren! Die Herren nach links, die Damen nehmen auf den Stühlen an der rechten Seite Platz. Und jetzt fordern Sie bitte die Dame Ihrer Wahl auf! Halt! Nicht lospreschen! Und auch nicht quer über die Tanzfläche stürmen, sondern jeder geht gemessenen Schrittes.« Herr Mertens machte es ungeheuer elegant vor! – »Langsam und zielbewußt steuerte er auf die ihm gegenübersitzende Dame zu, verneigte sich«, Herr Mertens zeigte, wie er es sich vorstellte, »die junge Dame neigt zustimmend den Kopf«, auch dies wurde zur heimlichen Belustigung aller vorgeführt, da man von seinen Discobesuchen her anderes kannte, »reicht dem Herrn die Hand, und er führt sie zur Tanzfläche.«

Ja, zum Tanzunterricht gehörte auch eine Einweisung in gutes Benehmen. Und in dieser Hinsicht waren auch die jungen Männer, die alle älter waren als die Schülerinnen, noch sehr schulungsbedürftig. Ausgenommen eben dieser eine, der so besonders gut aussah. Und eigentlich schon besser tanzte als Herr Mertens selbst!

Er war groß, noch ein bißchen schlaksig, mit dunklem, leicht gewelltem Haar, dunkelbraunen Augen unter ziemlich starken Brauen, einer elegant gebogenen Nase und einem aufregenden Mund.

Und die Uniform stand ihm sooo gut! Nicht nur Vroni seufzte, als am folgenden Tag die Mädchen sich über die verschiedenen Kursteilnehmer unterhielten.

Und dieser aufregende junge Mann forderte, wann immer er die Gelegenheit hatte, Vroni zum Tanzen auf!

Doch nicht nur er war Vroni aufgefallen, auch sie fiel ihm unter all den mehr oder weniger erwachsenen Mädchen auf. Sie war nicht nur weit hübscher als die meisten, sie wirkte auch – unschuldiger, so, als käme sie aus einem Haus, in dem man sie sehr behütete. Was durchaus zutraf, da ihr Vater ja besondere Pläne mit ihr hatte.

Am Ende der ersten Tanzstunde, der hübsche Offiziersanwärter hatte mehrmals mit ihr getanzt, fragte er sie:

»Wie heißt du eigentlich?« Dann lachte er. »Nein, ich muß es ja wie Herr Mertens machen: gnädiges Fräulein, würden Sie mir die Ehre erweisen, mir Ihren Namen zu nennen?«

»Stimmt nicht! verbesserte ihn Vroni kichernd. »Eigentlich müßten Sie mir vorgestellt werden – von einer alten Tante oder einem alten Onkel. Und wenn so jemand nicht da ist, müßten Sie mir zuerst einmal Ihren Namen nennen!«

»Ich fürchte, ich habe nicht aufgepaßt«, tat er beschämt. »Ich war zu sehr damit beschäftigt, zu überlegen, ob deine Augen dunkelblau sind – oder dunkelviolett.«

»Und?« fragte Vroni entzückt. »Wie sind sie?«

»Im Moment – dunkelviolett! Aber vorhin, als wir tanzten – und über Herrn Mertens lachten, da waren sie dunkelblau.«

Weiter kamen sie nicht, denn einer von seinen Kameraden rief von der Tür her:

»He! Was ist los! Brauchst du eine extra Einladung? Der Bus wartet nicht!«

»Bis morgen!« rief er ihr zu, und sie schaute ihm etwas verwirrt nach, weil die nächste Tanzstunde doch erst in einer Woche war.

Der folgende Tag war ein Freitag, und die Schüler und Schülerinnen, die in der Nähe wohnten, durften nach Schulschluß nach Hause gehen. Zu ihnen gehörte auch die Vroni.

Als sie nach dem Mittagessen und der nachmittäglichen Arbeitsstunde ihr Fahrrad über den Klosterhof schob, entdeckte sie neben der Pförtnerloge einen jungen Mann in Uniform – und ahnte, nein, wußte! sogleich, wer das war: ihr Kavalier von gestern.

Sie tat, als hätte sie ihn weder erkannt noch gesehen, schwang sich aufs Rad und fuhr, schnell, bevor die anderen kamen, hinaus auf die Straße, die zum nahen Dorf und der Burg Sutenau führte.

Der junge Mann sprang aus dem Schatten, in dem er sich halbwegs verborgen hatte, und rief ihr nach:

»Hallo! Halt! Warte doch!«

»Ja, so etwas!« sagte Vroni und tat überrascht, wobei ihre schauspielerischen Talente ihn keineswegs überzeugten. »Was tust du denn hier?«

Er hatte sie eingeholt und hielt nun ihr Rad an der Lenkstange fest.

»Darf ich dich begleiten?«

»Bist du denn zu Fuß hier?« fragte sie verwundert, weil sie nirgends ein Auto oder sonst ein anderes Gefährt entdecken konnte.

»Ein Freund hat mich gebracht und holt mich später wieder ab«, erklärte er. »Wo wohnst du denn?«

»In Sutenau!« erwiderte sie und wies mit ihrem hübschen, runden, energischen Kinn in die Richtung.

»Das paßt ausgezeichnet«, fand er. »Da muß ich nämlich auch hin!«

Sie warf ihm einen neugierigen Blick zu, aber er sagte nichts weiter, sondern erkundigte sich statt dessen wieder nach ihrem Namen.

»Wir wurden gestern unterbrochen!« erinnerte er sie.

»Ja. Und du hast schon wieder vergessen, daß der Herr, wenn er ein Herr ist, sich zuerst vorstellt.«

»Wenn du auf guten Manieren bestehst«, zog er sie auf. »Also, ich heiße Erwein Sutenau und mache meinen Reserveoffizier bei…«

Sie blieb abrupt stehen.

»Sutenau? Wie das Dorf, wie die Burg?«

»Ja.«

Er sah sie an. Sie war ganz blaß geworden.

»Was machst du für ein Gesicht? So eindrucksvoll ist die alte Ruine wirklich nicht!«

»Nein«, stimmte sie ihm zu und ihre Stimme klang ganz dünn.

»Aber – ich heiße Veronika Riedl.«

»Ach!« stieß er heraus. Und dann standen sie beide auf der Straße und starrten sich an.

»Eigentlich«, meinte Erwein nach einer längeren Pause, »eigentlich ist es doch dumm, wenn wir uns genauso unvernünftig wie unsere Väter verhalten. Es ist nun mal, wie es ist – deswegen können wir doch befreundet sein, oder?«

Sie zögerte, sah in seine warmen dunkelbraunen Augen und fühlte ihr Herz ganz heftig schlagen.

»Veronika!« sagte er und ergriff ihre Hand.

Sie schluckte, lachte ein wenig verlegen und erwiderte dann:

»Meine Freunde nennen mich Vroni!«

»Vroni«, wiederholte er, »so nett kann man meinen Namen nicht abkürzen!«

»Erwein«, sagte sie langsam und fand im geheimen, daß das unheimlich vornehm und elegant klang.

»Tja, was sollen wir jetzt tun?« fragte er sie neckend. »Willst du, daß ich nicht mehr zu eurer Tanzstunde komme?«

»Doch!« erwiderte sie schnell und wurde rot.

