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Emily hat ein großes Geheimnis: Sie ist halb Mensch, halb Meermädchen! »Könnten eure schlimmsten Albträume wahr sein? Neptun befürchtet genau das. Deshalb schickt er mich und Aaron auf eine streng geheime Mission. Was uns im Land der Mitternachtssonne erwartet, ist unglaublicher als alles, was ihr euch vorstellen könnt …« Emily und Aaron entdecken ein Königreich aus Eis und stoßen auf dunkle Geheimnisse, die ihre ganze Welt in Gefahr bringen. Werden sie herausfinden, wer ihre wahren Freunde sind, bevor es zu spät ist? Der fünfte Band der erfolgreichen Serie für alle Mädchen ab 10 Jahren, die auch davon träumen, eine Meerjungfrau zu sein Bei Antolin gelistet Alle Bände über Emily Windsnap: Band 1: Das Geheimnis Band 2: Das Abenteuer Band 3: Die Entdeckung Band 4: Die Rückkehr Band 5: Die Reise Band 6: Die Bestimmung
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Seitenzahl: 292
Liz Kessler
Die Reise
Emily hat ein großes Geheimnis: Sie ist halb Mensch, halb Meermädchen!
»Könnten eure schlimmsten Albträume wahr sein? Neptun befürchtet genau das. Deshalb schickt er mich und Aaron auf eine streng geheime Mission. Was uns im Land der Mitternachtssonne erwartet, ist unglaublicher als alles, was ihr euch vorstellen könnt …«
Emily und Aaron entdecken ein Königreich aus Eis und stoßen auf dunkle Geheimnisse, die ihre ganze Welt in Gefahr bringen. Werden sie herausfinden, wer ihre wahren Freunde sind, bevor es zu spät ist?
Der fünfte Band der erfolgreichen Serie für alle Mädchen ab 10 Jahren, die auch davon träumen, eine Meerjungfrau zu sein
Alle Bände über Emily Windsnap:
Band 1: Das Geheimnis
Band 2: Das Abenteuer
Band 3: Die Entdeckung
Band 4: Die Rückkehr
Band 5: Die Reise
Band 6: Die Bestimmung
Weitere Informationen finden Sie unter www.fischerverlage.de/kinderbuch-jugendbuch
Als Liz Kessler im Alter von neun Jahren ihr erstes Gedicht veröffentlichte, hatte sie sich nicht träumen lassen, dass sie einmal eine der erfolgreichsten Autorinnen der Welt werden würde. Ihre Kinderbücher über das Meermädchen Emily Windsnap und die Feenfreundin Philippa sind internationale Bestseller und haben sich weit über sechs Millionen Mal verkauft. Für ihren Roman Als die Welt uns gehörte wurde sie mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis 2023 (Jugendjury) ausgezeichnet.
[Widmung]
[Motto]
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Danksagung
Leseprobe zu ›Emily Windsnap – Die Bestimmung‹
[Motto]
2. Kapitel
Dieses Buch ist meiner total unglaublichen Agentin Catherine Clarke gewidmet. Ich danke Dir für Deine zehnjährige wunderbare Unterstützung, Beratung, Freundschaft, Resonanz und für die hundertundeins anderen Dinge, die Du für mich vollbringst. Du hast den Weg geebnet, dass es Emily überhaupt in die Welt geschafft hat. Danke. Geh bitte bloß nie in den Ruhestand!
Ich war wie tot, ich war verloren,
erstarrt zu Stein, ein Felsgesicht.
Ich war zu Eis gefror’n, war Feuer,
war alles, manches oder nichts.
Ich war einst da, dann nicht gesehen,
ein Wrack, ganz aus der Welt gerissen.
Jetzt taue ich und komm zum Leben,
ein Rätsel, das du längst vergessen.
Ich bin das Land, die See, die Berge,
die Zeichen deiner Furcht und Gier.
Du wolltest, dass der Berg erblindet,
doch Bruder, sieh, jetzt bin ich hier.
Njord
»Wir unterbrechen unser Programm wegen einer dringenden Unwetterwarnung. Am Morgen werden in vielen Küstenregionen wieder kurz aufbrandende Unwetter erwartet. Die Wetterämter raten den Bewohnern dieser Gegenden, nur in dringenden Fällen die Wohnungen zu verlassen. Küstenstraßen, die von den gestrigen Wolkenbrüchen noch überflutet sind, bleiben bis auf weiteres gesperrt.«
Mum stellte den Fernseher ab und stand auf, um den Wasserkessel aufzusetzen. »Diese Unwetter sind doch allmählich absurd«, sagte sie. »Es ist schließlich mitten im Sommer! Wir sollten im Freien sein und sonnenbaden, nicht drinsitzen oder in Regenmänteln und mit Schirmen rumrennen müssen.«
Mums beste Freundin Millie nickte in Richtung des zerfetzten, umgestülpten Regenschirms, der kopfüber im Abfalleimer steckte. »Der dritte, den ich in einer Woche ruiniert habe«, sagte sie. »Es wäre nicht so schlimm, wenn es nur der Regen wäre. Es ist der tosende Sturm, den ich nicht ausstehen kann. Ich träume schon ganz schlecht. Und die Wellen, die über die Kaimauer krachen, tragen nicht gerade dazu bei, eine ruhige Atmosphäre für meine Meditation-und-Erkenntnis-Gruppe zu schaffen.«
Meditation und Erkenntnis war der neue Kurs, den Millie auf der King abhielt, dem Schiff im Hafen von Brightport, in dem sie ganz in unserer Nähe lebte. Die King war früher unser Schiff gewesen, bevor wir ein neues bezogen, nachdem meine Mutter und mein Vater wieder zusammengefunden hatten. Mum ist eine Menschenfrau und Dad ein Meermann, und unser Boot, die Fortuna, ist so konstruiert, dass man unter Wasser und darüber wohnen kann. Ich bin halbe-halbe – menschlich an Land, Meermädchen im Wasser –, ich kann also sowohl über dem Wasser als auch unter Wasser leben.
