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Emily hat ein großes Geheimnis: Sie ist halb Mensch, halb Meermädchen! Emily findet bei einem Tauchgang einen wunderschönen Ring mit einem funkelnden Brillanten. Natürlich probiert sie ihn sofort an! Was sie nicht weiß: Der Ring gehört nicht nur Neptun, er ist auch noch verzaubert und trägt einen uralten Fluch in sich. Emily kann ihn nicht mehr abnehmen und muss den Bann bis zum nächsten Vollmond brechen – in drei Tagen! Der dritte Band der erfolgreichen Serie für alle Mädchen ab 10 Jahren, die auch davon träumen, eine Meerjungfrau zu sein Bei Antolin gelistet Alle Bände über Emily Windsnap: Band 1: Das Geheimnis Band 2: Das Abenteuer Band 3: Die Entdeckung Band 4: Die Rückkehr Band 5: Die Reise Band 6: Die Bestimmung
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Seitenzahl: 232
Liz Kessler
Die Entdeckung
Emily hat ein großes Geheimnis: Sie ist halb Mensch, halb Meermädchen!
Emily findet bei einem Tauchgang einen wunderschönen Ring mit einem funkelnden Brillanten. Natürlich probiert sie ihn sofort an! Was sie nicht weiß: Der Ring gehört nicht nur Neptun, er ist auch noch verzaubert und trägt einen uralten Fluch in sich. Emily kann ihn nicht mehr abnehmen und muss den Bann bis zum nächsten Vollmond brechen – in drei Tagen!
Der dritte Band der erfolgreichen Serie für alle Mädchen ab 10 Jahren, die auch davon träumen, eine Meerjungfrau zu sein
Alle Bände über Emily Windsnap:
Band 1: Das Geheimnis
Band 2: Das Abenteuer
Band 3: Die Entdeckung
Band 4: Die Rückkehr
Band 5: Die Reise
Band 6: Die Bestimmung
Weitere Informationen finden Sie unter www.fischerverlage.de/kinderbuch-jugendbuch
Als Liz Kessler im Alter von neun Jahren ihr erstes Gedicht veröffentlichte, hatte sie sich nicht träumen lassen, dass sie einmal eine der erfolgreichsten Autorinnen der Welt werden würde. Ihre Kinderbücher über das Meermädchen Emily Windsnap und die Feenfreundin Philippa sind internationale Bestseller und haben sich weit über sechs Millionen Mal verkauft. Für ihren Roman Als die Welt uns gehörte wurde sie mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis 2023 (Jugendjury) ausgezeichnet.
[Widmung]
[Motto]
Prolog
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
LESEPROBE
Kapitel 1
Diese Geschichte widme ich dem
›Club der einsamen Kinderbuchautoren‹,
in erster Linie Celia Rees und Lee Weatherly,
ohne die Emily wohl auf See verschollen geblieben wäre –
außerdem meiner Schwester Caroline Kessler,
ohne die ich selbst verloren gewesen wäre.
Und wenn unsere Hände sich in einem
anderen Traum begegnen sollten,
werden wir einen weiteren Turm
in den Himmel bauen.
aus: Der Prophet von Khalil Gibran
Es ist Mitternacht und so hell wie der Tag.
Der Vollmond scheint auf das Meer herab und lässt die Wellen tanzen, die an die Gestade einer kleinen Insel schlagen, an raue Felsen und auf steinige Strände schwappen.
Ein Wagen gleitet durch die See und zieht einen Kreis um die Insel. Er ist aus purem Gold, und seine Seiten sind mit Edelsteinen besetzt. Gezogen wird er von Delphinen, alle geschmückt mit einer Reihe Diamanten und Perlen, die sich von ihrem Kopf über den Rücken bis zum Schwanz zieht.
In dem Wagen sitzt der König aller Meere: Neptun. Prachtvoller denn je sieht er aus. Eine Kette funkelnder Juwelen liegt um seinen Hals, auf seinem weißen Haar schimmert seine goldene Krone, seinen Dreizack hält er neben sich. Seine grünen Augen leuchten im Mondlicht, während er über die Insel blickt. Er wartet darauf, dass seine Braut aus dem Schloss tritt, das auf den Felsen steht, halb im Nebel verborgen. Die dunklen Schlossfenster schimmern im hellen Nachthimmel.