»Nun, dann machen wir es doch wie Romeo und Julia – und verraten einfach zu Hause nichts!«

Einen Moment sah sie ihn unsicher an, dann meinte sie rasch:

»Es gibt ja auch gar nichts, was wir verraten könnten.«

»Eben!« bekräftigte er und lachte.

Um ihre Befangenheit zu zerstreuen, ließ er sich von ihr von der Schule erzählen. Sie machten Witze über Lehrkräfte, die er auch schon gekannt hatte, und allmählich war sie wieder genauso unbeschwert wie gestern während der Tanzstunde.

Als die Landstraße sich gabelte, rechts ging es zur Burg hinauf, links weiter zum Dorf, schlug Erwein vor, daß es wohl vernünftiger wäre, wenn sie sich hier trennten.

»Du weißt ja, wie die Dorfbewohner sind: die klatschen und ratschen, und dann wird es deinem Vater zugetragen, und meiner kriegt es selbstverständlich auch zu hören, und dann ist wieder Feuer auf dem Dach.«

»Warum vertragen sie sich eigentlich nicht?« wollte Vroni wissen.

Er sah sie an, in ihre schönen dunkelvioletten Augen, mit den seidigen Wimpern und dem märchenhaft unschuldigen Ausdruck.

»Ich habe keinen Schimmer.«

Aber das traf nicht zu. Er wußte, daß ihre beiden Väter die Vergangenheit nicht vergessen konnten: der Riedl nicht, daß seine Vorfahren eimal Leibeigene gewesen waren, und sein Vater nicht, daß den seinen einmal hier alles gehört hatte. Sein Vater verzieh dem Bauern nicht, daß ihm jetzt fast alles gehörte, und der war wütend, daß der verkrachte Graf von ihm mehr für die Gründe verlangt hatte, als er von einem anderen bekommen hätte – weil er wußte, daß er sie eben unbedingt haben wollte. Sie machten sich gegenseitig Schwierigkeiten, wo es nur ging, wobei der Bauer weit mehr Möglichkeiten hatte.

»Es ist für meinen Vater nicht einfach«, sagte er schließlich, weil sie noch immer wartete. »Es ist ja nicht seine Schuld, daß alles so gekommen ist!«

»Die Schuld meines Vaters ist es auch nicht!« erwiderte sie sofort.

»Das behaupte ich auch nicht. Und auf alle Fälle will ich nicht mit dir deswegen streiten.«

»Ich will mich auch nicht streiten«, erwiderte sie errötend.

Erwein beugte sich zu ihr und küßte sie rechts und links auf die Wangen – so wie es in seinen Kreisen üblich war, aber für die Vroni bedeutete es etwas ganz anderes. Ihre Augen wurden womöglich noch größer und noch dunkler.

»Wann mußt du wieder in deine Schule?« fragte er und verstand sich selbst nicht, daß ihm so viel daran lag, die kleine Bäuerin wiederzutreffen.

»Ich fahre immer Montag früh. Aber… «

»Aber?«

»Ich könnte ja sagen…«

»Daß du eine Schularbeit hast und…«

»…daß ich noch etwas vorbereiten und schon am Sonntag abend zurückfahren muß.«

»Das ist eine ausgezeichnete Idee!« fand er und lachte. »Also, bis wann?«

»Sonntag? Fünf Uhr?«

»Einverstanden!«

Vroni schwang sich auf ihr Rad und strampelte los. Ach, was war das für ein herrlicher Tag heute! Sie sang vor sich hin. Als sie sich nach einer Weile umdrehte, stand er noch immer da und winkte ihr nach. Sie winkte zurück – hoppla! Jetzt wäre sie fast umgefallen! Gut, daß hier nicht so viel Verkehr war! Als sie sich das nächste Mal umschaute, hielt ein Auto neben Erwein, und er stieg ein. Das war sein Freund, der ihn abholte.

Ob das auch ein Graf war oder so etwas?

Als sie in den Hof einbog, kam ihr Vater aus dem Haus.

»Heut hat es aber lang gedauert«, begrüßte er sie. »Jetzt mußt deinen Kaffee allein trinken!«

»Ja, wir haben nächste Woche eine Schularbeit«, gab sie zur Antwort und wunderte sich, wie leicht ihr die Lüge von den Lippen ging, »ich muß auch wieder früher zurück. Schon am Sonntag nachmittag.«

»Sei nur fleißig«, lobte er.

Und als sie am Sonntag nach der Messe heimgingen, wiederholte er: »Sei nur fleißig, damit dich diese adeligen Hungerleider nicht so dumm anreden können!«

*

Sonntag nachmittag erwartete Erwein sie wieder an der Stelle, wo die Straße zur Burg abzweigte. Doch er hatte sich dieses Mal von einem Freund ein Auto geliehen und packte unter Lachen und nicht gerade geringen Schwierigkeiten ihr Rad in den Gepäckraum.

»Du mußt doch nicht wirklich in die Schule?« fragte er.

»Nein, das nicht – aber…« Sie wußte nicht weiter.

»Wir gehen aus!« erklärte er vergnügt. »Wann mußt du zurück sein?«

»Zehn Uhr spätestens.«

»Zehn Uhr!« rief er schokkiert. »Da haben sämtliche Diskotheken noch geschlossen!«

»Ja. Aber ich glaube, es ist sowieso besser, wenn wir nicht gesehen werden«, meinte Vroni besorgt.

»Da hast du auch wieder recht«, fand er. »Gehen wir also ins Kino.«

Sie nahmen Plätze in der letzten Reihe, und Vroni bestand darauf, ihre Karte zu zahlen.

»Das kann ich mir gerade noch leisten«, sagte er, etwas verärgert.

Sie schaute ihn erschrocken an.

»So habe ich das nicht gemeint! Es ist nur – man hat uns gesagt...«

Er begann zu lachen.

»Ach so! Mädchen«, zitierte er dann mit verstellter, hoher Stimme, »nehmt von einem Mann nichts anderes an als Blumen und vielleicht noch eine Bonbonnière! Richtig?«

Vroni lachte mit.

»Ja! Das haben sie gesagt, – bevor wir in die Tanzstunde gehen durften.«

»Ein Kinobesuch verpflichtet auch zu nichts«, versicherte Erwein vergnügt. Doch als es dunkel wurde, legte er den Arm auf die Lehne ihres Sessels, und als der Hauptfilm begann, ließ er ihn vorsichtig herunterrutschen um ihre Schultern und zog sie ein wenig an sich, und wie von selbst sank ihr Kopf an seine Schulter.

Als das Liebespaar auf der Leinwand sich küßte, da suchten seine Lippen die ihren.

Was war sie süß! Unvorstellbar ahnungslos! Wie eine Klosterschülerin aus vergangenen Zeiten. Nein, das konnte man nicht so nebenbei während einer Filmvorstellung ausnützen, da mußte man sich schon Zeit lassen, fand Erwein. So etwas mußte man voll genießen.

Er verschränkte seine Finger mit den ihren und wartete geduldig, bis der Film aus war.

»Ich fürchte, ich muß dich zum Internat bringen, wenn du wirklich um zehn Uhr zu Hause sein mußt«, sagte er.

»Ja, sonst fragen sie so viel«, erwiderte sie bekümmert.

Er lachte und hielt dann fünfzig Meter vor dem Eingang zur Klosterschule. Vroni machte Anstalten auszusteigen, aber er hielt sie zurück, und jetzt zeigte er ihr, was er während seiner Ausbildung zum Offizier in den letzten Jahren noch alles gelernt hatte.

