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Was hat Damian Wrexham, Earl of Marlowe, zu verbergen? Rosalyn findet ihren attraktiven neuen Nachbarn recht mysteriös. Doch als sich ihre kleine Nichte mit seinem Mündel Jared anfreundet, sieht sie ihn fast täglich. Bald erwachen heftige Gefühle für den hoch gewachsenen Gentleman in ihr, die er mit zärtlicher Leidenschaft erwidert. Nichts scheint ihr Liebesglück mehr schmälern zu können. Aber dann verrät Damian ihr, dass er in einen schrecklichen Skandal verwickelt ist. Niemals wird er es wagen, um Rosalyns Hand anzuhalten. Denn eine Ehe mit ihm, einem gesellschaftlichen Außenseiter, würde auch ihren Ruf für immer ruinieren ...
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Seitenzahl: 291
Anne Herries
Ein Mann von Ehre
IMPRESSUM
HISTORICAL LORDS & LADIES erscheint im CORA Verlag GmbH & Co. KG, 20350 Hamburg, Axel-Springer-Platz 1
© 2001 by Anne Herries Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V., Amsterdam
© Deutsche Erstausgabe in der Reihe HISTORICAL LORDS & LADIESBand 12 2009 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg
Fotos: Hardy, Heywood 1843 –1933 „A halt at the inn“; Courtesy Fine Art of Oakham / Fine Art Photographic Library Ltd
Veröffentlicht im ePub Format im 01/2011 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-86295-373-8
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Führung in Lesezirkeln nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlages. Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte übernimmt der Verlag keine Haftung. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
Damian fand, er sei dumm gewesen, heimzukehren. In England erwarteten ihn nur bittere Erinnerungen. Wäre er vernünftig, würde er nach Indien zurückreisen oder vielleicht in Spanien ein neues Leben beginnen. Dort war es zumindest warm. Er hatte die Heimreise jedoch aus einem ganz bestimmten Grund angetreten – dem von ihm gegebenen Versprechen –, und es lag ihm nicht, sein Wort zu brechen.
Nachdenklich lehnte er an einem Baum und bemerkte plötzlich im Obstgarten etwas Buntes. Erstaunt furchte er die Stirn, als er zunächst einen Hund auf sich zurennen und dem Tier in einigem Abstand eine Frau folgen sah.
Sie sah wie eine Göttin aus. Schon in der Jugend hatte Damian nichts für die zimperlichen jungen Damen der Gesellschaft übrig gehabt, denen er begegnet war. Eine der Verfehlungen, derentwegen der Vater ihn verbannt hatte, war dessen Meinung nach sein unglücklicher Hang zu älteren Frauen, verheirateten Damen, denen es Vergnügen bereitete, sich einen jungen, gut aussehenden und ziemlich verrufenen Liebhaber zu nehmen.
Belustigt fragte er sich, ob es sich bei der Frau um Miss Eastleigh handeln könne. Vermutlich nicht, denn sie konnte unmöglich die alte Jungfer sein, von der es hieß, sie lebe auf dem benachbarten Grundstück.
Lächelnd dachte er daran, dass er eigentlich schon beschlossen hatte, nach London zu fahren, um der Langeweile zu entrinnen. Nun jedoch war sein Interesse geweckt. Vielleicht konnte er sich doch noch etwas auf dem Land amüsieren. Es war indes keineswegs sicher, ob die junge Frau noch mit ihm Umgang pflegen würde, sobald sie von seinem angegriffen Ruf gehört hatte. Bestimmt mied sie ihn dann, wenn ihr Ansehen ihr lieb war. Bis es jedoch so weit war, konnte es möglicherweise recht amüsant werden, mit ihr zu verkehren.
Der schöne Vormittag trug sehr zu Rosalyns Wohlbefinden bei, als sie durch den Obstgarten zur Rückseite ihres Hauses schlenderte. Das feuchte, schlechte Wetter war endlich vorbei, und an den sprießenden Knospen sah man, dass es Frühling wurde.
Die Sonne schien, und der laue Wind fächelte Rosalyn das Gesicht, von dem sie selbst meinte, man könne es nicht unbedingt hübsch nennen. Sie hielt ihren Mund für zu groß und ihre Nase für zu lang. Zudem war sie dunkelhaarig und höher gewachsen als die meisten Herren ihres Bekanntenkreises. Auch mit ihrer Art gewann sie sich nicht sogleich Freunde. Sie hatte einen offenen, freimütigen Blick und äußerte im Gespräch viel zu oft gegenteilige Ansichten. Zu gut war ihr bekannt, dass Männer zierliche, attraktive Blondinen bevorzugten, die sich scheu und zurückhaltend benahmen und sich nicht so selbstsicher gaben wie sie. Jedenfalls sprangen die Herren nicht sofort auf, wenn sie einen Raum betrat, um ihr beim Platz nehmen behilflich zu sein.
Allerdings war es ihr ziemlich gleich, welchen Eindruck sie hinterließ und was die Herren der Schöpfung von ihr dachten. Sie vertrat die Überzeugung, dass sie mit siebenundzwanzig Jahren ohnehin schon zu alt für die Ehe war, und dachte daher nicht mehr daran, sich zu verheiraten.
Sie rief die schwarz-weiße, von Frederick bei seinem letzten kurzen Besuch zurückgelassene Mischlingshündin zu sich, die ständig irgendwelchen Unfug im Sinn hatte. Sogleich machte Sheba kehrt, kam zu ihr und sprang an ihr hoch.
