Ein Quantum Leben - Wolf Ollrog - E-Book

Ein Quantum Leben E-Book

Wolf Ollrog

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Beschreibung

Ein Quantum Leben "Aus einem verzagten Arsch fährt kein fröhlicher Furz", soll Luther gesagt haben. Ein verklemmtes Leben kann nicht aus dem Vollen schöpfen. Leben braucht die frische Luft des Fahrenlassens. Leben braucht die Erlaubnis, sich zu entfalten, und das Gefühl, willkommen zu sein. Dies Buch ist ein Mutmachbuch, ein Gesang auf das Leben. Es verführt zum Leben. Es nimmt jenes Quantum Leben unter die Lupe, das im globalen Kontext völlig belanglos ist, für den einzelnen aber alles bedeutet. In einer dichten, oft poetischen, meditativen Sprache, die zugleich immer ganz verständlich und praxisnah bleibt, geht es um die großen Fragen des Lebens: Darf ich überhaupt sein? Woher komme ich und was hält mich? Was macht mich gewiss und gibt mir Mut? Wie finde ich als Kind meiner Eltern und im Kontext allen andern Lebens meinen Platz? Wie stehe ich zur Mitkreatur? Der Autor weicht den dabei aufkommenden Fragen nicht aus: nicht den lebensfeindlichen Tendenzen der modernen kapitalistischen Welt und nicht den eigenen inneren Brüchen und Widerständen, mit denen sich Menschen selbst das Leben erschweren und ausbremsen. Aber er ist, wie Ernst Bloch sagte, ins Gelingen verliebt, nicht ins Scheitern. Mit beiden Beinen auf dem Boden stehend öffnet sich das Buch dem Ursprung allen Lebens, dem "Großen Ganzen", "Gott", und ist darin ein spirituelles Buch - auf eine Weise, die zugleich dem wissenschaftlichen Verstehen verpflichtet bleibt.

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Seitenzahl: 238

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Über den Autor:

Dr. Wolf Ollrog, Gemeindepfarrer, Studentenpfarrer, Schulpfarrer, Hochschuldozent. Bonding-Psychotherapeut, Arbeit in freier Praxis. Einzel- und Paarberatung, Gruppen, Workshops (Bonding-Workshops, Systemische Aufstellungen, Partnerseminare) seit 1980.

Veröffentlichungen (u.a.): „Nie gesagte Worte“ in: Deutschland und seine Weltkriege: Schicksale in drei Generationen und ihre Bewältigung (2012); Aus der Traum. 101 bewährte Vorschläge, wie man seine Partnerschaft vor die Wand fahren kann (2013); „Die drei Säulen der Partnerschaft. Was Partnerschaften stabil, ebenbürtig und glücklich macht“ (2015); „Wir müssen endlich reden. Die Partner-Diade – eine einfache Gesprächshilfe für schwierige Themen“ (2016); „Ich hätte dich gebraucht. Nachkriegsgeschichten“ (2017); „Geklopfte Sprüche. Über die Welt, die Liebe und andere unflätige Dinge“ (2019); „Eine Urlaubsliebe“ (2021).

Inhalt

Einleitung: Nichts als leben

Jasagen zu mir selbst

Die Mitgift meiner Eltern

Das Große Ganze oder "Gott"

Ehrfurcht vor dem Leben

Anwalt des Lebendigen

Mitgegangen, mitgefangen

Das innere Loch

Der innere Widerstand

Ein Quantum Leben

Anhang:

Triadische Bekenntnisse zum Leben

Verzeichnis der eigenen Gedichte

Durch die Ehrfurcht vor dem Leben werden wir auf eine elementare, tiefe und lebendige Weise fromm.

(Schlusssatz der Rede Albert Schweitzers bei der Entgegennahme des Friedensnobelpreises 1954 in Oslo)

Einleitung: Nichts als leben

Aufs Ganze betrachtet ist Leben nicht viel wert. Jeder Mensch, jedes Lebewesen ist nur ein Tröpfchen im Ozean des Lebendigen. Auf den Einzelnen kommt es überhaupt nicht an. Auf dieser Erde, vermutlich auch im ganzen Kosmos, herrscht ein unerschöpfliches Gewimmel und ein unaufhörliches Kommen und Gehen des Lebendigen. Wo vorher etwas Platz gefunden hatte, wartet Neues schon darauf, es zu ersetzen. Geräuschlos wird das Leben ausgetauscht und schnell vergessen.