Doch Vroni war auch auf diesem Gebiet begabt und lernte schnell.

Die Zeit verging wie im Flug, und sie schraken auseinander, als es vom Kirchturm zehn Uhr schlug.

»Du lieber Himmel! Schnell, mein Rad! Hoffentlich hat uns niemand gesehen!« jammerte Vroni.

Der Abschied war kurz und unromantisch.

»Wann sehen wir uns wieder?« rief er ihr nach.

»...Tanzstunde...«, verstand er.

Er wartete noch, ob sie auch richtig heimkam. Dann stieg er wieder in den Wagen und startete in die Kreisstadt, in seine Kaserne.

Er fuhr langsam, weil er über dieses Abenteuer nachdenken mußte. Sicher war die Vroni süß. Aber sie war die Tochter von dem unverschämten Riedl. Ein Bauernmädel. Wirklich nichts für eien Grafen Sutenau. Auch wenn er kein Geld hatte! Zuerst hatte er mit dem Gedanken gespielt, ihrem Vater zu zeigen, wozu so ein Bauernmädel gut war.

Aber dann hatte er sich vor sich selbst geschämt: so ein liebes, unschuldiges Ding! Was hatte sie ihm getan? Sie konnte doch nichts dafür, daß ihr Vater ein Hammel war und seiner pleite!

Ganz bestimmt wäre es klüger, wenn er sie nicht mehr sehen würde.

Sein Vorgesetzter hätte garantiert Verständnis dafür, wenn er darum bat, nicht mehr zu dieser Tanzstunde gehen zu müssen.

Ja, das war bestimmt das Beste. Erwein war fest entschlossen, es bei diesem einmaligen Treffen bleiben zu lassen.

Doch als der Donnerstag kam, hatte er noch immer nicht mit seinem Vorgesetzten gesprochen. Und als er Vroni wieder sah, da wußte er, daß er es wohl auch nicht tun würde. Er sagte ihr zwar, daß er Freitag nachmittag Dienst habe und sie nicht abholen könne – doch als sie mit dem Rad aus der Schule kam, stand er wieder da.

»Ich habe mit einem Freund getauscht«, behauptete er. Vroni strahlte ihn glückselig an.

Sie war bis über beide Ohren verliebt.

Und als der Tanzkurz seinem Ende zuging, konnte sich Erwein nicht länger vormachen, daß es ihm nicht genauso erging. Die ganze Zeit hatten sie sich am Wochenende getroffen. Auch wenn es für Vroni immer schwieriger wurde, so viele Schulaufgaben und andere Pflichten zu erfinden.

Als sich die großen Sommerferien bedrohlich näherten, beschlossen beide, mit ihren Vätern zu reden. Der Streit hatte lange genug gedauert, fanden sie, und die Vorbehalte der beiden waren wirklich schon lange überholt! Genaugenommen schon gute achtzig Jahre, eben so lange, wie es in Deutschland keine Monarchie mehr gab.

*

Graf Hubertus versuchte, im Burghof Holz zu spalten. Es war ein ausgesprochen kalter Tag und in dem alten Gemäuer zog es sogar, wenn draußen die Sonne schien. Die Knochen taten ihm weh, und er wollte versuchen, im Kamin Feuer zu machen. Es gelang ihm nur selten, vor allem rauchte es immer, weil der Abzug nicht mehr richtig funktionierte. Als er Schritte hörte, schaute er erleichtert auf. Vielleicht kam da jemand, der ihm helfen konnte!

»Erwein!« rief er erfreut, als er seinen Sohn sah. »Schau, könntest du nicht …?«

»Gern, Papa«, sagte der und hoffte, seinen Vater in gute Stimmung zu bringen, wenn er ihm half, den offenen Kamin zu heizen. Er konnte es nämlich – im Gegensatz zu ihm!

Als sie schließlich von dem prasselnden Feuer saßen, schaute der Graf sich um und nickte zufrieden. Die flackernden Flammen warfen nur ein ungewisses Licht, und das ließ die Sprünge im Mauerwerk, den teilweise abgebrochenen Stuck und die Tatsache, daß auch sonst alles renovierungsbedürftig war, nicht deutlich erkennen.

»Was meinst du, wie prachtvoll das alles wieder wird, wenn du einmal eine reiche Frau heimbringst«, sagte er zu Erwein.

Das war ein guter Anfang, fand der. Trotzdem wollte er vorsichtig einschränken.

»Fürchtest du nicht, daß du einen etwaigen reichen Schwiegervater mit den Kosten erschrecken könntest, die eine Renovierung der Burg bedeuten würden?«

»Du kannst doch unseren Stammsitz nicht verfallen lassen?« ereiferte sich sein Vater.

»Natürlich ist es schade«, stimmte Erwein ihm zu. »Aber die Mädchen aus unseren Kreisen haben höchst selten ein Industrieunternehmen im Hintergrund. Und du weißt selbst, daß Land- und Forstwirtschaft wirklich nicht mehr so viel abwerfen.«

Sein Vater verzog das Gesicht. Das traf natürlich zu. Und selbst wenn sie genug Geld hätten, dann besaßen sie wahrscheinlich auch mehrere kostspielige Schlösser und Burgen, die erhalten werden mußten.

»Ich habe auch schon darüber nachgedacht«, meinte er schließlich. »Vielleicht sollten wir auch jemanden aus dem jüngeren Adel in Erwägung ziehen. Zum Beispiel aus dem Industrie-Adel des 19. Jahrhunderts.«

»Die Geschichte ist nur«, sagte Erwein und tat, als würde er überlegen, »daß Leute, die Verständnis für Geldangelegenheiten haben, ihr Vermögen noch weniger in etwas stecken, was nichts bringt.«

»Du liebe Zeit! Was stellst du dir denn vor? ereiferte sich Graf Hubertus.

»Ich könnte mir vorstellen, daß jemand, der sehr ehrgeizig ist und gerne in unsere Gesellschaft aufsteigen möchte, am ersten bereit wäre, die Burg zu renovieren.«

Sein Vater schaute ihn prüfend an.

»Das klingt ganz so, als würdest du an jemand bestimmten denken.«

»Das tu ich auch, Papa. Ich habe mich nämlich in ein bezauberndes Mädchen verliebt. Sie ist hübsch, klug, gebildet – und wir lieben uns.«

»Und wo hast du sie kennengelernt«, wollte der Graf wissen.

»Auf dem Tanzkurs im Kloster.«

Das sagte noch nichts. Aber die Einleitung seines Sohnes ließ ihn eine unangenehme Überraschung erwarten.

»Kenne ich sie?«

»Sie wahrscheinlich weniger – aber ihren Vater!«

»Jetzt rede endlich!«

Obgleich das Feuer eine angenehme Wärme ausstrahlte, hatte sich die Stimmung des Grafen sichtlich verschlechtert. Er hätte sich ja gleich denken können, daß es etwas Unangenehmes war, wenn Erwein unangemeldet während der Woche hier auftauchte!

»Also?« fragte er in scharfem Ton.

»Sie wird dir bestimmt gefallen, wenn du sie kennenlernst«, versuchte Erwein ihn zu besänftigen.

»Falls ich sie kennenlerne – wenn du dich nicht einmal traust, mir ihren Namen zu sagen!«

Es war Erwein wirklich nicht wohl dabei! Es war weit schwieriger, als er gedacht hatte, als er mit Vroni darüber sprach. Er holte tief Luft, und weil es sich ja doch höchstens hinausschieben ließ, aber nicht vermeiden, platzte er endlich heraus:

»Es ist die Veronika Riedl.«

Eisige Stille.

