Ein Jahr ohne Juli - Liz Kessler - E-Book + Hörbuch

Ein Jahr ohne Juli E-Book

Liz Kessler

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Beschreibung

Ein berührender Kinderroman der Erfolgsautorin Liz Kessler über eine außergewöhnliche Freundschaft und eine Zeitreise, die alles verändert Mit niemandem kann man so gut kichern wie mit Juli, so gut über kleine Brüder lästern und schräge Abenteuer erleben. Juli ist einfach ihre allerbeste Freundin und wird es auch bleiben – für immer und ewig. Das weiß Jenny genau. Doch dann passiert etwas Unerklärliches: Der alte Fahrstuhl bringt Jenny nicht in den ersten Stock zu Juli, sondern ein Jahr weiter in die Zukunft. Und hier entdeckt sie, dass inzwischen ein Schatten über die sonnige Freundschaft der Mädchen gefallen ist. Zurück in der Gegenwart, will Juli ihr die Sache mit der Zeitreise natürlich nicht glauben. Lachend schlägt diese alle Warnungen in den Wind. Also bleibt Jenny nichts anderes übrig: Sie krempelt die Ärmel hoch und nimmt das Schicksal allein in die Hand. Wird sie es schaffen, in die Vergangenheit zu reisen und die Weichen anders zu stellen? Und wird sie ihre wunderbare Freundschaft zu Juli retten können? »Zum Wegschmökern, aber auch zum Nachdenken!« NDR Bei Antolin gelistet

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Seitenzahl: 305

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Liz Kessler

Ein Jahr ohne Juli

 

Aus dem Englischen von Eva Riekert

 

Über dieses Buch

 

 

Eine spannende und emotionale Zeitreisegeschichte für Mädchen ab 10 Jahren, die für ihre beste Freundin ALLES tun würden

 

Juli und ich haben uns versprochen, dass wir für immer beste Freundinnen bleiben. Aber man kann ja nie genau voraussagen, was passiert, oder? Wäre es nicht super, wenn man das könnte? Wenn man wenigstens einen winzigen Blick darauf werfen könnte, was einem die Zukunft bringen wird? Das wäre echt so cool.

 

Doch dann passiert das Unfassbare. Der alte klapprige Fahrstuhl, in den Jenny steigt, bringt sie nicht in den ersten Stock, sondern in die Zukunft. Und was Jenny hier sieht, ist überhaupt nicht cool. Was kann sie tun, um ihre wunderbare Freundschaft zu retten?

 

»Zum Wegschmökern, aber auch zum Nachdenken!«

NDR

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter www.fischerverlage.de/kinderbuch-jugendbuch

Biografie

 

 

Als Liz Kessler im Alter von neun Jahren ihr erstes Gedicht veröffentlichte, hatte sie sich nicht träumen lassen, dass sie einmal eine der erfolgreichsten Autorinnen der Welt werden würde. Ihre Kinderbücher über das Meermädchen Emily Windsnap und die Feenfreundin Philippa sind internationale Bestseller und haben sich weit über sechs Millionen Mal verkauft. Für ihren Roman Als die Welt uns gehörte wurde sie mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis 2023 (Jugendjury) ausgezeichnet.

Dieses Buch ist Judith Elliott gewidmet. Ich danke dir dafür, dass du mich acht Jahre lang an deinem Wissen, deiner Geduld, deinen Ideen, deiner Freundlichkeit und deiner Inspiration hast teilhaben lassen. Es war ein Privileg, mit dir zu arbeiten und von der Besten zu lernen.

Und in dem Heute wandelt schon das Morgen

Friedrich von Schiller

1

»Halt an!«

»Was?« Dad dreht sich im Fahrersitz um. Das Auto macht einen Schlenker.

»Pass doch auf, Tom!«, kreischt Mum, hält sich an der Armlehne fest und zieht einen Packen Kleenextücher aus ihrer Handtasche.

»Halt an!«, wiederhole ich. Gleich ist es zu spät. Ich reiße Mum die Tücher weg und halte sie Craig vor den Mund.

Dad fährt gerade noch rechtzeitig an den Straßenrand, und Craig stürzt aus seinem Sitz, rennt zu der Kiesböschung und beugt sich vornüber.

Es stinkt nach Kotze, als wir weiterfahren.

Ich rümpfe demonstrativ die Nase. »Mmm, riecht mal die frische Landluft!«

Craig kneift mich. »Dabei hab ich doch gar nicht mal ins Auto gespuckt, Jenny«, schimpft er leise, als ich das Fenster runterlasse und meinen Kopf raushalte.

Willkommen bei den Familienferien der Greens! Green wie Grün, sehr passend, wenn man das Gesicht meines kleinen Bruders anschaut. Mum sieht auch nicht viel besser aus. Aber schließlich ist sie im achten Monat; sie hat also eine Ausrede, etwas empfindlich zu sein – vor allem, weil Dad am Steuer sitzt.

Echt, ich könnte diese Fahrt mit geschlossenen Augen kommentieren. Es ist jedes Jahr das Gleiche: Dad, der zu schnell die kurvigen Bundesstraßen entlangrast, Mum, die ihn mindestens zehnmal bittet, langsamer zu fahren, Craig, der mindestens einmal spuckt, dann drei Stunden Stau auf der Autobahn, zusammen mit Millionen anderer Familien, die ebenfalls keine Zeit verlieren wollen und sich am ersten Tag der Sommerferien auf den Weg gemacht haben.

Dann kommen wir in unserer Ferienwohnung an, die genauso aussieht wie jedes Jahr und genauso wie alle anderen Apartments in Riverside Village: großer offener Wohnbereich mit angeschlossener Küche in Creme und Beige, makellos sauber und aufgeräumt. Keine schmutzigen Flecken auf dem braunen Ledersofa. Keine Fingerabdrücke auf dem Fernseher. Mikrowelle, kleiner Grill zum Überbacken von Sandwiches, Abtropfgestell, Obstschüssel – alles aufgezählt und in der Inventarliste vermerkt und präzise an seinem Platz. Genau an demselben Platz wie immer, wenn wir in der ersten Juliwoche in die Wohnung kommen. Jedes Jahr – so weit ich zurückdenken kann.

