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Der Räuber Grapsch mit seinen zwei Metern Länge und dem struppigen Bart sieht wirklich zum Fürchten aus. Besonders klug ist er nicht, aber dafür sehr stark. Weder Fledermausdreck in der Suppe noch Eiszapfen in seiner Räuberhöhle können ihn aus der Ruhe bringen. Und wenn er Stiefel braucht, dann raubt er sie sogar dem Polizeihauptmann persönlich! Alle Leute haben vor ihm Angst, bis sich eines Tages Olli in seinen Wald verirrt - und sich keineswegs vor ihm fürchtet. Sie wird sogar seine Räuberfrau. Dazu muss er sich aber erst mal bei Ollis Tante vorstellen, was gar nicht gut läuft ... Die witzig-skurrilen Geschichten über den furchtlosen Räuber, von Rolf Rettich mit viel Detailfreude illustriert, sind längst ein Klassiker geworden.Weitere Räuber Grapsch Geschichten: - Ein wilder Winter für Räuber Grapsch - Ein Eigenheim für Räuber Grapsch - Räuber Grapsch rund um die Welt
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Seitenzahl: 61
An einem schönen Sommerabend nach Dienstschluss fuhr der Polizeihauptmann des Juckener Ländchens, Sieghelm Stolzenrück, von Juckenau nach Juckendorf. Er fuhr auf seinem Fahrrad, weil er gern die Vögel singen hörte – und weil er sparsam war. Unvorsichtigerweise fuhr er allein und unbewaffnet.
Hinter der scharfen Kurve bei den fünf Eichen stand plötzlich der Räuber Grapsch breitbeinig und barfuß mitten auf der Straße. In der schwarz behaarten Faust hielt er eine Pistole.
„Halt“, donnerte er. „Ihre Schuhnummer!“
Der Hauptmann musste scharf bremsen. Fast wäre er über die Lenkstange geflogen.
„Was fällt Ihnen ein?“, schrie er erbost. „Ich bin der Polizeihauptmann persönlich!“
„Schuhnummer oder Leben“, sagte Grapsch gelassen und hob die Pistole.
„Neunundvierzig“, knurrte der Hauptmann.
„Trifft sich ja prächtig“, grinste Grapsch. „Ich hab auch neunundvierzig. Meine Stiefel sind hin. Ich brauche neue. Deine Stiefel sind wahrscheinlich die besten von allen Polizeistiefeln im Juckener Ländchen. Also her damit oder es knallt.“
„Das werden Sie mir büßen, Sie Strolch“, fauchte der Hauptmann. „Fangt mich erst mal. Ihr habt’s ja schon oft probiert. Dabei geraten höchstens ein paar von deinen Leuten in die Sümpfe. Aber jetzt ein bisschen dalli, ich habe keine Lust, hier ein Schwätzchen zu halten!“
Räuber Grapsch knallte einen Schuss in die Luft. Der Hauptmann zuckte zusammen. Er zog und zerrte, aber es war ihm unmöglich, ohne Stiefelknecht aus seinen Stiefeln herauszukommen.
Grapsch sah sich das eine Weile grinsend an, dann sagte er: „Das werden wir gleich haben.“ Er packte den Hauptmann bei den Füßen und wirbelte ihn im Kreis herum, bis er im hohen Bogen aus den Stiefeln herausflog und in einem Rapsfeld landete. Grapsch fuhr in die Stiefel, nickte zufrieden, steckte die Pistole ein und stapfte in den Wald – den großen Rabenhorster Wald, der voller Dickicht und Sümpfe war.
„Nichtsnutz! Schädling anständiger Bürger!“, schrie der Polizeihauptmann ihm nach und humpelte auf Socken zu seinem Fahrrad zurück. „Dich kriegen wir noch. Dann herrscht im Juckener Ländchen wieder Recht und Ordnung!“
Tassilo Grapsch kümmerte sich nicht um das, was der Polizeihauptmann ihm nachbrüllte. Es störte ihn auch nicht, dass er eine Plage für die braven Bürger war. Darüber dachte er nämlich nie nach. Schon sein Vater und sein Großvater waren hier gefürchtete Räuber gewesen.
Er hauste ganz allein im Rabenhorster Wald. An seine Eltern konnte er sich kaum mehr erinnern. Als er noch ein kleiner Kerl gewesen war, hatte seine Mutter dem Räubervater den Suppenkessel vor die Füße geworfen und war fortgelaufen, fort aus dem Räuberwald, geradewegs in den Zirkus, der damals zufällig durch das Juckener Ländchen karrte. Mit dem Zirkus war sie weitergezogen, hatte Löwen dressiert und Eintrittskarten verkauft. Im Rabenhorster Wald hatte sie sich nie wieder sehen lassen.
Der Räubervater hatte vor Ärger und Kummer angefangen, haufenweise Süßes zu essen. Davon war er unglaublich dick geworden. Wer so dick ist, kann nicht schnell genug verschwinden, wenn die Polizei auftaucht. Und so war er geschnappt worden, als er sich um Mitternacht in der Bäckerei Häberle über eine Sahnetorte hergemacht hatte. Im Gefängnis war er dann gestorben, weil er dort nichts Süßes zu essen bekommen hatte.