Sogar das Feuer im Kamin drohte zu erlöschen, aber Erwein wagte nicht, sich zu bewegen und Holz nachzulegen.

Nach einer endlosen Pause sagte Graf Hubertus:

»Ich nehme an, ich habe mich verhört.«

»Papa…«

»Oder – du findest das komisch und willst einen dummen Scherz machen!«

»Papa, wenn du sie kennen würdest...«

»Ein Bauerntrampel kommt mir nicht ins Haus! Und eine Tochter vom Riedl nicht einmal als Putzfrau!«

»Papa – ich liebe sie!«

»Quatsch! Mit dreiundzwanzig ist man höchstens verknallt. Nach der Wintersaison in der Stadt hast du vergessen, daß es sie überhaupt gibt.«

»Nein, Vater.« Erwein war aufgestanden. »Das dachte ich vielleicht zu Beginn unserer Bekanntschaft. Aber so ist es nicht. Alles, was du vielleicht an Vorbehalten hast, hatte ich anfangs auch. Aber inzwischen, nachdem ich sie mit den Mädchen unserer Kreise verglichen habe…«

»Ich habe ›Nein‹ gesagt, jede weitere Unterhaltung über dieses Thema ist überflüssig. Ich werde deinen Kommandeur benachrichtigen, daß du nicht mehr an diesem Tanzkurz teilnehmen darfst. Und auch im Kloster werde ich Bescheid sagen, daß man dir den Zutritt verbietet.«

»Papa, bitte, ich verstehe dich nicht! Die Zeiten haben sich doch geändert! Schau doch nur, wen die Prinzen aus regierenden Häusern heiraten! Was sind wir im Vergleich zu ihnen?«

»Unser Adel ist älter, als der sämtlicher skandinavischer Königshäuser!« trumpfte Graf Hubertus auf.

»Ja«, sagte Erwein traurig. »Aber sie sind noch wer – und wir – waren es nur einmal. Bitte! Papa, denk doch daran, daß mit dieser Verbindung das meiste unseres ehemaligen Besitzes wieder uns gehören würde.«

»Du weißt nicht, was du redest!« erwiderte sein Vater. »Du kennst diesen Riedl nicht! Selbst wenn ich einverstanden wäre – du würdest dir von ihm nur einen Korb holen. Er würde dich mit den Hunden von seinem Hof jagen!«

»Papa -!«

»Ich habe ›Nein‹ gesagt – und ich bitte dich, jetzt zu gehen!«

*

Am Rande des ehemals gräflichen, jetzt Riedschen Waldes stand eine Eiche, die wohl mehrere hundert Jahre alt war. Zumindest hatte sie bereits den dreißigjährigen Krieg miterlebt, denn im Schutz ihrer mächtigen Äste befand sich eine kleine Kapelle, welche die Bewohner von Burg und Markt Sutenau der Mutter Gottes geweiht hatten, zum Dank dafür, daß sie die Kriegswirren unbeschadet überstanden hatten. Hier hatten sich Erwein und Veronika verabredet, nachdem ein jedes mit seinem Vater gesprochen hatte.

Erwein setzte sich auf die kleine Bank, die an der Kapellenwand lehnte und wartete. Es dauerte ewig lange, und ihm wurde klar, daß das alles andere als ein gutes Zeichen war.

Es dunkelte, und die Sterne blitzten kalt und fern am Himmel, als er endlich Schritte hörte.

»Vroni!« rief er.

»Ja, freilich, Vroni!« antwortete die höhnische Stimme des Riedl-Bauern. »Die hab ich bereits wieder ins Internat gebracht. Und das eine sag ich dir, du feiner Graf von Habenichts! Wenn du meinst, du kannst meine Tochter heiraten, um deinen Wald und deine Wiesen wieder zu kriegen, dann hast du dich schwer geschnitten! Daraus wird nix! Da zünd ich lieber meinen Hof selber an, als daß ich so einen Schwiegersohn wie dich haben möchte. Dein Vater hat nix zambracht, du bist auch net besser und deine Vorfahren waren Leuteschinder…«

»Herr Riedl…«

»Ich will gar nichts hören. Es gibt nämlich nichts, was meine Meinung ändern könnte. Und halte dich von der Vroni fern – sonst sorg ich dafür, daß dein Vater seine alten Tage auf der Straße verbringt! Hast mich verstanden – du jämmerliche Figur!«

Sein Vater hatte recht! Niemals würde dieser grobe Kerl seine Einwilligung geben! Erwein ballte die Fäuste. Es fiel ihm schwer, sich zu beherrschen, doch wenn er sich mit ihm stritt, würde alles noch viel schlimmer werden. So schwieg er.

Riedl wurde darüber wenn möglich noch wütender.

»Und damit du es weißt; verschwind von meinem Grund und Boden! Auch hier im Wald hast du nichts verloren!«

Wenn ich ihn umbringe, dachte Erwein wütend und vollendete für sich den Gedanken: dann sitz ich im Zuchthaus. Das wäre auch keine Lösung. Mein Gott, wenn ich nur mit der Vroni reden könnte!

»Was ist? Gehst endlich!?« schrie der Bauer.

»Ein Freund holt mir hier ab.« Erwein bemühte sich, ruhig und gelassen zu sprechen, und genau das war es, was Riedl noch mehr aufbrachte. Er wußte, daß er kein Recht hatte, dem jungen Grafen den Aufenthalt im Wald zu verbieten. So knurrte er nur etwas Unverständliches und ging zu seinem Hof zurück.

Erwein aber setzte sich wieder auf die Bank und beschloß zu warten, ob Vroni vielleicht einen Weg gefunden hatte, doch noch zu kommen.

Er war todmüde und wäre bestimmt eingeschlafen, wenn es ihm nicht so kalt gewesen wäre. Schließlich beschloß er, ihr entgegen zu gehen. Er kannte ja den Weg, den sie mit ihrem Rad immer nahm, wenn sie von der Schule kam, um sich hier mit ihm zu treffen.

Er stampfte mit den Füßen und rieb sich die Arme und fiel in einen leichten Trab und als er die andere Seite des Waldes beinahe erreicht hatte, kam ihm wahrhaftig das zitternde Licht eines Fahrrads entgegen.

»Vroni!« rief er leise.

»Erwein!« antwortete sie und sprang vom Rad, ließ es einfach zu Boden fallen und lief ihm entgegen und direkt in seine Arme. Weinend klammerte sie sich an ihn.

»Was sollen wir nur tun? Oh, Erwein, ich will ohne dich nicht leben!«

»Das sollst du auch nicht«, versicherte er und bedeckte ihr Gesicht mit Küssen. »In einem halben Jahr habe ich meinen Reserveoffizier. Vielleicht kann ich aktiv bei der Bundeswehr bleiben. Oder es findet sich sonst etwas. Auch wenn es nicht viel ist, was ich dort verdiene – auch andere kommen mit dem Gehalt aus!«

»Mein Vater wird es nie erlauben! Er sagte…« Sie verschwieg, was er alles Böses gesagt hatte. »Er sagte, eher würde er mich in ein Kloster stecken!«

»Oh, ich weiß, was er zu dir gesagt hat!« Erwein lachte bitter. »Er war hier und hat mich beschimpft.«

»Mein Gott!« schluchzte Vroni.