Aber wir mögen es so. So ist das mit meiner Familie. Wir mögen Ordnung; wir wollen zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein. Veränderungen und Überraschungen mögen wir nicht sehr. Wahrscheinlich haben wir deshalb diese Timesharing-Wohnung und buchen sie jedes Jahr zur gleichen Zeit; damit wir genau wissen, was uns erwartet. Jedes Jahr dasselbe. Ich könnte euch sogar sagen, auf welcher Wiese welche Blumen blühen. Es sind immer dieselben. Jedes Jahr.

»Perfekt«, sagt Dad mit zufriedenem Nicken, als er in die Auffahrt fährt. »Vierzehnhundert Uhr.« Also zwei Uhr für normale Leute. Genau der Zeitpunkt, zu dem wir das Apartment beziehen dürfen.

»Ganz pünktlich«, sagt Mum mit einem Lächeln. »Gut gemacht, Liebling.«

Das mögen sie, meine Mum und mein Dad: pünktlich sein.

Eine eigenartige Zufriedenheit macht sich breit, als wir das Auto ausräumen und uns einrichten. Ein bisschen wie im Winter, wenn man die flauschigen Pullover auspackt, an die man das ganze Jahr nicht gedacht hat; einem aber plötzlich klarwird, wie sehr man sie liebt und sich darauf freut, sie mal wieder anziehen zu können.

In der Mitte des Wohnraums steht ein riesiger Fernseher, drehbar in alle Richtungen, damit man von überall fernsehen kann. Und es gibt ein Bett, das man aus der Schrankwand klappen kann und das man nie bemerken würde, wenn man nicht wüsste, dass es da ist; ein bisschen wie aus einem James-Bond-Film. Nicht dass wir es jemals benutzen – aber einfach die Tatsache, dass es da ist, fühlt sich ein bisschen extravagant und geheimnisvoll an. Und zur Begrüßung steht ein Teller mit Süßigkeiten auf dem Tisch. Ich überlasse die Süßigkeiten Craig und bringe lieber schnell meine Taschen in unser gemeinsames Zimmer, damit ich mir das bessere Bett am Fenster reservieren kann.

Ich kann es nicht leiden, das Zimmer mit Craig teilen zu müssen. Erstens schnarcht und grunzt er die ganze Nacht, und wenn ich ins Bett gehe, muss ich im Dunkel herumtasten, damit ich ihn nicht wecke. Morgens überschüttet er mich dann immer mit lauter dummem Zeug und erzählt mir, dass er von Monstern geträumt hat, die aus Wackelpudding sind. Und zweitens …

»Mach Platz, Schwester.«

Wie aufs Stichwort kommt das kleine Monster reingestürmt, schmeißt seinen Rucksack auf das andere Bett und fängt an, seine Sachen herauszuzerren.

Ungefähr dreißig Sekunden später sind sein Bett und der halbe Fußboden total begraben unter einem Berg Klamotten, einem kleinen Haufen Legosteine, fünf Tüten Süßigkeiten, drei Paar schmutzigen Turnschuhen und ungefähr fünfzig Modellautos, Bussen und Treckern.

»Fertig!«, sagt er, schiebt seinen Rucksack unters Bett und verschränkt die Arme.

»Fertig?«, sage ich. »Fertig mit was?«

»Auspacken«, erwidert er nur. Er greift sich eine Handvoll Legosteine und geht zur Tür.

Als er raus ist, betrachte ich den Bombenkrater, den er hinterlassen hat, und hole tief Luft.

Wie schon gesagt, ich kann es nicht leiden, mit Craig das Zimmer zu teilen.

Ich glaube, dass ich ziemlich reif für mein Alter bin. Behaupten zumindest alle. »Zwölf, mit großen Schritten auf zwanzig zu«, sagt mein Vater immer. Ich bin die Älteste in meiner Klasse und das älteste Kind in unserer Familie. Manchmal nervt es, immer die Älteste und die Vernünftige sein zu müssen – aber so ist es eben.

Vom Flur her höre ich es trampeln – wumm, wumm, wumm –, und Craig taucht wieder im Zimmer auf.

Er schnappt sich noch ein paar Legosteine, dann durchwühlt er verschiedene Jeanstaschen, bis er eine Tüte mit Süßigkeiten findet, die schon wer weiß wie viele Äonen von Jahren alt ist. Er zieht ein Zitronenbonbon heraus und reicht es mir. Ich starre es an und überlege, was dieses Bonbon wohl schon alles hinter sich hat, während er sich einen Lutscher auspackt.

»Was macht Ha, ha, plätscher?«, liest er von dem Einwickelpapier ab.

»Weiß ich doch nicht«, sage ich.

»Jemand, der sich vor Lachen ausschüttet.«

Er verstummt und überlegt, was der Witz bedeutet. Eine Sekunde später lässt er sich vornüber auf sein Bett fallen und bricht in sein unvergleichliches halbersticktes, halb hyänenhaftes Gewieher aus, über das ich lächeln muss, auch wenn ich genervt bin.

So ist das mit Craig. Er ist der einzige Mensch, der es schafft, mich so auf die Palme zu bringen, dass ich schreien könnte, aber dann kann er mich auch wieder so zum Lachen bringen, dass mir die Tränen kommen. Die einzige andere Person, die das kann, ist Juli. Sie ist die lustigste Person der Welt und auch die klügste und schlaueste und überhaupt die tollste! Und sie ist meine beste Freundin!

Dad steckt den Kopf zur Tür herein. »Kleiner Spaziergang, Jenny-Bär?«

»Ja, warum nicht?«, antworte ich, auch wenn ich mich ein bisschen über den Spitznamen ärgere, den er mir verpasst hat, als ich ungefähr drei war. Ich bringe es nicht übers Herz, ihn zu bitten, mich nicht mehr so zu nennen. Das würde ihn nur verletzen – da ertrage ich doch lieber diesen Babynamen.