»Fahrt noch einmal herum!«, fordert er seine Delphine mit donnernder Stimme auf. Bei seinen Worten bebt das Wasser und kräuselt sich in immer größer werdenden Ringen um den Wagen. Die Delphine ziehen erneut einen Kreis um die Insel.
Und dann ist sie da. Sie lächelt, als sie auf das Ufer zuschreitet. Ihre Augen suchen die seinen, ihre Blicke sind so eindringlich, dass der Raum zwischen ihnen fast sichtbar wird – wie eine Brücke zwischen ihren beiden Welten.
Ein kleiner Starenschwarm nähert sich dem Wasser zusammen mit ihr. Die Vögel kreisen über ihrem Haupt wie eine gefiederte Krone. Sie legt den Kopf zurück, lächelt ihnen zu und hält die Hand empor. Auf der Stelle durchbricht einer der Stare den Kreis und fliegt auf ihre geöffnete Hand zu. Dort bleibt er fast bewegungslos in der Luft stehen und lässt etwas aus seinen Krallen in ihre Handfläche fallen. Einen Brillantring. Die Frau schließt die Hand, der Star kehrt in den Kreis der anderen Vögel zurück, und sie fliegen davon in die Nacht, wie eine riesige Schlange, die sich über den Himmel windet.
»Ich überreiche dir diesen Brillantring als Zeichen meiner Liebe, die so groß ist wie die Erde selbst, so unverrückbar wie der Boden, auf dem ich stehe.« Die Frau wirft ihr glänzendes schwarzes Haar zurück und streckt die Hand zu dem Wagen hin, um Neptun den Ring an den Finger zu stecken.
Der schwenkt kurz den Dreizack, und einer der Delphine schwimmt herbei. Als er sich vor Neptun verbeugt, wird ein Perlenring sichtbar, den er sicher auf der Stirn balanciert. Neptun nimmt den Ring in Empfang. Er hält ihn auf der ausgestreckten Handfläche vor sich hin und sagt mit leiser Stimme: »Und mit dieser Perle lege ich dir das Meer zu Füßen, meine Welt, so grenzenlos und ewig wie meine Liebe zu dir.« Er streift ihr den Ring über den Finger. »Dies ist ein einzigartiger, magischer Augenblick. Der Vollmond um Mitternacht fällt zusammen mit der Frühlings-Tagundnachtgleiche. Erst in fünfhundert Jahren wird so etwas wieder eintreten. Der Augenblick ist fast so selten, wie es unsere Liebe ist.«
Sie lächelt zu ihm auf. Ihr weißes Kleid ist um den Saum, da sie bei seinem Wagen im Wasser steht, nass geworden.
Neptun reckt seinen Dreizack in die Höhe und fährt fort: »Diese Ringe dürfen immer nur von zwei Wesen getragen werden, die sich lieben – zwei unterschiedlichen Wesen, das eine aus dem Meer, das andere vom Land –, oder von einem Kind, das von einem solchen Paar hervorgebracht wurde. Solange sie auf diese Weise getragen werden, kann niemand sie ihnen wegnehmen.«
»Kann sie nicht mal berühren«, sagt die Frau und lächelt.
Neptun lacht. »Niemand kann sie auch nur berühren«, sagt er bestätigend. Dann hält er die Hand mit dem Ring hoch, die Handfläche der Frau zugewandt. Sie legt ihre an seine, so dass ihre Arme einen Bogen bilden und die Ringe sich berühren, als ihre Hände sich umklammern. Hunderte von Sternen am Himmel knistern und funkeln in allen Farben wie bei einem Feuerwerk. »Wenn die Ringe sich auf diese Weise berühren«, fährt Neptun fort, »dann heben sie jeden Erlass, entstanden aus Hass oder im Zorn, wieder auf. Nur die Liebe soll walten.«
»Nur die Liebe«, wiederholt sie.
Dann breitet Neptun die Arme aus. »In diesem Moment sind Nacht und Tag ebenbürtig, und ab jetzt sind es Erde und Meer ebenfalls. Solange wir diese Ringe tragen, die Symbole unserer Ehe, werden immer Frieden und Harmonie herrschen zwischen den beiden Welten.«
Ein letztes Mal schwenkt er den Dreizack, dann reicht Neptun der Frau die Hand, um ihr in den Wagen zu helfen. Hand in Hand sitzen sie dicht beieinander. Ihr langes Kleid hängt über den Rand der einen Wagenseite, sein juwelenbesetzter Fischschwanz liegt über der anderen Seite.