»Das macht mir nichts«, behauptete der junge Mann. »Mein Vater war auch nicht gerade zimperlich. Nein, wir werden hei­raten so bald ich etwas verdiene!«

»Das ist noch so lange hin. Und wer weiß, was passiert!« Sie begann wieder zu weinen.

»Aber ich liebe dich doch wirklich!« versicherte er verzweifelt.

»Ich habe mir etwas ausgedacht, wie sie vielleicht doch mit unserer Heirat einverstanden sind«, flüsterte Vroni.

»Was denn?« fragte er überrascht.

Sie zog seinen Kopf herunter und sagte es ihm ins Ohr.

»Liebling! Du bist so jung – ich weiß nicht!«

»Aber ich weiß es! Ganz sicher!«

»Das wird aber sehr schwer für dich. In einem halben Jahr…«

»Bestimmt haben sie dann nichts mehr dagegen. Und dann ertrage ich es auch leichter, wenn ich dich nicht mehr sehe«, bat sie.

Und weil Erwein nicht weniger unglücklich war und genauso verliebt und kopflos und jung wie sie, ging er auf ihren Vorschlag ein.

Sie liebten sich im taufeuchten Gras am Waldrand und weinten und lachten gleichzeitig.

Als der Morgen graute, trennten sie sich. Erwein brachte Vroni mit dem Wagen seines Freundes, den er sich wieder einmal geliehen hatte, zurück zum Internat. Sie kletterte durch das noch offen stehende Fenster wieder hinein.

»Schreib mir!« flehte sie.

»Und du – schreibst mir auch!« bat er, und sie küßten sich wieder und wieder.

»Du mußt gehen! Die Patres stehen um diese frühe Stunde auf!« mahnte sie und hielt ihn gleichzeitig fest.

»Ich muß zum Dienst«, flüsterte er heiser vor Kummer. »Ich will doch nicht riskieren, daß sie mich womöglich nicht nehmen!«

»Aber – du willst doch gar nicht zum Bund!« erinnerte sie sich schluchzend.

»Aber ich will dich!« gab er verzweifelt zur Antwort.

Jetzt drangen die ersten Geräusche aus dem Kloster.

»Leb wohl! Vergiß mich nicht!«

»Nie!« versprach Erwein und rannte weg, stieg in den Wagen, noch einmal leuchteten die Scheinwerfer in einem Gruß auf, dann war er fort.

Vroni zog die Schuhe aus und schlich barfuß durch die kalten Gänge.

Was hatte sie getan?

Wenn es umsonst war!

Oder wenn sie doch nicht schwanger wurde?!

Oder – wenn er sie doch vergaß?!

Nein, nein! Es war richtig gewesen! Es war die einzige Möglichkeit, ihre Liebe vielleicht doch noch zu retten.

*

Wie Erwein schon vermutet hatte, suchte sein Vater den Kommandeur auf und erzählte ihm von der unpassenden Affäre seines Sohnes, und selbstverständlich bekam er Arrest und dürfte nicht länger an der Tanzstunde teilnehmen.

Erwein schrieb Vroni jede Woche, versicherte sie seiner Liebe und daß er nur deshalb so folgsam sei, um seine Zukunft als aktiver Bundeswehroffizier nicht zu gefährden. Schließlich wollte er der militärischen Ausbidungen eine auf der eigenen Universität der Bundeswehr anschließen, um nach der üblich frühen Pensionierung bis ins Alter für Vroni und ihre gemeinsamen Kinder sorgen können.

Vroni schrieb ihm jedoch jeden Tag, und einmal die Woche schickte sie den zumeist sehr lang gewordenen Brief ab. Er war nicht besonders inhaltsreich. Aber darin stand, was für sie beide das Wichtigste war: Ich liebe dich! Ich sehne mich nach dir! Wenn die Zeit nur schneller vergehen würde!

Doch Erweins Briefe erreichten Vroni nicht: Graf Hubertus Sutenau hatte dafür gesorgt, daß sie abgefangen wurden. Der Prior händigte sie ihm aus, und Graf Hubertus versteckte sie im Geheimfach seines antiken Sekretärs, wobei er jedes Mal deprimiert feststellte, daß ein weiteres Furnier abgesprungen war. Und jedes Mal wurde er noch wütender auf den Riedl, so als ob er daran schuld wäre.

Doch ausnahmsweise waren die beiden Widersacher in einer Hinsicht einmal der gleichen Meinung: Die Vorstellung, seine kluge, hübsche, feine Vroni könnte den verkrachten, eingebildeten Adelsherren wieder zu ihrem ehemaligen Besitz verhelfen, ging dem Bauern so gegen den Strich, daß er genau wie der Graf den Prior aufsuchte und ihn auf seine grobe Art aufforderte, die Korrespondenz seiner aufmüpfigen Tochter zu überwachen.

Denn seit sie damals mit ihm über ihre Liebe zu sprechen versucht hatte, war sie nicht mehr an den Wochenenden aus dem Internat nach Hause gekommen; sie trotzte! Ja, sie weigerte sich sogar, ins Besuchszimmer zu kommen, wenn er mit ihr sprechen wollte.

Was freilich auch noch andere Gründe hatte.

Der Prior mochte den anmaßenden Bauern nicht. Und wenn er auch den Hochmut des Grafen nicht besonders schätzte, so hoffte er doch, mit dem jungen Mann ein neues Mitglied für seinen Orden zu gewinnen.

Er versicherte Riedl, daß er darauf achten würde, daß seine Briefe zu seiner Tochter gelangten und sie auch keine abschicken konnte. Da Letzteres aber um einiges schwieriger war, riet er ihm, auch den Kommandeur einzuweihen, damit die Post des jungen Grafen kontrolliert würde.

Wutschnaubend fuhr Riedl in die Garnisonsstadt, ging in die Kaserne und veranstaltete dort einen solchen Zauber, daß man ihn auf nicht viel weniger deutliche Art hinausbugsierte. Fluchend, schreiend und schimpfend stand er vor dem Kasernentor, zum Gaudium der jungen Soldaten, bis ein erfahrener Unteroffizier kam und ihm mitteilte, daß man ihn verhaften lassen würde, wenn er nicht in den nächsten fünf Minuten verschwunden wäre.

Diese Freude würde er seinem Erzfeind nicht machen! Und nur deshalb setzte er sich in seinen schweren Wagen und kehrte nach Hause zurück.

Graf Hubertus erfuhr es aber doch! Denn der Kommandeur rief Erwein zu sich und ermahnte ihn streng, nichts mehr mit diesem ungehobelten Pack zu tun zu haben. Woraufhin Erwein die Beherrschung verlor – er hatte seit Längerem schon nichts mehr von Vroni gehört! – und erklärte, daß sein Privatleben einzig und allein seine eigene Sache sei.

»Nicht, wenn Sie aktiv werden wollen!« schnarrte der Kommandeur.

Woraufhin der junge Mann sich zu der Behauptung verstieg, ohnehin nichts dergleichen vorzuhaben.

Kaum war die dumme Bemerkung ihm über die Lippen gekommen, bereute er es schon. Aber es war zu spät. Sein Vorgesetzter sah ihn ganz böse aus kleinen, scharfen Augen an.