Ich werfe meine letzten Sachen in eine Schublade und stecke meinen Rucksack in den Schrank. Auf dem Weg nach unten binde ich meine Haare mit einem Gummi zu einem Pferdeschwanz zusammen. Sie machen mich zurzeit verrückt. Wenn ich sie nicht zurückbinde, fallen sie mir in kringeligen Locken über das ganze Gesicht.

»Willst uns wohl mal wieder deine wunderbaren Locken vorenthalten?«, sagt Dad augenzwinkernd, als ich zu ihm und Mum ins Wohnzimmer trete. Wenn es nach ihnen ginge, würde ich meine Haare bis zu den Knien wachsen lassen. Aber ich bin wild entschlossen, sie abzuschneiden, sobald ich meine Eltern überzeugt habe, dass das nicht das Ende der Welt bedeutet. Sie haben Angst, dass es der Anfang von allen möglichen unguten Entwicklungen werden könnte. Ich habe versucht, ihnen zu erklären, dass ein neuer Haarschnitt nicht automatisch gleichbedeutend ist mit zwei Zentimeter dickem Make-up, unzähligen Piercings und einem Tattoo auf dem Nacken, aber irgendwie sind sie schwer von Begriff. Also lächle ich nur und ziehe mein Gummi heimlich noch etwas fester.

Craig liegt ausgestreckt im Wohnzimmer auf dem Boden und baut einen kompliziert aussehenden Roboter aus seinen Legosteinen. Mum hat sich mit einer Tasse Tee und einer Zeitschrift auf das Sofa gelegt.

»Ruh dich aus«, sagt Dad, beugt sich über sie, gibt ihr einen Kuss auf die Stirn und tätschelt ihren Acht-Monats-Bauch.

Er fährt Craig im Vorübergehen durch die Haare. »Bis später, Kleiner«, sagt er. Craig sieht nicht mal auf. Die Zungenspitze im Mundwinkel, hat er nur noch Augen für seinen Roboter.

Auf dem Kiesweg nimmt Dad meine Hand. Ich bremse mich und ziehe sie nicht weg und halte ihm auch nicht vor, dass ich keine fünf mehr bin. Stattdessen gehe ich eine Minute so mit ihm weiter, dann tue ich so, als müsste ich mir die Nase kratzen, damit ich ihn loslassen kann.

Wir schlendern am zweiten Trakt der Ferienwohnanlage vorbei. Zusammen mit unserem bilden die beiden Gebäude den modernen Teil von Riverside Village. Sie sind erst vor ungefähr zehn Jahren errichtet worden. Die anderen beiden Gebäude stehen schon fast hundert Jahre. Eines davon, das mit der Empfangshalle, liegt vor uns. Es ist ein lang gestrecktes und üppig mit Efeu überwuchertes Landhaus mit einem Reetdach. Das Gebäude, in dem Juli wohnt, liegt dem Empfangsgebäude fast genau gegenüber. Es ist das herrschaftlichste der ganzen Anlage. Julis Eltern haben eine der eleganten Wohnungen im ersten Stock. Diese Wohnungen sind zu der Zeit modernisiert worden, als man unseren Trakt gebaut hat. Sie haben alle große Zimmer, breite Terrassen oder Balkone und in allen Bädern Whirlpools!

Gerade befinden wir uns zwischen den beiden Gebäuden, als mich das Aufheulen einer Autohupe fast umhaut. Ich fahre herum und sehe, wie ein roter Porsche heranrast.

»Juli!« Sie biegen auf den Parkplatz, und ich renne los.

Juli winkt wie verrückt von dem winzigen Rücksitz, auf dem sie und ihr kleiner Bruder Mikey sitzen, die Knie praktisch bis zu den Ohren hochgezogen, neben ihnen noch Koffer und Taschen, die den Blick aus den Fenstern versperren.

Julis Vater ist Künstler, und ihre Mutter leitet die Galerie, die seine Werke verkauft. Er hat sich das Auto selbst geschenkt, als sie eines seiner Bilder zu einem Wahnsinnspreis verkauft haben. Er wollte uns nicht sagen, wie viel er dafür bekommen hat, aber Mrs Leonard hat gesagt, sie hätten sich dafür auch eine neue Kücheneinrichtung kaufen können. Und als er dann das nächste Bild verkauft hat, hat er ihr tatsächlich eine neue Küche geschenkt!

Julis Eltern sind total super. Bei ihnen zu Hause geht es total verrückt zu. Immer ist viel Besuch da, und ständig geben sie Dinnerpartys, und es gibt wilde Diskussionen, bei denen alle gleichzeitig reden, und Juli und Mikey kriegen nie gesagt, dass es Zeit fürs Bett ist, und Juli darf Sachen machen wie Brot backen oder die Wände mit Wandbildern bemalen. Einmal haben wir ihrem Vater sogar geholfen, für eine Party Cocktails zu mixen. Das war vielleicht cool! Leuchtend rote und grüne Drinks – und wir durften mit Tabletts herumgehen und sie anbieten, in Gläsern, die am Rand in rosa Zucker getaucht waren.

Bei den Leonards riecht es immer nach Räucherstäbchen, die sie von einer ihrer exotischen Ferienreisen mitgebracht haben. Es fühlt sich immer nach Ferien an, wenn ich bei ihnen bin. Bei uns verändert sich nie etwas und es ist nie unordentlich. Obwohl, das gefällt mir eigentlich auch. Da weiß man wenigstens, woran man ist.