Die Delphine heben die Zügel, und lautlos gleitet der Wagen mit seinen königlichen Besitzern davon, auf dass sie ihr Eheleben gemeinsam beginnen.
»Emily! Ich sag es nicht noch mal.« Ich öffnete ein Auge und sah, wie Mum den Vorhang vor dem Bullauge in meiner Kabine zurückzog. Draußen hing der ovale Mond tief im schwarzblauen Himmel. Letztes Viertel, schoss es mir automatisch durch den Kopf. Wir hatten in der Schule die Mondphasen durchgenommen. »Es ist doch noch ganz dunkel«, jammerte ich, zog die Decke übers Gesicht und kuschelte mich wieder in mein Kissen.
»Es ist halb acht«, erwiderte Mum und hockte sich auf meine Bettkante. Sie schlug die Decke zurück und küsste mich auf die Stirn. »Nun mal los, meine Zuckerschnute«, sagte sie. »Du kommst sonst zu spät zur Schule.« Als sie sich erhob, murmelte sie noch: »Viel versäumen würdest du da zwar nicht. Sie haben euch dort bisher nicht gerade viel Brauchbares beigebracht.«
Sie war aus dem Zimmer, ehe ich antworten konnte.
Ich blieb liegen, starrte an die Decke und stieß einen tiefen Seufzer aus. Mum schien in letzter Zeit ziemlich niedergeschlagen. Es war das dritte Mal in dieser Woche, dass sie wegen irgendwas unzufrieden war. Ich persönlich fand überhaupt nicht, dass es was zu beklagen gab. Wir lebten auf einer wunderschönen geheimen Insel: Mum, Dad und ich, vereint auf einem schnittigen alten Holzschiff, das halbversunken im goldenen Sand und im glitzernden Wasser lag, das die gesamte Insel umgab. Meerleute und Menschen in friedlichem Miteinander.
Mir ist klar, dass Letzteres nicht unbedingt zu jedermanns Idealvorstellung vom Leben gehört, aber wenn die Mutter ein menschliches Wesen, der Vater ein Meermann und man selbst halb und halb ist, dann ist das doch nicht unpraktisch.
Ich zog meinen Badeanzug an und setzte mich zu Mum an den Frühstückstisch. Der stand wie alles auf unserem Boot schief, deshalb musste ich meine Cornflakes-Schüssel beim Essen festhalten.
Dad kam an die Falltür geschwommen, die sich neben meinem Platz im Boden befand, und zog sich hoch, um mir einen Kuss auf die Wange zu geben. »Guten Morgen, mein kleiner Seestern«, sagte er lächelnd. »Bist du bereit, dass ich dich in Meereskunde abfrage?«
»Leg los!«, sagte ich.
Dad kratzte sich den Kopf. »Wie groß kann eine Japanische Riesenkrabbe werden?«
»Drei Meter Durchmesser«, sagte ich, ohne zu zögern.
»Sehr gut. Hm. Welche Farbe hat ein gestreifter Schmetterlingsfisch?«
»Schwarz und Silber. Zu einfach!«
»Einfach sinnlos, sollte man wohl eher sagen«, murmelte Mum vor sich hin. Was hatte sie bloß?
Dad sah sie stirnrunzelnd an. »Nicht schon wieder!«, sagte er seufzend. »Was ist nur los mit dir? Willst du nicht, dass deine Tochter gut in der Schule ist?«
»Es tut mir leid«, erwiderte sie und griff nach Dads Hand. »Es ist nur …«
»Was? Was ist es? Sie lernt eine Menge, sie hat Spaß daran, und sie bekommt gute Noten. Ich könnte nicht stolzer auf sie sein.« Dad zwinkerte mir zu, während er das sagte. Ich lächelte zurück.
Dad und ich hatten uns nicht so gut verstanden, als wir auf der Rundum-Insel eingetroffen waren. Also, auch nicht direkt schlecht; es war einfach nicht leicht gewesen. Ich hatte den größten Teil meines Lebens ohne ihn verbracht, und wir wussten nicht so recht, worüber wir uns unterhalten oder wo wir überhaupt anfangen sollten.