»Es genügt nicht mehr, einen guten alten Namen zu tragen, man muß sich auch sonst einzufügen verstehen. Sie, Sutenau, können das anscheinend nicht. Und damit sind Sie auch nicht für uns als Offizier geeignet. Wie wollen Sie mit dieser laxen Einstellung jungen Rekruten ein Vorbild sein.«

Und so kam es, daß Erwein, anstatt daß er an der Bundeswehr-Uni das Studium zum Maschinenbau-Ingenieur begann, nach vier Monaten als Reserve-Offizier nach Stuenau zurückkehrte.

Er hatte die ganze Zeit seinen Vater nicht besucht, weil er ihm seine Einstellung zu Vroni nicht verzeihen konnte. Jetzt erschrak er, so sehr hatte der Graf sich verändert. Er war in den wenigen Monaten um Jahre gealtert, sein Haar war fast weiß und ganz dünn geworden und er ging gebückt. Er war so mager geworden, daß seine Kleider um ihn schlotterten.

Doch er war noch immer genauso eigensinnig und starrköpfig und verließ den einzig halbwegs warmen Raum der immer weiter verfallenden Burg, wenn Erwein versuchte, über Vroni mit ihm zu reden.

Als er von ihr nichts mehr gehört hatte, hatte er aufrichtig versucht, sie zu vergessen. Er hatte sich sogar um eine junge Dame aus seinen Kreisen bemüht, als er zu dem Geburtstag eines wohlmeinenden Onkels eingeladen worden war.

Doch seltsamerweise wußte er mit dem hübschen und auch gebildeten jungen Mädchen nichts zu reden. Ihr Lachen erschien ihm albern und ihr Schweigen langweilig. Ihre hellen, blauen Augen konnten sich nicht mit den Veilchenaugen seiner Vroni zu vergleichen.

Und als es ihm bei einer zweiten und dritten genauso erging, gab Erwein auf: es war sinnlos! Er liebte Vroni!

Er war nicht nur verknallt oder verliebt – er liebte sie.

Und auch wenn er anfangs enttäuscht gewesen war, daß sie nicht mehr schrieb, und sogar ärgerlich – sonst hätte er sich bestimmt nicht um andere Mädchen gekümmert! – je mehr Zeit verstrich, um so sicherer war er sich, daß irgend etwas geschehen sein mußte.

Etwas Schwerwiegendes.

Doch auf seine Briefe erhielt er nach wie vor keine Antwort. Wenn er auf dem Riedlhof anrief, wurde einfach aufgelegt, und als er sich entschloß, im Internat nach ihr zu fragen, ließ man ihn nicht hinein, sondern der Pförtner teilte ihm mit, daß die Riedl Veronika schon lange nicht mehr hier wäre.

*

Graf Hubertus machte sich große Sorgen um seinen Sohn. Auf seine Art liebte er ihn aufrichtig: Er war der letzte Sute-nau, und es kam ihm vor, als wären alle guten Eigenschaften des alten Geschlechtes in diesem jungen Mann vereint. Warum nur konnte er sich nicht für eine junge Dame seiner Kreise interessieren?

Oder wenigstens für jemanden, der den Rest des einst so stolzen Besitzes erhalten konnte?!

Als Erwein ihn nach Vroni fragte, riß er sich zusammen und unterdrückte seinen aufsteigenden Zorn.

»Ich weiß es wirklich nicht, mein Junge«, erwiderte er mit einem tiefen Seufzer. »Du glaubst doch nicht, daß dieser Riedl mir erzählt, was aus seiner… «, er schluckte, fast hätte er etwas Beleidigendes gesagt! – »aus seiner Tochter geworden ist. Aber, Erwein, willst du denn nicht das Angebot des Priors annehmen?«

»Papa!« begehrte der ungeduldig auf.

»Sei doch vernünftig: mit deinem Namen kannst du bei der katholischen Kirche bestimmt eine große Karriere machen!«

»Ich will aber nicht!« protestierte Erwein.

»Du kennst doch unsere finanzielle Lage. Der Prior hat mir sogar zugesichert, daß er versuchen würde zu verhindern, daß die Burg und der Park in die Hände dieses…«

»Gib dir keine Mühe! Ich werde nie und nimmer einen geistlichen Beruf ergreifen!« erklärte Erwein schroff.

Jetzt verlor sein Vater die Geduld.

»Du könntest es wenigstens versuchen! Die katholische Universität in Eichstätt hat einen hervorragenden Ruf: du kannst dort umsonst studieren – Theologie, Philosophie, Literatur, was immer du willst. Wenn du dich dann absolut nicht für die geistliche Laufbahn entscheiden kannst, hast du wenigstens eine gute Ausbildung.«

»Nein!« schrie Erwein und stampfte wütend mit dem Fuß auf. »Du kannst mich nicht dazu bringen, etwas Unehrliches zu tun! Ich bin nicht bereit, für den Erhalt dieses alten Gemäuers dem Prior oder sonst jemand vorzugaukeln, daß ich Prieser werden möchte, und dann abzuspringen – nein! Das tu ich nicht!«

»Aber – aber…« Sutenau griff sich ans Herz, er sank in einen der alten Sessel, bei denen bereits die Sprungfendern durch das brüchige Leder stachen, » du kannst doch nicht einfach hier herumsitzen – du…« Er konnte nicht weiter sprechen, die Schmerzen wurden zu stark.

Wenn Erwein nicht so außer sich gewesen wäre, hätte er wohl bemerkt, wie schlecht es seinem Vater ging. So aber rannte er nur zornig in dem großen, kalten Saal auf und ab, und das Ächzen der morschen Dielen machte ihn noch wütender.

»Ich sitze nicht nur herum! Ich suche Vroni! Und ich werde sie auch finden! Und außerdem habe ich mich bereits entschlossen, was ich werden will: Schriftsteller!«

Schriftsteller! In Sekundenschnelle zog die Zukunft von Sutenau an dem alten Grafen vorbei. Er sah Erwein in einem Dachkämmerchen sitzen und Romane oder Gedichte verfassen, die niemand lessen wollte.

Und die Burg würde verfallen – und…

Er sackte zusammen.

Jetzt erst sah Erwein, wie bleich sein Vater war. Er stürzte zu ihm. Aller Groll war vergessen.

»Papa! Papa! Was ist denn? Hörst du mich? Hast du Schmerzen? Papa!«

Er erhielt keine Antwort.

Als endlich der Rettungswagen kam, war Graf Hubertus Sutenau zu seinen Ahnen eingegangen.

*

Anfangs hatte Vroni befürchtet, ihre einmalige Liebesnacht mit Erwein möchte nicht genügt haben. Sie würde kein Kind empfangen haben und damit nicht das geringste Druckmittel gegen ihre voreingenommenen Väter.

Doch sehr bald setzten die morgendlichen Übelkeiten ihrer Sorge ein Ende. Aber nur, um einer weit tiefer gehenden Angst Platz zu machen: sie bekam ein Kind – aber von Erwein hörte und sah sie nichts mehr.

Ihr war klar, daß er sie telefonisch nicht erreichen konnte, auch, daß er nicht vorbei kommen konnte: ihre Schulleiterin hatte ihr deutlich verboten, irgendwelchen Kontakt irgendwelcher Art mit ihm zu unterhalten. Man hatte ihr außerdem verboten, an den Tanzstunden teilzunehmen, so daß es ihr unmöglich war, einem von Erweins Kameraden eine Nachricht zuzustecken oder von ihm eine zu erhalten.