„Lass das!“, herrschte Rosalyn sie unwirsch an und versuchte, die von den Pfoten hinterlassenen Tapser vom Rock zu wischen. „In dieser Woche hast du mir jetzt bereits das dritte Kleid schmutzig gemacht!“, schimpfte sie. „Manchmal habe ich den Eindruck, das tust du nur, um mich zu ärgern!“
Sheba kläffte aufgeregt, bemerkte eine Katze und sauste bellend auf sie zu.
„Komm sofort zurück, Sheba!“, rief Rosalyn erbost, musste jedoch wider Willen lächeln.
Die Hündin gehorchte nicht, wie so oft, wenn sie ihrer eigenen Wege ging und stundenlang verschwand. Zum Glück hatte sie jedoch stets den Weg nach Haus gefunden und war dann im Allgemeinen sehr schmutzig und vor allem äußerst hungrig gewesen.
„Sie sollten dem Hund das Gehorchen beibringen, Madam“, sagte Damian erheitert. „Sonst tut er dauernd, was er will. Colliemischlinge können sehr eigensinnig sein, wenn man ihnen nicht klarmacht, wer der Rudelführer ist.“
Erschrocken hatte Rosalyn sich umgedreht. Sie war der Annahme gewesen, allein im Garten zu sein, und sah nun einen ihr unbekannten, elegant gekleideten Herrn an einem Baum lehnen. Er hatte verhältnismäßig kurzes schwarzes Haar und war so tief von der Sonne gebräunt, dass sie unwillkürlich vermutete, er müsse sich längere Zeit in sehr heißem Klima aufgehalten haben.
Irritiert fragte sie sich, wer er sein mochte und was er in ihrem Garten suchte. Unvermittelt fiel ihr auf, dass sie ihn anstarrte. „Verzeihen Sie“, erwiderte sie verlegen. „Ich war nicht darauf gefasst, hier jemandem zu begegnen, und bin daher erschrocken. Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?“
„Ich habe Sie beobachtet“, antwortete er schmunzelnd. „Sie kommen mir wie die aus dem Olymp zu uns Sterblichen herabgestiegene Göttin der Jagd vor.“
Rosalyn fand den Vergleich keineswegs an den Haaren herbeigezogen. Alle Abbildungen Dianas, die sie bisher gesehen hatte, stellten die Göttin als üppig gewachsene Frau dar, die den Anschein großen Selbstbewusstseins erweckte, und das alles traf, wie sie glaubte, auch auf sie zu.
„Es gut mir leid, Sir, Sie enttäuschen zu müssen“, sagte sie trocken. „Leider bin ich keine Göttin, sondern nur die einfache Miss Eastleigh, die mit ihrer Hündin einen Spaziergang unternimmt.“
„Miss Rosalyn Eastleigh?“ Sie nickte, und Damian war verdutzt. Rasch richtete er sich auf und verneigte sich leicht vor ihr. „Bitte, verzeihen Sie mir mein schlechtes Benehmen, Miss Eastleigh“, entschuldigte er sich. „Erlauben Sie, dass ich mich Ihnen vorstelle. Ich bin Damian Wrexham, Ihr neuer Nachbar, zumindest für die nächsten Monate, die ich hier zu verbringen gedenke.“
„Oh, ich entsinne mich, dass Lady Orford erwähnt hat, Orford Hall sei vermietet worden, angeblich an einen Inder. Aber offensichtlich bin ich in diesem Punkt einem Irrtum erlegen.“
„Nein“, widersprach Damian belustigt. „Durch seinen Vater ist mein Schüler indischer Abstammung. Seine Mutter war Engländerin, die mit ihrem Vater, einem Missionar, nach Indien gereist ist und dort Jareds Vater kennengelernt hat. Sie verliebte sich ihn und hat ihn ungeachtet des unvermeidlichen Skandals und aller Schwierigkeiten, denen sie ausgesetzt gewesen war, geheiratet.“
„Wie aufregend!“, meinte Rosalyn. „Wie mutig von ihr, dem Ruf ihres Herzens gefolgt zu sein. Ich sehne mich oft nach Abenteuern. Ich glaube, in Indien ist es sehr schön.“
„Ja. Es ist ein wildes, gefährliches, aber zweifellos sehr reizvolles Land.“
Als man beim Haus angelangt war, fand Rosalyn, es sei nur höflich, Mr. Wrexham zu sich zu bitten.