Ich glaube, Julis Eltern mögen es, wenn zumindest eine Woche im Jahr ein bisschen geordnet abläuft. Ansonsten kann ich mir nicht vorstellen, warum sie nach Riverside Village kommen – außer natürlich, um uns zu treffen! Wobei mir das auch irgendwie komisch vorkommt! Manchmal frage ich mich, warum Juli mich zur besten Freundin haben will. Ich bin nicht halb so interessant wie sie. Immer, wenn ich ihr das sage, lacht sie nur und sagt, ich soll nicht so doof sein, wir würden bis zum Lebensende beste Freundinnen bleiben. Und auch wenn ich immer noch nicht verstehe, warum gerade ich, weiß ich, dass es stimmt. Sie würde mich nie anlügen.

Mrs Leonard schält sich aus dem Auto und lächelt mir zu. »Hallo, Jenny-Schätzchen«, sagt sie. »Wie geht’s deiner Mutter?« Sie kommt auf mich zu und küsst mich auf beide Wangen.

»Gut«, sage ich und werde rot bei der exotischen Begrüßung. »Mum ist mit Craig im Apartment.«

»Hat zur Abwechslung mal die Füße hochgelegt«, fügt Dad hinzu.

Julis Mutter und meine Mutter sind auch beste Freundinnen. Sie haben sich praktisch zur gleichen Zeit kennengelernt wie wir. Während Juli und ich uns in der ersten Klasse gegenseitig mit Farbe beschmierten und zusammen unsere Nasen in Bücher steckten, haben unsere Mütter auf dem Schulhof Rezepte getauscht und über die Lehrer getratscht. Dad und Mr Leonard sind auch Freunde geworden.

Juli und Mikey purzeln aus dem Auto. Mikey sieht nicht mal von dem Computerspiel auf, mit dem er praktisch zusammengewachsen ist. Juli rennt schnurstracks mit fliegenden roten Haaren um das Auto herum auf mich zu.

»Jenny!«, quietscht sie, und wir umarmen uns und hüpfen aufgeregt auf und ab.

Mr Leonard steigt aus dem Auto und schließt behutsam die Tür hinter sich. »Vorsicht mit dem Auto, Mädels«, sagt er und schiebt uns ein wenig von seinem ganzen Stolz fort. Er schüttelt Dad die Hand und nickt zu uns herüber. »Man sollte nicht meinen, dass sich die beiden erst gestern gesehen haben, was?«, sagt er lächelnd.

»Gestern?«, sagt Dad mit gespieltem Entsetzen. »Aber das ist doch schon einen ganzen Tag her. So gut wie ein Leben lang!«

»Ha, ha, sehr witzig«, gibt Juli zurück. »Nur damit Sie Bescheid wissen, Jenny und ich haben uns seit gestern eine Million Sachen zu erzählen. Stimmt’s nicht, Jenny?«

Ich kichere und grinse Juli zu. »Mindestens eine Million«, sage ich. »Vielleicht sogar anderthalb Millionen.«

»Schon gut, aber die müssen leider warten, ich brauche nämlich Hilfe hierbei«, sagt Mr Leonard und beginnt, das Gepäck aus dem Auto zu laden.

Ich starre die Edelmarkenkoffer und -taschen neben dem Porsche an.

»Wie um Himmels willen habt ihr das alles reingekriegt?«, frage ich.

Juli strahlt mich an. »Das ist die Tardis – hast du das nicht gewusst?« Sie grinst vor spitzbübischem Vergnügen. Dann dreht sie sich im Kreis, wedelt mit den Armen und macht unheimliche Zeitmaschinen-Geräusche. Ach so, sie meint die Raum-Zeitmaschine aus Dr. Who! Ich erinnere mich: Sie sah von außen wie eine Art Telefonzelle aus – war aber, wenn man reinging, riesengroß.

Mikey blickt zum ersten Mal auf. »Die Tardis?«, fragt er. »Wo?«

Mrs Leonard streichelt ihm über die Wange. »Deine Schwester macht nur Witze, Liebling«, sagt sie. »Das ist natürlich nicht die Tardis. Es ist ein Porsche. Oder man kann es auch die Midlife-Krise eines nicht mehr ganz jungen Mannes nennen.«

Mikey zieht die Nase kraus und sieht seine Mutter an. »Was ist das?«, fragt er. Juli lächelt ihren kleinen Bruder liebevoll an. »Nur so langweiliges Erwachsenenzeug, da müssen wir uns nicht drum kümmern, Kleiner«, sagt sie und zerzaust ihm die Haare.

Mikey weicht ihr unwillig aus und widmet sich wieder seinem Spiel.

»Kleine Brüder«, sagt Juli mit theatralischem Seufzen. »Sind sie nicht zum Anbeißen?«

Sie sagt das zwar im Scherz, aber sie meint es wirklich, das weiß ich. Wie kein anderer weckt Mikey in Juli Liebe und Beschützerinstinkte. Wahrscheinlich ist er für sie das, was Craig für mich ist. Wir lieben diese kleinen Nervmonster unsäglich – aber wir würden es im Leben nicht zugeben!

Mikey ist acht. Zwei Jahre älter als Craig, deshalb sind sie nicht direkt Kumpel oder so, aber wenn wir hier sind, hängen sie schon mal zusammen rum. Dann kommt sich Craig ganz groß vor. Obwohl zusammen rumhängen eher ein bisschen übertrieben ist. Meistens spielt Mikey mit seinem neuesten Computerspiel, und Craig darf danebensitzen und zugucken. Aber sie haben beide Spaß dabei.

»Also gut, dann komm«, sagt Dad und greift nach meiner Hand. »Überlassen wir die Leonards mal ihrem Kram. Ich bin sicher, die anderthalb Millionen Sachen haben Zeit bis nachher.« Er hebt die Hand zu einem Abschiedsgruß: »Bis später beim Willkommensempfang!«

Beim Willkommensempfang informieren uns die Leute vom Riverside Village, was in der Woche so alles los ist. Es gibt ein kleines Kino im Empfangsgebäude, in dem jeden Abend ein anderer Film gezeigt wird, und auch tagsüber wird eine ganze Menge angeboten, Ausflüge und so weiter. Von Vogelbeobachtungstouren bis hin zu Heißluftballonflügen.