Von Nahem besehen verhält es sich ganz anders. Im Blick auf das Einzelne und den Einzelnen geht es im Kern nur und immer um dieses eine: Leben. Leben will leben. Das betrifft alles, was lebt, und es betrifft insbesondere menschliches Leben. Es gibt nichts Größeres, nichts Kostbareres, das Menschen mit sich tragen und weitergeben können. Alle Kraft, alle Energie, aller Überlebenswille und Erfindungsgeist sind auf dieses Quäntchen Leben konzentriert. Alles kreist um dieses Thema: Wie kann ich leben und überleben? Wie finde ich in diesem Leben einen richtigen Platz für mich? Und wie gelingt mein Leben?

Alles beginnt damit, dass ich leben darf. Ich werde gezeugt, ich niste mich ein, ich wachse und habe es gemütlich. Ich habe es gut, ich muss nichts dafür tun. Ich lebe mitten im Leben, das mich nährt und schützt. Ich werde gehalten und getragen vom Leben. Ich nehme das wie selbstverständlich. Ich werde gelebt.

Später muss ich selber dafür sorgen, mein Leben zu gestalten und voranzubringen. Aber ich könnte es nicht, wenn da nicht eine Kraft in mir steckte, die mich wie alles Leben von selbst voran bewegt, die wesentlich größer, wesentlich stabiler ist als mein eigenes Wollen oder Können. Denn ich bin selbst Leben. In mir rauscht und weht das Leben selbst, eine nahezu unerschöpfliche Kraft. Es ist eine Kraft, die weitgehend im Verborgenen wirkt, die mir meist gar nicht bewusst ist. Aber von Mal zu Mal nehme ich voller Erstaunen wahr, was da in mir atmet und pocht und brodelt und stürmt und begehrt. Was sich sehnt und wünscht und hofft. Und auch, was mich ängstigt, wütend, traurig und verzweifelt macht.

Das Leben treibt mich voran, es bläst mir ohne Ende Kraft und Antrieb ein. Wenn ich aus der Puste bin, macht es weiter mit mir. Wenn ich denke, dass ich nicht mehr kann, gibt es nicht auf. Ganz von selbst lässt es mich wachsen und groß werden, entwickelt sich in mir, steuert meine Bedürfnisse, hält mich auf Trapp, sorgt dafür, dass mein Körper gesund bleibt. Manchmal findet es nur unter erschwerten Bedingungen weiter, muss sich gegen Hunger und Durst, Kälte und Schlaflosigkeit, Krankheit und Behinderung, Angst und Schutzlosigkeit behaupten. Manchmal stellen sich meinem Leben lebensfeindliche Widerstände und äußere Bedrohungen in den Weg. Manchmal stehe ich mir selbst im Weg und mache mir das Leben selbst beschwerlich und zur Qual. Aber das Leben in mir lässt sich nicht leicht unterkriegen. Es hat seine eigene Dynamik, es will weiter, will Luft bekommen und sich freimachen, will sich durchsetzen.

Um Leben geht es in diesem Buch, um mein Leben, das Leben der anderen, das Leben überhaupt. Um jenes Quantum Leben, das im globalen Maßstab, verglichen mit der Überfülle des überall wuchernden Lebendigen, belanglos erscheint, aber individuell einzigartig ist. Um jenes Allerwesentlichste, das wir besitzen, das uns verbindet, das uns alle ermöglicht und in Schwung hält. Um jenes Leben, das in meinen Adern pulst, das mir die Lungen bläht, in meinen Augen glänzt, in meinen Ohren singt, in meinen Gliedern zuckt und kribbelt und mir durchs Hirn tanzt. Überall bin ich umgeben, umwirbelt, mitgerissen von Leben; im Wind, in Stille und Weite. Es ist immer da. Es lässt mich werden und hält mich in Gang. Es trägt und beseelt mich längst, eh ich es verstehe.

Die folgenden Kapitel sind mein Bekenntnis zum Leben. Sie berichten von meinem Glauben an das Leben, das mich erfüllt, das mich sein und atmen lässt, das mich durchströmt, an dem alles hängt. Ich möchte davon erzählen, wie ich überall eingebettet bin in dieses Größere, in das Leben, wie es zu mir kommt, mich ermächtigt, mich bewegt, mir die Richtung gibt.

Wenn im Christentum von „Gott als dem Schöpfer“ oder vom „lebendigen Gott“ gesprochen wird, findet darin diese Grund-Erfahrung Ausdruck: Gott spendet das Leben. Gott ermächtigt zum Leben. Er ist das Leben. Und gleichzeitig beschreibt es die Überzeugung: Das Leben ist ein Geschenk. Ich selbst bin ein Geschöpf des Lebens.

