Emily Windsnap – Die Bestimmung - Liz Kessler - E-Book

Emily Windsnap – Die Bestimmung E-Book

Liz Kessler

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Beschreibung

Emily hat ein großes Geheimnis: Sie ist halb Mensch, halb Meermädchen! Bei einem Ausflug entdecken Emily und ihr Freund Aaron ein Schiff. Das Seltsame ist: Nur sie können es sehen – denn es ist längt untergegangen. Es bleibt nur wenig Zeit, um die Menschen auf dem Schiff doch noch zu retten. Und Emily ist die Einzige, die das tun kann. Sie muss sich entscheiden – wird sie sich in das gefährlichste Abenteuer ihres Lebens stürzen? Der sechste Band der erfolgreichsten Meermädchenserie aller Zeiten! Alle Bände der Emily-Serie: Emilys Geheimnis (Band 1) Emilys Abenteuer (Band 2) Emilys Entdeckung (Band 3) Emilys Rückkehr (Band 4) Emilys Reise (Band 5) Emilys Bestimmung (Band 6) Bei Antolin gelistet

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Seitenzahl: 282

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Liz Kessler

Emily Windsnap

Die Bestimmung

Aus dem Englischen von Eva Riekert

FISCHER E-Books

Inhalt

WidmungMotto123456789101112131415161718192021Epilog

Dieses Buch ist einer Freundin gewidmet, die nicht nur eine wunderbare Künstlerin war, sondern das Meer in höherem Maße respektierte und liebte, als es die meisten tun.

 

 

»Jeder Moment ist einmalig, Farben verändern sich stetig, aber die Beziehung zwischen Meer und Festland ist ewig.«

Lucie Bray, 1974–2014

Seht es auf dem stillen Meer,

das Schiff, das geistergleich dort liegt!

Wie ein Traum, der wahr geworden,

als sei es aus der Luft gekommen.

Niemand weiß, woher es kam,

aus welchem Fluss, aus welcher Bucht,

ob tags, ob nachts es aufgetaucht.

Und wie ein Bild, das dann verblasst,

erlischt es in der weiten See.

 

 

Aus: Das Geisterschiff

von Robert Crawford (1868–1930)

1

Achte Klasse. Zweite Schulwoche. Erster Aufsatz. Was ich in den Sommerferien erlebt habe.

Ich kaute am Ende meines Stifts und überlegte, was ich schreiben könnte, damit Mr Rollins, mein neuer Klassenlehrer, meine Geschichte nicht für erfunden hielt.

Eigentlich hätte ich nämlich Folgendes schreiben müssen: Ich habe eine Reise in ein Land voller Eis gemacht. Dort entdeckte ich die verlorenen Erinnerungen der Menschen in einem verwunschenen See und half dabei, den bösen Bruder von Neptun aufzutauen und in einen Berg zu verwandeln und so die Zukunft der Welt zu retten. Aber dieser Aufsatz würde vermutlich mit MANGELHAFT! und mit dem roten Vermerk zurückkommen: Du solltest von einer wahren Begebenheit berichten, nicht herumphantasieren.

Daher beschloss ich, stattdessen lieber von meinem Geburtstag zu erzählen. Am vierten September bin ich dreizehn geworden, kurz vor Schulanfang. Ja, ich weiß, ich sehe viel jünger aus. Ich bin die Älteste in meiner Klasse und gleichzeitig die Kleinste. Was irgendwie seltsam ist. Aber nicht halb so seltsam wie alles andere an mir. Denn im letzten Jahr war alles ein bisschen anders als sonst. Ich entdeckte, dass ich ein Meermädchen bin, befreite meinen Vater aus einem Gefängnis tief im Ozean, wurde fast von einem Seeungeheuer zerquetscht und erlebte eine Million Abenteuer im Meer. Und ich habe inzwischen einen Freund! Das alles bedeutete, dass ich mehr als bereit war zu feiern, als ich endlich Geburtstag hatte.

Ich machte mich an die Arbeit, schrieb von meiner Geburtstagsparty und überlegte gleichzeitig, was ich wohl tun würde, wenn ich jetzt in der Nixenschule in Schiffriff wäre und nicht an der Brightport High.

Als wir zurück nach Brightport kamen, haben meine Eltern und ich wochenlang darüber diskutiert, wo ich weiter zur Schule gehen sollte. Wenn man halb Mensch, halb Meermädchen ist, sind solche Entscheidungen verzwickter als für die meisten anderen Leute.

Schließlich beschlossen wir kurz vor Ferienende, dass ich von Montag bis Donnerstag auf die »normale« Schule gehen würde (Mums Worte, nicht meine. Mum ist der Vollzeit-Mensch der Familie). Und da »an der Schule am Freitag nicht mehr besonders viel Sinnvolles passiert« (Dads Worte, nicht meine. Er ist der Meermann, der gerne hätte, dass ich jeden Tag Sirenenlieder und Meeresrhythmen lerne), sollte ich freitags und samstags die Nixenschule besuchen. In Schiffriff findet am Samstagvormittag Unterricht statt, ich würde also immerhin zwei Tage pro Woche hingehen.

Es war keine perfekte Lösung, aber wir drei waren damit erst mal zufrieden. Na ja, Mum und Dad waren zufrieden. Bei mir war ich mir da nicht so sicher. Immer wenn ich in Brightport im Unterricht saß und zum Beispiel Aufsätze darüber schreiben musste, was ich in den Sommerferien gemacht hatte, wünschte ich, bei meiner besten Freundin zu sein, bei Shona. Als Meermädchen lernte sie in Schiffriff etwas über Sirenen und Schiffsuntergänge, wie man aus Angelleinen ein Trampolin macht, und hundert andere Dinge, von denen ich draußen im Meer schon gehört hatte.