»Auf jeden Fall!«, sagen Julis Eltern gleichzeitig.

Juli geht in Habachtstellung und salutiert. »Aye, aye, Käpt’n, bis nachher«, ruft sie und wirft mir eine Kusshand zu. Dann läuft sie los und hilft ihren Eltern mit dem Gepäck.

Ich zerbreche mir schon den Kopf, zu welchen verrückten Veranstaltungen mich Juli in diesem Jahr beim Willkommensempfang überreden will. Jedes Mal sucht sie Ausflüge aus, die echt abgefahren sind, und meistens gehe ich auch mit. Ich kann mir nicht vorstellen, Juli etwas abzuschlagen. Ich glaube, das hat was mit dem Leuchten in ihren Augen zu tun, mit ihrem strahlenden Lächeln. Wenn sie etwas vorschlägt, weiß man immer, dass es wahrscheinlich ziemlich verrückt ist, aber trotzdem hundert Prozent besser als alles andere – solange man es mit ihr gemeinsam macht. Mit ihr wäre es sogar aufregend, eine Mauer zu bauen! Fragt mich nicht, warum; sie kriegt das einfach hin.

Wenn Juli nicht dabei wäre, würde ich die ganzen Abenteuerausflüge links liegen lassen. Ich gehe lieber mit Mum ins Museum. Ich weiß, das klingt langweilig, ich finde das aber nicht. In Museen komme ich irgendwie immer auf Ideen, und meine Phantasie geht mit mir durch. Die ganzen seltsamen Dinge und fremdartigen Kunstgegenstände lassen mich an die vielen Menschen denken, die vor mir gelebt und sie benutzt haben, und ich stelle mir vor, wie ihr Leben wohl war.

Und Dad schleppt uns hier im Urlaub immer auf mindestens zwei Mammutwanderungen. Das ist sein Ding, wandern. Das und schreiben. Er ist – also, er würde sich als Schriftsteller bezeichnen, aber das kommt nur daher, weil er zu einem Kurs für kreatives Schreiben gegangen ist und die Lehrerin zu allen gesagt hat, dass sie sich Schriftsteller nennen sollten. Sie sagt, das sei der erste Schritt. Ich persönlich hätte ja angenommen, der erste Schritt sei, loszuschreiben. Aber das ist nur meine Meinung.

Eigentlich ist mein Dad Mathelehrer. Stellvertretender Fachbereichsleiter für Mathe an derselben Schule, auf die ich gehe! Ist das nicht ätzend? Aber die siebte Klasse war eigentlich gar nicht so schlecht. Ich hatte ihn nicht in Mathe, und solange er nicht in meiner Klasse unterrichtet, macht es mir nicht sooo viel aus. Mum ist in der Studentenberatung an der Universität in der Stadt. Sie redet nicht viel über ihre Arbeit, sie muss die Gespräche nämlich praktisch wie Staatsgeheimnisse behandeln.

Dad und ich gehen am Fluss entlang. Ein riesiger Schwan und zwei flauschige braune Schwanküken schwimmen im Wasser und werden seitwärts von der starken Strömung abgetrieben.

»Der Fluss ist randvoll«, sagt Dad und schlenkert meinen Arm beim Laufen hin und her.

»Hat’s wohl eilig«, sage ich.

Dad rückt etwas von mir ab und starrt mich kurz an. »Das ist gut«, sagt er. »Das gefällt mir.« Dann holt er seinen Notizblock heraus und schreibt auf, was ich gesagt habe. In Dads Gegenwart muss man aufpassen. Wenn er in einer seiner kreativen Phasen ist, kann es sein, dass er fast alles notiert, was man von sich gibt, um es für den Augenblick aufzuheben, wenn er seinen Erfolgsroman schreibt.

Roman ist gut gesagt. Wenn wir ehrlich sind, handelt es sich eigentlich nur um eine Kladde, die er seit Jahren hat, vollgestopft mit Papierschnipseln, abgerissenen Klappen von Zigarettenschachteln und Servietten, auf die er winzige Ideenfetzen kritzelt oder auch mal die eine oder andere Gedichtzeile.

Er sagt, das mache den wahren Schriftsteller aus, die Tatsache, dass er dieses Notizbuch immer dabeihat. Ich habe schon tausend Mal versucht, ihm klarzumachen, dass erst ein Roman einen wahren Schriftsteller ausmacht, aber immer wenn ich das sage, schließt er nur die Augen und lächelt auf so eine Art in sich hinein, als wisse nur er über das wahre Leben Bescheid, und ich würde es schon noch verstehen, wenn ich älter sei.

Ich schreibe auch ein bisschen, aber nur in mein Tagebuch. Noch nie hab ich es jemandem gezeigt. Eher würde ich sterben. Allerdings lese ich Juli manchmal ein bisschen daraus vor. Sie weist mich immer auf verborgene Bedeutungen hinter meinem Geschreibsel hin. Selbst irgendwelche Kleinigkeiten sollen angeblich etwas über mich aussagen, was mir selbst beim Schreiben gar nicht klar gewesen ist. Juli lässt mich viel interessanter erscheinen, als ich in Wirklichkeit bin!

Sie selbst schreibt nicht Tagebuch. Sie hat nicht genug Geduld für so etwas. Alles, was sie tut, hat mit Bewegung zu tun, am liebsten draußen, sogar, wenn es regnet. Sie hält Stillsitzen nicht aus. Mit ihrem Vater geht sie Felsenklettern, und sie besucht so einen komischen Tanzkurs, den eine Freundin ihrer Mutter leitet. Sie hat versucht, mich auch dazu zu überreden, aber ich kann nicht tanzen. Ich hab’s ausprobiert, aber ich bin wie blockiert. Ich werde so steif, als ob ich in einer Ritterrüstung stecken würde.