Millies Gruppe Meditation und Erkenntnis gab es jetzt bereits seit drei Wochen. Den Kurs hatte sie ins Leben gerufen, nachdem sie ›einen Moment der Erleuchtung und Synchronizität‹ gehabt hatte, wie sie das nannte.
So etwas wie ›Momente der Erleuchtung und Synchronizität‹ hat Millie andauernd. Es beunruhigt sie nicht sonderlich, dass niemand weiß, was diese ›Momente‹ eigentlich sein sollen.
»Ich weiß nicht, warum ihr euch so aufregt«, sagte ich. »Die Unwetter sind doch immer nach einer halben Stunde vorbei, ansonsten war das Wetter ja die ganze Zeit schön.« Ich warf einen Blick aus dem Fenster. »Seht mal, es klart schon wieder auf.«
Mum und Millie wechselten einen vielsagenden Blick.
»Was ist?«, fragte ich.
Mum holte zwei Becher und ließ in einen davon einen Teebeutel fallen. »Na ja, es überrascht mich nicht, dass du alles positiv siehst«, sagte sie, und der Hauch eines Lächelns umspielte ihre Mundwinkel.
»Was willst du damit sagen?«
»Sie meint, wie komisch es doch ist, dass diejenigen unter uns alles rosiger sehen, die einen Freund haben«, sagte Millie. Dann prustete sie los und erhob sich vom Sofa. »Ich nehm dich doch nur auf den Arm, Schätzchen, kümmer dich nicht drum«, fuhr sie fort und kniff mir im Vorbeigehen in die Wange. »Earl Grey für mich, Mary P.«, fügte sie hinzu und trat zu Mum an die Küchenzeile.
»Blödsinn«, sagte ich und wandte mich von beiden ab, damit sie nicht sahen, wie mir die Röte in die Wangen stieg – oder das Lächeln bemerkten, das ich nur mit Mühe unterdrücken konnte.
Dabei hatten sie ja recht. Es fiel mir zur Zeit schwer, irgendwas nicht positiv zu sehen. Was machte es schon, wenn es ein bisschen regnete? Wen störte das? Soweit es mich betraf – meine Welt war voller Sonnenschein.
Und es stimmte, es lag tatsächlich an Aaron. Meinem Freund.
Es fühlte sich immer noch ein bisschen seltsam an, ihn so zu bezeichnen, und ich hatte das Wort auch noch nicht laut ausgesprochen – vor allem nicht in seiner Gegenwart! Aber insgeheim benutzte ich es schon – andauernd. Und es gefiel mir.
Tock-tocke-tocke-tock! Das Klopfen an der Tür riss mich aus meinen Gedanken. Ich erkannte den Rhythmus, und wie aufs Stichwort fingen meine Wangen wieder zu brennen an.
Mum war knapp vor mir an der Tür. »Hallo, Aaron«, sagte sie mit einem breiten Lächeln. »Wir haben gerade von dir geredet.«
Aaron sah an Mum vorbei und versuchte, Blickkontakt mit mir aufzunehmen. »Echt?«, fragte er schüchtern.
Ich drängte mich an Mum vorbei. »Bis später«, sagte ich und gab ihr einen flüchtigen Kuss.
»Passt aber auf da draußen«, sagte sie warnend.
»Keine Sorge. Schau doch mal raus – das Unwetter ist schon wieder abgezogen. Ich hab doch gesagt, dass es nicht lange anhält.« Aaron und ich liefen bereits den Anleger entlang.
»Viel Spaß mit deinem Freu-heund!«, trällerte Millie aus dem Schiffsinneren hinter uns her.
Ich sah Aaron verstohlen an. »Tut mir leid«, murmelte ich.
Er lächelte. »Das stört mich doch nicht«, sagte er, »wenn es dich nicht stört?«
Ich war so verlegen, dass ich zu Boden starrte. »Nee, eigentlich stört’s mich auch nicht«, sagte ich zu den Holzplanken des Anlegers.
Ohne ein weiteres Wort streckte Aaron den Arm nach mir aus, und beim Weitergehen nahm ich seine Hand. Dabei spürte ich ein Kribbeln, das mir durch den ganzen Körper lief, und mir wurde warm. So ein Gefühl wie das, wenn Aaron meine Hand hielt, hatte ich früher noch nie verspürt. Es war jedes Mal wie ein kleiner Stromschlag, und ich wäre am liebsten auf und ab gehüpft und in Jubelrufe ausgebrochen.
Wir hatten uns erst im Lauf dieses Jahres kennengelernt. Aaron hatte mit seiner Mutter in einem Schloss draußen auf einer Felseninsel im Meer gelebt, aber vor kurzem waren sie zu uns nach Brightport gezogen. Es war noch nicht lange her, da hatten wir ein unglaubliches Konzert veranstaltet, und seit jenem Abend – an dem er mich geküsst hatte – kamen diese Gefühle immer wieder.
Das sagte ich ihm natürlich nicht. Die einzige Person, der ich etwas davon erzählte, war meine beste Freundin Shona.