Aber wenn ich dann in Schiffriff war, machte ich mir die halbe Zeit Gedanken, was ich möglicherweise in Brightport verpasste! Mandy Rushton – früher meine Erzfeindin, jetzt eine gute Freundin – berichtete mir immer alles, aber das war nicht das Gleiche. Dad hatte nämlich recht, freitags passierte tatsächlich nie viel an der Brightport High, aber dafür hatten die Schüler an diesem Tag am meisten Spaß.

Von welcher Seite ich es auch betrachtete, ich hatte immer das Gefühl, etwas zu verpassen. Der einzige Lichtblick war, dass Aaron, mein Freund – der wie ich halb und halb ist –, dieselbe Regelung hatte. Was bedeutete, dass er immer da war, wo ich war, egal an welchem Wochentag. Und ich muss zugeben, das machte alles viel besser.

»Okay, Leute, es klingelt gleich.« Mr Rollins schob Papierstöße auf seinem Pult zusammen, während er darauf wartete, dass ihm alle zuhörten. »Beendet euren Satz und legt die Stifte weg.«

Eine Sekunde später klingelte es zur nächsten Stunde. Durch den Lärm von scharrenden Stühlen rief Mr Rollins: »Stühle hinter die Tische und vergesst eure Hausaufgaben nicht. Ach ja, und ihr bekommt einen Brief an die Eltern mit. Nehmt euch bitte jeder einen vom Pult, wenn ihr aus dem Klassenzimmer geht.«

»Um was geht’s denn da wohl?«, murmelte Mandy, als wir unsere Briefe nahmen. Die Umschläge waren zugeklebt, wir konnten also nicht hineingucken. Auf der Vorderseite stand nur: An die Eltern der Schüler von Klasse 8P. Und auf der Rückseite: Eine aufregende Einladung von der Fünfbuchteninsel!

Beim Lesen der Worte hatte ich ein komisches Gefühl – ein bisschen, als würde in meinem Magen ein Fischschwanz zucken.

Inseln stand ich mit gemischten Gefühlen gegenüber.

Einerseits sind Inseln von Wasser umgeben, was natürlich total super ist. Für meine Meermädchenseite bedeutet es, dass ich viel Gelegenheit bekomme, im Meer zu sein. Andererseits hatte ich auf einer Insel einige meiner schlimmsten Erfahrungen gemacht, unter anderem die gefährliche Begegnung mit dem Seeungeheuer – die kein Vergnügen gewesen war.

»Fünfbuchteninsel«, las Mandy laut vor. »Klingt cool.«

Und während ich meinen Umschlag einsteckte, musste ich ihr zustimmen. Alles in allem klang Fünfbuchteninsel echt cool.

Für den restlichen Schultag dachte ich nicht mehr an den Brief. Erst als ich nach Hause kam, fiel er mir wieder ein.

»Ach, Mum, Dad, das hier ist für euch«, sagte ich und reichte Mum den Umschlag.

Mum nahm ihn entgegen und suchte nach ihrer Brille, da streckte Dad den Kopf vom Unterdeck herauf.

Wir wohnen auf einem Schiff, das im Hafen von Brightport liegt. Es ist ein schönes altes Schiff, und es ist speziell dafür eingerichtet, dass sowohl Meerleute als auch Menschen darauf wohnen können.

»Hey, Kleines, wie war’s in der Schule?«, fragte Dad, schüttelte sich die nassen Haare aus dem Gesicht und lächelte zu mir hoch. Ich zog Schuhe und Strümpfe aus, setzte mich auf den Rand der Luke im Boden und ließ die Füße ins Wasser baumeln. Aber nicht zu weit, damit sich meine Beine nicht in einen Fischschwanz verwandelten. Teil der neuen Abmachung war, dass ich erst meine Hausaufgaben machen musste, ehe ich ins Wasser durfte.

Ich zuckte die Schultern. »Ganz okay.« Ich trat an den Tisch, wo Mum den Umschlag aufgerissen hatte und jetzt den Brief las. »Den haben wir heute bekommen.«

Dad sah hinüber. »Worum geht es?«

»Emilys Klasse soll Ende des Monats auf eine Geographie-Exkursion fahren und eine Insel besuchen«, erwiderte Mum.

Ich war inzwischen dabei, den ganzen Krempel, der sich den Tag über angesammelt hatte, aus meiner Schultasche zu leeren. Zusammen mit einem braun gewordenen Apfelbutzen plumpste mein Herz auf die Planken. Also nur eine Geographie-Exkursion. So was Langweiliges.

»Sie sollen seltene Vögel und exotische Pflanzen und ungewöhnliche geologische Gebilde beobachten«, fuhr Mum fort. Dann sah sie zu uns herüber und setzte hinzu: »Eine ganze Woche lang.«

Ich knallte mein Hausaufgabenheft auf den Tisch. Eine ganze Woche Vögel, Pflanzen und Steine beobachten? Im Ernst?

»Ach, und da gibt es auch Schiffswracks und Wissenswertes über das Leben im Meer«, fuhr Mum fort. »Sie organisieren Fahrten mit einem Glasbodenboot.«

Wracks und Meeresleben? Das klang schon viel besser! Aber die Fahrt mit dem Glasbodenboot konnten sie vergessen. Wenn Schiffswracks und Meeresleben auf dem Plan standen, wollte ich ins Wasser und das aus der Nähe sehen!