Ihr fragt euch vielleicht, was uns verbindet. Das tue ich auch manchmal. Aber es ist, als ob wir zwei verschiedene Hälften eines Ganzen sind oder so. Ich kann über absolut alles mit ihr reden, und umgekehrt auch. Keine von uns langweilt die andere. Wir müssen alles teilen – bis ins letzte Detail.

Dad und ich stehen da und sehen zu, wie das Wasser schäumt und braust und sich unter der Brücke hindurchdrängt. Ein paar Jungs in Turnschuhen und Shorts klettern auf die Brüstung, um in das strudelnde Wasser zu springen.

»Eines sag ich dir«, meint Dad kopfschüttelnd, als der erste Junge mit lautem Gejohle ins Wasser abtaucht, »wenn einer von euch Kindern auch nur daran denkt, so etwas zu machen –«

»Keine Sorge, Dad«, sage ich lachend. »Nicht mal im Traum!« Jedes Jahr haben wir die gleiche Unterhaltung. Wie er überhaupt auf die Idee kommt, dass ich so etwas in Erwägung ziehen könnte, ist mir schleierhaft.

»Jippeee!« Noch ein Aufklatschen, als der zweite Junge ins Wasser springt.

Ich schüttle mich schaudernd, als wir in Richtung Wehr weitergehen. Einen Sommer war es echt wahnsinnig heiß, und das Wehr war fast komplett ausgetrocknet. Man konnte die Staustufe sehen, die quer durch den Fluss läuft. Sie war nur von einer dünnen Wasserschicht bedeckt. Juli musste natürlich darüber klettern und forderte mich auf, es auch zu tun.

Ich versuchte nein zu sagen, aber wie ich ja schon berichtet habe, bei Juli funktioniert ein Nein nicht. Schließlich hat sie mich bei der Hand genommen und mich hinübergezerrt. Ich umklammerte ihre Hand so fest, dass sie eine Woche lang rote Stellen von meinen Fingernägeln in der Handfläche hatte.

Es war ein wahnsinniges Gefühl, auf der anderen Seite zu sein, daher war ich froh, dass sie mich überredet hatte – wie meistens. Aber ich selbst würde so etwas nie allein machen. Nicht in einer Million Jahren. Es ist nicht so, dass ich ein kompletter Angsthase bin; aber, na ja, es ist doch schließlich gefährlich! Es sieht vielleicht ungefährlich aus, aber man weiß doch nie, was darunter ist oder wie rutschig so eine Mauer ist oder ob der Fluss plötzlich steigt und man fortgespült wird und bewusstlos auf den Felsen unten liegen bleibt. Wirklich viel zu riskant, und Familie Green steht nicht auf riskant. Wir mögen es, wenn die Dinge geordnet, sicher, berechenbar sind. Deshalb kommen wir her. Hier ist immer alles berechenbar.

War es zumindest immer – bis zu diesem Mal.

2

Als wir über die moosbedeckten Felsbrocken steigen, deutet Dad auf den Sprühregen, der über dem Wehr zu sehen ist. Das Wasser stürzt mit solcher Macht herunter, dass wir schreien müssen, um uns zu verständigen. Wie die Niagarafälle.

»Kein Wunder nach dem vielen Regen in diesem Frühjahr!«, ruft Dad mir ins Ohr.

Ich trete zurück, als die Gischt von einem Felsen unter uns hochschlägt. »Lass uns umkehren!«, rufe ich.

Auf dem Weg zurück begegnen wir Mr Andrews, einem von Dads Freunden. Ich sehe mir den Wald auf der anderen Uferseite an, während sie plaudern. Reihenweise hohe, stämmige Bäume mit dichtem, sattgrünem Laub, die sich stolz und unnahbar erheben, als wüssten sie mehr als wir. Sie kennen alles. Davor eine Wiese, auf der der Klee über und über blüht. Wie machen die Pflanzen das? Woher wissen die Blumen, wann sie blühen, und die Bäume, wann sie ihre Blätter abwerfen müssen?

»Komm, Rübchen.« Dad stößt mich an, und ich winke Mr Andrews kurz zu und lächle verlegen, dann gehen wir weiter. Merkt Dad vielleicht irgendwann mal, dass ich für seine Kosenamen zu groß bin? Traue ich mich irgendwann mal, es ihm zu sagen?

Wir gehen in das Freizeitzentrum, damit Dad einen Squash-Platz für sich und Mr Andrews buchen kann. Er spielt nie Squash, außer wenn wir hier sind; keine Ahnung, warum gerade hier. Einmal habe ich ihm eine Weile zugesehen. Dad ist ganz spindeldürr. Er hat ausgesehen wie eine Spinne auf dem Eis, so ist er auf dem Platz herumgeschlittert und an die Wände gekracht; hat sich lauter blaue Flecken geholt, während Mr Andrews kaum ins Schwitzen gekommen ist.

Dad bucht den Platz für morgen Nachmittag, dann bleibt er stehen und redet mit dem Empfangschef. Währenddessen sehe ich mich in dem Miniladen um. Es gibt eine Stange mit winzigen Sportsachen und knappen Badeanzügen und sechs Fächer mit Schokolade und anderen Süßigkeiten. Ich habe nie ganz verstanden, wie das zusammenpassen soll.

»Nur eine kleine Überraschung für Mum«, sagt Dad und hängt sich bei mir ein. Er schiebt einen Gutschein für eine kosmetische Gesichtsbehandlung in die Tasche.

Morgen ist ihr Hochzeitstag. Fünfzehn Jahre. Sie sind immer noch ganz liebevoll miteinander und haben fast nie Streit. Klar, manchmal zanken sie ein bisschen. Aber auch nicht mehr als andere Eltern und ungefähr hundert Mal weniger als Julis Eltern. Deren Auseinandersetzungen sind wie Vulkanausbrüche. Gerade noch sind sie ganz entspannt und gelassen, und auf einmal gehen sie sich fast an die Kehle. Juli sagt, so sei das eben bei Künstlern. Es sei das kreative Temperament.