In dichter, metaphorischer Sprache ist das ein Bekenntnis zum Leben. Rede ich hier vom Leben, meine ich damit allerdings nichts Abstraktes, das ich nur glaubend erfassen und das ich mir erst aneignen müsste. Dass mich Leben umfängt und sein lässt, ist für mich keine metaphorische Behauptung. Sondern es betrifft etwas ganz Greifbares, jederzeit Spürbares. Ich selbst bin Leben und stamme aus Leben, das mir vorgegeben ist, das mich ermöglicht, das mich wie alles andere Leben umfasst und kräftigt. Aus diesem Grund ist es nicht schwer, mich zum Leben zu bekennen. Denn das Leben ist da, in mir, und es umgibt mich von allen Seiten.

Von dieser Lebenskraft soll die Rede sein. Davon, wie sie mich durchzieht und antreibt, und wie ich ihr Raum gebe, in mir selbst und über mich hinaus. Ich muss nicht religiös sein, ich muss kein Christ sein, um die mir und allem Lebendigen innewohnende Lebensenergie erfahren und verstehen zu können. Ich brauche nur hinzuschauen, hinzufühlen. Jeder Mensch ist von dieser Kraft ergriffen. In schier unendlichen Varianten entfaltet sie sich dauernd neu, im Großen und im Kleinen, innerhalb und außerhalb von mir. Sie bläst mir selbst den Atem ein, von Anfang bis Ende. Ohne sie bin ich nicht.

Seit ich bin, erfüllt mich Leben, von Anfang an. Ich schaue dabei zuerst auf das, was meinem Leben vorausläuft, mit dem mich das Leben gewissermaßen begrüßt, wenn ich auf seine Bühne trete. Zwar trete ich nackt auf diese Bühne, bin auch lange angewiesen auf Menschen, die für mich da sind, die mich begleiten und bekleiden. Aber ich bin lebendig. Ich bin ausgestattet mit etwas ganz Unwiderstehlichem: mit einem Drang zum Leben, mit einer manchmal höchst lautstarken, eigenwilligen Kraft und Energie, von der alle Eltern zu erzählen wissen.

Die Kraft zum Leben ist meine Grundausstattung, wenn ich geboren werde. Ich bekomme sie gratis in den Reiserucksack gepackt. Es handelt sich nicht um eine Fähigkeit, die ich mir erwerben, um eine Leistung, die ich zu erbringen hätte. Ich muss sie mir nicht erarbeiten. Ich brauche sie nicht einmal zu bejahen. Die Kraft zum Leben wird mir mitgegeben als eine existentielle Ermöglichung und Ermächtigung, als ein Fundamentalwissen, als ein Grundgefühl, ein mich jederzeit und überall befeuernder Antrieb, und zwar ohne Verdienst und Würdigkeit, ganz unabhängig davon, wer ich bin und was ich daraus mache. Jeder Mensch, auch der scheinbar unwichtigste, besitzt die Ermächtigung zum Leben sozusagen als persönliches Inventar. Jeder wird davon bewegt, bei Tag und bei Nacht.

Ausgestattet mit Leben in Fülle gehen viele Menschen mit ihren Ressourcen allerdings luschig um, verbrauchen sie ohne Rücksicht auf sich und andere, ohne Blick aufs Ganze. Sie verhalten sich, als wüssten sie nicht zu schätzen, über was sie verfügen. Ihrer Anbindung an das Leben nicht bewusst, verlieren sie den Anschluss an die anderen und den Anschluss an sich selbst. Sie bleiben unter ihren Möglichkeiten, die das Leben für sie bereithält. Je länger desto deutlicher leben sie auf reduziertem Energie-Niveau.

Denn es macht einen erheblichen Unterschied, ob ich der mir geschenkten Lebensenergie zustimme, ob ich in sie einstimme und ihren Schwung nutze, oder ob ich mich nur durchs Leben treiben und trudeln lasse; oder ob ich mich womöglich dem Leben versperre und es behindere.

Soll Leben gedeihen, soll es sich entwickeln und weitergeben, dann geht es immer neu darum, sich an die Lebenskraft anzukoppeln. Das ist die Kernfrage für gelingendes Leben, für Gesundheit oder Krankheit, für Sinnerfüllung oder innere Leere: Wie komme ich mit meinem Leben in Fluss und wie bleibe ich im Fluss? Wie gebe ich dem Leben eine Heimat in mir selbst? Und wie beheimate ich mich im Leben? Wie finde ich einen guten Platz im Leben?

Zu diesen Fragen trage ich in den folgenden Kapiteln Gedanken und Einsichten zusammen, so wie ich sie in vielen Jahren therapeutischer Arbeit gewonnen habe. Betrachte ich mein eigenes Leben und meine Arbeit, kann ich nicht besser und verständlicher ausdrücken, was mir den Antrieb für mein Leben gibt und worin ich daraufhin meine Lebensaufgabe gesehen habe und sehe: Es geht darum, dem Leben Platz zu schaffen, in welcher Form auch immer, ihm Recht zu geben und Raum zu bieten, ein Vertrauter, ein Vermittler, ein „Diener des Lebens“ sein.