Bis vor kurzem hatte ich gar nichts von seiner Existenz gewusst. Erst vor ein paar Monaten hatte ich herausgefunden, wer ich selbst war – dass ich ein Meermädchen wurde, wenn ich ins Wasser eintauchte. Am Anfang jagte es mir immer einen Schrecken ein. Als es das erste Mal passierte, wusste ich überhaupt nicht, was los war. Das war ausgerechnet im Schwimmunterricht in der Schule gewesen. Dann gewöhnte ich mich allerdings daran, und nachts schlich ich mich davon, um im Meer zu schwimmen. Auf diese Weise habe ich meine beste Freundin Shona kennengelernt. Sie ist auch ein Meermädchen. Ein richtiges Vollzeitmeermädchen. Sie hat mir dabei geholfen, meinen Dad zu finden. Das war der schönste Tag meines Lebens, als ich mich in Neptuns Gefängnis stahl und Dad zum ersten Mal begegnete.
Ich nehme an, ich musste mich erst mal an alles gewöhnen. Aber die letzten paar Wochen waren genial gewesen, nachdem die ganze leidige Geschichte mit dem Kraken überstanden war. Der Krake, das ist das schrecklichste, angsteinflößendste Meerungeheuer der Welt, und ich hatte es versehentlich aufgeweckt! Seit jenem Abenteuer sind Dad und ich jeden Tag zusammen geschwommen und haben den goldenen Grund um die Rundum-Insel erforscht; sind mit den bunten Fischen, die hier überall das Wasser bevölkern, um die Wette geschwommen; haben zwischen den Korallen Fangen gespielt. Dad wurde ganz offiziell zum besten Vater der Welt.
»Genau das ist es ja«, sagte Mum gerade. »Du könntest nicht stolzer sein. Und du hast auch allen Grund, stolz zu sein. Stimmt, Emily macht große Fortschritte in …« Sie unterbrach sich, um nach dem Stapel Schulbücher zu greifen, den ich am Tag zuvor mitgebracht hatte. Ich liebte meine Schulbücher geradezu. Sie waren völlig anders als alle Schulbücher, die ich je zuvor gehabt hatte, das stand mal fest! Erstens waren sie alle aus dem tollsten glänzenden Material gemacht oder aus Seegras gewoben und mit Muscheln und Perlen verziert. Und zweitens behandelten sie die zischigsten Fächer! Nie hatte mir die Schule so viel Spaß gemacht.
»… in Meer- und Nixenkunde«, las Mum von dem obersten Buch ab. Sie zog noch ein paar Bücher aus dem Stapel. »Oder Segeln und Sterngucken oder Haarflechten für das Meermädchen von heute. Also wirklich!«
»Was, also wirklich?«, fragte Dad, und seine Stimme klang beleidigt und angespannt. »Warum sollte sie diese Dinge nicht lernen? Es liegt ihr im Blut. Was genau gefällt dir nicht daran, Mary?«
Jetzt wusste ich, dass wirklich etwas nicht stimmte. Kein Mensch nennt Mum jemals Mary, schon gar nicht Dad. Die meisten sagen Mary P. zu ihr, weil ihr zweiter Name Penelope ist. Und Dad hat sie immer Penny genannt, oder er nennt sie seinen Glückspenny, wenn sie besonders gefühlsduselig sind. Was schon seit einiger Zeit nicht mehr der Fall gewesen war, wenn ich es recht bedachte. Und während mir das so durch den Kopf ging, musste ich zugeben, dass Mum nicht ganz unrecht hatte. Also, versteht mich nicht falsch. Ich liebte die neuen Schulfächer. Aber möglicherweise fehlten mir meine alten Fächer auch manchmal, ein bisschen wenigstens. Vielleicht auch nur Englisch. Ich habe immer so gern Aufsätze geschrieben. Sogar Diktate haben mir Spaß gemacht. Aber nur, weil ich gut darin war.
»Was schlecht daran ist«, sagte Mum, »ist Folgendes: Während du dich vielleicht freust, dass deine Tochter nichts weiter lernt, als sich vorbildlich die Haare zu kämmen und die Tageszeit von den Wolken abzulesen, wünsche ich mir doch, dass meine Tochter eine fundierte Schulbildung bekommt.«
»Meine Tochter, deine Tochter? Das klingt bei dir ja so, als wären es zwei verschiedene Personen«, sagte Dad. Ich konnte sehen, wie das Wasser unter dem Schiffsboden heftig in Wallung geriet, weil er ärgerlich mit dem Fischschwanz schlug. Es spritzte sogar auf den Küchenboden.