„Wenn Sie möchten, Sir, lade ich Sie gern zum Essen ein. Mittags nehme ich allerdings nur einen kalten Imbiss zu mir.“
„Ich bedanke mich für die Einladung, Miss Eastleigh, kann sie heute jedoch nicht annehmen.“ Mr. Wrexham sah Rosalyn auf eine Weise an, die ihr rätselhaft erschien. „Ich komme gern ein anderes Mal. An sich bin ich hergekommen, um Sie zu bitten, morgen Abend mit uns zu speisen, denn es wäre mir sehr lieb, eine Dame im Haus zu haben, die die Honneurs macht. Allerdings habe ich nicht damit gerechnet, dass Sie noch so jung sind.“
Der Ausdruck in Mr. Wrexhams Augen war so verschmitzt, dass die innere Distanz, die Rosalyn bisher empfunden hatte, im Nu verflog. Sie zog die Augenbrauen hoch, schaute Mr. Wrexham mit gespielter Strenge an und erwiderte: „Und warum haben Sie das Gegenteil erwartet?“
„Oh, sehen Sie mich nicht so pikiert an“, antwortete er amüsiert. „Sie haben keine Ahnung, Miss Eastleigh, was man mir über Sie berichtet hat.“
„Ich kann es mir denken“, erwiderte sie und schmunzelte unwillkürlich. „Man hat Ihnen gesagt, ich sei ein spätes Mädchen. Nein, leugnen Sie das nicht, Sir. So unwahr ist das nicht. Schließlich bin ich schon siebenundzwanzig Jahre alt. Ein Mann, der annähme, ich sei noch leicht zu formen, wäre sehr mutig. Man könnte auch sagen, er sei sehr dumm.“
„Nun, das soll mir eine Warnung sein“, äußerte Damian belustigt. „Dennoch bitte ich Sie, Verständnis für mich aufzubringen. Könnten Sie sich also dazu durchringen, bei Tisch die einzige Dame unter Männern zu sein?“
Mr. Wrexham flirtete zwar ungeniert, doch Rosalyn nahm keinen Anstoß daran. „Nein, es würde mir nichts ausmachen, Ihnen diesen Gefallen zu erweisen, wenn ich dadurch nicht meine seit dem Tod meines Vaters vor drei Jahren bei mir lebende Cousine kränken würde. Sie ist nicht mehr jung und hat es als ihre Pflicht empfunden, mir zur Seite zu stehen. Natürlich konnte ich ihr Ansinnen nicht zurückweisen, da es unziemlich gewesen wäre, allein zu leben. Außerdem hätte sie sich sonst eine Anstellung suchen müssen, zum Beispiel als Gouvernante.“
„Warum sollte es für eine Dame fortgeschrittenen Alters ungehörig sein, ohne weibliche Gesellschaft zu leben?“, fragte Damian amüsiert. „Es sei denn, Miss Eastleigh, Sie hätten den Hang, in Lyston House wilde Orgien zu feiern, wenn niemand da ist, der auf Sie acht gibt.“
„Sie Schelm!“, erwiderte Rosalyn auflachend und fand Mr. Wrexham ausgesprochen nett und sympathisch. Wenn er immer so unterhaltsam war, würde er schnell der faszinierende Mittelpunkt so mancher Abendgesellschaft sein, die ohne ihn öde gewesen wäre. „Wie können Sie mir die Neigung zur Leichtlebigkeit unterstellen? Ich sollte Ihnen die Ohren lang ziehen. Ich verzeihe Ihnen Ihre Keckheit jedoch und nehme die Einladung gern an, vorausgesetzt, Sie erstrecken sie auch auf meine Cousine.“
„Sie sind die Großzügigkeit in Person, Miss Eastleigh“, sagte Damian lächelnd. Der herzliche Ausdruck in seinen dunkelbraunen Augen trieb ihr unwillkürlich die Röte ins Gesicht. „Ich glaube, Sie werden Jared mögen. Er wird Sie gewiss vergöttern!“ Mr. Wrexhams Lächeln war so gewinnend, dass es Rosalyn die Sprache verschlug. „Gut, dann erwarte ich Sie morgen Abend um halb sieben. Wir dinieren eine halbe Stunde später.“
„Ich freue mich darauf, morgen mit meiner Cousine Miss Bellows zu Ihnen zu kommen, Sir.“
„Fein! Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Tag, Miss Eastleigh. Bis morgen!“ Damian verneigte sich und ging den Weg durch den Obstgarten zurück.
Rosalyn schaute ihm noch ein Weilchen hinterher. Die zufällige Begegnung hatte ihre Stimmung sehr gehoben. Sie fand ihn amüsant, und irgendwie hatte er ihr Interesse geweckt. Vor allem der Umstand, dass er von einem Schüler gesprochen hatte, machte sie neugierig, und sie überlegte, ob er Privatlehrer sein mochte. Andererseits hatte er einen sehr energischen und körperlich ertüchtigten Eindruck auf sie gemacht, sodass ihr der Gedanke kam, er könne ebenso gut bei der Armee oder vielleicht sogar Leibwächter sein.
Möglicherweise hatte er in einem fremden Land gelebt, wo höhergestellte Herrschaften oft die Dienste von Leibwachen benötigten. Unvermittelt fiel ihr der Zeitungsbericht über einen indischen Prinzen ein, der erst vor Kurzem einen Attentatsversuch überlebt hatte. Gewiss bestand kein Zusammenhang zwischen dieser Geschichte und Mr. Wrexham, der eindeutig guter Herkunft und tadellos erzogen war. Was seine Garderobe betraf, so hatte er einen vorzüglichen Geschmack und strahlte eine Vitalität aus, durch die er sich sehr von den anderen Herren unterschied, die Rosalyn bislang begegnet waren.
Nicht nur durch seine charmant offene Ausdrucksweise hatte er etwas unorthodox auf sie gewirkt, und sie war überzeugt, dass er sich nie Konventionen beugte, sich nicht den für die Gesellschaft gültigen Regeln unterwarf. Sie schätzte ihn auf Ende dreißig und vermutete, dass er sein bisheriges Leben in vollen Zügen genossen hatte. Er war ein Mann mit Vergangenheit, sehr ungewöhnlich und nicht ganz ungefährlich.
Lächelnd begab Rosalyn sich ins Haus und traf im Entree die Cousine an. Maria Bellows war von kleinem, drallen Wuchs und machte stets einen unscheinbaren Eindruck. Sie meinte es gut mit Rosalyn, übertrieb ihre Fürsorge jedoch.