»Du bist ja verliebt!«, hatte sie begeistert losgequietscht, als ich es ihr erzählt hatte. Shona ist ein total typisches rührseliges Meermädchen, so, wie man es sich vorstellt. Nichts liebt sie mehr als eine richtige Schnulze.
»Mach dich nicht lächerlich!«, hatte ich geantwortet. »Ich bin zu jung, um mich zu verlieben. Ich weiß ja nicht mal, was das bedeutet.« Wie sie war ich knapp dreizehn – viel zu jung, um über Sachen wie Verliebtsein nachzudenken.
Trotzdem ließ mich das Wort nicht mehr los. Und ich musste eingestehen, dass es tatsächlich nichts gab, was mir lieber war, als mit Aaron zusammen zu sein. Das bedeutete natürlich auch, dass ich in den letzten Wochen nicht mehr so viel Zeit mit Shona verbrachte wie früher, das war mir klar. Und ich hatte das Gefühl, dass diese Tatsache allmählich zu einem wunden Punkt wurde.
Ich wusste nicht genau, ob es sie langweilte, das fünfte Rad am Wagen zu sein, oder ob sie die Nase voll davon hatte, dass ich von ihm sprach, oder ob sie vielleicht sogar ein winziges bisschen eifersüchtig war. Wie auch immer, sie hatte aufgehört, mich nach Aaron auszufragen. Und wenn ich von ihm anfing, wechselte sie das Thema oder schwamm davon, um was anderes zu machen.
Ich konnte es ihr ja auch nicht verübeln. Mein Gerede über Aaron musste mit der Zeit ziemlich langweilig für sie sein. Und um ehrlich zu sein, mir fehlte es auch, dass ich nicht mehr so oft mit ihr zusammen war. Das Blöde war nur, dass ich noch lieber mit Aaron zusammen sein wollte.
»Auf was hast du Lust?«, fragte Aaron jetzt, während wir den Anleger entlanggingen.
Was ich am liebsten wollte, war, auf den Rummelplatz der Rushtons zu gehen und mit ihm Geisterbahn zu fahren, damit wir im Dunkeln nah beieinandersitzen und Händchen halten könnten. Das hatten wir kürzlich mal gemacht, und obwohl es eine ziemlich langweilige Geisterbahn war, hatte ich so getan, als würde ich mich gruseln, damit Aaron den Arm um mich legen würde. Das fühlte sich so schön an, dass ich wünschte, die Fahrt würde nie enden. Leider tat sie das aber, und seither hatte ich keine Ausrede mehr gefunden, ein bisschen mit ihm zu kuscheln.
Aber Shona hatte ich seit Anfang der Woche nicht mehr gesehen, und heute war Freitag.
»Sollen wir nach Schiffriff?«, schlug ich vor. Schiffriff war die Unterwasserstadt der Meerleute, in der Shona wohnte.
»Gerne!«, willigte Aaron ein, und wir gingen über den Strand ans Ufer.
Aaron watete ins Wasser. Ich sah mich nervös um.
»Keine Sorge«, sagte er. »Komm nur.« Dann wandte er sich ab und rannte spritzend mit großen Sprüngen ins Wasser.
Ich hatte mich immer noch nicht daran gewöhnt, dass wir nicht mehr geheim halten mussten, was für Wesen wir waren. Erst vor einem Jahr hatte ich überhaupt entdeckt, dass ich zum Meermädchen wurde, wenn ich ins Wasser stieg – und fast die ganze Zeit über war es ein Geheimnis gewesen. Neptun, der Herrscher der Meere, war da absolut eisern gewesen. Über viele Jahre hatte er die Welt der Meerleute und die der Menschen streng voneinander getrennt gehalten. Mit einer Droge hatte er erreicht, dass die Menschen es vergaßen, wenn sie mal eine Nixe gesehen hatten. Er hatte sogar Gesetze erlassen, die bestimmten, dass Menschen und Meerleute keinen Kontakt haben durften. Mein Vater war gefangen gehalten worden, weil er Mum geheiratet hatte!
Aber seit kurzem war alles anders geworden. Neptun hatte angeordnet, dass es für die Menschen und die Meerleute Pflicht sei, miteinander auszukommen. Und er hatte die Gedächtnisdroge abgeschafft – zumindest in Brightport. Daher wussten hier alle über die Meerleute Bescheid, und wir hatten keinen Anlass mehr, uns zu verstecken.
Trotzdem, es war immer noch ein komisches Gefühl, ins Wasser zu steigen, ohne Angst zu bekommen, was passieren würde, wenn jemand meinen Fischschwanz sah.
»Worauf wartest du denn?«, rief mir Aaron zu. Dann tauchte er unter und ließ seine Schwanzflosse unter der Wasseroberfläche hervorschnellen. Als er abtauchte, schimmerte sein Fischschwanz wie Silber im hellen Sonnenlicht, das nach dem morgendlichen Unwetter auf uns herabschien.
Aaron war halb Mensch, halb Meerwesen, wie ich, und die Leichtigkeit, mit der er sich im Wasser bewegte, erinnerte mich daran, wie sehr auch ich dieses Gefühl liebte. Ich schüttelte meine Bedenken ab und lief ins Meer.
Innerhalb von Sekunden spürte ich, wie sich mein Körper veränderte. Erst das vertraute Kribbeln in den Zehen; dann wurden meine Beine taub und verschmolzen miteinander; schließlich verschwanden sie ganz, meine Kleider ebenso, und der Nixenschwanz bildete sich aus. Ich ließ ihn schnellen, streckte ihn, wirbelte mit der Schwanzflosse und schwamm zu Aaron.
Seite an Seite machten wir uns auf den Weg, und ich lächelte vor mich hin. War ich jemals im Leben so glücklich gewesen?