»Ja, das ist vielleicht auch der Fall«, sagte Mum kurz angebunden, nahm ein Geschirrtuch zur Hand und wischte den Boden auf. Dann sah sie zu mir hoch, und ihre Züge wurden freundlicher. »Nein, das ist natürlich nicht der Fall. Sie besteht überhaupt nicht aus zwei Personen. Emily kann nichts dafür.« Mum lächelte zu mir hoch und ergriff meine Hände. Ich zog sie weg und wandte im gleichen Moment das Gesicht ab, so dass ich den verletzten Blick ihrer Augen nicht sehen konnte. Das ist nämlich etwas, was ich gar nicht gut ertragen kann.
Aber es war so ungerecht. Sie war so ungerecht. Noch nie im Leben hatte mir die Schule so viel Spaß gemacht! Zugegeben, es war vielleicht schön, ab und zu auch Aufsätze zu schreiben, aber was war schon so schlimm daran, dass ich keine Sprache und Logarithmen oder Brüche oder Französisch lernte? Wer behauptete denn, dass einem das was nützte? Musste ich denn wirklich wissen, wie viel John pro Woche verdient, wenn er vier Prozent Provision und drei Prozent Zinsen bekommt? Es war doch bestimmt wichtiger, über meine Umgebung Bescheid zu wissen! Wenn ich wusste, welche Fische die gefährlichsten und welche die harmlosesten waren. Wenn ich lernte, wie andere Meermädchen auszusehen und mich so zu verhalten wie richtige Meermädchen. Selbst wenn ich mir manchmal ein bisschen komisch vorkam, auf einem Felsen zu hocken und mein Haar zu kämmen, lernte ich doch, dazuzugehören. Waren Mum solche Dinge gar nicht wichtig? Wollte sie nicht, dass ich mich wohl fühlte?
Ich widmete mich wieder meinem Frühstück.
Mum holte Luft. »Es sind eben zwei unterschiedliche Welten«, sagte sie leise. »Und manchmal frage ich mich, ob sie vielleicht einfach zu verschieden sind. Ich meine, seht euch doch mal mein Leben hier an. Was mache ich den ganzen Tag? Sonnenbaden, mein Haar kämmen, vielleicht zweimal die Woche zum Synchronschwimmen gehen. Das ist kein Leben für mich, Jake. Ich möchte mehr als nur das.«
Eine Ewigkeit lang sagte keiner ein Wort. Mum und Dad starrten sich stumm an. Ich hatte gerade einen Löffel Cornflakes genommen und wagte nicht zu kauen, falls es zu laut knuspern könnte, deshalb saß ich mit dem Mund voll Flocken und Milch da und wartete, dass einer von ihnen was sagte.
»Wir reden später darüber. Ich muss los«, sagte Dad schließlich, und ich schluckte meine Cornflakes herunter. Sie waren inzwischen so matschig, dass man sie sowieso nicht mehr kauen musste.
Dad verschwand so schnell, dass er mir nicht mal mehr einen Kuss gab. Nicht, dass mir das was ausmachte. Immerhin bin ich zwölf. In zwei Monaten werde ich dreizehn. Dass mir mein Vater einen Kuss gibt, wenn er geht, ist also wirklich nicht mehr nötig!
Aber. Es deutete doch wohl auf etwas hin. Vielleicht war ich selbst an allem schuld. Nur wegen mir mussten sie versuchen, die beiden Welten überhaupt zusammenzubringen. Wegen mir – und natürlich, weil sie sich liebten. Aber vielleicht liebten sie sich ja nicht mehr. Vielleicht hatten sie sich in den zwölf Jahren, die sie getrennt waren, so entfremdet, dass sie sich inzwischen gar nicht mehr liebten, sondern nur wegen mir zusammenbleiben mussten. Und das ging ihnen beiden gegen den Strich, und sie hassten sich, und am Ende würden sie beide auch mich hassen. Und jetzt behauptete Mum auf einmal, dass sie ihr Leben hier nicht mehr mochte!