„Da bist du ja!“, äußerte Maria erleichtert. „Sind deine Kopfschmerzen fort? Du siehst sehr viel gelöster aus.“
„Ich fühle mich tatsächlich wohler. Der Spaziergang hat mir gutgetan.“
„Wer war der Herr, mit dem du dich soeben unterhalten hast? Ich habe ihn früher noch nie gesehen.“
„Das war Mr. Damian Wrexham, unser neuer Nachbar“, antwortete Rosalyn und amüsierte sich im Stillen über die Neugier der Cousine. „Auch ich habe ihn erst vorhin kennengelernt. Er wohnt mit seinem Schützling, einem Inder, der Jared heißt, in Orford Hall und hat uns morgen Abend zum Essen eingeladen.“
„Zum Essen?“, wiederholte Maria befremdet. „Meine liebe Rosalyn! Hältst du es für angebracht, mit zwei Herren zu dinieren, von denen einer Inder ist?“ Bedauernd schüttelte Maria den Kopf. „Wie schade, dass Lord Orford genötigt war, sein Anwesen im Sommer an Fremde zu vermieten.“
„Du solltest dich schämen, Maria“, entgegnete Rosalyn in leicht tadelndem Ton. „Sei nicht überheblich! Mr. Wrexham hat einen sehr ehrenhaften Eindruck auf mich gemacht, und dieser Mr. Jared wird sich gewiss ebenfalls anständig aufführen. Außerdem habe ich, wie du sehr wohl weißt, Lady Orford versprochen, die Herrschaften, die im Sommer in Orford Hall wohnen werden, mit den Nachbarn bekannt zu machen.“
Maria wusste seit Langem, dass es wenig Sinn hatte, ihre strikten Vorstellungen vom tadellosen Lebenswandel einer Dame der Cousine aufdrängen zu wollen. „Tu, was du für richtig hältst“, erwiderte sie resignierend. „Es steht mir ohnehin nicht zu, dir Belehrungen zu erteilen.“
Rosalyn ging nicht auf die letzte Bemerkung ein. „Ich bin sicher, Maria, dass wir in Orford Hall nichts zu befürchten haben und du dich morgen Abend gut unterhältst. Lord Orford hätte sein Anwesen nicht vermietet, wenn er der Meinung gewesen wäre, Mr. Wrexham und sein Begleiter seien keine respektablen Herrschaften.“
„Wie du meinst, Rosalyn.“
„Ich weiß, dein Einwand beruht nur darauf, dass du dich aus Zuneigung zu mir um mein Wohlergehen sorgst.“ Rosalyn neigte sich zur Cousine und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. Sie mochte sie und vermied es daher, ihr gegenüber einen zu scharfen Ton anzuschlagen. „Gut, dann ist die Sache erledigt. Wollen wir jetzt essen, Maria? Der Spaziergang hat mich hungrig gemacht.“
Rosalyn legte das Buch auf den Beistelltisch, stand auf und ging zu einer der Terrassentüren. Nachdenklich schaute sie in den mondhellen Park und bemerkte plötzlich bei einem Gebüsch eine Bewegung. Zu dieser späten Stunde hielt sich ganz sicher kein Dienstbote im Freien auf. Bei der Gestalt musste es sich um einen Fremden handeln, der auf ihr Grundstück gedrungen war. Unwillkürlich rann Rosalyn ein Frösteln über den Rücken.
Nur einige Augenblicke später vernahm sie Gebell und sah die Hündin in Sicht kommen, gefolgt von einem Jungen, der etwa zwölf oder dreizehn Jahre alt sein mochte. Er trug einen Turban und seltsame Gewänder, rannte hinter Sheba her und rief ihr Unverständliches zu. Offenbar war er der indische Schützling, den Mr. Wrexham erwähnt hatte. Es verwunderte Rosalyn, dass Mr. Wrexham ihm gestattet hatte, noch so spät außer Haus zu sein, und besorgt überlegte sie, ob sie zu dem Jungen gehen solle.
Nach einem Moment hatte er die Hündin eingeholt, die sich hinsetzte und sich von ihm streicheln ließ. Rosalyn war schon halb entschlossen, in den Park zu eilen, als sie einen Mann bemerkte, der ebenfalls eigenartig gekleidet war. Er hastete auf das Kind zu und hatte es fast erreicht, als der Junge seiner ansichtig wurde, aufschrie und vor ihm zurückwich.
Nun fand Rosalyn es angebracht, einzugreifen. Sie machte die Tür auf, sah den Blick des Mannes, dessen Miene Erschrecken ausdrückte, sich auf sie richten und gleichzeitig die Hündin den Unbekannten angreifen. Sheba wollte wohl ihren neuen Freund, den sie bedroht wähnte, beschützen und biss den Erwachsenen in den Arm. Laut aufschreiend zuckte er, die Hand auf die Stelle pressend, vor dem Hund zurück. Er äußerte etwas in einer fremden Sprache, woraufhin der verstörte Junge heftig den Kopf schüttelte.
„Aus, Sheba!“, rief Rosalyn ihr zu und lief auf die Gruppe zu. „Wer sind Sie? Was wollen Sie hier?“
Einen Moment lang schaute der Mann sie unschlüssig an und redete dann wieder auf den Jungen ein. Sie war jedoch der Ansicht, dass er sie verstanden hatte.
Rasch hielt sie die Hündin am Halsband fest, stellte sich zwischen den Jungen und den Eindringling und herrschte diesen an: „Sie sind mir eine Erklärung schuldig! Was treiben Sie hier, und warum hat das Kind solche Angst vor Ihnen?“
Schweigend betrachtete er Rosalyn, wandte sich dann jäh ab und zwängte sich durch das Gebüsch.
„Er wird nicht zurückkommen“, sagte der Junge, nachdem die von dem Mann verursachten Geräusche nicht mehr zu hören waren. „Sie und der Hund haben mich gerettet, Memsahib.“
Das Kind war älter, als sie zunächst gedacht hatte. Sein zierlicher Wuchs hatte sie zu dem Irrtum verleitet. Es strahlte eine erstaunliche Würde aus und schien so gut erzogen zu sein, dass es auf gesellschaftlichem Parkett kein Missfallen erregt hätte. Rosalyn war überrascht, dass man die Absicht hatte, ihm englische Lebensart beizubringen. Es musste einen anderen Grund geben, weshalb Mr. Wrexham und dieser Junge sich auf ein in Cambridgeshire gelegenes Landgut zurückgezogen hatten. Vielleicht war Mr. Wrexham tatsächlich nicht der Privatlehrer des Kindes, sondern eher sein Leibwächter. Unwillkürlich überlegte Rosalyn, wer dann der andere Mann sein mochte, der versucht hatte, es in seine Gewalt zu bringen.