»Ich finde, sie sollte mit«, sagte Dad.

»Finde ich auch«, bestätigte Mum.

»Ja, und ich auch«, willigte ich ein. Wenn ich an meine Erfahrungen mit Inseln dachte – wer weiß? –, vielleicht wartete dort ja ein Abenteuer auf mich!

Am Abend wollten Aaron und ich zu den Regenbogenfelsen, um Shona und Seth zu treffen.

Seth ist Shonas Freund. Na ja, sie nennt ihn noch nicht offiziell ihren Freund – aber ich weiß, dass sie das gerne tun würde. Sie haben sich im Sommer kennengelernt, als Seth uns dabei half, Neptun vor seinem bösen Bruder zu retten. Als Dankeschön hat Neptun ihn zu einem seiner Berater gemacht. Seth ist erst vierzehn und damit der jüngste Meerjunge, der jemals eine so hohe Stellung hatte. Was jedoch bedeutet, dass er sich nicht oft mit uns treffen kann, weil er Neptun immer zur Verfügung stehen muss. Zum Glück hatte er an diesem Abend frei und konnte auch kommen.

Als ich mit Aaron zu unserem Treffen schwamm, hatte ich die Schule und die Geographie-Exkursion ganz vergessen. Im Wasser glitt alles andere von mir ab. Nichts, was an der Brightport High passierte, konnte jemals so ein Gefühl hervorrufen, wie durchs Wasser zu sausen, Schwärme winziger, leuchtend blauer Fische zu jagen, zwischen den Korallenfelsen hin und her zu schwimmen oder auf einer warmen Strömung dahinzugleiten und dabei Aarons Hand zu halten.

Als wir bei den Regenbogenfelsen ankamen, winkte uns Shona zu sich und umarmte mich stürmisch. Seth und Aaron begrüßten sich eher jungsmäßig – also mit einem Grunzen und einem Nicken.

»Heute ist das Beste überhaupt passiert! Ich hab’s kaum erwarten können, dir davon zu erzählen«, quiekte Shona.

»Du hast als Beste in einem Test für Schönheit und Haltung abgeschnitten?«, riet ich. Schönheit und Haltung ist Shonas Lieblingsfach. Da lernt man, angemessen auf Felsen zu sitzen, sich sanft die Haare zu kämmen und gleichzeitig in der perfekten Tonlage Sirenenlieder zu singen. Ich bin darin nicht sonderlich gut. Es ist ein bisschen wie bei dem Spiel, wo man sich den Bauch reiben und sich gleichzeitig auf den Kopf klopfen muss. Das kriege ich auch nie hin.

»Nein. Oder doch, ich bin tatsächlich Beste geworden«, sagte Shona und wurde ein bisschen rot. »Aber das meine ich nicht.«

»Mrs Sharktail hat ihren Rock versehentlich falsch rum angezogen?«, schlug Aaron vor. Mrs Sharktail ist die Direktorin der Schiffriff-Schule. Seit sie Aaron und mich vor der ganzen Schule als Halbwesen bloßgestellt hat, steht sie nicht mehr auf der Liste unserer Lieblingsleute.

Seth lachte. »Wäre das nicht komisch?«, sagte er.

Shona wurde ungeduldig. »Ich sag’s euch. Es geht um einen Riffausflug in Geographie! In ein paar Wochen. Wir sollen Schiffswracks und das Meeresleben beobachten und –«

»Auf der Fünfbuchteninsel?«, fragte ich.

»Ja! Woher weißt du das? Ich hab gefragt, ob ihr auch mitkommen könnt, aber Mr Finsplash meint, das geht nicht, weil ihr dafür ja die ganze Zeit anwesend sein müsstet und –«

»Doch, ich fahr auch hin!«, kreischte ich.

»Wir beide«, sagte Aaron.

Shona starrte uns verblüfft an. »Ihr kommt mit? Aber wie kann das sein? Mr Finsplash hat doch gesagt –«

»Wir fahren mit der Brightport High. Ich schätze mal, in derselben Woche!« Ich grinste. »Anscheinend haben beide Schulen gleichzeitig die Einladung bekommen.«

Shona grinste erfreut. »Zischig!« Sie machte einen Salto, bei dem ihr Fischschwanz aus dem Wasser schnellte. »Mann, das wird super. Mr Finsplash sagt, dass die ganze Insel von einem flachen Riff umgeben ist. Es gibt Unmengen von sagenhaften Felsformationen und Schiffswracks und Hunderte Fischarten, die sonst nirgendwo vorkommen. Und ratet mal, woher die Insel ihren Namen hat?«

Aaron kratzte sich das Kinn und furchte die Stirn, als ob er scharf nachdenken würde. »Hm, ich lehn mich mal aus der Schiffsluke und vermute, dass die Insel vielleicht fünf Buchten hat?«

»Genau!« Shona warf Aaron einen Blick zu und merkte, dass er lachte. »Blödmann«, sagte sie und spritze ihn an. »Na ja, okay, ich vermute, das ist offensichtlich.«

»Es klingt zischig«, sagte Seth mit einem schüchternen Lächeln. Eigentlich kam er mir nicht wie der Typ Junge vor, der Shonas Lieblingswort benutzte, um etwas zu beschreiben, das Spaß machte. Aber ich schätzte mal, es bedeutete, dass er jetzt endgültig mit ihr zusammen war. »Wenn ich nur auch mitkommen könnte.«

»Vielleicht kannst du Neptun fragen, ob du ein paar Tage frei kriegst?«, schlug Aaron vor.