»Wenn ich mal Ihre Aufmerksamkeit haben dürfte!« Mr Barraclough klopft mit einem Löffel an sein Glas, und allmählich wird es still im Raum. Mr Barraclough ist der Manager hier. Er ist sehr groß und hat dichtes, lockiges graues Haar und blaue Augen, die immer irgendwie leuchten, ohne aber zu funkeln, wenn das logisch klingt.

Er trägt immer schicke Anzüge und hat den Hemdkragen hochgestellt. Ich finde, er sieht aus wie eine Mischung aus einem abgehalfterten Popstar und einem richtig coolen Schuldirektor. Er bezeichnet sich selbst als Chefbutler.

Alle haben sich zum Willkommenstreffen versammelt, sehen ihn an und warten auf die Highlights der Woche. Tja, alle, bis auf Julis Familie. Sie sind noch nicht da – aber das ist keine Überraschung. Sie kommen immer zu spät! Ich glaube, sie lieben den großen Auftritt.

Mum begutachtet die Getränke. »Dieses Jahr mal Sekt«, sagt sie und zieht die Augenbrauen hoch. »Was mag das bedeuten?«

Einmal habe ich bei Juli zu Hause Sekt getrunken. Ihre Mutter hatte gerade in der Galerie eine richtig erfolgreiche Ausstellung mit einem megaberühmten Künstler eröffnet. Juli sagte, sie hätte schon öfter mal Sekt getrunken. Mir hat er nicht besonders geschmeckt. Die Bläschen sind mir direkt in die Nase gestiegen und haben gekitzelt, deshalb frage ich Mum gar nicht erst, ob ich ein Glas haben kann.

Mum tätschelt ihren Bauch. »Schade, dass ich nicht darf«, sagt sie. Ich nehme drei Gläser Orangensaft für Mum, Craig und mich. Dad nimmt sich ein Glas Sekt und trinkt es mit einem Schluck halb aus.

Mr Barraclough beginnt mit seiner Ansprache. »Da dies mein letztes Jahr ist, dachte ich, wir gönnen uns mal was«, sagt er.

»Bisschen zu jung für die Rente, nicht?«, ruft ein rotgesichtiger Mann, der an der Seite steht. »Oder zahlen wir Ihnen etwa zu viel?«

»Schön wär’s!«, sagt Mr Barraclough halb lächelnd, halb bekümmert. »Nein, ich habe mir einfach vorgenommen, ein bisschen auf Reisen zu gehen. Mir mal anzusehen, was außerhalb von Riverside Village so los ist«, setzt er hinzu. »Ich werde in diesem Jahr fünfzig. Man kann das Leben nicht ewig aufschieben.« Dann verstummt er und starrt aus dem Fenster. Einen Augenblick lang scheint er uns alle vergessen zu haben. Sein Schweigen beginnt gerade peinlich zu werden, da hüstelt er und hebt sein Glas mit einem Lächeln, das eher traurig aussieht. Man sollte doch meinen, er würde sich mehr darüber freuen, dass er zu arbeiten aufhört und auf Reisen geht!

»Tja, also, ich hoffe, Sie leben sich alle ohne Probleme in Ihren Ferienapartments ein«, sagt er. »Ich bin hier, wann immer Sie mich brauchen, ebenso meine Angestellten. Denken Sie bitte daran: Wenn ein Ausguss verstopft ist, sind Johnny und Rita und Pete zuständig, und wenn Sie jemanden brauchen, mit dem Sie in der Bar gemütlich einen heben und plaudern können, dann haben Sie ja meine Nummer.«

Ein paar Leute lachen. Mr Barraclough nimmt einen Schluck von seinem Sekt. »Wie immer haben wir für diese Woche eine Reihe höchst attraktiver Veranstaltungen für Sie vorbereitet«, fährt er fort, »nehmen Sie sich also Zeit, um alles durchzulesen, melden Sie sich an, ehe es zu spät ist, und vor allem, genießen Sie die Woche. Danke.«

Damit hebt er sein Glas und nickt uns zu, während leiser Applaus aufbrandet.

Mum packt mich am Arm. »Komm, lass uns nachsehen, was so geplant ist.«

Ich schnappe mir eine Handvoll gerösteter Erdnüsse und folge ihr, um mich mit den anderen an einem Tisch anzustellen, der an der Seitenwand steht. Er ist bedeckt mit Broschüren, Informationsmaterial und Buchungsbögen. Dad und Craig schlendern zu dem Brett auf der anderen Seite des Raumes. Dort hängen Bilder der örtlichen Dampfeisenbahn. Noch so was, das sich jedes Jahr wiederholt. Craigs Welt würde kopfstehen, wenn wir nicht wenigstens einmal mit der Dampfeisenbahn fahren würden, solange wir hier sind.

»Schau mal. Dahin hat es doch bisher noch keinen Ausflug gegeben, oder?« Mum reicht mir die Broschüre eines Kerzenmuseums, von dem wir schon gehört, das wir aber noch nie besucht haben. »Da kann man selber Kerzen machen«, fügt sie hinzu.

Ich lese die Broschüre durch. Es sind Kerzen abgebildet, die die Form von Nixen oder Feen und allen möglichen anderen Gestalten haben. Ich stelle mir vor, wie Juli und ich Kerzen machen – jede macht eine für die andere. »Sieht gut aus«, stimme ich zu.

Mum nimmt einen Anmeldebogen. »Morgen Nachmittag gibt es eine Fahrt dorthin. Soll ich uns anmelden?«

»Ja, super«, erwidere ich. Ungefähr zum zwanzigsten Mal werfe ich einen Blick zur Tür, um zu sehen, ob Juli nicht endlich eintrifft.

Kurz darauf kommt Dad mit Craig im Schlepptau an. Craig geht wie ein o-beiniger Cowboy; seine Hose ist klatschnass.

»Er hat seinen Saft umgeschmissen«, sagt Dad. »Ich bringe ihn nach Hause zum Umziehen. Wir sind gleich wieder zurück.«

An der Tür bleibt er stehen, um mit jemandem zu reden, der gerade angekommen ist. Ich schaue um die Ecke. Jawoll! Es ist Juli!