„Weiß Mr. Wrexham, dass du jetzt noch im Freien bist?“, fragte sie es stirnrunzelnd.
„Nein, Madam.“ Die Miene des Jungen drückte Unbehagen aus. „Werden Sie ihm das morgen erzählen, wenn Sie zum Dinner kommen? Dann wird er mir sehr böse sein.“
„Das kann ich mir vorstellen“, erwiderte Rosalyn, bemüht, nicht zu lächeln. „Nein, ich werde dich nicht verraten. Aber ich möchte wissen, wer dieser Mann ist, vor dem du dich so sichtlich fürchtest.“
„Er würde es nie wagen, mir ein Leid anzutun“, antwortete Jared geringschätzig. „Sonst würde mein Vater ihn hart bestrafen. Nein, Angst habe ich nicht vor Rajib. Manchmal sieht er mich jedoch so an, als würde er mich hassen. Ich weiß, dass er meine Mutter nicht mochte. Auch ich kann ihn nicht ausstehen.“
„Ist das Mr. Wrexham geläufig? Falls er das nicht weiß, solltest du ihm erzählen, dass du diesen Rajib unsympathisch findest. Vielleicht schickt er ihn dann fort.“
„Rajib ist mein Diener.“ Der Ton, in dem der Junge gesprochen hatte, war leicht herablassend gewesen. „Ich kann ihn entlassen, wenn ich das will, aber dann hätte die alte Nessa niemanden, der ihr hilft.“
„Wer ist sie?“
„Sie ist meine Ayah. Früher war sie die Vertraute meiner Mutter.“
Rosalyn bemerkte, dass die Augen des Kindes feucht schimmerten. Offenbar litt er noch immer unter dem Verlust der Mutter.
„Wann ist deine Mutter gestorben?“
„Im vergangenen Jahr“, antwortete Jared und blinzelte gegen die Tränen an. „Als sie noch lebte, war alles besser. Jetzt hat sich so viel verändert. Im Hause meines Vaters bin ich nicht mehr erwünscht.“
„Wie soll ich das verstehen?“, fragte Rosalyn und fühlte Mitleid, weil der Junge so verletzt geklungen hatte.
„Ich darf nicht darüber reden“, antwortete Jared und setzte eine verschlossene Miene auf. „Entschuldigen Sie mich. Ich muss ins Haus zurück.“
„Wäre es dir recht, wenn ich dich begleite?“
„Danke, Madam, aber ich komme allein zurecht.“
Er wirkte so stolz, so würdevoll. Rosalyns Herz flog ihm zu.
„Wie du möchtest. Aber nimm wenigstens den Hund mit. Er kennt sich hier aus, wohingegen du dich möglicherweise doch verläufst. Du kannst Sheba so am Halsband halten, wie ich das jetzt tue, und wenn du daheim bist, lässt du sie los. Dann kommt sie zu mir zurück.“
„Sie sind sehr freundlich, Memsahib“, erwiderte Jared lächelnd. „Ich mag Sie und bin froh, dass Sahib Wrexham Sie zu uns eingeladen hat. Ja, ich werde Sheba mitnehmen, aber nur, weil ich wirklich nicht genau weiß, wie ich nach Haus komme.“
Rosalyn unterdrückte ein Lächeln. Der Junge machte sich auf den Weg, die Hündin fest am Koller haltend. Plötzlich schaute er zu Rosalyn zurück. Sie winkte ihm zu, begab sich dann in die Bibliothek und versperrte hinter sich die französische Tür.
Stirnrunzelnd hatte Damian aus dem Gebüsch das Geschehen beobachtet. Er war jedoch nicht nahe genug, um zu verstehen, was der Prinz zu Miss Eastleigh gesagt hatte. Plötzlich bedauerte er, dass er sie unter so misslichen Umständen kennengelernt hatte, und hoffte, Prinz Jared möge nichts geäußert haben, wodurch ihr Argwohn erregt worden war. Er hielt sie für scharfsinnig und intelligent, und sollte sie sich einmischen, konnte das einen Strich durch seine Absichten machen.
Das wiederum konnte für alle Beteiligten sehr gefährlich werden.
Vormittags legte Rosalyn sich einen warmen Schal um die Schultern, verließ das Haus und ging gedankenvoll in den hinter dem Gebäude liegenden Teil des Parks. Sie dachte an ihre kleine, von einer schweren Krankheit genesene Großcousine Sarah, die sie auf Tante Susans Wunsch hin eine Weile bei sich aufnehmen sollte, damit das Kind sich besser erholte. Natürlich hatte sie der Tante geschrieben, dass sie selbstverständlich damit einverstanden war, Sarah eine Zeit lang bei sich aufzunehmen.
Plötzlich bekam sie von hinten einen Stoß, begriff, dass Sheba sie angesprungen hatte, und hörte einen Mann den Hund zur Ordnung rufen. Überrascht drehte sie sich um und sah Mr. Wrexham vor sich.
„Entschuldigen Sie, Miss Eastleigh“, sagte er. „Ich war mit Sheba auf dem Weg zu ihnen, und als die Hündin Sie bemerkte, hat sie so gezogen, dass sie mir die Leine aus der Hand riss.“
„Ach, machen Sie sich keine Sorgen“, erwiderte Rosalyn leichthin und freute sich darüber, Mr. Wrexham so unerwartet schnell wieder vor sich zu haben. „Ich bin daran gewohnt, dass Sheba mich vor Freude anspringt. So, Sheba, das reicht jetzt! Sei brav und mach Platz!“
Zu Rosalyns Verblüffung gehorchte der Hund sofort.