»Das wäre superzischig!«, rief Shona und klatschte so begeistert in die Hände, dass sie mir Meerwasser ins Gesicht spritzte. Dann wurde sie rot wie ein Schnapperfisch und versuchte – etwas zu spät –, unbeteiligt zu wirken. »Also, nur, wenn du wirklich möchtest, meine ich«, setzte sie mit einem Schulterzucken hinzu.

Seth lächelte. »Wahnsinnig gerne«, sagte er. »Ich versuch es. Aber ihr kennt ja Neptun.«

Allerdings. Ich kannte Neptun. Wahrscheinlich besser als die anderen drei. Der König der Meere war niemand, dem man in die Quere kommen sollte oder der mit Gefälligkeiten um sich warf. Ich war ihm oft genug auf die Flossen getreten, um das zu wissen.

»Ich versuch es mal«, sagte Seth wieder. Dann nahm er Shonas Hand. »Es wäre super, die ganze Woche mit euch zusammen zu sein.«

Shona strahlte wie die Regenbogenfelsen hinter ihr. »Kommt«, sagte sie und schwamm los – wahrscheinlich, weil Seth nicht sehen sollte, dass ihr Gesicht noch mehr errötete. »Lasst uns zum Spielplatz schwimmen. Da sind viele Netze angeschwemmt worden, und ich habe angefangen, ein Trampolin zu bauen.«

Wir folgten Shona durchs Wasser. Beim Schwimmen dachte ich an den bevorstehenden Ausflug. Ich freute mich auf eine unkomplizierte Woche mit meinen Freunden, ohne Aufregung. Keine eingefrorenen Leute. Keine Seeungeheuer. Kein Gefängnis, das von Hammerhaien bewacht wurde. Einfach eine nette, normale Woche – höchstens vielleicht mit einem winzigen Abenteuer zur Ablenkung.

Egal, was uns erwartete, ich war entschlossen, dass auf meinem Ausflug zur Fünfbuchteninsel nichts Unheimliches und Beängstigendes passieren sollte.

Obwohl ich darauf natürlich keinen Einfluss hatte.

2

Der September ging schnell vorbei, und es dauerte nicht lange, bis ich meine Tasche packte und mich bereitmachte, meine Mitschüler auf der Seepromenade zu treffen. Es war Samstagmorgen. Um zwölf sollten wir in den Bus steigen und uns auf die lange Reise machen. Eine fünfstündige Fahrt die Küste entlang und eine vierstündige Überfahrt zur Fünfbuchteninsel. Mit etwas Glück würden wir vor Einbruch der Dunkelheit ankommen.

Ich stopfte die letzten Sachen in meine Tasche und schloss den Reißverschluss.

»Hast du deine Geographiebücher und dein Fernglas für die Vögel eingepackt?«, fragte Mum.

»Ja, Mum.«

»Und die Tabellen, die ich dir gegeben habe, damit du alle Fische erkennen und eintragen kannst?«, setzte Dad hinzu.

»Jep.«

Mum streckte die Arme aus. »Du wirst mir fehlen, Zuckererbse«, sagte sie, als ich sie umarmte.

Dad stützte sich auf die Lukentür und streckte sich, um mich auf die Wange zu küssen. »Mir auch, Kleines.«

Ich mochte es gar nicht, dass sie mir noch so alberne Namen wie Zuckererbse und Kleines gaben, obwohl ich jetzt dreizehn war, aber da ich mich für eine Woche von ihnen verabschiedete und da mein Leben jedes Mal, wenn ich sie in letzter Zeit verlassen hatte, entweder von einem Kraken oder einem bösen vereisten Mann oder einem alten Fluch bedroht gewesen war, beschloss ich, es ihnen durchgehen zu lassen.

Ich ergriff meine Tasche, verließ unser Schiff und ging den Holzsteg entlang, der zum Pier führte.

»Hey, Emily!«, rief jemand weiter vorne.

Es war Mandy. Ich winkte ihr zu. »Warte auf mich!«

Wir gingen den Pier entlang auf unsere Mitschüler zu. Nur zwölf von uns nahmen teil, nicht alle hatten mitkommen wollen. Ungefähr die gleiche Anzahl würde aus Schiffriff kommen. Dazu jeweils ein Lehrer pro Gruppe.

Erwartungsvolle Aufregung durchzuckte mich. Wir hatten letzte Woche einen zweiten Brief bekommen, in dem das Programm beschrieben wurde, das uns erwartete. Er war von einer Person, die Lowenna Waters hieß. Was ich zuerst für einen Witz hielt. Also wirklich, sie ist verantwortlich für eine Insel und heißt Waters? Das ist doch so, als wenn eine Mathelehrerin Mrs Rechner heißen würde. Aber wie sich rausstellte, war das tatsächlich ihr Name.

In Lowennas Brief stand, dass sie und ihr Mann Lyle für die Insel verantwortlich seien. Bis auf die beiden ist die Insel unbewohnt – sie gehört zu den Orten, die möglichst nicht betreten werden sollen, damit die vielen Tiere und Vögel, die dort leben, geschützt werden. Das ist die Aufgabe der beiden, abgesehen davon, den gelegentlichen Besuchern alles über die Dinge beizubringen, die sie schützen.

Lowenna versprach, Spiele und Ausflüge zu organisieren und dass wir viel Spaß haben und mehr über Geographie lernen würden als jemals im Unterricht. Das Gleiche schrieb sie auch an die Schiffriff-Schule. Shona zeigte mir ihren Brief. Außerdem bekamen wir Informationen über Touren zu Schiffswracks und Ausflüge an Unterwasserorte, die kaum einer jemals gesehen hatte.