Aber daß sie nach den ersten beiden Briefen auch keine Post mehr von ihm erhielt – das verstand sie nicht. Der Gedanke, man könnte seine Briefe und auch ihre abfangen und ihnen beiden vorenthalten, war ihr unvorstellbar. Er kam ihr einfach nicht.

Dafür kamen ihr alle möglichen und unmöglichen anderen Gedanken. Daß er sie doch nicht so liebte wie sie ihn, daß er ihrer und der mit ihr verbundenen Komplikationen überdrüssig war, daß sein Vater ihn davon überzeugt hatte, eine adelige und reiche Frau zu heiraten – und – und – und –

Und die morgendlichen Übelkeiten taten das Ihrige, um ihre Stimmung immer tiefer sinken zu lassen. Dazu kam, daß es ihr zunehmend schwerer fiel, ihr schlechtes Befinden vor ihren beiden Zimmerkammeradinnen zu verheimlichen.

Die Mädchen waren nicht so ahnungslos, daß sie sich auch nach mehreren Wochen immer noch auf einen verdorbenen Magen hinausreden konnte. Die Schülerinnen flüsterten untereinander, sie lachten und tuschelten, und vielleicht war auch ein gewisser Neid auf die brave Vroni daran schuld, die nicht nur eine gute, fleißige Schülerin war, sondern sich auch noch den attraktivsten Offiziersanwärter in der Tanzstunde geschnappt hatte. Jedenfalls ließen ihre Zimmergenossinnen ein paar Andeutungen bei der Turnlehrerin fallen.

Damit wurde der hübschen jungen Lehrerin bewußt, daß Vroni seit Wochen nicht mehr am Unterricht teilgenommen hatte und sich immer mit irgendeiner Ausrede, die ihr im Nachhinein recht fadenscheinig vorkam, entschuldigt hatte.

Da sie selbst, auf Grund ihres Aussehens, ihrer guten Laune und ihrer häufig wechselnden Freundschaften einen nicht gerade leichten Stand unter den meist ältlichen Damen des Lehrerkollegium hatte, glaubte sie, ihre Aufmerksamkeit und ihr Pflichtbewußtstein unter Beweis stellen zu können, wenn sie auf das häufige verdächtige Unwohlsein der armen Vroni hinwies.

Vroni war sich längst darüber im Klaren, ihren Zustand nicht länger verheimlichen zu können. Aber sie hatte begreiflicherweise Angst und schob die Unterredung mit der Leiterin des Internates – Buben waren nur als Auswärtige an der Schule! – täglich aufs Neue hinaus.

Dabei hatte sie festgestellt, daß sie, für die es doch das erste Kind war, erschreckend an Umfang zunahm – und dies bereits jetzt, wo sie erst Ende des dritten Monats war.

Eines Morgens, sie stand noch im Nachthemd vor dem Waschbecken, ihre Zimmerkameradinnen waren bereits zum Frühstück gegangen, und sie kämpfte vergeblich gegen die noch immer nicht nachlassende Übelkeit, als die Tür aufflog und Frau Zimmermann ohne anzuklopfen, eintrat.

Die arme Vroni erschrak so, daß sie sich gleich nochmals übergeben mußte. Und während sie noch über dem Waschbecken hing, trat die alte Jungfer zu ihr und sagte mit einem bösen Lachen:

»Ah, das ist also die Folge deiner unerlaubten Ausflüge! Du bist schwanger! Schämst du dich nicht?«

Vroni begann zu weinen. Sie fühlte sich so elend.

»Heulen bringt nichts. Das hättest du dir früher überlegen müssen!« fauchte Frau Zimmermann und beschloß, vor den nächsten Tanzstunden ihr Veto einzulegen. Bei der heutigen Einstellung der Jugend konnte man so etwas nicht mehr riskieren.

»Ich habe schon so lange nichts mehr von ihm gehört!« schluchzte Vroni, als wäre das eine Entschuldigung für alles.

Frau Zimmermann schmunzelte hämisch.

Was hast du denn erwartet? Ein Graf aus so altem Adel – und ein dummes Bauernmädel? Auch wenn du ein bißchen Geld hast? Nein, der kann was anderes haben, um sich zu sanieren!«

»Das ist nicht wahr!« protestierte Vroni unter Tränen. »Er liebt mich. Er hat es gesagt!«

»Das sagen sie immer«, erwiderte die Internatsleiterin bitter. Und wenn Vroni nicht so in ihrem eigenen Kummer verstrickt gewesen wäre, dann hätte sie wohl gemerkt, daß die unverheiratete, ältliche Frau wohl ähnliche Erfahrungen gemacht hatte. Auch wenn diese sie nicht verständnisvoller hatten werden lassen. »Das sagen sie immer«, wiederholte sie. »Zumindest bis sie erreicht haben, was sie wollen.«

Vroni weinte leise vor sich hin. Sie setzte sich auf ihr Bett, weil ihr noch immer schwindlig war.

»Es geht gleich vorbei – ich…«

»Oh! Laß dir nur Zeit!« meinte Frau Zimmermann spöttisch. »Es kommt nicht auf eine Stunde an. Du brauchst nicht mehr zum Frühstück zu kommen und in den Unterricht sowieso nicht. Unter diesen Umständen kannst du nämlich nicht auf der Schule bleiben.«

Vroni schaute sie entsetzt an.

»Mach kein solches Gesicht: das hättest du dir eben alles überlegen müssen! Außerdem ist für ein Bauernmädchen das Einjährige an einem exklusiven Internat wie dem unseren schließlich auch etwas.«

»Aber – Papa will doch, daß ich studiere!« flüsterte Vroni entsetzt darüber, was nun alles auf sie zukommen würde.

»Nun, vielleicht nimmt dich ja noch eine andere Schule«, meinte Frau Zimmermann abschätzig. »Ich werde jedenfalls dem Direktor Bescheid sagen, daß er deinen Vater anruft, damit der dich abholt.« Und mit einem letzten, abschätzigen Blick auf die völlig verstörte Vroni verließ sie das Zimmer, um den Prior aufzusuchen.

*

Der Prior, Dr. theol. Dr. phil. Antonius Falter, war ein schlanker Herr unbestimmbaren Alters mit einem asketischen Gelehrtengesicht. Er hörte sich mit niedergeschlagenen Augen an, was die aufgeregte und mühsam ihren boshaften Triumph verbergende Frau Zimmermann ihm berichtete.

Im Stillen verwünschte er die dumme Gans von Turnlehrerin, die nicht zuerst zu ihm gekommen war, sondern im Lehrerzimmer herumgequatscht hatte. Doch er blieb beherrscht, wenn man davon absah, daß seine schmalen Lippen noch um eine Spur schmaler wurden, und sagte mit leiser, gepflegter Stimme:

»Sorgen Sie dafür, daß nicht geredet wird!«

»Aber…«

»Ich überlasse es Ihnen, Frau Zimmermann. Schließlich liegt es nicht zuletzt an ihrer offensichtlich mangelnden Aufsicht, daß so etwas überhaupt vorkommen konnte.«

Die Heimleiterin schnurrte zusammen.

»Jawohl, Herr Direktor!«

»Sagen Sie auch bei den Kollegen im Lehrerzimmer, daß nicht darüber geredet werden darf.« Und er betonte das Wörtchen ›darf‹ mit leiser, scharfer Stimme, so daß nicht der geringste Zweifel daran bestand, was er meinte. »Mit dem Vater spreche ich«, erklärte er abschlie-ßend.