Diese Aufgabe betrifft mein eigenes Leben und ebenso auch jenes, das mich umgibt. Und es geht immer um etwas ganz Naheliegendes, Konkretes, jedem Menschen Zugängliches.

Dabei fühle ich mich im Gespräch mit jener großen Zahl von Menschen, die sich (wenn auch nicht immer bewusst und gezielt) nach erfülltem, verantwortetem Leben sehnen, mit denen ich unter Schülern und Studierenden oder im Rahmen von Beratung und Therapie zu tun hatte. Vielen von ihnen sind die religiösen und kirchlichen Antworten auf den Sinn des Lebens suspekt geworden. Sie empfinden sie als unverständlich, überhöht und weltfremd. Ihnen fühle ich mich besonders verbunden. Mit diesen Menschen hatte ich mein Leben lang hauptsächlich zu tun.

Sie haben mich gelehrt, eine „nicht-religiöse Sprache“ (Dietrich Bonhoeffer) zu sprechen. Sie haben mich auch genötigt, inhaltlich nachvollziehbar und kompatibel mit den Lebenserfahrungen von Menschen des zwanzigsten bzw. einundzwanzigsten Jahrhunderts umzugehen. Das war und ist auch in diesem Buch mein Anliegen: konkret, erfahrbar und verständlich zu sprechen.

Rede ich vom Leben, bediene ich mich einer Sprache, die jeder versteht. Jeder kennt das Leben. Jeder ist Teil des Lebens. Jeder hat seine Geschichte mit dem Leben. Jeder ist gezeichnet von Leben, äußerlich und innerlich.

Dem Leben Raum zu schaffen – was das konkret bedeutet, für meinen Alltag, das ist also mein Thema. Dieses Thema ist fraglos ein zentrales Anliegen religiösen Denkens und Handelns. Und es besitzt im Kontext der Religionen ein tiefes Erfahrungswissen, auf das auch viele Menschen zurückgreifen. Aber es ist kein Privileg der religiös Gebundenen. Besonders existentiell begegnet es Menschen, wenn sie Eltern werden. Darüber hinaus bildet es auch die Grundlage für viele der sogenannten sozialen Berufe. Und natürlich bestimmt es für viele andere Menschen mit unterschiedlichsten Berufen und Beschäftigungen ebenfalls den Sinn ihrer Arbeit und letztlich ihres Daseins.

Allerdings, will jemand, wie immer er lebt und arbeitet, sich an diesem Maßstab messen, wie er dem Leben Raum gibt, dann ist damit keineswegs eine Allerweltsfrage angesprochen, auf die es Allerweltsantworten gäbe. Es ist eine Frage, die auf das Wesentliche schaut, nach dem, was über den Tag hinaus gut tut und was nicht nur mir Leben ermöglicht, sondern dem Leben insgesamt zustimmt; Leben, das mich und alle mitnimmt, das die Erlaubnis hat, zu treiben und aufzugehen und zu blühen. Das in Bewegung bringt, was hakt, das ermuntert, was verzagt. Das ist die Frage: Dient, was ich tue und lasse, was mir die Tage füllt und womit ich meine Brötchen verdiene, dem Leben?

So unendlich viele Geschichten das Leben bereithält, so variantenreich Menschen das Leben interpretieren, so vielfältig sie leben und arbeiten, für jeden stellt sich, sei es offen, sei es nur indirekt oder versteckt, die Frage, in welchem Maße sein eigenes Leben dem Leben insgesamt Platz schafft. Will man dabei die Geister scheiden oder will man sich selbst Rechenschaft ablegen, ist das der Maßstab: Was dient dem Leben?

Natürlich bezieht sich die Aufgabe, Leben zu schenken, Leben zu hegen, Leben zu schützen, Leben zu entfalten immer zuerst auf mich selbst. Wie gebe ich selbst dem Leben in mir Raum? Darüber hinaus beschäftigt sie mich im Blick auf die Menschen, die mir anvertraut sind, die mir nahestehen, die mir wichtig sind und denen ich wichtig bin. Aber dem Leben Platz zu machen, ist eine Aufgabe, die über meinen persönlichen Erfahrungshorizont hinausgeht. Sie nimmt mich unweigerlich hinein in einen größeren Zusammenhang. Dem Leben dienlich zu sein ist ein umfassendes, ein globales Thema, das sich überall stellt, wo Leben lebt. Es betrifft das menschliche Zusammenleben insgesamt, und es betrifft auch die Tiere und die Natur auf dieser Erde, es betrifft den ganzen lebendigen Kosmos.