In beiden Briefen stand, wie stolz man sei, die erste gemeinsame Exkursion von einer Schule für Menschen und einer für Meerleute zu begrüßen.

Ich konnte es kaum erwarten, anzukommen.

»So, Klasse 8P, hört mir genau zu«, rief uns Miss Platt, unsere Geographielehrerin, durch den Lärm zu, als sich die Fähre der Fünfbuchteninsel näherte. Wir waren den ganzen Tag unterwegs gewesen und ziemlich müde, aber die Geräusche des gedrosselten Schiffsmotors und der Ankerkette, die sich an Metall rieb, reichten, um unsere Aufmerksamkeit anzukurbeln.

Vom Vorderdeck des Schiffes starrte ich ins Zwielicht des einsetzenden Abends, um einen ersten Blick auf die Insel zu erhaschen.

»Bei unserer Ankunft werden wir von Mr und Mrs Waters empfangen. Zeigt euch bitte von eurer besten Seite. Sie haben hart gearbeitet, um euch eine spannende Woche zu bieten, und uns einen wunderbaren Empfang versprochen, daher sollten wir uns bemühen, ihnen stets den gebotenen Respekt zu zollen.«

Pflichtschuldig sagten wir alle: »Ja, Miss Platt«, während wir uns um einen der vordersten Plätze am Bug des Bootes drängelten. Am liebsten wäre ich ins Wasser gesprungen und ans Ufer geschwommen – aber ich hatte das Gefühl, dass sich das nicht mit der versprochenen besten Seite vereinbaren ließ. Also blieb ich stehen und sah mit allen anderen zu.

Schließlich erstarben die Motoren der Fähre, der Landungssteg kam vor uns in Sicht, und wir wurden in den dämmrigen Hafen der Fünfbuchteninsel geschoben – wobei das ein etwas großspuriger Name für etwas war, das aus nichts anderem bestand als einem Anleger, der gerade lang genug für unsere Fähre war, einem etwas vernachlässigten Strand mit Steinen, altem Seetang und ein paar Ruderbooten, die an große runde Bojen gebunden waren. Sollte das eine der fünf wunderbaren Buchten sein?

»Hmm. Nun ja. Also gut«, murmelte Miss Platt, die einen Aktenordner aus ihrer Tasche zog und darin zu blättern begann. »Mrs Waters sagte, sie würde bei unserer Ankunft hier sein.«

Wir spähten alle in die Düsternis. Es war niemand in Sicht, und es gab auch kein Anzeichen, dass in letzter Zeit jemand hier gewesen war. Nur wir, der Strand und die plätschernden Wellen, die sanft an die felsige Bucht schlugen. Ich ging hinunter ans Ufer. Die Kieselsteine rasselten mit jeder ankommenden Welle und zischten, wenn sich das Wasser wieder zurückzog.

Weiter oben in der Bucht ging Miss Platt ratlos umher und wedelte auf der Suche nach Empfang mit ihrem Handy.

»Was glaubst du, was hier los ist?« Aaron war zu mir getreten.

»Keine Ahnung. Vielleicht haben sie uns vergessen.« Wir standen kurz stumm da, wie hypnotisiert von Rhythmus und Singsang der Wellen.

Mandy kam zu uns. »Miss Platt hat jetzt jemanden erreicht. Ich glaube, sie sind unterwegs.«

Ein paar Minuten später sahen wir einen Schatten über den Strand laufen. Als er näher kam, konnte ich sehen, dass es ein großer Mann war. Sein gewelltes Haar flatterte ihm um den Kopf, als er auf uns zueilte. Sein Hemd hing ihm halb aus der Hose, und sein Gesicht war von dunklen Bartstoppeln bedeckt.

»Wie nett, dass er sich für uns herausgeputzt hat«, murmelte Mandy.

Der Mann ging auf Miss Platt zu. »Es tut mir so leid, Sie warten gelassen zu … Mrs … äh …«

»Miss Platt«, sagte Miss Platt und streckte den Arm aus, um ihm die Hand zu schütteln. »Kein Problem. Jetzt sind Sie ja da.«

»Ja, ja, natürlich«, sagte der Mann. Er machte kehrt, um den Strand wieder hinaufzulaufen, und bedeutete uns, ihm zu folgen. »Also, ich bin Lyle. Meine Frau ist, äh … Hören Sie, es tut uns leid, dass Sie warten mussten. Aber nun kommen Sie mit. Ich bringe Sie zu Ihrer Unterkunft.«

Um es höflich auszudrücken, der Mann schien keine Ahnung zu haben. Er erzählte nichts von der bevorstehenden Woche, und er fragte auch nicht, wie unsere Anreise verlaufen sei, oder sonst irgendwas. Er sagte überhaupt nichts. Er lief einfach voraus, und wir folgten, schlurften mit unseren Taschen durch den Sand und einen Hügel hinauf nach oben, von wo ein Weg durch einen kleinen Wald führte. Unter den Bäumen war es einige Minuten lang stockfinster.

»Vorsicht, hier drin ist es sehr dunkel«, rief Miss Platt nach hinten, obwohl das ja offensichtlich war. »Haltet den Blick auf die Person vor euch gerichtet und bleibt dicht beieinander.«

Aaron nahm meine Hand.

»Dir ist ja wohl jede Ausrede recht«, flüsterte ich. Nicht, dass es mich störte.