Shonas Mutter schwebte im Eingang zu ihrer Behausung in den Höhlen von Schiffriff und lächelte bedauernd. »Tut mir leid, Emily, Shona ist vor einer Weile mit ein paar Schulfreundinnen ausgegangen.«
»Kein Problem«, sagte ich. »Wir finden sie schon.«
Sie verschwand im Inneren, und Aaron und ich schwammen durch den Tunnel wieder ins offene Meer zurück. Eine Reihe von silbernen Fischen begleitete uns, direkt unter mir, und kitzelte mich beim Schwimmen am Bauch.
»Was nun?«, fragte Aaron.
Die Vorstellung, dass Shona mit anderen Freundinnen losgezogen war, versetzte mir einen kleinen Stich – bis ich mir klarmachte, dass ich kein Recht hatte, eifersüchtig zu sein. Ich war ja diejenige, die sie ständig versetzte, um mit Aaron zusammen zu sein. Ich konnte mich wohl kaum beklagen, wenn sie es vorzog, mit ihren Freundinnen aus Schiffriff abzuhängen. Mit echten Freundinnen, die sie nicht fallenließen, nur weil sie einen Freund hatten.
Dann hatte ich eine Idee. »Ich weiß, wo sie sein könnte.«
Das Wasser wurde kälter, je weiter wir hinausschwammen. Fische sahen uns verstohlen nach, während wir an ihnen vorbeizogen.
»Sieh dir die beiden mal an!«, sagte Aaron und lachte, als zwei Fische auf uns zukamen. Einer war dick und gelb und hatte einen lila Fleck über das ganze Gesicht. Er sah aus wie eine vornehme Dame mit verschmiertem Lippenstift. Der andere war über die gesamte Länge seines Fischleibs schwarzweiß gestreift. Elegant schwamm er neben der Dame her, wie ein ergebener Butler.
Wir schwammen durch einige Felsbögen, immer tiefer, bis wir zu einer weitläufigen Matte aus braunem Seetang kamen, die träge in der Strömung wallte.
»Was ist das denn für ein Ort?«, fragte Aaron, als wir den Seetang überquerten und zu einer sandigen Stelle kamen, die mit Fischernetzen, alten Fahrrädern und Ölkanistern übersät war.
»Das ist unser Spielplatz«, sagte ich, schwamm durch eine große Röhre und bedeutete ihm, mir zu folgen.
Am Ende der Röhre sahen wir uns um; Shona war nicht zu sehen. Einerseits war ich enttäuscht – andererseits auch erleichtert. Immerhin hatte sie ihren anderen Freundinnen nicht unseren Geheimplatz gezeigt. Außerdem bedeutete es, dass ich Zeit hatte, weiterhin mit Aaron allein zu sein.
»Hey, sieh dir das mal an«, rief er und schwamm über ein schwarzes Tuch am Ende des Spielplatzes. Das hatte ich noch nie gesehen.
Ich folgte ihm. »Was ist das?«
»Ich finde, das sieht wie ein Segel aus.«
»Ein schwarzes Segel?«
Aaron grinste. »Muss von einem Piratenschiff sein. Lass es uns mal ansehen.«
Er hob eine Ecke für mich an, und mein Herz flatterte wie ein silberner Fisch, der mit den Flossen schlägt. Vielleicht bekam ich ja doch noch die Chance, mit Aaron im Dunkeln zu kuscheln!
Der Sand stob auseinander, als ich unter das Tuch schwamm, das sich nach oben wölbte, wie von der Strömung angehoben. Ich schwamm weiter und hielt erst, als ich Aaron rufen hörte.
Ich drehte mich um. Er war nicht zu sehen.
»Aaron?«
Keine Antwort.
»Aaron?«, rief ich lauter. »Alles in Ordnung?«
Wieder nichts.
Ich wollte zurück zum Rand des Segels schwimmen, aber meine Schwanzflosse verhedderte sich in etwas. Im Seetang? Ich drehte mich um und wollte sehen, was es war. Dabei schnürte mich der Seetang noch mehr ein. Meine Flosse saß fest. Einen Moment später packte mich etwas um den Bauch.
Und dann wurde alles schwarz.
»Aaron, lass mich los«, sagte ich und lachte. Typisch für ihn, sich so einen Scherz mit mir zu erlauben. So zu tun, als würde er mir folgen, und sich dann anzuschleichen und mir die Augen zuzuhalten. Jetzt würde er gleich sagen: »Rate mal, wer ich bin?« Das war leicht zu erraten.
Aber er sagte nichts.
»Komm schon, Aaron, ich weiß doch, dass du es bist«, sagte ich. Ich lachte immer noch. Ich griff nach seinen Händen, um sie wegzuziehen.
Doch genau in dem Moment verging mir das Lachen.
Es waren nicht Aarons Hände.
Die Hände über meinen Augen waren groß, kalt und klamm. »Wer – wer ist das?«, stammelte ich.
Wer immer das war, er hatte eine Hand über meine Augen gelegt und hielt mir mit der anderen den Mund zu.
Ich konnte nichts mehr sagen. Ich bekam kaum Luft. Mein Herz wummerte so rasend wie der hochgepowerte Motor eines Bootes. Was ging da vor sich? Wie lange würde Aaron brauchen, bis er merkte, dass etwas nicht stimmte, und mich suchen kam?
Ich wollte in die Hand über meinem Mund beißen, konnte aber die Lippen nicht mal weit genug öffnen, um die Zähne freizulegen. Ich versuchte, die Schwanzflosse aus dem Seetang zu befreien – und stellte fest, dass es kein Seetang, sondern ein Netz war.
