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Der Räuber Grapsch konnte man nicht übersehen, denn er war fast zwei Meter groß, mit Schuhgröße neunundvierzig. Aus seinem Struwwelhaar ragten große rote Henkelohren, und der schwarze Bart reichte ihm bis zum Nabel. Seine Räuberhöhle mitsamt dem Fledermausdreck, den Wassertropfen und dem Gestank liebte er über alles. Erst der schimmelnde Po seiner Tochter Quarka kann ihn davon überzeugen ein Eigenheim zu bauen - doch auch hier läuft nicht alles reibungslos... Die witzig-skurrilen Geschichten über den furchtlosen Räuber, von Rolf Rettich mit viel Detailfreude illustriert, sind längst ein Klassiker geworden.Weitere Räuber Grapsch Geschichten: - Räuber Grapsch rund um die Welt - Räuber Grapsch fühlt sich nicht wohl - Räuber Grapsch muss leiden
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Seitenzahl: 65
„Schaut her“, rief der Räuber Tassilo Grapsch den Fledermäusen zu, die von der Decke seiner Höhle herabhingen, „das ist meine Tochter! Ein Prachtstück!“
Er hob das Kind an den Füßen hoch, dass es wie die Fledermäuse mit dem Kopf nach unten hing. Aber es war viel schöner als eine Fledermaus, denn es hatte rote Locken wie seine Mutter und große Ohren wie sein Vater.
Allerdings war es noch runzlig, denn es war erst einen Tag zuvor zur Welt gekommen. Aber schon am nächsten Morgen sah es viel glatter und runder aus.
„Wie ein Luftballon, den man aufbläst“, sagte Mutter Olli, die ihrem Mann nur bis zum Gürtel reichte.
„Jetzt kann man sie nicht mehr übersehen“, meinte der Räuber.
Auch ihn konnte man nicht übersehen, denn er war fast zwei Meter groß, mit Schuhgröße neunundvierzig. Aus seinem Struwwelhaar ragten zwei große rote Henkelohren, und der schwarze Bart reichte ihm bis zum Nabel. Das ganze Juckener Ländchen zitterte vor ihm.
Er schaute interessiert zu, als Olli die Kleine an ihrer Brust saugen ließ. Aber Olli hatte nicht genug Milch. Den Grapschen waren nämlich die Vorräte ausgegangen, weil Tassilo den ganzen Winter über im Gefängnis gesessen hatte. Und nun begann das Kind zu brüllen.
Grapsch nahm seine Tochter behutsam auf den Arm und begann zu singen. Er sang rau und falsch, und der Text war zum Fürchten:
Schlaf, Tochter!
Wer dich stört,
dem schlag ich den Schädel ein,
tralala, mit einem Stein ...
„Da nimm dir erst mal deinen eigenen Schädel vor“, sagte Olli, „denn dein Gebrüll stört sie.“
„Ich brülle nicht“, sagte Grapsch würdevoll, „ich singe.“ Und er sang weiter:
Schlaf, Tochter!
Wer dir was antun will,
der wird nicht alt.
Den mach ich kalt!
„Gib doch nicht so an“, sagte Olli. „Du hast noch nie jemanden kaltgemacht.“
„Aber ihr gefällt es, wenn ich so was singe“, sagte er.
Tatsächlich hatte die Kleine aufgehört zu weinen. Zärtlich sang er seine schauerlichen Lieder weiter:
Schlaf, Tochter!
Und wenn sich auch hundert
Ungeheuer heranwälzen,
dein Vater dreht sie alle
durch den Fleischwolf ...
„Das reimt sich ja nicht einmal“, sagte Olli. „Kein bisschen reimt sich das.“
„Aber gerade so mag sie’s“, sagte Grapsch.
Er sah seine Tochter lange an, und sie sah ihn an.
„Sie muss unbedingt einen Namen bekommen“, sagte er.
Das fand Olli auch. Sie schlug den Namen Lisbeth vor, nach ihrer Oma Lisbeth in Juck am See. Aber Tassilo wollte sie lieber Quark nennen. „Sie soll doch groß und stark werden“, erklärte er. „Quark macht stark. Deshalb.“
„Bist du nicht gescheit?“, rief Olli. „QUARK! Hat man schon jemals so einen Namen gehört?“
„Er klingt nach vollem Mund“, sagte Grapsch träumerisch. „Und man kann ihn so gut rufen.“
„Man müsste mindestens ein A dranhängen“, meinte Olli, „damit’s nach Mädchen klingt.“
„QUARKA“, sagte Grapsch. „QUARKA GRAPSCH. Klingt nicht schlecht.“
„Man könnte sich dran gewöhnen“, sagte Olli versöhnlich. „Aber beim nächsten Kind bestimme ich den Namen!“
Sie nahm ihm das Kind aus dem Arm und legte es in den Laubhaufen, der das Bett der Grapsche war. Er beugte sich über die Kleine und schob seine dicken Zeigefinger in ihre winzigen Fäustchen. Sie umklammerte sie ganz fest. Als er seine Finger wieder zurückziehen wollte, ließ sie nicht los. So zog er Quarka aus dem Laub heraus, bis sie frei an seinen Zeigefingern in der Luft hing. Was war sie doch für ein Wunderkind!
Er fand es merkwürdig, dass Olli nicht vor Erstaunen aufschrie. Aber sie rührte gerade in der Suppe und schaute nicht herüber.