Der Weg führte auf einen Feldweg mit zwei Häusern. Eines auf der linken Seite des Weges, eines etwas weiter auf der rechten Seite. »Das ist die Hauptstraße der Insel«, sagte Lyle. »Und das ist eure Unterkunft«, setzte er hinzu und deutete auf das Haus zu unserer Linken. Als wir die Tür erreichten, stöberte er in einer Tasche nach dem Schlüssel und ließ uns hinein.

»Schon zu Abend gegessen?«, fragte er.

»Ja, danke«, erwiderte Miss Platt. »Auf der Fähre.«

»Gut.« Er tastete an der Wand umher, suchte nach einem Lichtschalter und deutete den Gang entlang. »Toiletten sind dort hinten. Die Küche ist ganz am Ende um die Ecke. Danach kommt der Aufenthaltsraum«, sagte er eilig. »Die Schlafräume sind alle oben. Jungen auf der linken Seite, Mädchen auf der rechten. Der für die Lehrerin am Ende des Ganges. Macht es euch gemütlich. Noch Fragen?«

Wir starrten ihn an. War das alles? Das war unser wunderbarer Empfang?

Miss Platt schüttelte sich. »Äh … Wann treffen wir uns morgen früh?«

»Treffen?«, gab Lyle zurück. Er war schon halb aus der Tür.

»Ja, für unser … warten Sie eine Sekunde …« Miss Platt kramte in ihrer Tasche und zog ein Stück Papier heraus. »Insel-Instruktion und offizielle Orientierung«, sagte sie und reichte Lyle das Stück Papier.

Einen Moment lang verschwamm sein Gesicht zu einem winzigen Lächeln. »Lowenna und ihre komischen Überschriften. Immer mit Alliterationen«, sagte er mehr zu sich selbst. Er reichte Miss Platt die Seite zurück.

»Hören Sie, es tut mir leid, dass Sie nicht ganz den Empfang bekommen, den Sie erwartet haben«, sagte er. »Hier geht es ein bisschen drunter … Nun gut, wir klären das morgen früh, ja? Ich komme um neun her, dann versammeln wir uns im Aufenthaltsraum und besprechen alles. Geht das in Ordnung?«

»Na gut«, erwiderte Miss Platt gepresst.

»Muss es ja wohl auch, oder nicht?«, flüsterte mir Mandy ins Ohr.

»In Ordnung dann. Gute Nacht«, sagte Lyle, und damit ließ er uns im Gang stehen und schloss die Tür hinter sich.

Miss Platt brauchte eine Sekunde, um sich zu fassen, dann fand sie zu ihrem üblichen Lehrerton zurück. »Na gut, Kinder, dann richten wir uns mal ein. Bringt eure Sachen hinauf in die Zimmer, und wir treffen uns in zehn Minuten auf eine heiße Schokolade im Aufenthaltsraum. Wie klingt das?«

Es klang gut. Dumm nur, dass es sich nicht als so gut herausstellte. Zunächst mal waren die Betten nicht gemacht, und wir brauchten eine Viertelstunde, um Decken und Bezüge für alle zusammenzusuchen.

Als wir die Betten bezogen hatten, waren wir mehr als empfänglich für einen Becher Kakao mit warmer Milch. Aber es gab keinen Kakao. Und keine Milch.

Miss Platt seufzte und schob eine widerspenstige Haarsträhne in ihren Pferdeschwanz zurück. »Ich glaube, wir sollten zu Bett gehen«, sagte sie. »Morgen früh sieht die Welt schon ganz anders aus. Stellt eure Wecker, Kinder. Um halb neun will ich euch alle hier unten zum Frühstück sehen.«

Frühstück? Ohne Milch?

»Ich bin sicher, dass sie bis dahin etwas für uns organisiert haben«, setzte sie rasch hinzu.

Wir gingen auf unsere Zimmer und sagten uns gute Nacht.

»Träum schön«, flüsterte Aaron, als wir uns im Gang trennten. Ich hätte ihm gern einen Kuss gegeben, aber die anderen waren ja alle noch da und hätten uns aufgezogen, daher beließ ich es bei einem kurzen Lächeln und antwortete nur: »Nacht – und träum auch schön.«

Fünf Minuten später war ich im Bett und fest eingeschlafen.

Anscheinend hatte Lyle sich am nächsten Morgen wieder besser unter Kontrolle. Er kam um neun, wie er gesagt hatte. Und er hatte es sogar geschafft, etwas Milch und Brot für uns aufzutreiben. Butter nicht, aber wir hatten Marmelade und andere Aufstriche, und es gab sogar einen halben Karton Frosties, den wir unter uns aufteilen konnten. Während wir frühstückten, redete er.

»Ich hoffe, ihr habt alle gut geschlafen«, fing er an. »Erst mal möchte ich mich für den verpatzten Empfang gestern entschuldigen. Normalerweise begrüßen wir unsere Gäste nicht auf diese Art. Die Sache ist nur die, ähm …« Er brach ab und sah weg. Dann schüttelte er den Kopf. »Verstehen Sie, meine Frau organisiert sonst diese Ausflüge, und dummerweise musste, äh … musste sie weg.«

»Lowenna ist nicht hier?«, unterbrach ihn Miss Platt.

»Ähm, nein. Sie lässt ausrichten, dass es ihr leidtut und –«

»Aber sie hat doch die ganze Exkursion vorbereitet.«

Lyle runzelte die Stirn. »Ja, ich weiß.«

»Sie hat geschrieben, dass sie uns persönlich betreut, uns herumführt, Spiele für uns arrangiert und die beiden Klassen zusammenbringt.« Miss Platt fing wieder an, in ihrer Tasche zu kramen.