Was dient dem Leben? Es ist offensichtlich, dass Menschen diese Frage unterschiedlich beantworten. Unweigerlich führt sie auf ein weites, vor allem auch politisches Feld. Was Leben ist, wie es zu sein hat, was ihm gut tut, ist ein höchst kontroverses, von politischen und ökonomischen Interessen, von Macht und Geld, von Konsum und Kommerz beherrschtes Thema. Niemand befindet sich in einem Schonraum. Davon wird noch zu reden sein. Eine ungleiche Verteilung der Lebensressourcen, unterschiedliche Lebensbedingungen und ungerechte Zugangsmöglichkeiten zum Leben versetzen Menschen in sehr unterschiedliche Ausgangspositionen. Für die einen geht’s ums Überleben, für die andern um die Verwaltung ihres Überflusses. Zugleich sind beide Opfer des gleichen Systems, das ihnen den Rahmen setzt, jenes von Jahrzehnt zu Jahrzehnt sich mehr – und überall auf der Welt – ausbreitenden, krakenhaft alles umschlingenden, alles unterwandernden Kapitalismus, der alle Menschen offen und versteckt beherrscht und der uns Leben als Ware anbietet. Er gaukelt uns vor, wir könnten das Leben kaufen, wenn wir nur die nötigen Mittel dazu besitzen. An jeder Ecke dienen sich Verkäufer an, die behaupten, dem Leben zu dienen. Vor allem solche schreien laut, die daran verdienen. Sie reden vom Leben und machen uns ihre Produkte schmackhaft. Jeden Tag werden wir mit dem Argument geködert, dass wir alles Mögliche unbedingt zum Leben brauchten.

Leben – das will jeder, danach giert jeder, das gibt’s allerorten im Angebot. Um welches Leben soll es also gehen? Was ist dem Leben wirklich dienlich?

In diesem Buch steige ich zunächst am persönlichen Ende des Themas ein, wissend, dass das andere Ende, die politische Dimension, sich immer dahinter auftut, und im Bewusstsein, dass beide Enden zum gleichen Faden gehören. Ich schaue hin und frage, unter welchen Bedingungen Leben für den einzelnen Menschen gedeihen kann. Ich setze da an, wo es jeden persönlich angeht und wo er selber tätig werden kann und muss, weil es ihn selbst und jeden einzelnen betrifft. Eh ich auf das Ganze schaue, nehme ich mich selbst unter die Lupe. Ich frage konkret: Was bedeutet es für mich, dass mein Leben gelingt und dass das, was ich tue, dem Leben insgesamt dient?

Zuallererst ist Leben eine Frage der Selbstvergewisserung. Doch bin ich überzeugt, dass mein Wohlergehen und das aller zusammengehören, dass sie sich entsprechen müssen. Was kurzfristig nur dem Einzelnen oder einer Minderheit nützt, erweist sich langfristig als zerstörerisch. Es dient, wie sich der Einzelne verhält, letztlich erst dadurch dem Leben, dass es für alle stimmig ist. Wenn auch sein Beitrag klein ist, geht es immer beim Einzelnen los; deshalb ist er absolut wichtig. Denn wer sich bewegt, bewegt auch diese Welt, wenn auch nur ein bisschen. Für die Gesamtheit mag es äußerst wenig sein, für den Einzelnen hängt alles daran.

Das nachhaltige Gedeihen des Lebens, wie etwas zugleich dem Einzelnen und der Gesamtheit gut tut, ist letztlich der Maßstab, an dem man die Geister scheiden muss, an dem das Schädliche vom Förderlichen, das Gute vom Bösen, das Erlaubte vom nicht Erlaubten zu trennen ist. Alle Beschreibungen dessen, was unserem Leben Sinn gibt und was wir daraus machen, müssen nach meiner Überzeugung ihre Berechtigung daran ausweisen, wie sie diesem Grundsatz gerecht werden: ob und wie sie dem Leben in seiner Gesamtheit dienlich sind.

Dabei bin ich überzeugt: Dieser Maßstab ist schlicht und umfassend zugleich. Er ist unmittelbar für jeden zugänglich und verständlich. Er steht jedem offen und kann jederzeit praktiziert werden. Er ist ganz einfach.