Ein ungekanntes, kaltes Gefühl breitete sich in mir aus und kroch mir in die Glieder. Erst vor wenigen Wochen war uns ein neues Leben auf dieser Insel geschenkt worden. Ein Traum, der Wirklichkeit wurde. Alles, was wir uns immer gewünscht hatten. Aber vielleicht war es ja gar kein Traum, der Wirklichkeit geworden war. Vielleicht verwandelte es sich ja gerade in einen Albtraum, wie das mit so vielen meiner Träume passierte. Früher wenigstens.
Vielleicht war es ja nur eine Frage der Zeit, bis Mum und Dad das Schiff verlassen würden, bis sie gar nicht mehr zusammen sein wollten. Was dann? Müsste ich mich für einen von beiden entscheiden? Würden sie mich überhaupt wollen, wo ich doch der Grund dafür war, dass ihre Ehe in die Brüche ging? Sie würden womöglich streiten, wer mich nicht nehmen müsste.
Ich versuchte diese Gedanken abzuschütteln, während ich mich für die Schule zurechtmachte. Der Test in Meereskunde war heute Nachmittag, und ich war entschlossen, gut abzuschneiden. Ich würde Dad zeigen, dass ich in seine Fußstapfen treten oder besser in seinem Kielwasser schwimmen konnte, wie er es gern ausdrückte.
Der Gedanke heiterte mich auf, und ich gestattete mir sogar ein Lächeln, während ich meine Bücher packte. Bis ein weiterer Gedanke das Lächeln aus meinem Gesicht vertrieb wie ein Haifisch, der einen Schwarm harmloser bunter Fische jagte.
Je besser ich in der Nixenschule wurde, desto weniger Zeit verbrachte ich mit Mum an Land, um mit ihr Dinge zu tun, die sie gernhatte. Je mehr ich mich Dad anschloss, desto weiter entfernte ich mich von ihr. Wenn ich jetzt so daran dachte, überraschte es mich nicht, dass sie unglücklich war. Ich war so beschäftigt damit gewesen, meinen Vater kennenzulernen, dass ich kaum noch was mit Mum unternommen hatte.
Vielleicht hatte sie ja doch recht. Vielleicht waren die beiden Welten einfach zu verschieden, um zusammenzufinden. Vielleicht war es meinen Eltern einfach nicht gegönnt zusammenzuleben.
Ich schlich mich vom Boot und ließ mich ins Wasser gleiten, ohne mich zu verabschieden. Mir war zu elend, um was zu sagen, ich hatte zu viel Angst nachzudenken.
Während ich hinabtauchte, zerflossen meine Gedanken und fielen von mir ab, als würde ich mich häuten.
Meine Beine fühlten sich schwer wie Blei an und zogen mich einen Moment in die Tiefe, während sie steif wurden. Das beunruhigte mich jedoch nicht mehr. Ich war daran gewöhnt. Eigentlich war es sogar das schönste Gefühl der Welt, weil ich wusste, was gleich kam.
Meine Beine legten sich aneinander und verschmolzen so fest miteinander, als ob sie jemand umwickelte und mit Unmengen von Bandagen zusammenband.
Und dann formte sich mein Fischschwanz.
Ich streckte mich wie eine Katze und sah zu, wie sich der untere Teil meines Badeanzugs in glänzende Silberschuppen verwandelte, die schimmerten und funkelten und sich immer weiter fortsetzten, bis mein Fischschwanz vor Leben zappelte und zuckte. Dieses Gefühl würde ich niemals leid werden. Es war ein Gefühl, als wäre man in einen Kasten eingeschlossen gewesen und nun würden der Deckel und die Seiten aufgeklappt, und ich konnte mich auf einmal bewegen, wie und wohin ich wollte. Es war, als stünde mir auf einmal die ganze Welt offen.
Ich verharrte im Wasser und schlug mit der Schwanzflosse, um sicherzugehen, dass sie sich fertig ausgebildet hatte. Sie schimmerte violett und grün auf, als ich zwei winzige silberne Fische damit verscheuchte, die daneben aufgetaucht waren. Bei jedem Schlag stiegen winzige Blasen zur Oberfläche auf.
Ich seufzte glücklich auf. Nichts konnte mir widerfahren, solange ich ein Meermädchen war.
Ich schwamm über die Korallenriffe und blickte in die Unterwasserwälder, während ich die Schule ansteuerte.