»Hören Sie, das ist nicht nötig.« Lyle schlug ihre Unterlagen fort wie ein lästiges Insekt. »Ich weiß, dass die Lage nicht ganz so ist, wie Sie erwartet haben, aber es geht gerade nicht anders. Tut mir leid. Es war … unvermeidbar.« Seine Augen blickten düster bei diesen Worten, und seine Stimme war einen Ton schärfer geworden. Was ging hier vor sich? Was war mit Lowenna geschehen?

Miss Platt steckte ihre Unterlagen wieder ein und richtete sich auf. »Na gut«, sagte sie fest. »Was machen meine Schüler also heute? Lowenna ließ uns wissen, dass es morgens eine Führung über die Insel geben soll und heute Nachmittag eine Schnitzeljagd oder Schatzsuche stattfindet.«

»Ja, das geht in Ordnung. Ich kümmere mich darum«, sagte Lyle.

»Mit Preisen«, setzte Miss Platt energisch hinzu.

»Keine Sorge. Ich tu auch ein paar Preise auf.«

Miss Platt zog ihren Pferdeschwanz etwas strammer. »Na gut«, räumte sie ein. »Das wäre schön.«

Ich schluckte einen Mund voll Toast hinunter und hob die Hand.

»Ja, Emily?«

»Wissen wir, wann die Schiffriff-Schüler ankommen?«, fragte ich. Mrs Sharktail war nicht bereit gewesen, den Samstagsunterricht ausfallen zu lassen, daher würden sie erst heute anreisen. Shona hatte gesagt, dass sie die größte Strecke per Seetransport kämen und das letzte Stück schwimmen würden. Ich wollte sie gerne abholen, wenn sie ankamen.

»Soviel ich weiß, treffen sie am späten Nachmittag oder frühen Abend ein«, erwiderte Lyle. »Nachdem ich gestern Abend hier fortging, habe ich zu Hause die Unterlagen über eure Woche hervorgekramt. Die weiteren Tage werden hoffentlich laufen wie ein blankgewaschener Kiesel.« Er versuchte es mit einem Lächeln. Seine Mundwinkel zogen sich ein winziges Stück nach oben. Er sah ganz nett aus, wenn er lächelte. Nett, aber nicht fröhlich. Das Lächeln erreichte jedenfalls nicht seine Augen.

»Sind Sie in der Lage, uns unsere Insel-Instruktion und die offizielle Orientierung zu bieten, wie versprochen?«, wollte Miss Platt von ihm wissen.

Lyle nickte. »Ja, natürlich.«

»Also gut. Kinder geht und macht euch fertig. Wir treffen uns in einer Viertelstunde wieder hier. Dann kann die Exkursion endlich anfangen.«

Während ich mir die Zähne putzte, die Haare kämmte, meine Schuhe und meine Jacke schnappte und nach unten rannte, konnte ich nicht anders, ich fragte mich, was uns wohl hier erwartete.

Wenn die übrige Insel so geheimnisvoll und seltsam war wie Lyle, dann war eines sicher: Auf keinen Fall würde dies so eine sterbenslangweilige Geographie-Exkursion wie befürchtet.

3

»So, Klasse 8P, kommt zu mir und seht bitte her.«

Wir scharten uns um Miss Platt, um ihr zuzuhören.

»Gut. Jetzt sucht sich jeder einen Partner oder eine Partnerin, und jedes Paar nimmt sich ein Klemmbrett und einen Stift. Ich verteile die Sachen. Lyle gibt Blätter aus. Auch immer eines pro Paar.«

Ich warf Mandy einen Blick zu.

»Schon gut. Geh du ruhig mit Aaron«, sagte sie. »Ich frage Julie.«

Aaron lächelte, holte sich ein Klemmbrett und kam zu mir.

Miss Platt sah in ihre Tasche. »Das hier habe ich auch mitgebracht«, sagte sie und zog ein paar leuchtend rote Hüllen heraus. »Wir sind ja nun auf einer Insel, und ich bin sicher, dass ihr irgendwann mal gerne ein bisschen ins Wasser wollt. Steckt eure Papiere und Wertsachen bitte vorher in diese Schutzhüllen, damit sie nicht nass werden.«

Ich holte mir eine Schutzhülle von Miss Platt und stopfte sie in meine Jackentasche.

»So, seht nach, ob ihr alles habt, was ihr braucht«, fuhr sie fort. »Dann gibt euch Lyle weitere Anweisungen.«

Miss Platt trat zurück, und Lyle räusperte sich. »Tja. Ähm. Okay. Nun, wie ich schon sagte, diese Dinge werden normalerweise von meiner Frau gemacht, seid also nachsichtig mit mir.« Er hielt eines der Blätter hoch. »Jedes Paar sollte so ein Blatt haben. Wie ihr seht, ist auf der Vorderseite eine Liste mit Fragen.«

Wir sahen uns unser Blatt an. Obendrüber stand: Insel-Instruktion – Schatzsuche! Unter der Überschrift waren nummerierte Fragen mit großen Lücken dazwischen, um die Antworten einzutragen.

»Wenn ihr die Zettel umdreht, seht ihr eine Karte der Insel.«

Ich drehte unser Blatt um und musterte die Karte. Dort war eine grobe Skizze der Insel mit gestrichelten Linien für die Wege, mit verschiedenen Gruppierungen von verschlungenen Linien für die Berge, mit Symbolen für Bäume und Gebäude, schließlich die Buchten, deren Namen in krakeliger Schrift angegeben waren.