Behutsam ließ er Quarka wieder ins Laub hinunter. Und nun kam ihm eine großartige Idee: Er holte Ollis Besen, hielt den Besenstiel quer über Quarkas Brust und legte Quarkas kleine Hände um den Stiel. Quarka umklammerte ihn so fest, wie sie auch die Finger ihres Vaters umklammert hatte. Vorsichtig hob er den Stiel hoch und schaukelte ihn hin und her. Als Quarka schön im Schwung war, ließ er sie einen Salto schlagen. Und noch einen, und noch einen! Quarka kreiste wie ein Propeller um den Stiel!
„Schau doch nur, was Quarka kann“, rief Grapsch Olli stolz zu. Die stieß einen schrillen Schrei aus, kam angestürzt und riss Quarka vom Besenstiel. „Du Rabenvater!“, kreischte sie und zog ihn wütend am Bart. „Willst du unser Kind ermorden?“
Sie küsste die Kleine ab und legte sie auf den großen Eichentisch, um sie zu windeln. Das Kind fing an zu schreien.
„Siehst du“, sagte Grapsch, „sie will zurück an den Besenstiel.“ Olli fand keine Zeit zu antworten, denn als Quarka wieder den Mund aufriss, um zu quäken, fiel ein Fledermausdreck hinein. Olli fasste schnell mit dem Finger nach, aber Quarka hatte ihn schon hinuntergeschluckt. „Was jetzt?“, rief Olli verzweifelt. „Sie kann doch noch keinen Fledermausdreck verdauen! Sie wird Durchfall bekommen und sterben! Das kommt nur davon, dass du mich die Fledermäuse nicht aus der Höhle hast scheuchen lassen. Überhaupt – diese Höhle!“
Die ganze Nacht beobachteten sie das Kind. Aber Quarka schlief fest. Als sie erwachte, saugte sie putzmunter an Ollis Brust. „Gott sei Dank“, sagte Grapsch. „Sie scheint Fledermausdreck gut zu vertragen.“
„Egal, ob Durchfall oder nicht“, sagte Olli energisch, „jedenfalls steht fest: Höhlen sind nichts für kleine Kinder. Tassilo, wir brauchen ein Haus !“
Nein, von einem Haus wollte Grapsch nichts hören. Da nahm er lieber seine Taschenlampe und die große Ersatzräuberpistole aus der Schrankschublade – die andere Pistole hatten ihm die Juckenauer Polizisten abgenommen, bevor sie ihn ins Gefängnis gesteckt hatten –, warf sich den Beutesack über die Schulter und stapfte davon. Nur so hatte er seine Ruhe. Und schließlich musste ja auch Essen her! Quarka brauchte Milch, und Milch gab’s nur, wenn Olli genug zu essen bekam. Außerdem spürte er selber heftigen Hunger. Er musste vorsichtig sein. Er war ja gerade erst aus dem Juckenauer Gefängnis ausgebrochen, und sicher lauerten alle Polizisten darauf, ihn wieder einzufangen. Und so schlich er diesmal nicht nach Juckenau, auch nicht nach Juckendorf, sondern nach Juck am See. Dort raubte er selten. Dort würde man ihn nicht erwarten.
Es war schon dunkel, als er an den See kam. Er konnte ihn nicht überqueren, denn das Eis war schon getaut. So musste er außen herumgehen, um das Dorf zu erreichen. Er schlug einen Bogen um den Bahnhof und schlich an den Gleisen entlang. Vor dem Einfahrtsignal, das auf Rot stand, wartete ein Güterzug. Der Lokomotivführer streckte den Kopf aus dem Fenster, um frische Luft zu schnappen.
„Hallo“, rief Räuber Grapsch aus der Dunkelheit zu ihm hinauf, „was bringst du denn Schönes ins Juckener Ländchen? Kohle? Autos?“
„Nichts dergleichen“, antwortete der Lokomotivführer. „Lauter Fressalien. Von Schinken bis Nudeln, von Kaffee bis —“
Grapsch grunzte erfreut, kletterte am ersten Wagen hinter der Lokomotive hinauf und schoss das Türschloss auf.
„He“, rief der Lokomotivführer empört, „was machen Sie denn da?“
„Na was wohl?“, fragte Grapsch gelassen. „Einen Überfall natürlich.“
In diesem Augenblick wurde das Einfahrtsignal grün. Der Lokomotivführer musste weiterfahren. „Schuft!“, brüllte er wütend zu Grapsch hinüber. Der kümmerte sich nicht um das Geschrei, schob hastig die Tür auf – und schon war er im Wagen. Das war ein Duft! In aller Eile warf er drei Kisten Salamiwurst zur Tür hinaus. Vier riesige Schinken schleuderte er hinterher. Er kannte die Gegend genau. Er würde alles wieder finden.
Der Lokomotivführer war in Panik: Auf den Bahnhöfen Juck am See und Juckendorf durfte er nicht halten. Denn in Juckenau, der Endstation dieser Bahnlinie, wartete der Schnellzug DONNER UND DORIA. Der durfte erst abfahren, wenn der Güterzug angekommen war, damit es keinen Zusammenstoß gab. Und er musste pünktlich abfahren! So konnte der Lokomotivführer dem Bahnhofsvorsteher von Juck am See nur verzweifelt zurufen: „Räuber im Zug!“