»Und – die Schülerinnen…?«

»Die Schülerinnen haben nichts zu wissen!«

Tja, das war sicherlich leichter gesagt als getan. Aber es war eben sehr wichtig, daß der Ruf der Schule nicht geschädigt wurde.

Als der Prior wieder alleine in seinem Büro war, trommelten seine schlanken, blassen Finger ungeduldig auf die Schreibtischplatte. Ob die beiden jugendlichen Übeltäter damit bezweckt hatten, eine Heirat zu erzwingen?

Das würde bedeuten, daß Graf Hubertus seinen Sohn nicht überreden konnte, dem Orden beizutreten. Vielleicht wäre ihm die Mitgift der kleinem Bäuerin gar nicht so unwillkommen... Prior Falter beschloß, den Grafen erst einmal nicht zu informieren. Zuerst wollte er hören, was dieser grobe Riedl eigentlich sagte.

Er ließ den Bauern durch seine Sekretärin umgehend in einer äußerst dringenden Angelegenheit zu sich bitten. So etwas ließ sich nicht am Telefon erledigen! Und keine zwei Stunden später saß ihm Franz Riedl mit rotem Kopf und aufgeregt schnaufend gegenüber.

»So sehr ich es bedauere, Herr Riedl, wir können Ihre Tochter nicht länger auf der Schule behalten«, eröffnete der Prior das Gespräch.

Riedl schluckte empört.

»Und warum nicht? Sie gehört doch zu Ihren besten Schülerinnen!«

»Deshalb bedaure ich es ja«, erwiderte der Geistliche gewandt. »Aber – sie ist schwanger.«

»Sie ist…«

»Jawohl. Sie erwartet ein Kind. Im wievielten Monat ist nicht bekannt. Vielleicht wissen Sie mehr...«

»Das ist – das ist doch – und so was nennt sich eine Schule für bessere Leute! Was tun denn Ihre Lehrer und Ihr Aufsichtspersonal die ganze Zeit? Bei den Preisen...« Oh, der Riedl war nicht auf den Mund gefallen! Er warf dem feinen Prior allerhand an den Kopf, und der mußte innerlich zugeben, daß er mit dem einen oder anderen nicht so unrecht hatte.

Selbstverständlich gab er es nicht zu.

»Herr Riedl, es hat wenig Sinn, wenn wir uns jetzt gegenseitig die Schuld zuweisen. Im Internat ist es nicht passiert!«

»Auf meinem Hof auch nicht!«

»Dann wahrscheinlich auf dem Weg...« Der Prior lächelte mit schmalen Lippen.

Riedl verstummte schnaufend. Man sah ihm an, daß er überlegte. Die Schularbeiten! Vroni war fast regelmäßig am Sonntag früher aufgebrochen, weil sie noch lernen wollte. Das war es.

Er nickte mehrmals.

»Ja. So wird es gewesen sein. Sie redete immer von Schularbeiten, Prüfungen und so.«

»Aha...« Wieder lächelte der Prior.

»Dem steig ich aufs Dach! Diesem Sutenau in seiner verfallenen Burg und mit all seinen Schulden...«, polterte er erneut los.

»Könnten Sie sich nicht vorstellen, Herr Riedll«, warf der Prior leise ein, aber so bestimmt, daß der Bauer in seinen Schimpftiraden abbrach und ihm zuhörte, »daß die beiden jungen Leute etwas damit bezweckt haben?«

»Ja, freilich! Heiraten wollen Sie! Sanieren will sich der Habenichts!«

»Genau. Das meine ich!«

»Aber da hat er sich geschnitten! Meine Vroni kriegt er nicht! Und meinen Hof zweimal nicht! Auch mit einem dicken Bauch findet die Vroni noch an jedem Finger einen, eine so gute Partie, wie sie ist! Da ist sie nicht auf so einen windigen Grafen angewiesen!«

»Vielleicht – möchte sie aber…«, meinte der Prior.

»Das lassen Sie nur meine Sorge sein! Der werde ich den Kopf zurechtsetzen, daß sie ihn nimmer anschaut! Diesen – diesen – es fiel ihm nichts Passendes ein.

»Tja, dann will ich Sie nicht länger aufhalten«, sagte der Prior und erhob sich lächelnd. »Ich wünsche Ihnen und Ihrer Tochter alles Gute. Und ich hoffe, daß Sie beide nicht mit Groll an die Schulzeit hier zurückdenken. Wenn Sie irgendeinen Rat brauchen...« Er brach mit einem feinen Lächeln ab.

Und Riedl verließ ihn in dem Gefühl, daß sie beide sich ganz einig waren.

Prior Dr. Dr. Falter trat vor das große Kruzifix, das die Wand gegenüber seinem Schreibtisch schmückte, und schaute in das leidende Gesicht des Heilands.

»Ich hoffe, Herr, es richtig gemacht zu haben«, sagte er mit einem Seufzer.

Er bekam keine Antwort. Aber es kam ihm vor, als wäre der Ausdruck der Christusfigur noch schmerzlicher geworden. Er wandte sich rasch ab und widmete sich wieder der Korrektur der Aufsätze der Abiturklasse. Doch irgendwie konnte er sich nicht recht konzentrieren.

»Lächerlich!« sagte er halb-laut zu sich selbst. »Seit Wochen ist doch kein Brief mehr gekommen... Er hat sie bestimmt längst vergessen.«

*

Als Franz Riedl das Schlafzimmer seiner Tochter betrat, um ihr zu helfen, die Koffer zu seinem Wagen zu tragen, sah sie ihm mit blassem Gesicht entgegen.

Er betrachtete sie streng und prüfend.

Ja, sie hatte sich sehr verändert in den letzten Monaten. Ihr Gesicht schien ihm etwas gedunsen, und die Augen waren trüb. Trotz des weiten Pullis, den sie über den Jeans trug, sah man die Wölbung des Bauches. Ihr sonst so schönes, blondes Haar war strähnig.

Er nickte grimmig.

»Na? Bist jetzt zufrieden?«

»Papa!« schluchzte sie auf und wollte ihm um den Hals fallen.

»Laß das!« knurrte er. »Wie weit ist es denn?«

»Ich glaub…«

»Wenn du nur glaubst, dann fahren wir jetzt gleich zu einem Arzt, der es feststellen wird!« unterbrach er sie und packte die beiden großen Koffer. »So eine Schand! Wenn das deine Mutter wüßte!«

Vroni schlich wie eine arme Sünderin hinter ihm her, den Kopf gesenkt. Sie war froh, daß Unterricht war und sie auf den Gängen keine ihrer Klassenkameradinnen und Freundinnen begegnete.

Als sie neben ihm im Auto saß, fragte sie mit zitternder Stimme: »Hast du etwas vom Erwein gehört?«

»Meinst du den jungen oder den alten Habenichts von Hättegern?« fragte er höhnisch zu-rück. »Nein. Zum Glück pflege ich mit denen keine Freundschaften. Ich weiß nur....« Er warf ihr einen schlauen Blick zu.

»Was?« fragte sie aufgeregt.

»Er geht viel aus. Sucht eine reiche Erbin. Jedenfalls erzählte das die Alte, die in der Bruchbude Ordnung zu halten versucht.«

Vroni wurde noch blasser und elender.

Das hatte gesessen! Gut so!