„Du meine Güte! Wie kommt das?“, wunderte sich Rosalyn. „Normalerweise reagiert sie nicht auf meine Befehle.“
„Ich glaube, Jared hat ihr das beigebracht“, erwiderte Damian lächelnd. „Jedenfalls hat er sich noch vorhin sehr viel mit ihr befasst. Er hat mir übrigens erzählt, dass er Sie gestern Nacht im Park traf.“
„Das stimmt“, bestätigte Rosalyn und wunderte sich, dass der Junge das Mr. Wrexham berichtet hatte. „Ich war der Meinung, Sie würden es nicht billigen, dass er sich zu so später Stunde noch im Freien aufhielt, noch dazu allein, und da ich es etwas unklug fand, ihn ohne Schutz heimgehen zu lassen, habe ich ihm den Hund mitgegeben.“
„Das war sehr umsichtig von Ihnen“, sagte Damian höflich. „Er ist jedoch reifer, als Sie vermutlich denken. Auch wenn ich es nicht gern sehe, dass er sich so spät noch außer Haus herumtreibt, meine ich jedoch, er brauche wie jedes Kind seines Alters Abwechslung und die Möglichkeit, etwas auf eigene Faust zu unternehmen. Im Übrigen weiß ich nicht nur von ihm, dass er in der Nacht auf Ihrem Grundstück war. Auch Rajib hat mir das mitgeteilt. Sie werden sich über sein Verhalten gewundert haben. Daher bin ich heute hergekommen, um Sie zu beruhigen. Er hat nur auf ihn aufgepasst, und das ärgert den Jungen.“
„Das kann ich mir vorstellen“, meinte Rosalyn schmunzelnd. „Ich möchte nicht unhöflich erscheinen, Sir, wenn ich Sie nicht ins Haus bitte, aber hier draußen können wir uns ungezwungener unterhalten, als wenn meine Cousine bei uns wäre.“
„Meine arme Diana!“, erwiderte Damian schmunzelnd. „Sie sollten die Möglichkeit haben, so zu leben, wie es Ihnen genehm ist, sei es nun im Olymp oder auf Erden. Sie sind nicht dafür geschaffen, ständig beaufsichtigt zu werden. Ich glaube, Häuslichkeit finden Sie nicht sonderlich erstrebenswert.“
Im Stillen gab Rosalyn Mr. Wrexham recht und fragte sich, wie er das herausbekommen haben mochte. Dennoch bedachte sie ihn mit einem strengen Blick, sah ihn grinsen und überlegte, ob er nie ernst sein könne.
„Es liegt mir fern, den Eindruck der Aufdringlichkeit zu erwecken, aber ich wüsste gern etwas mehr über Ihren Schützling. Gestern Nacht hat er einen starken Eindruck auf mich gemacht.“
„Ja, er ist ein bemerkenswertes Kind“, stimmte Damian zu. „Bitte nehmen Sie es mir jedoch nicht übel, wenn ich mich aus Gründen, die ich Ihnen nicht erklären kann, nicht weiter über ihn äußere.“
„Sein Vater muss sehr vermögend sein“, sagte Rosalyn unbeirrt. „Ich vermute, er ist ein hochstehender, bedeutender Mann.“
„Wie scharfsinnig Sie sind! Das ist ein Charakterzug, den ich selten bei Frauen vorgefunden habe“, erwiderte Damian und schaute verschmitzt lächelnd Miss Eastleigh an. „Nein, widersprechen Sie mir nicht. Bestimmt haben alle Frauen viele Tugenden, doch ich hatte leider nie das Glück, diese zu entdecken.“
„Sie sind boshaft, Sir“, stellte Rosalyn belustigt fest. „Ich sollte Sie tadeln, bezweifele indes, ob das viel Sinn hätte. Gewiss kennen Sie Ihre Fehler sehr gut.“
„Das ist ein Punkt, zu dem ich mich vorsichtshalber nicht äußern möchte“, erwiderte Damian schmunzelnd. „Doch kommen wir auf den Vater meines Schützlings zurück. Ich kann Ihnen nicht sagen, um wen es sich handelt und welche gesellschaftliche Stellung er hat. Vor einiger Zeit hat er entschieden, für seinen Sohn sei es sicherer, einige Monate in diesem Land zu verbringen. Da ich seit Langem mit ihm befreundet bin und aus geschäftlichen Gründen herkommen musste, bat er mich, den Jungen mitzunehmen. Auf diese Weise konnte ich das Kind einer Umgebung entziehen, die ihm nicht sonderlich freundlich gesonnen ist.“
„Er hat mir erzählt, er sei im Haus seines Vaters nicht mehr erwünscht“, warf Rosalyn ein.
Damian verengte die Augen. „Hat er Ihnen dafür einen Grund genannt?“
„Nein, keinen spezifischen“, antwortete Rosalyn. „Er erwähnte lediglich, seit dem Tod seiner Mutter im vergangenen Jahr habe sich viel verändert.“
Rosalyn war nicht sicher, ob sie Erleichterung in Mr. Wrexhams Augen aufflackern sah.
„Das ist leider zutreffend“, bestätigte Damian. „Sein Vater hat eine ziemlich junge und hübsche Frau geheiratet, was zwischen ihr und ihrem Stiefsohn zu Eifersucht führte. Da er seiner ersten Gattin stets versprochen hatte, sein Sohn werde eines Tages eine englische Schule besuchen, hielt er es für angebracht, ihn nach der zweiten Hochzeit herzuschicken.“
Rosalyn konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Mr. Wrexham ihr nicht die volle Wahrheit berichtete. Andererseits sah sie keinen Anlass, weshalb er sie belügen sollte, es sei denn, er hatte, da sie beide sich nur flüchtig kannten, kein Vertrauen zu ihr.