Wer dem Leben dienlich sein will, der muss dem Leben in seiner Ganzheit abhorchen, was es ihm sagt. Der benötigt eine innere Offenheit für das, was Leben braucht, mein Leben und das Leben aller. Er öffnet sich dem Leben in seiner Fülle. Er stimmt dem Leben zu. Er stimmt mit ihm ein, singt sein Lied, findet einen Platz im Chor des Lebendigen. Er weiß sich in Dienst genommen vom Großen Ganzen, das das Leben ermöglicht. Er weiß sich eingebunden in einen größeren, ihm vorgegebenen, Leben schaffenden und Leben ermöglichenden Zusammenhang. Ohne diesen Zusammenhang kann ich mein Leben nicht finden und entfalten. Davon wird ausführlich zu reden sein.

Diesen größeren Zusammenhang beschreiben Christen und andere mit dem Begriff „Gott“. Es ist ein vielschichtiger, schillernder Begriff, der sehr unterschiedliche Füllung besitzen kann. Er bedarf einer genauen Klärung. So viel sei vorweg gesagt: Rede ich im Folgenden von „Gott“, dann so, dass er für mich der Inbegriff des Lebens, ein Synonym für das Leben in seiner Gesamtheit ist. In diesem Sinne kann ich sagen: Dem Leben zu dienen ist für mich der wirkliche „Gottes-Dienst“, weil „Gott dienen“ und „dem Leben dienen“ für mich identische Aussagen sind. Das Leben zu fördern, weiterzugeben, zu schützen, zu heilen ist für mich das Kriterium meines Glaubens.

Alles das an meinem Verhalten, was den Fluss des Lebens, so wie er auf der Erde Gestalt angenommen hat, unterstützt, was ihm achtungsvoll seinen Lauf lässt, was sich dankbar einbettet ins Ganze und was also dem Leben dienlich ist, bildet für mich Sinn und Ziel meines Lebens. Ich nenne deshalb meine Einsichten und Vorstellungen eine Theologie des Lebens, oder, wenn ich es nicht religiös formuliere, eine Philosophie des Lebens.

Wenn ich mich daranmache, genauer zu beschreiben, was es konkret heißt, dem Leben dienlich zu sein, ihm Raum zu geben, dann öffnet sich mir – unterhalb der Rahmenbedingungen, die mir Umwelt und Gesellschaft setzen – ein mehrschichtiges Terrain. Exemplifiziere ich es an mir selbst und betrachte ich mein eigenes Leben, dann geht es nie nur um das, was gerade da ist oder was ich im Moment daraus mache; sondern es geht immer zugleich darum, was war und was sein wird.

Mit dem Leben bekomme ich es immer auf drei Ebenen zu tun: es umfasst zuerst das, was hinter mir liegt, was ich übernommen, ererbt und selbst erfahren habe. Es besteht zum Zweiten aus dem, was ich, angesichts einerseits der Möglichkeiten und Bedingungen, die ich mitbringe, andererseits der Verhältnisse, die sich mir entgegenstellen, damit anfange, wie ich also jetzt lebe und was ich konkret aus mir (und meiner Welt) mache. Es liegt drittens aber auch vor mir als das, was mir für mein eigenes Leben aufgegeben ist, welche Visionen mich antreiben, worauf zu ich mich bewege. Auf allen drei Ebenen kann ich das Leben gewinnen oder verspielen.

Diese drei Aspekte: das anzunehmen, woher ich komme, dem Ausdruck zu geben, was ich bin, und dem offen entgegenzugehen, was ich werden kann, bilden für mich einen inneren Spannungsbogen für mein Leben und meine Überzeugungen. Bekenne ich mich zum Leben, beschreibe ich nicht nur, was ich bin, sondern auch, wie ich geworden bin und was ich sein kann und soll. Insofern sind meine Lebenspraxis und meine Überzeugungen zugleich vorgegeben und unfertig; sie kommen von weit her und sind doch offen und in Bewegung. Ihre Kraft gewinnen sie nach meiner Überzeugung daraus, in welchem Maße ich dem zustimme, woher ich komme, wer ich geworden bin und wohin ich gehe.

Stehe ich mit meiner Vergangenheit auf Kriegsfuß, mit dem, was ich getan habe und wie ich geworden bin, bin ich wie ein Baum mit schwächlichen Wurzeln; dann steht mein Leben auf wackligen Beinen, es fehlt ihm die Verankerung, ich bin haltlos und unstet.

Sage ich nicht Ja zu dem, was ich tue, bin ich nicht einig mit mir, mit dem, was ist, also mit meiner Gegenwart, gebe ich folglich meinem Leben keine klare Richtung, entscheide ich mich nicht, dann schwanke ich wie ein Baum im Wind; ich bekomme keine Kontur, ich drehe und biege mich mit jeder Bewegung, die von außen kommt, gewinne keine Klarheit, und manchmal knicke ich ab.