Dann hörte ich eine Stimme. Bärbeißig. Undeutlich. Ungeduldig.
»Binde ihren Schwanz fest«, sagte die Stimme. »So schlüpfrig wie ein Aal, die Kleine.«
Ich hatte das Gefühl, dass mein Schwanz umgeklappt wurde, als man ihn festband. Dann spürte ich, wie man mir einen dicken Strang Schilf über die Augen und den Mund band – das war das Ende. Ich war blind, stumm und in einem Netz gefangen.
»So, nichts wie weg hier«, sagte Bärbeiß. »Los!«
Ich hatte keine Ahnung, wo es hingehen sollte. Es kam mir so vor, als ob die Reise eine Ewigkeit dauerte und das Meer genauso kalt war wie die Hände, die mich die ganze Zeit gepackt hielten und zogen und schubsten, bis wir da waren.
»Und jetzt?«, sagte eine Stimme nach einer Weile. Es war nicht Bärbeiß. Es war eine andere Stimme. Höher. Nicht so grob. Freundlicher? Nein, das war wohl nur Wunschdenken.
»Wir machen genau das, was uns aufgetragen worden ist«, erwiderte Bärbeiß. »Sie hierbehalten und bei ihr bleiben, bis wir weitere Anweisungen bekommen. Die anderen sollten gleich hier sein.«
Die anderen?
»Na gut.«
»Du hältst sie fest, und ich kümmere mich um die Schlösser.«
»Verstanden.«
Das eine Paar Hände ließ mich los, während mich das andere fester packte und so sehr drückte, dass ich schon dachte, es würde mich zu Sand zermalmen.
Einen Augenblick später war Bärbeiß zurück. »So, alles verschlossen. Wir können sie rausholen.«
»Rausholen?«
»Sie kann nirgends hin, und man hat uns befohlen, nicht zu unsanft mit ihr umzugehen. Wir können nicht riskieren, dass der Boss aufkreuzt und sie mit verbundenen Augen und in ein Netz gefesselt vorfindet, verstanden?«
»Hast ja recht. Bist du sicher, dass die Tür verschlossen ist?«
»So fest wie das Maul eines Haifischs. Los, befreien wir sie aus dem Netz.«
Ich wand mich und zappelte und kämpfte, als sie das Netz lösten und das Schilf um meine Augen und meinen Mund abnahmen. Kaum war mein Mund frei, fand ich meine Stimme wieder.
»HIIIILFEEEEELASSTMICHLOSIHRUNGEHEUER!«, schrie ich.
Einer hielt mir erneut die Hand über den Mund. Ich biss ihn in den Finger.
»Heiliger Hummer!«, stieß er hervor und machte einen Satz zurück. Jetzt konnte ich ihn von oben bis unten ansehen. Die bärbeißige Stimme gehörte zu einem noch bärbeißiger aussehenden Meermann. Er war riesig groß – mindestens zwei Meter vom Kopf bis zum Ende seiner langen, spitz zulaufenden schlammgrauen Schwanzflosse. Sein strähniges schwarzes Haar war zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden, er hatte graue Augen, die mich anstarrten, und etwas, das wie eine ausgefallene Sammlung vorsintflutlicher Nägel, Klammern und Schrauben aussah, hing ihm in den Ohren, den Augenlidern, dem Kinn und der Oberlippe.
Vor dem sollte ich mich wohl besser hüten.
»Du kannst schreien, so viel du willst«, knurrte er, »aber es hört dich keiner. Wir sind tief unten, und meilenweit ist keiner in der Nähe.«
Ich horchte, ob etwas auf meinen Schrei reagierte. Nichts – es sei denn, das sanfte Schwingen der bunten, buschartigen Algen oder die Scharen Hunderter winziger silberner Fische, die auf mich zuschnellten und ruckartig kehrtmachten und dabei blinkten wie ein Messer in der Sonne.
»Wo sind wir?«
Er antwortete nicht.
Ich warf einen kurzen Blick auf den anderen Meermann: dünner, jünger, mit ungefähr halb so vielen Piercings, etwa einen Kopf kleiner, aber mit dem gleichen Blick, der mich musterte. Ich konnte nicht genau sagen, was der Blick bedeutete. Hass? Drohung? Wut?
Nein, nichts dergleichen. Oder falls doch, dann lag noch etwas anderes darin. Wenn sie mich nicht gerade auf dem Spielplatz gepackt und in diese Unterwasserzelle mitten im Meer eingesperrt hätten, hätte ich gesagt, dass sie nervös wirkten – als ob sie nicht genau wussten, wie sie mich behandeln sollten. Ach was, das war sicher Einbildung. Aber was steckte dahinter?
»Was wollt ihr mit mir anstellen?«, fragte ich.
Bärbeiß überging meine Frage und rieb sich den Finger, in den ich gebissen hatte.
»Das da tut mir leid«, sagte ich.
He, halt mal! Diese Kerle hatten mich gerade in einem Netz gefangen, mir die Augen zugebunden, mich geknebelt und in eine verborgene Höhle geschleppt, und ich entschuldigte mich bei ihnen? »Was wollt ihr mit mir anstellen?«, wiederholte ich bestimmter. »Warum bin ich hier? Wer seid ihr?«
Der Dürre öffnete den Mund, um zu antworten, doch Bärbeiß hielt eine Hand hoch. Die, in die ich gebissen hatte. »Nichts sagen«, ordnete er an.
»Aber Orta –«, fing der andere Meermann an.