„Ich hoffe, das, was ich Ihnen erzählt habe, führt nicht dazu, dass Sie, was Ihren Besuch bei uns betrifft, plötzlich anderen Sinnes werden.“
„Nein, natürlich nicht“, versicherte sie. „Im Gegenteil! Ich mag Ihren charmanten Schützling, Sir, und hoffe, wir alle werden uns in diesem Sommer noch besser kennenlernen.“
„Wie reizend von Ihnen, das zu sagen. Für Jared und mich wäre es, da wir hier Fremde sind, sehr angenehm, jemanden zu haben, mit dem wir freundschaftlich verkehren können.“
Rosalyn hatte das Gefühl, dass Mr. Wrexham mit dieser Bemerkung noch etwas anderes verband, und fragte sich, was sie noch bedeuten mochte.
Er sah ihr wechselndes Mienenspiel, ahnte, was sie dachte, und fuhr leichthin fort: „Suchen Sie nicht zu angestrengt nach Antworten auf die Fragen, die sich Ihnen stellen, Miss Eastleigh. In gewisser Weise sind Sie wie Jareds Mutter, und ich glaube, es wird ihm, da er sie noch immer sehr vermisst, guttun, einige Zeit mit Ihnen zu verbringen, sodass er den Kummer verwindet.“
„Selbstverständlich trage ich gern meinen Teil dazu bei, weiß jedoch nicht, wie ich dem Jungen helfen könnte.“
„Seien Sie einfach so, wie Sie sind“, empfahl Damian.
Rosalyn starrte ihn an und fühlte das Herz schneller schlagen.
Unvermittelt neigte er sich zu ihr und drückte ihr einen leichten Kuss auf den Mund. Erschrocken zuckte sie zurück.
„Das hätte ich nicht tun dürfen“, entschuldigte er sich. „Aber ich konnte nicht widerstehen.“
„Das war ziemlich verwegen!“, erwiderte sie und spürte sich stark erröten. An sich hätte sie verärgert sein müssen, ihn zurechtweisen sollen, doch vor Überraschung und Verwirrung fühlte sie sich dazu nicht imstande. „Wenn Sie wieder das Verlangen verspüren sollten, mich zu küssen, Sir, wäre es mir lieber, Sie gäben mir das vorher zu verstehen. Man sollte sich auf einen Kuss freuen und ihn dann richtig genießen können.“
Ungläubig schaute Damian Miss Eastleigh an und warf dann lachend den Kopf in den Nacken. Er fand ihre Äußerung weitaus verwegener als sein Verhalten. „Bei meinem letzten Aufenthalt in diesem Land hätte ich mir durch mein impertinentes Benehmen bestimmt eine Ohrfeige eingehandelt“, sagte er erheitert. „Sie sind wirklich eine sehr ungewöhnliche junge Dame, Miss Eastleigh!“
„Und Sie sind mit keinem der Herren meines Bekanntenkreises zu vergleichen“, erwiderte sie und fühlte die Wangen noch mehr brennen. „Ich nehme an, dass Sie, da Sie vermutlich einige Jahre in Indien lebten, in dieser Zeit vergessen haben, was man einer Dame schuldig ist.“
Mr. Wrexhams Lachen klang so herzlich und ansteckend, dass sie wider Willen lächelte. Zudem fühlte sie sich geschmeichelt, weil er der Versuchung erlegen war, sie zu küssen. Es war sehr lange her, seit ein Mann ihr nur den ihr gebührenden Respekt bewiesen hatte. Im Übrigen war sie auch noch nicht so alt, als dass sie nicht mehr Gefallen an einer harmlosen Tändelei gefunden hätte.
„Das war der Verweis, den ich herausgefordert habe, nicht wahr?“, fragte Damian amüsiert. Es genoss das kleine Geplänkel mit ihr. „Wie erfrischend Sie sind, Miss Eastleigh! Sie sind Jareds Mutter Anna sogar viel ähnlicher, als ich zunächst dachte. Nun wird die nähere Bekanntschaft mit Ihnen nicht nur Jared guttun, sondern auch mir!“
Der Vergleich mit der Mutter des Jungen sollte offenbar als Kompliment verstanden werden und machte Rosalyn noch neugieriger auf die Frau, die es gewagt hatte, einen Inder zu ehelichen.
„Wie war Jareds Mutter?“
„Sie war sehr schön und eigenwillig“, antwortete Damian bedächtig. „Im Allgemeinen bekam sie, was sie sich in den Sinn gesetzt hatte, ohne jedoch darum zu betteln oder es gar mit erhobener Stimme zu fordern. Sie nahm einfach an, jedermann werde tun, was sie von ihm forderte, und das war dann auch der Fall. Ihr Gatte hat sie vergöttert und sehr unter ihrem Tod gelitten. Der Grund für die überstürzte zweite Ehe war sein Wunsch, jemanden zu haben, mit dem er seinen Kummer über den Verlust seiner ersten Frau teilen konnte. Er hat sehr an Anna gehangen, weil sie in dieser Verbindung die charakterlich Stärkere war.“
Noch nie hatte Rosalyn jemanden den Bund des Lebens in dieser Weise beschreiben gehört, und dieser Standpunkt entsprach genau ihrer Auffassung von Zweisamkeit. Allerdings wusste sie sehr gut, dass die meisten Männer sich ihre Ehe grundlegend anders vorstellten.