Leuchtend grüne Büsche winkten mir zu, als ich über sie hinwegschwamm; gummiartige rote Röhren nickten und hüpften hin und her. Ein Paar goldener Seepferdchen mit verschlungenen Schwänzen suchte seinen Weg zwischen langen Ausläufern von Schilfpflanzen, die sich in der Strömung wiegten und neigten. Schwärme hauchfeiner Fische mit leuchtend gelben Schwanzflossen und rundbäuchige blaue Fische mit schwarzen Augen huschten zielbewusst um mich herum. Ich versuchte mich an ihre Namen zu erinnern, nur falls es in dem Meereskundetest abgefragt wurde, aber sie waren mir noch unbekannt. Jeden Tag konnte man hier etwas anderes entdecken. Mir wurde auf der Rundum-Insel niemals langweilig, auch wenn Mum schon genug davon hatte.
Ich erreichte eine Felsformation am Ausgang eines Tunnels und wartete. Am Ende des Tunnels, wo er eine Biegung machte, in der Smaragdhöhle, befand sich die Schule. Shona und ich hatten uns angewöhnt, uns hier zu treffen, damit wir gemeinsam hineinschwimmen konnten.
Ein paar meiner anderen Mitschülerinnen lächelten, als sie an mir vorbeischwammen. Die meisten in der Klasse waren Meermädchen. Es gab auch ein paar Meerjungen und jeweils zwei menschliche Jungen und Mädchen. Von den anderen hatte ich noch nicht so viele kennengelernt, abgesehen von zwei Meermädchen, mit denen Shona und ich viel zusammen waren, Althea und Marina. Ich war die Einzige, die halb und halb war. Die einzige Halbnixe, das einzige Halbwesen. Es gab sogar eine Bezeichnung für uns, obwohl wir nur ganz wenige waren!
Ich hatte mich daran gewöhnt, die Einzige zu sein, wenn ich auch manchmal wünschte, dass es anders wäre. Es würde einfach zu cool sein, noch einen zu treffen, der wusste, wie es sich anfühlte, wenn man sich verwandelte wie ich.
Also, einen anderen gab es doch, das einzige andere Halbwesen, das ich je getroffen hatte. Aber der zählte nicht. Zum einen war er erwachsen, zum anderen war er der unvertrauenswürdigste, hinterhältigste Typ, den es gab. Mr Beeston. Der sogenannte Freund meiner Mutter. Ein Freund, wie sich dann herausstellte, der uns mein Leben lang nachspioniert und Neptun über uns auf dem Laufenden gehalten hatte!
Das war inzwischen allerdings alles Vergangenheit. Wenigstens versuchte er uns nicht mehr unter Drogen zu setzen oder anzulügen.
»Emily!« Eine vertraute Stimme perlte zu mir herüber und verscheuchte Mr Beeston weit aus meinen Gedanken. Shona!
Sie kam auf mich zugeschwommen. Ihr Täschchen hatte sie unter den Arm geklemmt. Es war silbern und golden und mit winzigen rosigen Muscheln bestickt. Shona hatte immer die hübschesten Sachen. Sie war genau so ein Meermädchen, wie man es sich immer vorstellte, ganz mädchenhaft und glitzernd und mit langem, glänzendem blondem Haar. Nicht wie ich. Ich wollte meine Haare wachsen lassen, und inzwischen reichten sie schon über die Schultern, aber sie sahen immer noch kein bisschen so aus wie die von Shona: glatt und schön und – na ja, eben nixenhaft, denke ich.
»Hast du gelernt?«, fragte sie aufgeregt, als wir hinter einer Gruppe von jüngeren Meermädchen mit ihren Müttern herschwammen. Sie hielten sich beim Schwimmen bei den Händen und stoben eilig in ihr Schulzimmer. Ihre Mütter glitten schwatzend hinter ihnen her.
»Dad hat mich heute Morgen abgefragt«, erwiderte ich. »Ich glaube, ich hab alles gewusst, aber ich weiß nicht, ob ich mich auf die richtigen Fische vorbereitet habe.«
»Wir haben ja noch bis heute Nachmittag Zeit«, sagte Shona. »Und was heute Morgen ist, weißt du doch, nicht?«
Ich lächelte. »Schönheit und Haltung. Was denn sonst?«
S&H war Shonas Lieblingsfach. Nichts machte sie glücklicher, als zu lernen, sich eine neue Frisur zu machen, das schönste Schimmern auf ihren Fischschwanz zu bekommen oder mit perfekter Eleganz zu schwimmen. Ich war mehr an Schiffsunglücken und Nixengeschichten interessiert. Aber alles an der Nixenschule war immer noch so neu für mich, dass es mir eigentlich egal war, was wir taten oder lernen mussten. Hauptsache, es war kein Bruchrechnen!