Stimme ich dem nicht zu, was vor mir liegt, was ich zu tun habe, meiner Zukunft, den Möglichkeiten, die mir das Leben erlaubt, der Offenheit für das Neue, bin ich wie ein Baum, der keine Blätter und Früchte mehr treibt, ich verkümmere und habe keinen Lebensantrieb mehr.

Mit meiner Vergangenheit geht alles los. Sie liegt nicht einfach hinter mir, ist nicht einfach abgetan. Sie ist vielmehr die Bedingung für meine Gegenwart und Zukunft – im Kleinen wie im Großen. Was ich aus meiner Vergangenheit an Lebenskraft und Lebensbehinderung mitbekommen habe, gibt meinem Leben seinen primären Sinn. Ich bekomme es gratis mitgegeben.

Wie ich in meiner Gegenwart jeweils damit umgehe, was ich größer werdend und für mich selbst Verantwortung tragend daraus mache, nenne ich den sekundären Sinn meines Lebens. Es ist jener Sinn, den ich mir selber gebe und erarbeite.

Worauf zu ich lebe, welche Phantasien und Ziele mich beflügeln, welche Ängste mich ausbremsen, bezeichne ich sodann als den tertiären Sinn des Lebens. Es geht um das, was mir Hoffnung macht und nimmt.

Wenn ich im Folgenden darüber nachdenke, was meinem und jedem Leben Raum gibt, was meinem und jedem Leben dient, beschränke ich mich auf den primären Sinn des Lebens, nämlich jene Aspekte des Lebens, die mich grundsätzlich betreffen, die mir den Rahmen setzen, die das Leben selbst definiert, die mir und jedem Leben bereits in die Wiege gelegt werden.

Ich nehme damit einen Aspekt in den Blick, den viele Menschen kaum beachten. Wenn sie von ihrem Leben sprechen, dann meinen sie in der Regel das, was ihnen von Mal zu Mal widerfährt, was sie tagtäglich erleben, was sie beschäftigt, was gerade anliegt. Ich schaue hier auf das, was mir vorausläuft, was ich als äußere und innere Ausrüstung mit in mein Leben nehme.

Es geht mir also um die Grundlage von allem, und wie ich sie annehmen (oder verwerfen) kann. Es geht, vorweggenommen, darum, dem zuzustimmen, woher ich komme, oder anders gesagt: zu dem Leben ja zu sagen, das da ist. Mit diesem Satz fasse ich meine Einsicht über meinen primären Daseinssinn (und damit zugleich über meine sich daraus ableitenden Lebensaufgaben) zusammen. Ich werde im Folgenden erläutern, was das für mich heißt: Ich stimme meinem Leben zu.

Dieser Satz ist für mich weit mehr als eine formale Aussage. Er beschreibt für mich vielmehr die basislegende Bedingung, damit mir das Leben gelingen kann. Bei erstem Hinhören mag das einfach klingen. Aber zu dem Ja zu sagen, was mir mitgegeben wurde, körperlich, geistig, emotional, was ich von meinen Eltern und Vorfahren beigepackt bekam, ist, wie jeder Mensch weiß, alles andere als eine Selbstverständlichkeit oder ein Allgemeinplatz. Ganz im Gegenteil. Es ist ein lebenslanges Thema. Es fordert mir ab, mich auch mit jenen Dingen anzufreunden, die ich ganz und gar nicht haben will. Es beschreibt aber auch das Bemühen, bei mir selbst anzukommen, authentisch zu werden, mich mit dem, was war (und ebenso dem, was ist und was sein kann) auszusöhnen.

Im folgenden ersten Kapitel werde ich zunächst über die Grundlage meines Lebens nachdenken, über das Ja zu meinem Sein, das mich ermächtigt, zu leben. Danach, im zweiten Kapitel, geht es mir um meine konkrete Einbindung in meine Herkunft, mein Verhältnis zu meinen Eltern und Vorfahren. Im dritten Kapitel handle ich darüber, dass ich als Teil des Großen Ganzen in der Welt einen guten Platz habe und geborgen bin. Im vierten und fünften Kapitel betrachte ich die Konsequenzen, die sich daraus für meinen Umgang mit den Mitmenschen, der Mitkreatur und der Natur ergeben. In den letzten drei Kapiteln schließlich geht es um jene Beeinträchtigungen und Lebensbremsen, die dem Leben seinen Raum und Elan nehmen, den äußeren und den inneren, und um die Ermächtigung, dem eigenen Leben zu trauen, wie eingeschränkt und unscheinbar es auch sein mag.