Bärbeiß – Orta – schüttelte den Kopf. »Nichts ›aber‹, Kai. Wir haben unsere Anweisungen. Keine Unterhaltung, keine Erklärungen, kein gar nichts. Verstanden?«
Kai nickte. »Verstanden«, murmelte er.
Danach verstummten beide. Jetzt erst sah ich mich in der Höhle um und merkte, wie groß sie war – und wie prächtig. Durch die Felsendecke, in die ein verschlungenes Muster geritzt war, schien ein fluoreszierendes Licht zu schimmern.
Ich schwamm an den Wänden entlang und untersuchte sie im Vorüberschwimmen. Sie waren mit Kristallen besetzt. Ob es natürliche Meereskristalle waren oder irgendwelche herbeigeschafften Edelsteine, konnte ich nicht sagen. Aber auf jeden Fall war ich nicht in eine Gefängniszelle gesperrt worden. Ich hatte so einen Unterwasserkerker gesehen, als ich meinen Vater gerettet hatte – und der war ganz anders gewesen!
Ab und zu schwamm ein einzelner Fisch vorbei, schwarz und glänzend, eilfertig von einem Ende zum anderen flitzend, wie ein Geschäftsmann auf dem Weg zu einem Meeting. Ein langer silberner Aal glitt vorbei und durchschnitt das Wasser vor mir wie ein Schwert.
Ich schwamm auf die Tür zu: eine riesengroße massive Eichentür, die mit Metallstangen gesichert war. Sie war verriegelt und mit dem größten Vorhängeschloss zugesperrt, das ich je gesehen hatte.
In dem Moment hörte ich etwas hinter der Tür. Ein Gerangel und Gescharre vor der Höhle! Was mochte das sein? Ein riesiger Fischschwarm? Der Wellengang, der gegen die Tür schlug? Oder bestand die Möglichkeit, dass es jemand war, der mir hier heraushelfen konnte?
Ich schlug so fest wie möglich an die Tür. Was nicht besonders fest war. Ich weiß nicht, ob ihr es jemals versucht habt, aber einen Kilometer unter Wasser mit den Fäusten an eine dicke Eichentür zu trommeln, stellte sich als ziemlich nutzlos heraus. Ich trug nur ein paar Prellungen davon und erreichte ein leises Klopfgeräusch.
»Hilfe!«, schrie ich stattdessen. »Man hält mich hier gefangen! Rettet mich!«
Die beiden Meermänner waren im Nu an meiner Seite. »Du verschwendest nur deine Zeit«, sagte Orta.
»Das ist sicher nur ein großer Fisch«, setzte Kai hinzu. »Ein Hai oder so was. Hier mitten im Ozean ist alles möglich.«
Das erleichterte mich ja so!
»Quatsch, du elender Meereswurm!«, fuhr Orta ihn an und griff nach seinem Schlüssel. »Das sind wohl die anderen. Aus dem Weg.«
Kurz darauf hatte er die Tür aufgeschlossen, und zwei weitere Meermänner, die ein Bündel zwischen sich trugen, kamen herein. Ein sich windendes Bündel, das in ein Netz gewickelt war. Einen Augenblick fragte ich mich, was sie da anbrachten. Dann sprach das Bündel.
»Flossen weg!«, sagte es.
Halt mal! Das war … das war …
Aaron!
»Holt ihn aus dem Ding da raus!«, schrie ich jetzt wirklich aufgebracht. »Lasst ihn auf der Stelle raus!«
»Halt dein Fischmaul, wir holen ihn ja schon raus!«, schnauzte mich Orta an. Er zog ein langes Messer aus dem Gürtel oberhalb seines Fischleibes, und mit ein paar schnellen Bewegungen war das Netz geöffnet.
Kai nahm Aaron die Augenbinde und den Knebel ab. Aaron blinzelte und erschrak, während er sich orientierte. Kaum hatte er mich gesehen, kam er angeschwommen und schlang die Arme um mich.
»Emily«, flüsterte er. »Ich wusste nicht, wo du plötzlich abgeblieben warst. Ich war direkt hinter dir, und auf einmal haben diese …« Er senkte die Stimme noch mehr und warf einen Blick auf die Meermänner, die ihn hereingebracht hatten, »… hat mich dieses Meeresgesindel gepackt.«
»Ist dir auch nichts passiert?«, fragte ich.
Er schüttelte den Kopf. »Und dir? Haben sie dir weh getan? Wenn sie das haben, dann –«
»Mir geht’s gut«, sagte ich. »Jetzt zumindest«, setzte ich hinzu und lächelte so sehr, wie die Umstände es zuließen.
Aaron lächelte zurück und zog mich enger an sich. Solange ich bei ihm war, kam mir alles nicht so schlimm vor.
»So entzückend und herzzerreißend, wie diese kleine Szene ist«, sagte Orta und unterbrach meine Gedanken, »müssen wir doch etwas erledigen.« Er warf den zwei Meermännern, die Aaron hereingebracht hatten, einen Blick zu. »Ihr könnt die beiden uns überlassen«, sagte er. »Wir kommen zurecht.«
»Seid ihr sicher?«
»Ganz sicher.« Er schwamm an die Tür hinter den beiden Meermännern. Als er den Schlüssel, der um seinen Hals hing, erneut abnahm, warf mir Aaron einen Blick zu und zog eine Augenbraue hoch.
Ich wusste, was er dachte. Ich dachte das Gleiche. Das konnte unsere Chance sein, abzuhauen! Ohne ein Wort näherten wir uns der Tür, während die Meermänner sich unterhielten.
Orta steckte den Schlüssel in das Vorhängeschloss. Drehte ihn um. Öffnete die Tür.