Der Räubergroßvater hatte sich nun allein um den kleinen Tassilo kümmern müssen. Er hatte sich große Mühe gegeben, aus ihm einen guten Räuber zu machen. Das war ihm auch gelungen. Grapsch hatte sich noch nie erwischen lassen. Er konnte mit Flinten, Messern und Pistolen umgehen. Er hatte gelernt, fast unhörbar zu schleichen und seine Fingerspuren zu verwischen, und es war ihm immer gelungen, das zusammenzuräubern, was er zum Leben brauchte.
Freilich – sehr klug war der Räuber Grapsch nicht. Dafür war er unglaublich stark. Er hatte eine prächtige, dicht behaarte Ringerbrust. Seine Ärmel platzten ihm immer wieder auf, weil seine Armmuskeln so dick waren. Seine Hände waren wie Schaufeln. Mit seinem gewaltigen Gebiss zermalmte er sogar Wildschweinknochen. Ja, er konnte einem schon Angst einjagen, dieser Grapsch, wenn er so daherkam, fast zwei Meter groß, in Stiefeln Größe neunundvierzig. Seine roten Henkelohren ragten aus dem Struwwelhaar. Seine Augen lauerten unter buschigen Brauen hervor. Seine Nase erinnerte an einen Geierschnabel. Aber am räuberischsten sah der Bart aus. Das war ein Bart! Rabenschwarz überwucherte er das halbe Gesicht von Ohr zu Ohr, sprosste sogar aus den Nasenlöchern, hing über den Mund herab wie Baumflechten, wärmte ihm die Brust, wehte hinter ihm her, wenn er lief. Er reichte ihm bis zum Nabel, und jedes Haar war so dick wie ein Pferdehaar, aber gekraust. Was alles in diesem Bart hing! Moosflöckchen und dürre Blätter, Heu und Tannennadeln, Fledermauskot und Vogeldreck, Eierschalen und Hühnerknöchelchen vom letzten Essen. Sogar Schmetterlinge hatten sich darin verpuppt. Und natürlich wimmelte er von Läusen. Aber das störte Grapsch nicht. Schon als Kind hatte er sich immer am Kopf kratzen müssen. Die Kratzerei gehörte einfach zu seinem Räuberleben.
Ihm war’s egal, wie er aussah. Für einen Räuber ist das ja auch nicht so wichtig. Und so lief er jahrelang im selben Hemd herum, das er irgendwo geklaut hatte. Er wusch und flickte es nie. Er trug es so lange, bis es ihm von selber vom Leib fiel. Dann raubte er sich irgendwo ein neues.
Nur mit seinen Hosen hatte er Ärger. Sie zerrissen und zerschlissen so schnell. Schließlich raubte er einem einsamen Wanderer, der ahnungslos durch den Rabenhorster Wald latschte, die Lederhosen. Aber sie waren viel zu klein für seinen gewaltigen Hintern.
„Dummer Kerl“, schnauzte er den Wanderer an, der schlotternd in Unterhosen vor ihm stand. „Warum musst du auch so klein sein? Aber das Leder ist gut. Lederhosen will ich haben. Lederhosen müssen es sein!“
Er stöberte nachts in Bockenbeins Haus für Lederbekleidung auf dem Juckenauer Marktplatz herum. Da gab es Lederhosen für Wanderer, Motorradfahrer und Bayern in allen Größen. Aber keine war groß genug für ihn. So kam’s, dass er eines Nachts vor dem Bett des Schusters Sparbrod stand und knurrte: „Näh mir eine Lederhose, Mann! Jetzt sofort!“
„Ich bin kein Schneider“, sagte der Schuster bebend, „sondern ein Schuhmacher.“
„Kannst du Leder schneiden?“, herrschte ihn Grapsch an. „Kannst du Leder nähen? Na also!“
„Aber ich kann nicht garantieren, dass sie sitzt“, jammerte der Schuster. „Und dann das Modische!“
„Sie muss haben, was jede Hose hat: ein Bauchloch, zwei Beinlöcher und einen Schlitz“, sagte der Räuber. „Alles andere ist mir völlig Wurscht. Zieh dich an. Pack dein Werkzeug zusammen. Nimm Leder mit. Alles, was du hast. Wird’s bald? Und mucks dich nicht!“
Er schubste ihn in den Wald, mitten auf eine Insel im Sumpf. Dort hielt er ihn drei Tage gefangen. Ab und zu warf er ihm eine knusprig gebratene Kitzkeule oder leckeres Wildschweinschaschlik zu, denn er war kein herzloser Mann. Und kaum hatte er die Hose an, drückte er dem Schuster als Lohn ein Paar goldene Ohrringe in die Hand, die er beim Juwelier Klunkermann geraubt hatte. Er half ihm aus dem Wald heraus und schickte ihn heim.