Wir schwammen den Kanal entlang. Man musste sich im ersten Abschnitt an den Wänden entlangtasten. Hier fing mein Herz immer rascher zu schlagen an. Die glitschigen, nassen und kalten Wände lösten jedes Mal Erinnerungen aus an das, was passiert war, als ich den Kraken in seinem schleimigen dunklen Tunnel entdeckt hatte.
Bald kamen wir um eine Biegung, und der Tunnel weitete sich, wurde heller und füllte sich mit Farben. Lächelnd verscheuchte ich die Erinnerungen. Shona erzählte ich nie, was in mir vorging, wenn ich den Tunnel entlangschwamm. Ich fragte mich allerdings immer, ob sie dieselben Gefühle hatte, aber es war etwas, worüber wir nicht sprachen. Sie hatte mich damals begleitet, als ich den Kraken geweckt hatte, und wollte ihn sicher genauso gern vergessen wie ich.
Wir stießen auf Althea und Marina, als wir zu der Gabelung kamen, die zu unserem Schulraum führte. Marina kam eilig auf uns zugeschwommen. Ihr langer, goldener Fischschwanz zuckte flink hin und her. »Hallo, ich hab auf dem Weg hierher gehört, wie Mrs Tailspin mit einer der Mütter gesprochen hat«, sagte sie mit einem Grinsen. »Und ratet mal, was?«
Shona machte große Augen, die noch mehr glitzerten als gewöhnlich. »Was?«, fragte sie mit ebenso aufgeregter Stimme wie die von Marina.
»Wir machen einen S&H-Ausflug!«
»Zischig!«
Althea wandte sich mir zu. Ich hatte wohl ein verständnisloses Gesicht gemacht. »Das heißt, dass wir losziehen und das Riff und die Felsen erforschen«, erklärte sie.
»Wie – meinst du, wie damals, als wir die Schluchten durch die Insel untersucht haben?«
Sie schüttelte den Kopf. »Das war eine geographische Riffexpedition. Viel wissenschaftlicher. Dieser Ausflug hat wahrscheinlich was damit zu tun, dass wir nach Dingen suchen, aus denen man neue Haarbürsten machen kann, oder dass wir die schönsten Felsen suchen, auf deren Rand wir sitzen können.« Althea tat so, als würde sie gähnen, als sie das sagte.
Marina stieß sie an und lachte. »Komm schon, wir wissen doch, dass du das auch schön findest«, sagte sie.
Althea sah ihre Freundin grinsend an. »Ja, immerhin besser als der MK-Test heute Nachmittag.«
Schwatzend bogen wir in den Teil der Gabelung ein, der zu unserem Schulraum führte. Es raubte mir immer noch jedes Mal den Atem, wenn ich hierherkam. Eine Höhle, gefüllt mit stillem, blaugrünem Wasser. Über uns hingen glitzernde Tropfsteine eng gefältelt von der hohen Decke wie die Flügel von Flugsauriern, oder sie zeigten in das Becken unter ihnen wie scharfe Bündel von Pfeilen, die mitten im Flug erstarrt waren. Um uns herum schillerten und blitzten blaue und grüne und violette Lichter, die auf der Wasseroberfläche des tiefen Beckens tanzten. Wir schwammen in die Höhle und nahmen mit den anderen Schülern unsere Plätze ein. Vorne vor der Klasse hing eine lange Rolle von der Decke. In geschwungener, schleifenreicher Schrift stand jedes Mal eine Botschaft für uns darauf, wenn wir ankamen. Heute lasen wir:
Smaragd-Klasse: Bitte denkt daran, dass wir heute Nachmittag einen Test schreiben. Heute Morgen braucht ihr keine Schilfstifte und Rollen, also packt eure Taschen nicht aus. Stellt sie erst mal sicher beiseite und wartet bitte, bis ich komme.
Unterschrieben war die Nachricht mit
Mrs R. Tailspin
»Hab ich’s nicht gesagt?!«, meinte Marina. »Wir brechen sicher gleich auf.«