Ich hob die Hand.

Miss Platt bemerkte es. »Ja, Emily?«

»Warum heißt die Insel Fünfbuchteninsel, wenn es nur vier Buchten gibt?«

Miss Platt drehte sich zu Lyle um. Lyle starrte sie an, ohne zu antworten. Wahrscheinlich kam er sich albern vor, weil seine Insel einen falschen Namen hatte. »Es gibt fünf Buchten«, sagte er jedoch schließlich. »Aber nur vier sind zugänglich. Der Zugang zur fünften Bucht ist hochgradig gefährlich und darf nicht benutzt werden. Noch mehr Fragen?«

Niemand meldete sich.

»Gut. Tja. Das ist ein schöner Einfall«, wandte sich Miss Platt an Lyle. »Eine gute Art, den Kindern etwas über die Insel beizubringen und sie zu Eigeninitiative aufzufordern. Dann kann es ja losgehen.«

Lyle hielt uns auf. »Ach, noch eine Sache. Denkt bitte daran, dass es hier einen starken Tidenhub gibt, also große Unterschiede zwischen Ebbe und Flut. In zwei Stunden ist Ebbe, dann sind die Strände am breitesten und alle Wege zugänglich. Später müsst ihr an der Küste vorsichtig sein, denn die Flut steigt sehr hoch an, und die meisten Buchten verschwinden mehr oder weniger – mit Ausnahme der Sandbucht. Dort bleibt immer ein schmaler Strandstreifen.«

Miss Platt sah Lyle an, um festzustellen, ob er fertig war. Er nickte ihr kurz zu. »Gut«, sagte sie mit einem Lächeln. Sie sah auf die Uhr. »Sollen wir sagen, wir treffen uns in zwei Stunden wieder hier?«

»Was bekommen die Sieger?«, fragte Adrian. »Sie haben gesagt, es gibt was zu gewinnen.«

Miss Platt wandte sich wieder Lyle zu.

»Ich … äh …«, stotterte er. »Das habe ich ganz vergessen. Es tut mir leid.«

Miss Platt murrte etwas und zog die Stirn in Falten. »Na gut, wie wär’s damit? Die ersten beiden, die zurück sind – und alle Antworten richtig haben –, müssen erst mal nicht beim Abwasch helfen.«

»Wir müssen abwaschen?«, quengelte Adrian.

Miss Platt sah nach rechts und links und hinter sich. »Siehst du vielleicht irgendwelche Dienstboten?«, fragte sie mit der speziellen Art von Sarkasmus, den nur Lehrer draufhaben.

»Und, äh, kochen auch«, räumte Lyle ein.

»Was?«, maulte Adrian schon wieder. Wobei ihm die meisten wohl zustimmten.

Miss Platt tippte auf ihre Uhr. »Dann macht euch lieber mal auf die Socken«, sagte sie. »Wenn ihr nicht abwaschen oder kochen wollt.«

Die Klasse machte sich eilends auf den Weg, die Blicke auf den Fragebogen gerichtet. Sie gingen in Richtung Wald – wo wir gestern Abend hergekommen waren.

Ich las die erste Frage vor, während wir hinterherliefen. »Geht zur Hafenbucht und seht nach, was da schwimmt. Gefragt ist nach der Farbe des Bootes.«

»Das kleine Ruderboot bei dem Bootsschuppen! Wir sind doch direkt daran vorbeigekommen, als wir ans Ufer gelaufen sind«, sagte Aaron. »Es war blau. Da bin ich mir sicher. Glaube ich wenigstens.«

Ich lachte. »Ich hätte das Gleiche gesagt. Ich bin fast ganz sicher, dass es blau ist.«

»Es war allerdings schon ziemlich dunkel«, fuhr Aaron fort. »Was meinst du? Sollen wir allen hinterher oder es drauf ankommen lassen und die Frage überspringen?«

Aaron liebte Wettkämpfe. Ich hatte es erlebt, wenn wir um die Wette schwammen oder Schach spielten. Und da wir jetzt gegen alle anderen kämpfen mussten, wollte ich genauso gerne gewinnen wie er. Die Vorstellung, dass wir das beste Team waren, gefiel mir. »Lass uns Blau eintragen und weitermachen«, stimmte ich ihm zu.

Während die übrige Klasse im Wäldchen verschwand, blickte mir Aaron über die Schulter und las Frage Nummer zwei vor: »Die Sandbucht ist weich und rein – wie viele Stufen mögen es sein?«

Ich sah auf die Karte. »Schau mal, das da ist die Sandbucht.« Ich deutete auf eine große Bucht im Osten der Insel. »Wir müssen den Weg hinter dem Wald nehmen, der scheint zu den Stufen zu führen.«

Aaron sah sich um. Er wollte sicher sein, dass wir die Einzigen waren, die gleich zur zweiten Frage übergingen. Dann nahm er meine Hand. »Komm«, sagte er, halb gehend, halb laufend. »Nichts wie hin.«

»Hunderteinundsechzig, hundertzweiundsechzig.« Ich blickte auf. Waren wir bald da? Aaron war weit vor mir und gerade unten angekommen.

»Zweihundertsieben!«, schrie er und kritzelte die Antwort auf das Blatt.

Ich blieb stehen. »Kann ich mir die letzten fünfzig Stufen also schenken?«, rief ich ihm zu.

Aaron winkte mich herunter. »Das würdest du bereuen. Die Bucht ist unglaublich!«

»Aber umso mehr Stufen muss ich wieder hinauf!«

»Glaub mir, das ist es wert. Komm schon.«