Sie kreischt meinen Namen so laut, dass sich der halbe Raum umdreht, um zu sehen, was los ist. Dann kommt sie angerannt und drückt mich so fest, dass mir praktisch die Luft wegbleibt. Ihre Eltern kommen hinterher. Sie sind im Partnerlook angezogen: Leinenhosen und leuchtend bunte T-Shirts, seines hellblau und ihres knallrosa. Juli trägt alte Jeans und ein rotes T-Shirt mit einem weißen Esel vorne drauf. Der Raum verändert sich durch ihre Ankunft, als ob er vorher in Schwarzweiß gewesen ist und sie einen Schalter angeknipst haben, der ein Farbbild daraus gemacht hat.

»Habt ihr zwei euch nicht erst vor zwei Stunden gesehen?«, fragt Mum.

»Schon, aber wir haben noch keine Zeit gehabt, uns die rund zwei Millionen Sachen zu erzählen, die passiert sind«, sagt Juli.

»Zwei Millionen? Dad berichtete etwas von anderthalb«, sagt Mum lächelnd.

»Das war doch vor zwei Stunden! Inzwischen gibt’s mehr!«

Ich lache, aber Juli hat ja recht. Es gibt immer so viel, was ich ihr erzählen möchte. Nur alberne Kleinigkeiten, Sachen, über die sich die meisten Leute nicht mal Gedanken machen würden, aber von denen ich weiß, dass Juli sie hören möchte.

»Ich glaube, ich weiß, was ihr meint«, sagt Mum. Sie küsst Julis Mum auf die Wangen und zieht sie mit sich. Julis Vater geht hinüber, um Mr Barraclough zu begrüßen.

»Mal sehen, was sie uns dieses Jahr zu bieten haben«, sagt Juli mit einem Augenzwinkern und grabscht eine Handvoll Broschüren. »Nö, nö, ach was, so ein Quatsch«, sagt sie nach einem kurzen Blick auf jede Broschüre. Eine nach der anderen lässt sie fallen und geht weiter am Tisch entlang.

»Kerzen!«, schnaubt sie verächtlich und schleudert die Broschüre auf den Tisch, die Mum und ich uns angesehen haben. »Wer hat schon Lust, sich ein Kerzenmuseum anzusehen? Also echt!«

Ich sage nichts, sondern verschiebe ein paar Seiten auf dem Tisch, damit sie den Anmeldebogen nicht sehen kann – und ich wende mich etwas ab, damit sie auch nicht bemerken kann, wie ich rot geworden bin. Juli steht plötzlich neben mir, packt mich am Arm und schüttelt ihn rauf und runter wie ein kleines Kind. »Schau dir das an, Jenny«, sagt sie.

Es ist die Broschüre von einem Abenteuerpark in einem Dorf, das ungefähr fünfzehn Kilometer entfernt ist.

»Da müssen wir hin!«, sagt Juli. »Hör dir das an: Felsenklettern, Abseilen, ein Hindernisparcours und so weiter.«

Ich habe ja geahnt, dass sie versucht, mich zu so etwas zu überreden. »Ich weiß nicht«, brumme ich, um Zeit zu schinden. Also, meistens ist es ja wirklich ein super Gefühl, hinterher, nachdem ich so was Gefährliches gemacht habe, zu dem mich Juli überredet hat – aber das bedeutet nicht, dass ich unbedingt wieder beim nächsten Mal dabei sein will! »Abseilen? Felsenklettern? Muss man da nicht nach hoch oben?«, frage ich nervös. »Sag mal – glaubst du nicht, dass das ein bisschen gefährlich werden kann?«

»Und Reiten! Genau – das machen wir!«, schreit Juli, fängt an, Schnalzgeräusche zu machen und um mich herumzutraben wie ein Pferd. »Kannst du dich an die Holzpferde erinnern, die wir in der zweiten Klasse hatten, Jen?«

Wir hatten unsere Eltern überredet, uns gleiche Steckenpferde zu kaufen. Auf denen sind wir überall hingeritten. Wir haben so getan, als wären wir Cowgirls in der Prärie, die nach verloren geglaubten Schätzen suchen.

Ich lache. »Mhm, aber wie du sagst, da waren wir in der zweiten Klasse – und es waren Holzpferde. Da musste man nicht befürchten, dass einem eins auf den Füßen rumtrampelt!«

Juli hört auf zu traben und sieht sich nach ihrer Mutter um. Die steht mitten im Raum, hat die Hand auf Mums Bauch gelegt und lächelt, während sie sich mit ihr unterhält.

»Was ist los?«, frage ich, als ich zu ihnen trete.

»Er hat gestrampelt.« Mum strahlt.

»Er?« Mrs Leonard zieht fragend eine Braue hoch.

»Also, wir sind nicht ganz sicher«, sagt Mum, »aber es fühlt sich wie ein Er an. Fühl doch mal, wie kräftig er mit den Beinchen kickt! Wenn das kein Fußballspieler ist!«

Ich lege die Hand auf Mums Bauch und spüre einen kleinen Stoß. Mein Herz geht auf bei dem Gedanken, dass da ein kleines Leben drin ist. Mein kleiner Bruder. Ich kann es kaum erwarten, ihn zu sehen.

Juli legt ihre Hand neben meine. »Wahnsinn!«, kreischt sie. Dann beugt sie sich runter und redet direkt mit Mums Bauch. »Hallo, kleiner Bruder von Jen«, sagt sie. »Kannst du Mrs Green bitte davon überzeugen, dass Jenny und ich reiten gehen dürfen?«

»Wie bitte?«, fragt Mum.

Juli zeigt ihr die Broschüre. »Reiten! Da gehen wir morgen mit!«, verkündet sie. Es ist nicht Julis Art, um etwas zu bitten. Das wäre auch Unsinn, denn keiner sagt jemals Nein zu ihr.