„Ich befürchte, Jareds Mutter und ich sind uns nicht so ähnlich, wie Sie glauben, Sir. Ich habe nämlich ein ziemlich aufbrausendes Naturell, das zu bändigen mir selten gelingt.“
„Das werde ich mir merken“, erwiderte Damian auflachend. „Und nun werden Sie mich bitte entschuldigen müssen, Miss Eastleigh. Ich habe etwas Dringendes zu erledigen. Wir sehen uns dann heute Abend.“
„Auf Wiedersehen, Sir.“ Rosalyn schaute ihm hinterher und staunte über sein energisches Wesen. Gewiss, er war charmant, strahlte indes etwas aus, das sie sich unwillkürlich fragen ließ, ob es klug sei, auf zu freundschaftlichem Fuß mit ihm zu verkehren.
Der Bruder hatte Rosalyn geschrieben, er habe vor, sie mit Mrs. Jenkins und Miss Holland in der kommenden Woche zu besuchen und einige Tage zu bleiben. Das erstaunte sie, da er sich selten in Lyston House aufhielt. Im Allgemeinen zog er es vor, in London oder auf seinem in Devon gelegenen Anwesen zu sein. Möglicherweise hatte er endlich vor, sich zu verheiraten. Anders konnte sie sich seine Absicht nicht erklären, sie in weiblicher Begleitung aufzusuchen.
In Gedanken versunken verließ sie, unterstützt von einem Lakai, die vor dem prächtigen Portal von Orford Hall haltende Kutsche und begab sich mit ihrer Cousine ins Haus, wo sie von Mrs. Browne empfangen wurden. Man legte Hüte, Handschuhe und Mäntel ab und wurde dann in den Salon gebeten.
Maria setzte eine strahlende Miene auf, als sie den Vikar erblickte, der sich mit Mr. Wrexham unterhielt. Beim Erscheinen der Damen erhoben sich die Herren und lächelten sie an.
„Guten Abend, meine Damen“, sagte Damian herzlich, ging auf Miss Eastleigh zu und hob ihre Hand zum Kuss an die Lippen. „Ich freue mich, Sie zu sehen. Komm, Jared, und begrüße die Damen.“
„Ich bedanke mich nochmals für die freundliche Einladung, Sir“, erwiderte sie und wandte sich dann dem Jungen zu. „Guten Abend. Wie geht es dir?“
„Danke, gut, Madam.“ Er verneigte sich vor ihr und ihrer Begleiterin.
Sie machte Maria mit Mr. Wrexham bekannt, der auch ihr einen formvollendeten Handkuss gab. Nachdem Reverend Waller die Damen begrüßt hatte, begann er ein Gespräch mit Miss Bellows.
Rosalyn bemerkte, dass der Junge sich zu einem Fenster begeben hatte und mit eigenartig trauriger Miene in den Park schaute. „Er scheint nicht sehr guter Stimmung zu sein“, stellte sie fest. „Ist etwas geschehen, das ihn so bedrückt hat?“
„Ich war genötigt, ihm seine Freiheit vorübergehend zu beschneiden“, antwortete Damian ausweichend.
„Warum?“
„Manchmal muss man Maßnahmen ergreifen, mit denen man nicht unbedingt einverstanden ist, die jedoch von äußeren Umständen bestimmt werden.“
„Nun, ich hoffe dennoch, dass er hinreichend Gelegenheit hat, frische Luft zu schnappen“, erwiderte Rosalyn irritiert.
„Das versteht sich von selbst“, sagte Damian und war bemüht, seine Belustigung nicht zu zeigen. „Leider weiß er Gesellschaft nicht immer zu schätzen, es sei denn, Ihre Hündin ist bei ihm. Sie ist uns wieder zugelaufen und war fast den ganzen Tag hier.“
„Jetzt weiß ich endlich, warum sie so lange fort war. Offensichtlich hat sie Gefallen an Ihrem … Schüler gefunden.“
„Es stört Sie nicht, dass sie abtrünnig zu werden scheint?“, fragte Damian mit einem Blick, der Rosalyn die Röte in die Wangen trieb.
„Überhaupt nicht“,antwortete sie.„Sheba ist sehr eigensinnig und gehorcht mir ohnehin nicht immer. Das haben Sie ja miterlebt“, fügte sie schmunzelnd hinzu.
„Wenn dem so ist, kann ich mir die Mühe sparen, sie zu Ihnen zurückzuschicken“, erwiderte Damian trocken.
„Ja, denn sie tut nur das, was sie will.“
„Wie der Herr, so’s G’scherr!“
Rosalyn lachte auf und schaute übertrieben streng den Hausherrn an. Er war sehr scharfsinnig, und erneut wurde sie sich gewahr, dass sie in seiner Nähe auf der Hut sein musste.
Ihr Lachen hatte den Vikar und ihre Cousine veranlasst, sie überrascht anzusehen. Sie war zwar immer guter Dinge, lachte jedoch selten so fröhlich. Die Blicke der beiden und der spitzbübische Ausdruck in Mr. Wrexhams Augen trieben ihr erneut die Röte in die Wangen.
„Entschuldigen Sie mich, Sir“, erwiderte sie befangen. „Ich möchte mich mit Ihrem Zögling unterhalten.“
Verwundert sah Damian hinter ihr her.
Unsicher schaute Jared sie an, entspannte sich jedoch, als er ihre freundliche Miene bemerkte.
„Sheba ist in meinem Schlafzimmer“, vertraute er Miss Eastleigh an. „Hoffentlich stört es Sie nicht, dass sie hier ist.“
„Nein. Ich habe Mr. Wrexham soeben mitgeteilt, dass sie in diesem Haus bleiben kann, vorausgesetzt, du möchtest das.“