»Jetzt!«, zischte Aaron, und ich stürzte auf die Tür zu.
»Denkste, Puppe!« Kai packte meine Schwanzflosse so fest, dass ich Angst hatte, er würde mir die Schuppen ausreißen. Kurz darauf war ich wieder in dem Raum, und die Tür schlug hinter mir zu.
Orta ließ das Vorhängeschloss zuschnappen und hängte sich den Schlüssel wieder um den Hals. Er deutete mit dem Daumen auf Kai. »Nur weil er beschränkt aussieht, heißt das noch lange nicht, dass er auch beschränkt ist!«, sagte er.
»Genau«, sagte Kai. Dann kratzte er sich den Kopf und sah Orta an. »He!«, setzte er hinzu, denn er begriff, was Orta gerade gesagt hatte.
Orta winkte geringschätzig in seine Richtung ab. »Ihr müsst einfach Geduld haben«, sagte er zu uns. »Ich bin sicher, dass ihr nicht mehr lange hierbleiben müsst – so oder so.« Das ›so oder so‹ begleitete er mit einem drohenden Lachen.
Ich schwamm zu Aaron zurück. Er untersuchte die Lichter und Kristalle an den Wänden.
»Sieh dir die mal an«, sagte er. »Die sind unglaublich.«
»Fast wie Edelsteine«, sagte ich und kam näher.
Aaron rückte ebenfalls näher an mich heran. »Das wird schon, wart’s nur ab«, sagte er. »Wir überlegen uns was.« Das Seltsame war, wenn er mich so anlächelte, dann musste ich ihm einfach glauben.
»Du hast recht«, sagte ich. »Bestimmt, kommt alles wieder –«
Aber ich konnte meinen Satz nicht beenden. Eine Welle, die unvermutet und heftig durch die Höhle schwappte, schwemmte uns alle vier an die Decke und warf uns dann an die Wand gegenüber.
Orta berappelte sich als Erster wieder. Er richtete sich auf, wischte sich über den Fischschwanz und stieß Kai in die Brust. »Achtung«, sagte er. »Der Boss kommt.«
Bei der Vorstellung, wie ihr Boss wohl sein würde, erschauerte ich. Die zwei waren schlimm genug. Wie viel schlimmer würde er sein?
Ich blieb nicht lange im Ungewissen.
Drei laute Schläge an die Tür, und Orta flog praktisch durch die Höhle, um zu öffnen. Er schloss auf, zog die Riegel zurück und schwamm mit tief gebeugtem Kopf rückwärts, während er die Tür aufhielt.
Und dann, gezogen von einem Dutzend Delphinen, auf einem goldenen Wagen, der so hell strahlte, als sei die Höhle von einem Feuerwerk erleuchtet, kam ihr Boss herein.
Neptun!
»Ihr, Majestät?«, stieß ich aus. »Aber –«
Nach einem flüchtigen Blick auf Aaron und mich wandte sich Neptun an die Meermänner. »Gute Arbeit«, sagte er düster. »Ihr könnt gehen.«
Orta und Kai verbeugten sich tief und schwammen aus der Höhle, ohne einem von uns noch einen Blick zu schenken. Neptun hob seinen Dreizack, und ein Delphin am hinteren Ende des Wagens schnalzte mit der Schwanzflosse und schlug die Tür hinter ihnen zu.
»So«, sagte Neptun ernst und wandte sich uns zu. »An die Arbeit.«
An die Arbeit? Was sollte das denn bedeuten? Ich war ziemlich sicher, dass ich mich nicht gemeldet hatte, etwas für Neptun zu erledigen. So etwas vergaß man ja nicht gerade. Und für so etwas meldete man sich auch nicht freiwillig und ohne zu überlegen.
Falls ihr Neptun noch nie getroffen habt, er ist der König aller Meere. Er hatte früher mit eiserner Faust regiert – oder besser, mit eisernem Dreizack. Das ist seine Art von Zepter, mit dem er Stürme auslöst und Menschen unter Bann stellt.
Aber in letzter Zeit war er milder geworden. Ich hatte angenommen, er sei glücklich und alles sei bestens.
Offensichtlich täuschte ich mich.
»Ihr fragt euch sicher, warum ich euch hier heruntergeholt habe«, sagte Neptun mit grollender, tiefer Stimme, die dröhnend durch die Höhle hallte.
Äh … schon.
»Ich werde es euch sagen.« Dann verstummte er.
Er sah verärgert aus. Und obwohl ich Neptun öfter als mir lieb war verärgert erlebt hatte, wirkte seine Verärgerung diesmal anders. Er sah nicht so aus, als ob er über uns verärgert war. Er sah so aus, als ob er sich über sich selbst ärgerte.
Plötzlich hob er seinen Dreizack hoch und drehte sich nach seinen Delphinen um. Er schwang den Dreizack und polterte: »Lasst uns allein! Kommt zurück, wenn ich euch rufe!«
Die Delphine schnellten auf der Stelle herum. Einer schnipste die Tür auf, und sie stoben hinaus, schlossen die Tür hinter sich und ließen uns drei allein in der Höhle. Neptun winkte uns zu sich.
Unbehaglich rückten wir auf ihn zu.
»Ich habe eine Aufgabe für euch«, sagte er. »Eine … nun ja, so was wie eine wichtige Mission.«
»Eine Mission?«, fragte Aaron. »Was für eine Mission?«
»Ich kann euch zu diesem Zeitpunkt noch nicht viel sagen«, erwiderte Neptun ernst. »Aber so viel kann ich verraten – dieser Auftrag ist äußerst bedeutend, äußerst geheim … und äußerst gefährlich.«
Na super. Das klang ja mit jedem Satz besser.