Noch eine kurze Bemerkung zum Schluss. In die folgenden Kapitel habe ich des Öfteren Gedichte eingefügt. Sie begleiten mich durch mein Leben, sie haben sich mir aufgedrängt. Sie helfen mir, meine Gedanken zu verdichten. Für mich ist mein Leben, nein, das Leben überhaupt, voller Poesie – das einfache ebenso wie das schwere. In seiner Fülle, in seiner Kraft, kommt es mir im poetischen Gewand besonders nah. Gedichte oder Gedichtsequenzen setze ich im Folgenden kursiv; ist kein Verfasser angegeben, stammen sie von mir.

Jasagen zu mir selbst

Ich bin da, ich existiere, ich bin angekommen. Deshalb darf ich sein, darf leben. Das ist das Erste, Größte, Wichtigste, was über mich zu sagen ist, was mich als Mensch – und alles Leben sonst – bestimmt. Von diesem Glauben bin ich überzeugt: Was da ist, darf auch sein. Das Leben hat ihm Platz geschafft. Ich bin berechtigt da zu sein, zu leben. Mir, der geboren ist, der lebt, hat dieses Leben sein „Du darfst“ gesagt.

Das Leben lebt in mir, gibt mir mein Sein, gibt mir sein Ja; es stimmt mir zu, gibt mir Erlaubnis da zu sein. Dies Jawort, sein zu dürfen, ist für mich selbst und ebenso für jedes Wesen, das sich seiner selbst bewusst ist, der Anfang und die Basis unsres Seins. Ohne diese Berechtigung zu leben wäre ich nichts. Ohne dieses Ja kann ich nicht sein. Es ist ein Grundbedürfnis allen Lebens. Ich brauche, dass ich leben kann, dies innere Wissen, diese Überzeugung, dieses Recht: Ich darf sein.

So ist mein Glaube, mein Bekenntnis. Es steht wie eine Überschrift mit großen Lettern über mir: Du darfst. Du, der du bist, darfst sein und du darfst leben. Du, weil du bist, bist ein Geschenk des Lebens. Das Leben gab dir Platz. Du bist erwünscht. Zweifle nicht, du bist willkommen, bist gewollt! Das Leben gibt dir Raum. Du darfst darauf vertrauen. Du hast einen Platz im Verbund des Lebenden.

Das sind große Sätze! Ich bin dem Leben recht – wie jedes andre Leben auch. Nicht, als ob ich nun die Garantie zum Überleben besäße; nicht als ob ich bevorzugt unter seinem ganz besonderen Schutz stünde. Allein dies gilt: Ich hab das Recht zu leben. So gilt es mir und gilt es generell: Weil Leben ist, darf es auch sein. Es ist berechtigt da zu sein. Wenn etwas lebt, trägt es das Lebensrecht, das Ja des Lebens, in sich selbst – weil es nun lebt. Ich brauche keine tiefere Begründung, es gibt auch keine.

Ich lese diese Einsicht und Gewissheit ab an der Milliardenjahrgeschichte allen Lebens auf der Erde, der ein Planet des Lebens ist. Sie lautet schlicht: Das Leben greift sich Raum, wo es ihn findet. Leben will sein. Und darum darf es sein. Es springt mich an, im Kleinen und im Großen, beim Öffnen meiner Augen, in jedem Augenblick.

Wohin ich schaue, sehe ich das Gleiche: Das Leben schafft sich Platz und will auch weiterleben. Wenn ich ins Freie gehe, die Natur betrachte, klingt dieses Lied in meinen Ohren: Hier wird gelebt! Ich sehe es, wo immer ich Lebendiges betrachte. Es strebt von selbst und überall nach Leben, es pflanzt sich fort, entfaltet sich, es wandelt sich und passt sich an, es repariert Beschädigtes, entwickelt neue Überlebensstrategien. Es dehnt, wenn man es lässt, sich weiter aus. Was auch auf dieser Erde ist, es ist aufs Leben, Weiterleben ausgerichtet.

Ich kann das Leben sehen, hören, riechen, fühlen und bestaunen. Ich sehe es auch an mir selbst. Ich fühle es in allen Adern fließen. Ich spüre es für mich als Kraft in allen Gliedern. Der Drang zu leben ist mir ganz vertraut. Er sorgt dafür, dass alles an mir funktioniert, meist völlig unbewusst. Doch hält er alles an mir in Betrieb. Selbst wenn ich schlafe, mehr, selbst wenn mich Ohnmacht überfällt, wenn ich im Koma liege, will ich leben. Und wenn ich krank bin, sorgt der gleiche Drang dafür, dass ich genese. Das alles spricht zu mir die gleiche Sprache: Vertrau darauf, was immer mit dir ist: Leben will sein und leben. Genauso du. Und deshalb darfst du leben!