»Warum gerade wir?«, fragte Aaron.
Neptun sah hinunter auf seine Hände und betrachtete sie. »Warum nicht ihr?«, murmelte er.
»Warum nicht?«, gab ich zurück. Ich konnte viele Gründe anbringen, warum nicht!
Neptun zuckte die Schultern und schwang seinen Dreizack übertrieben lässig. »Weil ihr Halbwesen seid«, sagte er obenhin. »Ich fand einfach, dass ihr in Frage kommt.«
Für mich klang er nicht überzeugend. Er versuchte zu sehr, ganz unbeteiligt zu klingen. So einen großen Aufwand würde er um uns nicht machen, weil wir ›in Frage‹ kamen.
»Wenn Ihr einfach nur Halbwesen braucht, warum schickt Ihr dann nicht jemanden wie Mr Beeston?«, fragte Aaron.
Mr Beeston war halb Mensch, halb Meermann, und er stand schon lange in Neptuns Diensten. Er hatte sogar fast mein gesamtes Leben lang damit zugebracht, Mum und mich auszuspionieren und Neptun die Ergebnisse zuzutragen. Als ich das herausgefunden hatte, war ich außer mir gewesen. Aber in letzter Zeit hatte sich Mr Beeston verändert. Er hatte sich sogar entschuldigt, und alles war jetzt anders – daher hatte ich ihm verziehen. Das bedeutete aber nicht, dass ich ihm jemals wieder trauen würde.
»Mr Beeston ist doch wirklich der geeignete Kandidat für Eure hinterhältigen Geheimaufträge«, erklärte ich ihm.
Neptun schüttelte den Kopf. »Beeston darf von der Mission nichts wissen«, sagte er. Dann kratzte er sich den Bart und kniff die Augen zusammen. »Aber wo ihr mich drauf gebracht habt, ist das vielleicht keine so schlechte Idee. Beeston könnte tatsächlich nützlich sein.«
»Super«, sagte ich. »Heißt das, dass wir jetzt gehen können?«
»Gehen?«
»Ihr habt es doch eben gesagt – Mr Beeston kann es erledigen.«
Neptuns Gesicht umwölkte sich. »Mr Beeston kann diesen Auftrag nicht übernehmen«, sagte er bestimmt. »Er darf davon nichts wissen, nicht die volle Wahrheit zumindest. Was er möglicherweise tun kann, ist, euch beide zu beaufsichtigen. Mit begrenzter Kenntnis der ganzen Aufgabe.«
»Majestät, vergebt mir, aber darf ich eben mal nachfragen, ob ich Euch richtig verstanden habe?«, sagte ich und nahm meinen ganzen Mut zusammen, ihm so lange in die Augen zu starren, bis er mich ansah. »Diese Mission ist so geheim, dass nicht mal Mr Beeston, einer Eurer engsten Berater, die ganze Wahrheit wissen darf, obwohl Ihr behauptet, dass Ihr uns nur gewählt habt, weil wir Halbwesen sind?«
Neptun wandte sich ab.
»Sir … Majestät«, stotterte Aaron. »Gibt es etwas, das Ihr uns verschweigt?«
»Also gut«, erwiderte Neptun. »Ich gebe es zu. Es ist nicht nur, weil ihr Halbwesen seid.«
Er schwieg so lange, dass mein Fischschwanz vor Ungeduld zu jucken und zu zucken anfing. Ein schwarz und golden getupfter Fisch, der wie ein Leopard aussah, schwamm zwischen uns durch. Neptun sah zu, wie er verschwand, dann sah er uns wieder an. »Ich sende euch an einen Ort, der voller Geheimnisse und Zauber ist«, sagte er. Was nicht so furchtbar klang, bis er hinzusetzte: »Und voller Grauen.«
Geheimnisse, Zauber und Grauen klang schon nicht mehr so verlockend.
»Es handelt sich um eine gefährliche Kombination«, fuhr Neptun fort, falls wir das noch nicht selbst gemerkt hätten.
»Also, warum wir?«, fragte Aaron erneut.
»Weil ihr meine ganze Macht für diesen Auftrag benötigt«, erwiderte Neptun.
»Eure ganze Macht? Aber die haben wir nicht mehr«, sagte ich.
Aaron und ich hatten zwei magische Eheringe gefunden, die Neptun und seine Frau Aurora einander gegeben hatten. Wir hatten entdeckt, dass die Zaubermacht von Neptun auf uns überging, wenn wir die Ringe am Finger hatten und uns bei den Händen hielten. Echt cool, als wir das rausgefunden hatten – nur dass Neptun das nicht ganz so cool fand wie wir. Er zwang uns, ihm seine Macht zurückzugeben. Das war Wochen her.
Neptun sah mich mit so durchdringendem Blick an, dass ich wegsehen musste. »Doch, ihr habt sie noch«, sagte er.
Ich wollte gerade widersprechen, aber er fuhr fort: »Kurz nachdem ihr mir meine Macht zurückgegeben hattet, fiel mir etwas auf. Wenn ich in eurer Nähe war, konnte ich es spüren. Ein Vibrieren. Das Gefühl, dass immer noch etwas von meiner Macht in euren Händen lag. Ich war sprachlos. Woher kam es, dass ihr sie noch hattet? Daher habe ich euch beobachtet.«
Ich unterdrückte eine Antwort. Wir waren also wieder bei seinen alten Methoden gelandet? Neptun hetzte Spione auf uns?
»Und?«, fragte Aaron.